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Rubion, der Held aus Eichendorf Ein Abenteuer in der weiten Welt erleben, danach sehnt sich Rubion. Das Wiesel verlässt sein Heimatdorf und trifft schon bald auf Waschbären, denen Schlimmes widerfahren ist. Sie bitten Rubion und seine neuen Freunde um Hilfe. Die Tiere begeben sich auf den Weg in den Zauberwald und begegnen dort dem uralten Silberbaum, der ein mächtiges Geheimnis hütet … Eine spannende Geschichte aus der Welt von White Fox Der fünfte Band der großen Tierfantasy ab 9 Jahren, geschrieben von dem chinesischen Bestseller-Autor Jiatong Chen. In der Vorgeschichte von White Fox treffen Coolness und Magie auf Spannung, Action und Natur! Ein packendes Abenteuer rund um ein gewitztes Wiesel, eine große Mission und eine gefährliche Reise. In dieser modernen Parabel liegen Gut und Böse sowie Freunde und Feinde ganz nah beieinander. Mit stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Viola Wang. Für alle Fantasy-Fans von Woodwalkers und Animox. Der Titel ist bei Antolin gelistet. Alle Bände der White Fox-Reihe: Band 1: White Fox - Der Ruf des Mondsteins Band 2: White Fox - Suche nach der verborgenen Quelle Band 3: White Fox - Auf dem Pfad der Bestimmung Band 4: White Fox - Die Pforte des Schicksals Weitere Bände aus dem White-Fox-Universum: Band 1: White Fox Chroniken - Das Geheimnis des Silberbaums Band 2: White Fox Chroniken - Aufbruch zum Schwarzen See
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Seitenzahl: 308
INHALT
Eichendorf
Die Legende des Helden
Der Heiratsantrag
Das Geheimnis der Steintafel
Freunde und Lehrer
Die Ruinen von Weiya
Die Wahrheit
Der Zauberwald
Der Goldbaum und der Silberbaum
Eine Seele
Sirocco
Prinzessin Sofia
Die Ziegenritter
Der Kampf um die Macht
Rückkehr
KAPITEL 1
Eichendorf
Je mehr Tiere an einem Ort zusammenleben, desto fortschrittlicher ist ihre Zivilisation. Ich bin ein Wiesel, das an genau so einem Ort zu Hause ist. Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser! Mein Name ist Rubion und ich lebe in Eichendorf. Eichendorf am Rhein — das ist ein ausgedehnter, dicht bewachsener Eichenwald am Fuß der Alpen. Das Klima ist mild und wir sind umgeben von Bergen und Gewässern. Hunderte von Wieseln haben sich hier niedergelassen. In diesen Ort hat sich noch jedes Tier schon beim ersten Anblick verliebt!
Hier scheint goldenes Sonnenlicht auf die vielen knorrigen Eichen, die inmitten von grünglänzendem Gras wachsen. In den Baumstämmen sind Löcher und in jedem dieser Baumlöcher lebt eine Wieselfamilie. Wir stecken viel Arbeit in unsere Baumlöcher und setzen alles daran, das Leben darin so gemütlich wie möglich zu gestalten. In die Baumstämme zimmern wir kleine Rundfenster, durch die Luft und Licht in unsere Wohnungen kommt. Vor den Fenstern lassen wir Kletterpflanzen wachsen, um sie als Vorhänge zu benutzen. Wir bauen Wendeltreppen um die Stämme herum und manchmal auch ins Innere der Stämme hinein. So entstehen aus manchen Eichen ganze Villen. Auch Hängebrücken aus Ästen zwischen den Bäumen gibt es in Eichendorf: Sie erleichtern den Besuch bei Freunden und Verwandten. Unter den Eichen sind gepflegte kleine Gärten angelegt, in denen Blumen wachsen.
Die Wiesel in Eichendorf führen ein gutes Leben. Die Bäume bescheren uns jedes Jahr eine reiche Eichelernte und beinahe jede Familie hat einen Gemüsegarten. Um die Bewässerung der Gärten braucht man sich dank des feuchtwarmen Klimas nicht zu sorgen, es fällt immer ausreichend Regen.
Die Wiesel, die hier leben, sind fleißig, genau und ziemlich kleinlich. Oft zanken und streiten sie um die kleinsten Kleinigkeiten. Ich selbst halte mich von diesen Angelegenheiten fern. Trotzdem erwischt es sogar mich immer wieder! Meist verstecke ich mich dann in der Nacht traurig unter meiner Decke. Jemand hat heimlich von einem fremden Erdbeerfeld genascht … jemand hat seinen Zaun zu weit über die Grenze des eigenen Grundstücks gebaut … und so weiter und so fort. Doch auch der Optimismus steckt uns in den Knochen. Wir verlieren nie den Mut. Wer ein Problem hat, der schläft sich einmal aus oder isst etwas Feines. Das bringt das Strahlen zurück in jedes Wieselgesicht.
Es gibt in dieser Gegend auch noch andere Wieselstämme. Sie hausen auf der anderen Seite der Berge in schmutzigen Erdlöchern. Spinnweben und Staub sind ihre Begleiter in einem einfachen Leben und ihre Ernährung besteht hauptsächlich aus Ratten und Insekten. Wir nennen sie Barbaren, sie wiederum bezeichnen uns verächtlich als Baumwiesel.
So viel dazu, nun lasst mich ein paar Worte über mich selbst sagen! Ich bin allein auf dieser Welt. Ich hatte einen Adoptivvater namens Danilo, doch der ist bereits verstorben. Was meine Herkunft betrifft, so weiß ich nur das, was Danilo mir erzählt hat: Vor drei Jahren entdeckte er beim Fischen im Rhein einen Korb im Wasser. In diesem Korb lag ich. (Es wurde spekuliert, ich sei darin den Fluss bergab getrieben. Die anderen Wiesel hielten mich deshalb für ein Barbarenkind und wollten nicht mit mir befreundet sein.) Danilo selbst hat nie geheiratet. Er gab mir den Namen Rubion und zog mich auf wie sein eigenes Kind.
