White Fox (Band 4) - Die Pforte des Schicksals - Jiatong Chen - E-Book

White Fox (Band 4) - Die Pforte des Schicksals E-Book

Chen Jiatong

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Beschreibung

Die letzte Hoffnung Mit einem mächtigen Zauber versucht die Rote Königin die Tiere der Arktis zu vernichten. Dilah, früher Polarfuchs, jetzt ein Mensch, glaubt jedoch fest daran, dass Menschen und Tiere in Einklang miteinander leben können. Um die Pläne der Königin zu vereiteln, muss er den geheimnisvollen Goldenen Palast finden. Doch dessen Pforte ist verborgen … Gelingt es Dilah, den drohenden Untergang der Tiere abzuwenden? Band 4 der berührenden und actionreichen Tierfantasy! Der vierte Band der großen Tierfantasy ab 9 Jahren, geschrieben von dem chinesischen Bestseller-Autor Jiatong Chen. Coolness und Magie treffen Spannung, Action und Natur! Ein packendes Abenteuer rund um Polartiere, eine großeMission und eine gefährliche Reise. In dieser modernen Parabel liegen Gut und Böse sowie Freunde und Feinde ganz nah beieinander. Mit stimmungsvollen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Viola Wang. Für alle Fantasy-Fans, die von Woodwalkers und Animox lieben. Der Titel ist bei Antolin gelistet. Alle Bände dieser Reihe: Band 1: White Fox - Der Ruf des Mondsteins Band2: White Fox - Suche nach der verborgenen Quelle Band3: White Fox - Auf dem Pfad der Bestimmung Band 4: White Fox - Die Pforte des Schicksals  Weitere Bände aus dem White-Fox-Universum: Band 1: White Fox Chroniken - Das Geheimnis des Silberbaums Band 2: White Fox Chroniken - Aufbruch zum Schwarzen See

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Seitenzahl: 274

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INHALT

Was bisher geschah

Die Wege kreuzen sich

Die Wege trennen sich

Die Fischhüterin

Aquastella

Die Muschelkutsche

Das Tal der Dunkelheit

Für den verlorenen Ruhm

Der Zweite Arktische Krieg

Ulans Goldener Palast

Zwei Königinnen

Das Abenteuer geht weiter

WAS BISHER GESCHAH …

Fox war ein Mittelschüler aus der kleinen Küstenstadt Karnel, ein dünner Junge mit zerzaustem Haar und großen, klugen Augen. In der Nacht seines dreizehnten Geburtstags war ihm Ulan erschienen, der Schutzpatron der Polarfüchse. Ulan hatte ihm den Mondstein anvertraut, mit dessen Hilfe Fox die Erinnerung an sein früheres Leben zurückgewann. Was er dabei entdeckte, war unglaublich: In seinem früheren Leben war Fox ein weißer Polarfuchs gewesen, mit dem Namen Dilah.

Dilah hatte mit dem Mondstein die Arktis verlassen, um nach Ulans Schatz zu suchen und damit seinen größten Traum zu verwirklichen – seinen Traum, ein Mensch zu werden. Der Mondstein besaß die Fähigkeit, im Mondlicht den Weg zu Ulans Schatz anzuzeigen. Unterwegs hatte Dilah vier Freunde gefunden, mit denen er am Ende einer abenteuerlichen und schwierigen Reise das Halsband der Wiedergeburt entdeckte. Mit der Magie dieses Halsbands hatten sich die fünf Freunde schließlich in Menschen verwandelt.

Nachdem Ulan aus dem Zimmer wieder verschwunden war, waren seltsame Dinge geschehen: Der Kompass des Mondsteins spielte verrückt, in allen Weltmeeren häuften sich ungewöhnliche Vorkommnisse und die Meerestiere lebten in beständigem Chaos – irgendetwas Großes ging vor sich im Ozean. Um diesen Dingen auf den Grund zu gehen, machte sich Dilah mit seinen Freunden erneut auf die Reise. Unterwegs wurden sie von mysteriösen Fischmenschen verfolgt und fanden heraus, dass die Rote Königin des Nixenreichs Aquastella, Luria, in den Besitz des Halsbands der Wiedergeburt gekommen war. Damit hatte sie nach eintausend Jahren auch ihre magischen Kräfte zurückerlangt und Ulans Goldenen Palast besetzt. Und nun hatte sie vor, von dort aus die gesamte Arktis zu erobern.