Danilo verkaufte alte Bücher. Dank dieser Arbeit waren wir nicht nur mit dem Nötigsten versorgt. Ich hatte dadurch auch Zugang zu Tierliteratur aus aller Welt. Diese Literatur beeinflusste mich von klein auf so sehr, dass ich mich für eine Karriere als Dichter und Gelehrter entschloss. Sogar mein Name, Rubion, stammt aus einem Buch: dem berühmten Tierabenteuerroman Goldener Knochen — Hier komme ich!. Es geht darin um die abenteuerliche Schatzsuche eines Wildhunds namens Rubion. Er reist durch die halbe Welt, um den legendären, verloren gegangenen Goldenen Knochen zu finden und davon zu kosten. Danilo hoffte, ich würde später einmal genauso mutig und stark werden wie die Hauptfigur. (Dabei ist das Ende dieses Romans durchaus verblüffend: In seiner Aufregung verschluckt der Held den Goldenen Knochen mit einem Happs und erstickt daran, noch bevor er den Geschmack wahrnehmen kann.)
Mein Adoptivvater hat mir keinerlei Besitz vermacht. Was er mir jedoch hinterlassen hat, ist das Gefühl, eine Familie und ein Zuhause zu haben. Und natürlich seine alte Eiche. (Wenn ich daran denke, wie er im Bett lag und meine Hände hielt, kurz bevor er starb, werde ich jedes Mal sehr traurig.)
Diese knorrige Eiche steht in einem abgelegenen Vorort von Eichendorf. Im oberen Bereich hat sie viele runde Fenster, vor denen wilder Wein wuchert. Von Weitem wirkt das Ganze wie ein schiefer grüner Turm. In der Baumhöhle selbst ist es im Winter warm und im Sommer kühl. Es ist ein mehrstöckiges Gebäude mit dem Wohnzimmer im Erdgeschoss, dem Esszimmer und der Küche im zweiten Stock, dem Arbeitszimmer im dritten Stock und dem Schlafzimmer im vierten Stock. Nicht ohne Stolz muss ich an dieser Stelle dazusagen, dass meine eigenen Umbauten und Renovierungen den Baum noch schöner gemacht haben.
So habe ich zum Beispiel in der Baumkrone einen Balkon gebaut, etwas Erde nach oben geschafft und damit einen Dachgarten angelegt. Etwas Vergleichbares gibt es in ganz Eichendorf nicht. Unterirdisch habe ich außerdem einen Keller gegraben, der voller Bücher, feiner Zutaten und Gewürze ist. Und damit ich morgens gleich nach dem Aufwachen das erste Sonnenlicht genießen kann, habe ich mein Schlafzimmer in das oberste Stockwerk verlegt. Durch ein Dachfenster kann ich die Sonnenstrahlen durch den Baumwipfel fallen sehen.
Leider befand sich direkt über dem Dachfenster ein Taubennest. Diese Tauben wecken mich jeden Morgen aus dem Schlaf. Früher fand ich sogar gelegentlich Vogelkot in meinem flauschigen Bett. Wie oft habe ich schon versucht, sie loszuwerden! Aber sie kommen immer wieder zurück. Hatte ich ihr Nest abgerissen, bauten sie es wieder auf, dann riss ich es wieder ab … so ging das immer wieder hin und her. Anscheinend ist meine Eiche die einzig richtige für sie. Nach und nach habe ich mich daran gewöhnt, von ihrem Gurren geweckt zu werden. Auch das Klopfen ihrer Schnäbel, wenn sie das Nest aufräumen, und ihr nächtliches Gekreische während der Paarungszeit stören meinen Schlaf nicht mehr. Und das Problem mit dem Vogelkot löste ich einfach, indem ich mein Bett leicht verschob.
Die meiste Zeit verbringe ich in meiner Bibliothek, wo ich Tee trinke, lese und Gedichte schreibe. Endes Horrorroman Der dunkle Schatten vor dem Fenster lese ich immer wieder und verstecke mich an den gruseligen Stellen kreischend unter meiner Bettdecke. Oder ich blättere in Walters Komödie Springkäfer, einem Roman, der so lustig ist, dass ich vor lauter Lachen hilflos herumkugeln und mit Händen und Füßen auf den Boden trommeln muss (was meine Nachbarin Frau Mira bereits mehrmals dazu veranlasst hat, die Polizei zu rufen).
Je nach Lust und Laune koche ich auch feine Leckerbissen. Kulinarik ist eine meiner Stärken, das kann ich ganz ohne falsche Bescheidenheit sagen. Mit dem Thema Essen und allem, was damit zusammenhängt, beschäftigte ich mich schon immer gern. Ich war zum Beispiel das erste Wiesel in Eichendorf, das zu Hause einen Küchenherd installiert hat. (Mit dem großen Risiko, die ganze Eiche in Brand zu setzen.) Ich habe den Ast hinter der Küche ausgehöhlt und einen Schornstein daraus gemacht, um das Problem des Rauchabzugs zu lösen. Dank meiner außergewöhnlich sensiblen Zunge weiß ich, wie man den Geschmacksknospen schmeichelt. Ich kreiere oft neue Köstlichkeiten.
Die restliche Zeit über klettere ich meist mit meiner Gießkanne auf dem Baum herum und kümmere mich um meinen kleinen Garten.
Das war also mein Leben — erfüllt und beschäftigt wie der Nachthimmel, an dem die immer gleichen Sterne stehen. Ein Tag war wie der andere, ohne große Veränderungen, vielleicht sogar ein wenig einsam und stumpfsinnig. Bis mein Leben eines Tages völlig aus der Bahn geriet.
Auch an diesem Morgen wurde ich von den Tauben über dem Dachfenster geweckt. Wie üblich stand ich auf und säuberte schnell mein Schlafzimmer von dem Vogelkot. Schläfrig kletterte ich zur Baumkrone hoch in meinen Dachgarten. Ein paar Bienen schwirrten heran und auf den rosafarbenen Blüten der Orchideen glitzerten die Tautropfen wie kleine Kristalle. Die Tulpen dufteten herzerfrischend und die kleinen Sonnenblumen wuchsen fröhlich der Sonne entgegen. Zufrieden tastete ich nach einer reifen Tomate unter dem Blatt einer Lilie. Die hatte ich mir gestern Abend für das Frühstück heute versteckt. Mit dem ersten Bissen spritzte ihr süß-säuerlicher Saft auf meine Zungenspitze. Ihr Fruchtgeschmack breitete sich in meinem Mund aus und ich kicherte zufrieden. Dieses Gefühl war wunderbar und ich konnte nicht anders, als poetisch zu werden. Ich streckte meine Brust nach vorn und dichtete:
»Ein erster Bissen, oh wie sauer!