Damit das nicht geschah, beschloss der weise Fuchsprophet Jurek, sich mit Dilah und seinen Freunden auf den Weg nach Aquastella zu machen. Dort wollte er die gutherzige Schwester der Roten Königin treffen – die Weiße Königin. Sie war im Besitz einer Karte, mit der man sich in dem endlosen Labyrinth des Goldenen Palasts zurechtfinden konnte. Doch im letzten Moment wurden Jurek, Dilah und seine Freunde von der Feuerfüchsin Anna aufgehalten. Um Dilah und seine Freunde zu beschützen, stürzte sich Jurek in einen letzten erbitterten Kampf gegen Anna. Jurek und Anna kamen in diesem Kampf ums Leben, und der Berg, auf dem Jurek lebte, brach ein.

KAPITEL 1

Die Wege kreuzen sich

Nieselregen fiel vom düsteren Himmel, als die fünf Freunde aus dem Raum-Zeit-Tunnel traten. Sie waren auf einer Wiese gelandet und kalter Wind pfiff ihnen um die Ohren. Vor ihnen lag ein dichter Kiefernwald. Dilah war traurig und niedergeschlagen. War das alles wirklich gerade passiert? Hatte Jurek nicht kurz zuvor noch versprochen, sie auf dem Meeresgrund nach Aquastella zu führen? Hatte er nicht vorgehabt, mit ihnen gemeinsam in die Arktis zu reisen und Ulans Goldenen Palast zu suchen, um Luria zu besiegen? Wie konnte er so plötzlich einfach nicht mehr sein?

Jurek hatte sie immer unterstützt. Jurek, mit seinem unergründlichen Wesen und seinen vielen Geheimnissen, seinen zahllosen magischen Schätzen … Dilah spürte Angst in sich aufsteigen, er war verwirrt und verzweifelt.

So lag er im Gras, ohne sich zu rühren, und starrte ausdruckslos in den wolkenverhangenen Himmel. Fast bildete er sich ein, er könnte Jureks gütiges Lächeln in den Wolken über sich sehen und seine freundliche Stimme hören. Er empfand viel für den alten Propheten. Wenn Dilah nicht mehr weitergewusst hatte, dann war es Jurek gewesen, der ihm den richtigen Weg zeigte und ihm half. Und nun hatte er sein Leben gegeben, um sie zu beschützen. Dilah fühlte sich, als hätte jemand ein großes Stück aus seinem Herzen gerissen. Dabei wartete Anselms Großvater doch immer noch darauf, seinen alten Freund Jurek wieder zu treffen und mit ihm auf Reisen zu gehen. Dafür war es jetzt zu spät. Er würde so enttäuscht sein …

Dilah schloss die Augen und heiße Tränen kullerten seine Wangen hinab. Anselm, Poldi, Gänseblümchen und Ning saßen mit ernsten Mienen neben ihm. Mit ihnen hatte er sich vor dreizehn Jahren in einen Menschen verwandelt. Sie alle waren an ein und demselben Tag in ein und derselben kleinen Stadt wiedergeboren worden und seine besten Freunde. Auch auf dieser Reise waren sie Dilah nicht von der Seite gewichen.

Jurek hatte Dilah eine Aufgabe hinterlassen und er würde sie erfüllen, das schwor er sich. Von nun an waren sie jedoch auf sich allein gestellt.

So gut es ging, kämpften sie gegen die Übelkeit an, welche die Reise durch den Raum-Zeit-Tunnel mit sich brachte. Poldi musste sich ein paar Mal übergeben. Dann machten sie sich daran, den Kiefernwald, der vor ihnen lag, zu erforschen. Die hohen Bäume wuchsen in ordentlichen Reihen. Beinahe schien es, als hielten sie Wache und beschützten diesen Ort. Unter einem besonders großen Kiefernbaum fanden sie schließlich Schutz vor dem Regen. Anselm steckte sofort den Kopf in seinen angekokelten Rucksack, um seine Habseligkeiten zu sortieren. So konzentriert und vorsichtig, wie er darin herumkramte, hätte man meinen können, er verstecke einen wertvollen Schatz darin. Gänseblümchen kümmerte sich um Ning, der sich während ihrer Flucht eine große Brandwunde am Oberschenkel zugezogen hatte.

Dilah ließ Kimi aus der Flasche, damit er ein wenig Luft schnappen konnte. Kimi sah aus wie eine blaue Flamme, nicht größer als eine Faust – er war ein Feuerelf, den Jurek Dilah geschenkt hatte. Kimi kletterte über Dilahs Arm auf seine Schulter, schleckte mit seiner warmen kleinen Feuerzunge über Dilahs Wange und knisterte aufgeregt. Dilah fütterte ihn mit den trockenen Zweigen, die Anselm und Gänseblümchen in der Nähe gesammelt hatten, und ließ ihn ein Lagerfeuer entzünden. Kimi wühlte sich aufgeregt durch das Feuer und führte einen kleinen Tanz in den Flammen auf. Ein Hauch von Wärme breitete sich im kalten Regen aus.

»Sieht ganz so aus, als hätte uns der Raum-Zeit-Tunnel an den falschen Ort geschickt«, murmelte Dilah. Er umschlang mit den Armen die Schultern. Seine Kleidung war feucht und er zitterte am ganzen Körper. »Hier ist weit und breit kein Meer zu sehen.«

»Ja, irgendwas muss schiefgelaufen sein …«, überlegte Anselm laut und hielt seine Hände über das Lagerfeuer. Kimi sah ihnen von der Mitte des Feuers aus zu, während er immer wieder seine Gestalt veränderte, mal größer wurde und dann wieder kleiner.

»Bei dem heftigen Beben in der Höhle hat uns der Tunnel bestimmt auf die andere Seite der Erdkugel geschüttelt«, stöhnte Poldi. Sein Gesicht war immer noch grün vor Übelkeit.

»Ach Quatsch!«, sagte Anselm und sah Poldi streng an.

»Und wie machen wir jetzt weiter?«, fragte Gänseblümchen.

»Zuerst müssen wir herausfinden, wo wir sind und wie wir am schnellsten nach Waterson kommen«, sagte Dilah. Es war so kalt, dass er seinen eigenen Atem sehen konnte. Kimi richtete sich auf, wuchs in die Höhe und streckte seine Arme nach Dilah aus. Dilah spürte eine angenehme Hitze, die ihn einhüllte wie dicker Baumwollstoff und die auch sein Herz wieder warm werden ließ.

Den ganzen Tag über fiel leichter Regen vom Himmel. Die Freunde saßen zusammengekuschelt unter dem Baum und hörten den Regentropfen zu, die auf die Kiefernzweige trommelten. Abends versiegte der Regen nach und nach und die Nacht brach herein. Sie stapften im Schlamm durch den finsteren, nasskalten Wald. Unter den Baumwurzeln steckten Strohpilze und Shiitake-Pilze mit ihrem unverwechselbaren Duft die Köpfe hervor. Frierend und hungrig hofften die Freunde auf einen Ort, an dem sie sich satt essen und eine Nacht lang ausruhen konnten.

»Schaut mal, dort!«, rief Anselm und zeigte nach vorn. »Da sind Lichter!«

Sie blickten auf und sahen in einiger Entfernung tatsächlich Licht durch die dichten Kiefernäste fallen.

»Dort wohnen bestimmt Menschen!« Poldi hüpfte vor Aufregung auf und ab.

»Los, das sehen wir uns an!«

Schneller marschierten sie weiter in die Richtung, aus der das Licht zu kommen schien. Am Rande des Waldes entdeckten sie ein paar vereinzelte Häuser, die einen verwahrlosten Eindruck machten. Doch durch die schmutzigen Fenster drang trübes Licht und aus den Schornsteinen stieg Rauch. Daneben standen Maschinen, mit denen man Holz bearbeiten konnte, und große Transportlaster. Auf dem schlammbedeckten Boden lagen überall Holzspäne, durch die zwei tiefe Reifenspuren in die Richtung einer kleinen Stadt führten.

Sie folgten dem Weg in die Stadt hinein. Alles hier wirkte trostlos und bedrückend, besonders die kleinen grauen Häuser, die dicht an dicht und doch irgendwie unordentlich zu beiden Seiten die Straße säumten. Das schwache Licht der Laternen erhellte den Ort nicht, es spiegelte sich nur in dem nassen Asphalt und verlieh allem einen düsteren Schimmer. Die wenigen Menschen, die mit eiligen Schritten unterwegs waren, hatten ernste Mienen und ihre Kleidung war schlicht. Hin und wieder rasten große Autos an ihnen vorbei, in denen schön gekleidete und zufrieden aussehende Menschen entspannt am Steuer saßen. Unter den Reifen der Autos spritzte das Schmutzwasser auf den Gehweg. Ein paar Strommasten, schwer behängt mit verworrenen Kabeln, waren dicht mit weißen Zetteln beklebt, auf denen in dicker Schrift etwas geschrieben stand.