Ein zweiter Bissen, gar nicht schlecht!
Ein dritter Bissen, wunderbar!
Warum ich ihr ein Loblied singe?
Weil ich sie liebe, die Tomate!«
»Halt die Klappe, du Verrückter!« Ein übel riechendes Vogelei flog plötzlich auf mich zu. Zum Glück duckte ich mich schnell genug und es zerplatzte am Baumstamm hinter mir. Frau Mira stand mit verschränkten Armen auf der Eiche gegenüber und starrte mich wütend an. Von allen Wieseln in Eichendorf fürchtete ich mich vor ihr am meisten. Ein Jahr zuvor hatte mich diese Schreckschraube durch das ganze Dorf gejagt, weil ich eine Gurke aus ihrem Gemüsegarten gemopst hatte.
»Ich übergebe mich gleich!«, beschwerte sich mein Nachbar Machu hinter mir. Er trocknete gerade seine Fischernetze auf einem Baumwipfel. »In aller Früh schon diese Verrücktheiten!« Machu war Fischer (und versuchte jedes Mal wieder, mir seinen übrig gebliebenen, verschimmelten Trockenfisch anzudrehen).
Ich beeilte mich, beiden ein freundliches Lächeln zu schenken, und deutete sogar eine demütige Verbeugung an. Ja, in ihren Augen war ich ein ständig verwirrter Außenseiter. Das lag allerdings daran, dass mich niemand wirklich verstand. Gedichte sind etwas, das nicht jedes Wiesel begreift.
Am Boden bewegte sich etwas. Ich sah den Postboten von Eichendorf zwischen den Bäumen umhereilen und Zettel an einige Baumstämme heften. Nacheinander kletterten die anderen Wiesel von ihren Bäumen herab. Schwätzend versammelten sie sich um die Ankündigungen. Dass der Postbote eine Bekanntmachung bis in unseren Vorort brachte, kam äußerst selten vor. Ein solcher Aufwand wurde sonst nur vor der Wahl eines neuen Bürgermeisters betrieben. Hastig rutschte ich eine Ranke hinab und näherte mich neugierig. Ich drängte mich durch die Menge bis zu einem Baumstamm, auf dessen zerfurchter Rinde ein gelbes Pergament hing, das dicht beschriftet war:
Mitteilung
An alle Eichendorfer:
Zur Bereicherung der Freizeitgestaltung hat das Dorfkomitee mit freundlicher Unterstützung der Familie Oddo beschlossen, in drei Tagen auf dem Kegelplatz den ersten kulinarischen Kochwettbewerb in der Geschichte Eichendorfs zu veranstalten. Im Namen des Komitees möchte ich alle dazu einladen, sich mit ihren Lieblingsgerichten daran zu beteiligen. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt, alle Zutaten und Gewürze sind erlaubt. Auf die Siegerin oder den Sieger wartet ein großzügiger Preis. Vergebt mir, dass ich den hier leider noch nicht verkünden kann. Er wird euch zumindest so sehr beeindrucken, dass ihr vor Schreck euer Frühstück von gestern wieder ausspuckt.
Moment, warum wollte ich diese Mitteilung eigentlich schreiben?
Euer Bürgermeister von Eichendorf
Robert
Die Stimmung explodierte. In unserem ruhigen, beschaulichen Leben bedeutete diese Nachricht eine riesige Neuigkeit! Selbst Frau Mira, die sich für nichts auf dieser Welt interessierte, quietschte laut.
»Du meine Güte! Die Familie Oddo!«
»Ich will mitmachen!«
»Was für ein Preis lässt einen denn das Frühstück vom Vortag ausspucken? Ein Haufen Nasenrotz vielleicht?«
Familie Oddo — das war Eichendorfs einzige berühmte Familie und auch das einzige Adelsgeschlecht. Sie waren die Nachkommen des Helden Oddo. Der wiederum war der größte Stolz von Eichendorf und es hieß, er habe das Kaiserreich Sirocco besucht (ein fernes Wieselimperium von enormer Größe und das Mutterland aller Wieselstämme auf der Welt). Schon dieser eine Punkt löste Neid und Bewunderung unter den Wieseln aus. Er hatte eine alte Zivilisation aus eigener Kraft gerettet und war dafür vom Reich Sirocco zu einer Person mit außergewöhnlichen Verdiensten ernannt worden. Ich hatte Oddo schon immer aus tiefstem Herzen bewundert. In Eichendorf kursierten alle möglichen Mythen und Geschichten über seine Person.
Niemals hätte ich erwartet, dass die sonst so unerreichbare Familie Oddo einen Wettbewerb wie diesen unterstützen würde. Die Anziehungskraft, die davon ausging, war einzigartig. Ha! Der Tag, an dem ich, Rubion, mich hervortun würde, war gekommen!
Ich konnte an nichts anderes mehr denken und lief zurück nach Hause. Ich rannte direkt in mein Arbeitszimmer, um in den Kochbüchern nach Inspiration zu suchen. Die darauffolgenden Tage verbrachte ich damit, meinen Beitrag für den Wettbewerb zu planen. Ich inspizierte meinen Gemüsegarten und durchwühlte den Keller nach passenden Gewürzen. Drei qualvolle Tage später war es endlich so weit.
Am Himmel leuchteten die Wolken rosarot, während ich meine Küchengeräte, Besteck, prallgefüllte Gewürzdosen und Zutaten auf meinen Holzkarren lud. Voller Vorfreude schob ich ihn zum Hauptplatz von Eichendorf, dem Kegelplatz.
Der Platz bestand aus einer runden, leicht abgesenkten Grünfläche, von der rundherum Steinstufen nach oben führten. Von Weitem sah das ein bisschen so aus wie ein riesiger Trichter. Rund um den Platz standen neun Säulen mit Statuen der Gründerinnen und Stadtoberhäupter von Eichendorf. Wind und Wetter haben im Lauf der Zeit ihre Spuren auf den Statuen hinterlassen. Alle wichtigen Veranstaltungen in Eichendorf fanden hier statt.