An Häuserwänden, Masten und den Türen kleiner Läden – auf Schritt und Tritt begegneten ihnen immer wieder diese Zettel mit derselben Bekanntmachung. Schließlich blieben sie vor einem der Strommasten stehen und lasen neugierig im dämmrigen Licht der Straßenlampe einen Zettel, den der Regen bereits aufgeweicht hatte:

GESUCHT

An alle Einwohner:

Seit einiger Zeit treibt der Kriminelle, der unter dem Codenamen »Schattendieb« bekannt ist, immer schamloser sein Unwesen. Dieser Ganove hat bereits zahlreiche Banken überfallen, die Staatskasse bestohlen, das Leben von Beamten und Geschäftsleuten bedroht, Polizisten verletzt und es sogar gewagt, die Autorität der Regierung von Penn offen herauszufordern. Seine schändlichen Untaten sind eine Gefahr für die Stadt und verbreiten Panik in der Bevölkerung.

Die Identität des Schattendiebs ist immer noch ungeklärt, seine kriminellen Fähigkeiten meisterhaft. Mehrmals konnte er der Polizei bereits entkommen und aktuell befindet er sich auf der Flucht. Er ist äußerst gefährlich. Die Einwohner werden ersucht, ihr Eigentum gut im Auge zu behalten, Türen und Fenster abends zu verschließen, verdächtige Personen zu meiden und umgehend an die Polizei zu melden. Für Hinweise und die erfolgreiche Festnahme ist eine hohe Belohnung ausgesetzt.

Ein Fahndungsbild finden Sie unten stehend.

Büro des Bürgermeisters, Stadt Penn

Polizeirevier, Stadt Penn

Unter dem Text war das schwarz-weiße Bild eines Jungen, der eine Maske und einen schwarzen Ninja-Anzug trug. Sein Gesicht war schmal und er hatte schwarzes Haar, das bis zu den Schultern reichte. Auf einen freien Fleck unter dem Text hatte jemand einen Spruch gekritzelt: Der größte Dieb von allen – ist das nicht Bürgermeister Grayson?

»Schattendieb …«, murmelte Dilah. Was war das nur für ein furchtbarer Krimineller, den die Regierung mit so vielen Fahndungsaufrufen suchen ließ und den die Polizei trotz alledem noch immer nicht geschnappt hatte?

Sie liefen weiter durch die Stadt. Eigentlich hatten sie angenommen, dass im Zentrum mehr Menschen unterwegs sein würden, doch die Straßen waren so gut wie leer. Die Gesichter der Menschen wirkten bedrückt, kein bisschen wütend, sondern eher so, als hätten sie schon lange kein fröhliches, freies Leben mehr geführt. Wusch – ein Auto bog um die Ecke und fuhr durch eine schmutzige Wasserlache. Das Wasser spritzte auf einen hageren alten Mann, der daraufhin leise vor sich hin fluchte.

In einem kleinen Gemischtwarenladen kauften die fünf Freunde ein paar dünne Decken, in die sie sich zum Schutz gegen die Kälte einwickelten. Dann suchten sie weiter nach einer Bleibe für die Nacht. Nach langer Zeit stießen sie auf ein verwittertes hölzernes Schild. »ZUR DUFTENDEN PINIE« stand darauf geschrieben, und in kleinen Buchstaben darunter: »Zimmer frei«. Damit waren all ihre Probleme gelöst! Ohne zu zögern stießen sie die Holztür auf, die in das Lokal führte.

Das kleine, schummrige Lokal war voller Gäste, die sich auf Holzstühlen um abgenutzte, runde Tische drängten, aßen, tranken und sich leise miteinander unterhielten. Der Wirt lief geschäftig zwischen der Theke und den Tischen hin und her und unterhielt sich mit seiner Kundschaft.