Die Sonne ging bereits über den Bergen im Osten auf. Ihr goldenes Licht fiel glänzend auf die Erde und die Vögel in den Baumwipfeln begannen zu singen. Am Eingang zum Kegelplatz trug ich meinen Namen in die Liste der Teilnehmenden ein. Dann folgte ich einem der Platzanweiser und schob meinen Karren auf die Wiese. Der Kegelplatz war festlich geschmückt: Oberhalb der Steinstufen wehten bunte Flaggen auf den Masten und zwischen die Sitze hatte jemand runde Blumensträuße gesteckt. Auf der Wiese waren Kochstellen errichtet, neben denen jeweils ein kleiner Haufen Feuerholz gestapelt lag.
Die Mitglieder des Organisationskomitees begrüßten die Teilnehmenden, die sich nach und nach auf dem Platz einfanden. Ein paar Wiesel hatten Karren voll buntem, frischem Gemüse bei sich. Ein Wiesel rollte einen Riesenkürbis vor sich her, der mit allen möglichen Nüssen gefüllt war. Ein anderes hatte ein frisch gepflücktes Hornissennest mitgebracht und musste die Stiche einer wütenden Hornisse ertragen. Sogar eine Kuh führte jemand mit aufs Feld, um die allerfrischeste Milch zu verwenden. Es sah nach einem harten Wettkampf aus! Dann wurde uns eine eigene Kochstelle und Feuerholz zugewiesen. Wir waren zu zwölft — eine gute Zahl. Das waren nicht zu viele, aber auch nicht gerade wenig. Immer mehr Publikum strömte auf den Platz und allmählich füllten sich die Plätze auf den Steintreppen. Dicht an dicht saßen die Wiesel, ein paar fielen in dem Gedränge sogar die Stufen hinunter. Ganz Eichendorf war gekommen! Ich war sehr nervös.
Kurz darauf machte sich auch im Publikum große Aufregung breit. Bürgermeister Robert stieg langsam die Stufen zur Steinbühne hinauf. Dabei hielt er ein langes Pergament in der Hand, das bis auf den Boden reichte. Der Bürgermeister war ein altes, buckliges Wiesel mit weißem Fell am Kopf. Auf seiner Nasenspitze saß eine kleine goldumrandete Brille, die an einer schmalen Kette um seinen Hals befestigt war. Die Brille ließ seine kleinen schwarzglänzenden Augen auf drollige Weise größer erscheinen, als sie eigentlich waren. Er war in ganz Eichendorf bekannt für seine ausschweifenden Reden, sein chaotisches Wesen und sein ausgesprochen schlechtes Gedächtnis.
Am vordersten Rand der Bühne war ein großer Messingtrichter aufgestellt, der als Lautsprecher diente. Als er davor trat, blieb von ihm nicht viel mehr zu sehen als der golden aufblitzende Rand seiner Brille und zwei Ohren. Mit heiserer Stimme las er feierlich vor:
»Einen guten Morgen wünsche ich dem lieben Eichendorf! Ich danke euch allen für euer Kommen. Den Beteiligten darf ich im Namen des Dorfkomitees den allergrößten Respekt aussprechen!«
An dieser Stelle machte er eine kurze Pause. Das Publikum antwortete mit begeistertem Jubel.
»Wir Wiesel sind friedliebende Tiere und wir lieben das Leben. Gemäß der Verfassung von Eichendorf hat jedes Wiesel das Recht, sein Leben zu genießen …«
Wortreich rief uns der Dorfvorsteher auf diese Weise die Verfassung von Eichendorf in Erinnerung. Er begann beinahe alle seine Reden mit einem Zitat oder einem Gedanken aus der Verfassung. Seine einschläfernde Stimme zermürbte uns nach und nach. Alle verloren die Geduld und begannen leise miteinander zu tuscheln. Ich nickte langsam ein.
»… und deshalb veranstalten wir den ersten Kochwettbewerb in der Geschichte von Eichendorf, zur Förderung der gemeinschaftlichen Gesinnung und zur Bereicherung unserer Freizeit …« Bürgermeister Robert beendete abrupt seine Rede. Mit stumpfem Blick starrte er geradeaus.
»Wer bin ich? Warum stehe ich hier?!« Nervös sah er sich um. Die Wiesel tauschten in peinlicher Stille Blicke aus. So vergingen ungefähr drei Sekunden.
»Das Organisationskomitee freut sich, euch mitteilen zu dürfen, dass uns Herr Logan, der Nachfahre des Helden Oddo in vierter Generation, während dieses Wettbewerbs mit seiner Anwesenheit beehren wird …«, las er dann weiter vor, als sei überhaupt nichts geschehen. »Er hat großzügigerweise zugestimmt, diesen Wettbewerb zu unterstützen und den Hauptpreis zur Verfügung zu stellen. Ich versichere euch, dieser Preis ist ein Geschenk, von dem ihr noch nicht einmal zu träumen wagt! Eine riesengroße Überraschung! Es ist …«
Unsere Neugierde stieg ins Unermessliche. Ein paar der Wiesel hielten sogar die Luft an. Auch mein Herz begann wie wild zu klopfen.
Der Dorfvorsteher hob wieder den Kopf, blickte über die Brille auf seiner Nasenspitze ins Publikum und verkündete feierlich: »Ein Blutbernstein!«
Du meine Güte! Dieser Preis war tatsächlich so umwerfend, dass ich vor Schreck beinahe mein Frühstück vom Vortag wieder ausspuckte. Blutbernsteine waren äußerst selten und von hoher Reinheit. Für uns Wiesel mit unserer Vorliebe für schöne Dinge war dieser Schatz ein wahr gewordener Traum. Der Blutbernstein war zudem sehr wertvoll und Mittelpunkt zahlreicher Legenden. Angeblich brachte er Glück, deshalb bezeichnete man ihn auch als »Glücksstein«.
Einen Blutbernstein hatte in Eichendorf erst ein einziges Wiesel besessen — Oddo, der Held. Für seine Verdienste hatte ihn der Kaiser von Sirocco mit einem ganzen Beutel voller Blutbernsteine belohnt. Das war mehr als genug, um zehn Eichendorfs zu kaufen!
Der Kegelplatz versank im Chaos. Aufgeregt riefen die Wiesel durcheinander und einige fielen sogar in Ohnmacht. Ein Wieselkoch nach dem anderen versprach laut, den Wettkampf auf jeden Fall für sich zu entscheiden.