Dilah und seine Freunde schoben sich durch das Gedränge zu einem freien Tisch in einer Ecke, in der ein Feuer im Kamin prasselte. Die Furcht vor den Fischmenschen saß ihnen tief in den Knochen, deshalb wickelten sie sich noch ein wenig fester in ihre Decken, bis nur noch die Nasenspitzen hervorschauten. Ein paar der Gäste warfen ihnen seltsame Blicke zu.

»Bob, kümmere dich mal um Nachschub!«, rief der Wirt und winkte ihnen hinter der Theke zu. In der Mitte seines rotbäckigen Gesichts prangte eine große Nase. Er trug eine ärmellose Weste, auf seiner Schulter lag ein grauer Putzlappen und in einer Hand hielt er bereits eine Speisekarte.

Mit einem lauten »Guten Abend, Fremde!« begrüßte er sie und quetschte sich an den anderen Gästen vorbei. Er musterte ihre Aufmachung mit geübtem Blick und fragte: »Ihr seid auf der Suche nach einer Unterkunft?«

»Ja, das sind wir«, antwortete Dilah, ließ seinen Rucksack zu Boden gleiten und setzte sich. »Haben Sie auch etwas Warmes zu essen?«

»Natürlich, da seid ihr hier genau richtig!«, sagte der Wirt und gab ihm die Speisekarte. »Unsere Holzofenpizza und die Bratwurst nach Art des Hauses sind berühmt in dieser Gegend!«

»Großartig! Das nehmen wir alles!«, entfuhr es Poldi. Vor Freude klopfte er aufgeregt mit beiden Händen auf den Tisch.

»Erlauben Sie mir bitte eine Frage: Diese Stadt, Penn, wo genau befindet sie sich eigentlich?«, fragte Anselm höflich, während Gänseblümchen neben ihm gewissenhaft durch die gesamte Speisekarte blätterte.

»Wo? Na ja, am Polarkreis eben!«, gab der Wirt zurück. Anselms Frage rief am Nebentisch lautes Gelächter hervor.

»Warum ist mir das nicht schon früher eingefallen!« Anselm ging ein Licht auf. »Der Nordpol kann gar nicht so weit sein von hier, sonst wäre es zu dieser Jahreszeit auch nicht so kalt!«

»Das wisst ihr nicht? Wie seid ihr denn überhaupt hierhergekommen?«, fragte der Wirt zögerlich.

»Wir …«, stammelte Dilah und suchte verzweifelt nach einer Erklärung. Er hatte plötzlich das Gefühl, als würde sich ein Paar glühender Augen auf ihn richten. »Wir sind hier zufällig vorbeigekommen …«

»Dieser Ort ist jedenfalls nichts für euch. Die Zeiten sind hart, alles ist hoffnungslos und Arbeit werdet ihr schon gar keine finden!«

»Haben Sie vielen Dank für diese Information! Wir werden nur ein paar Tage bleiben, dann ziehen wir weiter«, sagte Dilah und entspannte sich wieder ein wenig.

Der Wirt entfernte sich von ihrem Tisch und Dilah rückte seinen Stuhl näher an den Kamin. Aus Versehen stieß er dabei seinen Rucksack um und der Mondstein fiel mit einem lauten Klimpern zu Boden. Eilig stopfte er ihn wieder zurück in die Tasche.

Dilah spürte noch einmal einen Blick auf sich ruhen. Suchend sah er sich um, bis er auf einen geheimnisvoll aussehenden Mann in einer dunklen Ecke des Lokals aufmerksam wurde. Er trug einen Umhang und saß allein an einem Tisch. Unter seiner Kapuze ragte ein schmales Gesicht hervor. Sobald er Dilahs Blick bemerkte, richtete er seinen Umhang und seine tiefgründigen blauen Augen verschwanden im Schatten der Kapuze.

Eine düstere Vorahnung ergriff Dilah. Hier saßen alle möglichen Leute zusammen, mit guten oder bösen Absichten. Was, wenn jemand den Mondstein gesehen hatte? Er nahm den Rucksack auf seinen Schoß und wickelte sich fester in die Decke.

Schon bald stieg den Freunden ein verlockender Duft in die Nase. Der Kellner namens Bob servierte ihre Bestellung. Die Pizza mit schwarzen Oliven und Speck war von geschmolzenem Käse überzogen. Die Bratwurst sah prall und saftig aus, die goldenen Pommes waren außen knusprig und innen zart und die cremige Rübensuppe verströmte ein wunderbares Aroma. Einen Moment lang starrten sie auf den Tisch voller Köstlichkeiten, die ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Ohne ein Wort stürzten sie sich auf das Essen. Im Nu hatten sie alles verschlungen und die Teller bis auf das letzte Krümelchen leer geschleckt. Dabei hatte keiner von ihnen bemerkt, dass der geheimnisvolle Mann aus der dunklen Ecke verschwunden war.