Der Bürgermeister war offensichtlich zufrieden mit dem Tumult, den er ausgelöst hatte. Nachdem sich alle wieder etwas beruhigt hatten, senkte er den Kopf und las weiter: »Ihr wollt den Preis? Dann genießt den Wettbewerb! Mit großer Freude darf ich zudem verkünden, dass wir Herrn Funès, den Präsidenten der Feinschmecker-Gesellschaft, für die Jury gewinnen konnten. Ich darf Herrn Funès nun auf die Bühne bitten, um die Regeln des Wettkampfs zu erklären!«
Funès war ein unbarmherziges Wiesel. Sein Ruf in der Feinschmeckerszene Eichendorfs war legendär, aber er war auch streng und pingelig. Mehrmals hatten ihn Mitglieder der Feinschmeckergesellschaft beschuldigt, dass er sie wegen abweichender Meinungen prügeln wollte. Meine Anspannung wuchs.
Ein dunkelbraunes Wiesel betrat die Steinbühne. Nicht ein Haar fiel aus seiner ordentlich zurückgekämmten Frisur. Seine Mundwinkel hingen weit hinunter. Es ging geradewegs auf den Lautsprecher zu, doch der Bürgermeister trat nicht zur Seite. Er starrte es nur durch seine alte Brille etwas stumpfsinnig an.
»Wer bist du? Warum stehst du vor mir?«, schrie der Bürgermeister nervös.
»Ich bin Funès, mein Herr, und Sie scheinen schon wieder unter Gedächtnisverlust zu leiden. Ich schlage vor, Sie verlassen erst einmal diese Bühne und trinken einen Schluck Wasser zur Beruhigung«, sagte Funès.
Skeptisch blickte der Dorfvorsteher Funès an, dann trat er zur Seite.
»Vergebt mir meine Offenheit, aber was die sogenannten Kochkünste in Eichendorf betrifft, so war ich immer der Meinung, dass wir uns hier auf einem geradezu primitiven Niveau befinden. Mit unerwarteten Überraschungen Ihrerseits rechne ich also auch heute keinesfalls. Nun denn — wie man so schön sagt, da ich diese hoffnungslose Aufgabe nun einmal übernommen habe, werde ich mich zusammenreißen und sie irgendwie zu Ende bringen …«, erklärte Funès kalt. Mit Adleraugen schweifte sein Blick über uns zwölf nervöse Wiesel vor der Bühne. Auch das Publikum gab keinen Mucks mehr von sich.
»Nachsicht sollten unsere zwölf Kandidaten von mir nicht erwarten. Mit lächerlichen Ausreden, bewegenden Geschichten oder gar Schmeicheleien werden Sie mich nicht beeindrucken«, brummte Funès und sah auf uns hinab. »Für mich zählt nur die Aufrichtigkeit Ihres Gerichts!« Den letzten Satz hatte er so laut herausgebellt, dass ein Teilnehmer vor Schreck eine Gewürzdose umstieß.
»Wenn Sie gewinnen wollen, müssen Sie beweisen, dass Sie keine Niete sind! Sie haben genau eine Stunde Zeit, Ihr Gericht vorzubereiten. In dieser Zeit werde ich Ihre technischen Fähigkeiten beobachten, Ihre Zutaten inspizieren und darf Sie jederzeit unterbrechen, um Fragen zu stellen. Am Ende werde ich Ihre Gerichte nach Aussehen, Geruch und Geschmack bewerten. Die Gerichte müssen gesund sein, dürfen die Umwelt nicht belasten und jede Art von Verschwendung ist zu vermeiden! Nach diesen Prinzipien werde ich einen Gewinner auswählen. Haben Sie verstanden?«
»Verstanden!«, riefen wir im Chor.
»Worauf warten Sie dann noch?«, knurrte Funès.
KAPITEL 2
Die Legende des Helden
Hektisch entzündete ich mit meinem Feuerstein den kleinen Stapel Holz vor mir. Auch alle anderen stürzten sich in die Arbeit. Bald stieg auf allen Seiten des Kegelplatzes Rauch in den Himmel auf. Es ging heiß her. Ein Teilnehmer setzte aus Versehen den Schweif eines anderen in Brand. Der darauffolgende Streit zwischen den beiden verwandelte sich in eine Schlägerei, bei der die Maissuppe eines weiteren Wiesels umgestoßen wurde. Funès kam sofort angelaufen, wies sie streng zurecht und schloss alle drei aus dem Wettbewerb aus. Mit einem Schlag hatte ich drei Konkurrenten weniger.
Ich kicherte schadenfroh und nahm einige Kieselsteine aus meinem Holzkarren. Diese ordnete ich dicht aneinander auf dem Feuerholz an, damit sie sich gleichmäßig erwärmten. Es waren große flache Steine, die ich am Rhein gesammelt und dann gewaschen hatte. Sie dienten mir als Bratpfannen (wieder eine meiner eigenen Erfindungen). Sobald die Steine heiß waren, holte ich einen Krug Kieferzapfenöl hervor. Dann erhitzte ich das Öl, indem ich die Kiesel vorsichtig damit einpinselte.
Auch die anderen acht Teilnehmenden stellten ihr Können zur Schau. Ein Wiesel warf Gemüse in einen Topf kochender Milch. Andere stellten ihre Töpfe und Kochplatten auf das Feuer und brieten Fleisch in heißem Öl. Ein Wiesel kochte Marmelade ein und rollte nebenbei Teig aus. Die Kochlöffel und Pfannenwender klirrten und klapperten, das Öl brutzelte, die Suppen blubberten. Eine Mischung aus duftenden Aromen, seltsamem Gestank und dem Geruch nach etwas Verbranntem erfüllte den Kegelplatz.
Funès lief mit hinter dem Rücken verschränkten Händen zwischen unseren Kochstellen umher. Er zog dabei ein so finsteres Gesicht, dass man hätte meinen können, wir hätten ihm die schlimmsten Dinge angetan. Hin und wieder blieb er hinter uns stehen und beobachtete wortlos jede unserer Bewegungen. Es sah aus, als wolle er uns auf frischer Tat bei irgendetwas ertappen. Dann wieder stellte er sich vor unsere Stationen und überprüfte unsere Zutaten. Er roch an allem, vermutlich um festzustellen, wie frisch es war. All das würde in seine Bewertung einfließen. Schließlich holte er zu allem Überfluss auch noch ein Vergrößerungsglas hervor. Damit beugte er sich über die Pfoten eines Teilnehmers und überprüfte, wie sauber sie waren. Bedauerlicherweise fand er ein Staubkorn unter einer Kralle. Wieder ein Konkurrent weniger für mich.
Als mein Kiefernzapfenöl leicht zu rauchen begann, holte ich den Lachs hervor, den ich vorbereitet hatte. Vorsichtig legte ich ihn auf die Kiesel, wo er auf dem heißen Öl zischte. Meine lieben Freunde, diesen Lachs dürft ihr bitte keinesfalls unterschätzen. Ich hatte ihn für ein Vermögen von Machu gekauft. Der hatte ihm von klein auf Lieder vorgesungen, sodass sein Fleisch einen besonders feinen, geradezu musikalischen Geschmack besaß. Und als er ihn herausfischte, hatte er ihm sofort eine Ganzkörpermassage verpasst. Damit hat er verhindert, dass sich der Stress auf den Geschmack auswirkt. Zumindest hatte Machu mir das alles erzählt. Um ihn haltbar und schmackhaft zu machen, hatte ich ihn zuvor in Meersalz eingelegt und mit Pfeffer und Ingwer gewürzt.
Richard, der Kandidat an der Kochstelle rechts von mir, stellte einen großen Topf auf den Feuerrost. Mit einer Suppenkelle rührte er geheimnistuerisch die weiße Flüssigkeit darin um. Hin und wieder streute er Gewürze hinein, die der Suppe einen seltsamen Duft verliehen. Frau Tama hinter mir verwendete die Feuerstelle gar nicht. Sie hackte rhythmisch auf ihrem Schneidbrett so viele Zwiebeln, dass sogar mir die Tränen in die Augen traten. In der kulinarischen Welt Eichendorfs war sie als radikale Vegetarierin bekannt. Wann und wo auch immer man sie antraf, verkündete sie: »Kein Fleisch! Nur Grünes!«
Funès flitzte wie ein angriffslustiger Adler zwischen acht Beutetieren hin und her.
»Das Feuer ist zu groß. Dass die Eier verbrannt sind, kann ich aus mehreren Metern Entfernung riechen!«, rief er verärgert einem Kandidaten zu. »Sie verfügen noch nicht einmal über das elementarste Grundwissen. Sie machen sich über die große Kunst des Kochens nur lustig! Gehen Sie und denken Sie gut darüber nach! Null Punkte!«
»Aha! Habe ich Sie doch erwischt. Sie sind von diesem Wettbewerb nicht nur ausgeschlossen, Sie bekommen Wettbewerbsverbot, lebenslang!« Er hatte in der Gewürzdose eines Kandidaten Mohnkapseln entdeckt. Das war ein verbotenes Gewürz. Der Geschmack vieler Gerichte ließ sich damit deutlich verbessern, sie machten aber auch süchtig und riefen gefährliche Halluzinationen hervor.
»Na Gott sei Dank, Sie können aufhören. Löschen Sie möglichst schnell Ihr Feuer!« Er stand vor einem Kandidaten, der selbstvergessen Nudeln in seiner Pfanne briet. Nachdem er eine Nudel gekostet hatte, schüttelte er enttäuscht den Kopf. »Noch nie in meinem ganzen Leben habe ich so schlechte Käsenudeln probiert. Ein Reinfall. Das Verhältnis der Gewürze ist völlig falsch. Sie eignen sich nicht als Koch!«
Der Kandidat war so erschüttert, dass er seinen Kochlöffel wegwarf und vom Platz stürmte. Das Publikum buhte.
Vor Anspannung leckte ich mir mit der Zunge über die Lippen. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Während ich mit einem hölzernen Pfannenwender den Lachs auf die andere Seite drehte, streute ich mit der anderen Hand Chilipulver und Kardamom darüber. Um dem Fisch ein appetitliches Aussehen zu verleihen, bestrich ich ihn auf einer Seite mit Karamell und Olivenöl. Auch Richard begann, alle möglichen Zutaten in seine blubbernde Suppe zu werfen. Bei jeder neuen Zutat veränderte sie ihre Farbe. Rot, orange, gelb, grün, blau, violett — es sah fantastisch aus!
Frau Tama verteilte zuerst weiche rote Bohnen und Kichererbsen auf ihrem Teller und platzierte dann einen kleinen Hügel mundgerecht geschnittener Endivien, Kopfsalat und Zwiebel in der Mitte. Rundherum setzte sie honigglasierte Kürbisstücke und Avocadoscheiben, besprenkelte alles mit einer Handvoll knuspriger Kürbiskerne und einem schmackhaft aussehenden cremigen Dressing. Sie war eine Meisterin der vegetarischen Küche, das ließ sich nicht leugnen.
Ich hörte, wie sich jemand laut erbrach. Dann sah ich Funès, der mit schmerzverzerrter Miene etwas ausspuckte. »Wollen Sie mich umbringen?«, schimpfte er und spuckte unaufhörlich. »Da kann ich ja gleich Mist essen!«
Offenbar hatte er von einer Erbsenpastete probiert, in der verdorbene rohe Eier gewesen waren. Der starke Geruch von Knoblauch und Pilzen musste den schlechten Geruch überdeckt haben. Faule Eier, Knoblauch und Pilze … Du meine Güte, wenn ich mir diese Kombination nur vorstellte, wurde mir schon schlecht. Als Preisrichter blieb ihm nichts anderes übrig, als auch solch schreckliche Dinge zu essen. Ich empfand einen Anflug von Mitleid mit ihm.
»Null Punkte! Sie scheiden aus!« Wutentbrannt deutete er auf den Kandidaten. Im Publikum regte sich Unzufriedenheit. Die Zuschauer zeigten nun ihrerseits anklagend auf Funès und machten ihrem Unmut laut Luft.
Eilig lief der Bürgermeister auf das Spielfeld. »Hören Sie auf, Kandidaten aus dem Wettbewerb zu werfen! Sonst bleibt niemand mehr übrig!«
»Beruhigen Sie sich, ich kenne die Regeln«, sagte Funès ernst. »Vier Kandidatinnen und Kandidaten sind noch im Rennen.«
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und auf dem Kegelplatz herrschte große Hitze. In einem Wettlauf gegen die Zeit verpasste ich meinem Lachsgericht den letzten dekorativen Schliff.
»Die Zeit ist um«, rief Funès und läutete eine Glocke, die er in der Hand hielt. »Legen Sie sofort alles aus der Hand!«
Die Wiesel auf der Zuschauertribüne wurden still, richteten sich in ihren Sitzen auf und blickten erwartungsvoll in unsere Richtung. Funès trat feierlich vor den ersten Wettbewerber. Die Augen dieses Wiesels waren von auffällig unterschiedlicher Größe, seine Nase war pockennarbig und eines seiner Ohren völlig kahl. Außerdem hatte es hervorstehende Schneidezähne. Sein Spitzname war Hasso Hasenzahn. Hasso servierte an diesem Tag seine sorgfältig zubereitete Geschmorte Kürbiswachtel. Dafür hatte er eine Wachtel mit Butter, Kräutern und Kürbisfleisch gedämpft und dann in einen ausgehöhlten Kürbis gefüllt. Am Ende hatte er dieses raffinierte Gericht noch einmal mit geschmolzenem Käse überbacken.
»Null Punkte.« Gleichgültig sah Funès die goldgelbe Wachtel im Kürbis an und fällte sein Urteil, ohne auch nur davon gekostet zu haben.
»Warum?« Hassos Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
»Zu … hässlich«, sagte Funès und starrte dabei weiter die Wachtel an.
»Wie kann das sein?«, rief Hasso trotzig. »Das ist eine erstklassige Wachtel! Ihre Form und ihr Aussehen sind perfekt!«
»Ich spreche nicht von der Wachtel, ich spreche von Ihnen …«, sagte Funès, ohne dabei die Wachtel aus den Augen zu lassen.
»Ich bin hässlich?!«, rief Hasso und riss überrascht seinen hasenzähnigen Mund auf. »Hey, was hat das denn mit meinem Gericht zu tun?«
»Sie sollten sich fragen, wer bei diesem Anblick noch Appetit hätte. Nicht einmal ich wage es, Sie genauer anzusehen.« Funès kniff die Augen zusammen. Ohne Hasso zu beachten, sagte er: »Ein qualifizierter Koch muss sich um alle Gefühle seiner Gäste Gedanken machen. Sie haben Potenzial, aber beim nächsten Mal denken Sie bitte daran, eine Maske zu tragen. Null Punkte!«
Hasso brach weinend auf dem Rasen zusammen. Ein Teil des Publikums hatte bereits begonnen, in seinem Namen zu protestieren, während ein Mitglied des Organisationskomitees ihn schnell davonzog. Mich hatte diese Szene völlig verstört. Ich tastete mein Gesicht ab, von dem ich hoffte, dass es Funès nicht den Appetit verderben würde. Das Aussehen der Teilnehmenden zu beurteilen war absurd und ging mir entschieden zu weit. Funès selbst blieb von Hassos Weinen unbeeindruckt. Er stocherte mit einer Kralle in seinen Zähnen und ging mit ausdruckslosem Gesicht weiter, direkt auf Frau Tama zu.
»Kein Fleisch! Esst nur Grünes!«, rief Frau Tama aufgeregt.
»Jaja, meine Dame«, sagte Funès mit hochgezogenen Augenbrauen. »Nun sehen wir einmal, ob Sie Ihre Überzeugung auch angemessen umgesetzt haben. Dieses Gericht heißt …«
»Salat der Vegetarier!«
»Ein sehr bedeutungsvoller Name, also …« Funès betrachtete den Salat wie gebannt, bevor er sich ein paar Blätter davon in den Mund steckte und genüsslich darauf herumkaute. »Kein Zweifel, das ist ausgezeichnet. Besonders der honigglasierte Kürbis zergeht einem im Mund. Köstlich und süß, eine wahrhaftige Krönung! Das ist der zweitbeste Gemüsesalat, den ich je gegessen habe.« Dann fügte er hinzu: »Den besten habe ich selbst gemacht.«
»Vielen Dank für die Komplimente!«, sagte Frau Tama mit leuchtenden Augen. »Grün bedeutet Leben. Nach einem solchen Mahl sind wir wie von neuem Leben erfüllt. Dieses Gemüse enthält alle wichtigen Nährstoffe — mehr braucht unser Körper nicht. Sehen Sie mich an! Fast mein ganzes Leben lang habe ich eine streng pflanzliche Diät eingehalten.«
»Allerdings ist das hier bestenfalls eine passable Vorspeise«, fiel ihr Funès ins Wort. »Und eine Vorspeise bleibt eine Vorspeise, sie wird niemals zu einem Hauptgericht. Sie haben noch nicht einmal ein Feuer gemacht, und damit wollen Sie gewinnen?«
Frau Tama ächzte erschrocken.
Wie der leibhaftige Vater Tod kam Funès Schritt für Schritt näher auf mich zu. Mein Herz pochte laut.
»Sie sind Rubion?«, fragte Funès mit einem Blick auf die Informationstafel auf meinem Tisch, als er vor mir stehen blieb. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, lag ihm immer noch ein Rest von faulem Eiergeschmack im Mund.
»Jawohl.«
»Der Adoptivsohn des Antiquars Danilo?« fragte Funès und runzelte die Stirn.
»Ja.«
»Wie heißt Ihr Werk?« Funès wurde plötzlich von einem starken Schluckauf gebeutelt. Ein seltsamer Gestank wehte mir aus seinem Mund entgegen.
»Es heißt Fisch auf dem Felsen. Inspiriert von Dirers Gedicht Vogel auf dem Baum«, erwiderte ich nervös.
Funès sah den Lachs auf den Steinen an und lachte laut auf: »Und wie unterscheidet sich das von dem, was die Wilden hinter dem Berg essen?« Die Zuschauer lachten zustimmend. Um das Gericht hübscher zu gestalten, hatte ich rote Kirschen an die Stelle der Fischaugen gesetzt.
»Bitte kosten Sie!«, bat ich ihn.
Funès griff angewidert nach einem kleinen Stück Fisch, schob es sich in den Mund, schmatzte und schwieg ein paar Sekunden lang.
»Sie verstehen etwas vom Kochen, das sieht man sofort«, sagte er. »Farbe und Aussehen sind gefällig und die Marinade ist geschmackvoll. Sie bewahrt die Frische und dient auf geschickte Weise dazu, den fischigen Geruch zu überdecken — vor diesem Geruch hatte ich mich am meisten gefürchtet. Pfeffer und Ingwer, richtig? Die Steine so zu verwenden ist sehr innovativ. Sie speichern die Wärme und verstärken dadurch das Aroma des Kiefernzapfenöls. Nur der Kardamom am Ende überzeugt mich nicht ganz, Zimt wäre vielleicht besser gewesen …«
»Bitte, essen Sie weiter. Der obere Teil des Fisches hält eine angenehme Überraschung für Sie bereit«, empfahl ich ihm froh.
»Soll das bedeuten, ich könne aus diesen paar Bissen nicht auf den Geschmack schließen?«, fragte Funès streng und kniff die Augen zusammen. »Vertrauen Sie meinen Geschmacksknospen nicht?«
»Nein!«, erklärte ich hastig. »So habe ich das nicht gemeint! Was ich sagen wollte, war …«
»Stellen Sie vielleicht sogar meinen Geschmack infrage?«, fragte Funès kalt. »Nun, dann weiß ich Bescheid.«
Er wartete nicht auf meine Antwort, wandte sich um und ging weiter zu Charles — puhlte aber in letzter Sekunde noch die Kirschen aus den Augen des Lachses und aß sie auf.
Missmutig stellte er sich vor Charles’ Kochtopf und schielte auf die Suppe darin. Nach etwa drei Sekunden bewegte er ruckartig den Kopf und starrte die Suppe direkt an. Dann schöpfte er mit einer Suppenkelle ein paar Zutaten heraus und betrachtete sie ungläubig.
»Das … das ist doch nicht …«, japste Funès schockiert und beugte sich tiefer über den Topf.
»Mhmm …«, machte Charles und grinste selbstzufrieden. »Ganz richtig. Eine 10/10-Miso-Suppe!«
Ein Aufschrei ging durch das Publikum.
Eine 10/10-Miso-Suppe! Davon hatte ich in Die zehn seltensten Rezepte der Welt gelesen. Hella, die berühmteste Palastköchin in der Geschichte Siroccos, hatte diese Suppe angeblich kreiert. Wie der Name schon sagt, wird diese Suppe aus zehn qualitativ hervorragenden, wertvollen Zutaten hergestellt. Sie hat ein exotisches Aroma und einen besonders abwechslungsreichen Geschmack. Sogar die Farbe der Suppe durchläuft während des Kochens zehn wundersame Veränderungen. Sie ist also in geschmacklicher und in ästhetischer Hinsicht perfekt. Doch das Rezept dafür war nach Hellas Tod verschollen. Es hatte viele Versuche gegeben, sie nachzukochen, aber bisher war noch kein Tier damit erfolgreich gewesen. Ich zitterte vor Aufregung am ganzen Körper. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich diese Suppe einmal zu Gesicht bekommen würde!
»Weißer Trüffel, Kaviar vom Stör, Safran, Haifischflossen, Gänsestopfleber, Schwalbennest, Matsutake-Pilze, Ananas-Seegurke, Tausendjähriger Ginseng …«, zählte Funès langsam auf, während er in dem Suppentopf rührte. Er hatte einen verzückten Gesichtsausdruck. »Jaja … und Kugelfisch …«
Charles lächelte so eingebildet, als trüge er den Blutbernstein bereits um den Hals.
Nein. Da war etwas faul. Wer etwas vom Kochen verstand, musste wissen, dass diese zehn wertvollen Zutaten einen fürchterlichen Geschmack ergeben würden, wenn man sie zusammenmischte und auch noch aufkochte. Das war mit Sicherheit keine 10/10-Miso-Suppe! Oder besser gesagt, es war von Anfang an eine absichtliche Täuschung und so etwas wie eine 10/10-Miso-Suppe existierte ohnehin nicht.
»Schon allein vom Geruch dieses Mischmaschs möchte ich mich übergeben. Dass ich davon auch noch kosten soll, kann ich nicht glauben!«, sagte Funès streng und wandte seinen Kopf wieder ab. Anscheinend teilte er meine Meinung.
Charles gefror das Lächeln im Gesicht.
Doch dann murmelte Funès, mehr zu sich selbst: »Ich werde einen kleinen Löffel davon probieren, denn immerhin sind diese zehn Zutaten wirklich zu verlockend … Hoffentlich ziehe ich mir dabei keine Vergiftung zu …«
Er löffelte eine winzige Menge aus dem Topf und schluckte die Kostprobe hinunter. Alle Wiesel warteten nervös auf seine Reaktion, die meisten trauten sich noch nicht einmal zu atmen. Der seltsame Geruch der zusammengemischten zehn Zutaten waberte an mir vorbei. Ich bewunderte seinen Mut. Einen Moment lang war es völlig still.
»Das erinnert mich an meine verstorbene Großmutter. Es schmeckt genauso wie die Flohsuppe, die sie immer gekocht hat …« Funès’ Blick wanderte in die Ferne und er atmete heiße Luft aus. Seine Augen waren feucht. »Damals hat sie mich immer in den Arm genommen und einen kleinen Stinker genannt …« Er warf uns einen erschrockenen Blick zu, als bereute er, gerade zu viel gesagt zu haben.
»Liebe Eichendorferinnen und Eichendorfer, ich danke euch allen für eure Anwesenheit und für eure Geduld«, sprach der Bürgermeister heiser, während er auf die Steinbühne trat. Über die Brille auf seiner Nase hinweg blickte er mit seinen kleinen Äuglein in die Menge. »Wir haben einen erbitterten Wettkampf und eine gewissenhafte Beurteilung hinter uns. Die Arbeit der Jury ist damit abgeschlossen. Die ursprüngliche Anzahl von zwölf Teilnehmenden hat sich zwar unerwarteterweise reduziert …« Verlegen hielt er kurz inne, bevor er weitersprach. »… nun ja, auf drei Kandidaten. Darf ich nun wieder Herrn Funès auf die Bühne bitten, um die Punktzahlen zu verkünden!«
Mit heruntergezogenen Mundwinkeln trat Funès auf die Bühne vor den Lautsprecher. »Ich möchte zurücknehmen, was ich hier zuvor gesagt habe. Um ehrlich zu sein, der heutige Tag hielt doch einige Überraschungen für mich bereit. Den zweitbesten Gemüsesalat der Welt, beispielsweise, sowie einen Fisch auf dem Felsen