So satt gegessen wurde ihnen endlich richtig warm. Nach ein paar Gläsern vom hausgemachten Kürbissaft folgten sie Bob eine schmale Holztreppe hinauf in das obere Stockwerk, in dem die Gästezimmer lagen. Auf halbem Weg nach oben hörten sie plötzlich ein krachendes Geräusch – ein Holzfass kam mit rasender Geschwindigkeit die Treppe heruntergepoltert. In letzter Sekunde sprangen sie in alle Richtungen fort, doch den schmächtigen Bob erwischte das Fass mit voller Wucht und er stürzte auf Gänseblümchen. Poldi und Ning hielten sich an dem Treppengeländer fest, und Anselm, der versucht hatte, die Treppe hinunterzulaufen, rutschte aus und stolperte über Dilah.

Sie halfen sich gegenseitig wieder auf und sammelten ihr Gepäck ein, das verstreut am Boden lag. Bob entschuldigte sich gerade mehrmals bei ihnen, als plötzlich der geheimnisvolle Mann von zuvor die Treppe heruntergelaufen kam. Er war groß gewachsen und schlank und unter seiner Kapuze lugten ein paar schwarze Haarsträhnen hervor. Sein langer Mantel flatterte hinter ihm her.

»Es tut mir leid«, flüsterte er leise und legte seine Hände auf Dilahs Schultern. Dann rannte er mit langen Schritten aus dem Lokal.

Zu beschäftigt, um über das seltsame Verhalten des Mannes weiter nachzudenken, klaubte Dilah das verstreute Gepäck von der Treppe auf. Er wünschte sich nichts dringender, als so schnell wie möglich ins Bett zu kommen. Doch als Anselm, Poldi, Gänseblümchen und Ning ihre Taschen zusammengepackt hatten, fehlte von Dilahs Rucksack immer noch jede Spur.

»Das gibt’s nicht! Der Mondstein ist in diesem Rucksack!« Vor seinen Augen blitzte noch einmal auf, was gerade geschehen war. Jemand musste seinen Rucksack gestohlen haben! Und der Dieb konnte niemand anderer sein als der Mann, der gerade so flink davongelaufen war. Ohne den Mondstein hatten sie keine Chance, dem Halsband der Wiedergeburt auf der Spur zu bleiben. Sie würden den Goldenen Palast nie finden, und, was noch schlimmer war, ohne den Mondstein ließ sich das Halsband nicht zerstören. Dilah musste ihn unbedingt wiederfinden.

»Schnell, ihm nach!«, schrie Dilah. Zu fünft stürmten sie aus der DUFTENDEN PINIE und suchten die Straßen im Licht der Laternen ab.

»Dort ist er!« Anselm zeigte auf eine Straßenecke, hinter der gerade ein Schatten verschwand. Sie nahmen sofort die Verfolgung auf, Gänseblümchen keuchte als Letzter durch die enge Gasse. In den Häusern brannte kein Licht mehr, einzig das schwache Mondlicht leuchtete ihnen, während sie dem Dieb weiter nachsetzten. Ihre Schritte platschten laut durch das Regenwasser, das sich auf dem Straßenpflaster gesammelt hatte. Der dunkle Schatten war in der Zwischenzeit bereits bei der nächsten Abzweigung wieder abgebogen.

»Stehen bleiben!«

Schnaufend rannten sie dem Dieb hinterher. Die dunkle Gestalt drohte zu entwischen, doch Ning zog blitzschnell seinen Langstock und stürzte nach vorn. Leicht wie ein Schatten wich der Mann zur Seite aus. Dann stützte er sich mit einer Hand an einer niedrigen grauen Mauer ab, sprang leichtfüßig auf die andere Seite und war im nächsten Moment spurlos verschwunden.

Sie sprangen dem Dieb über die Mauer nach. Dahinter lag ein versteckter, unbewohnter Innenhof. Aus allen Ecken spross Unkraut und die Mauern waren von wildem Wein überwuchert. Die Besitzer mussten dieses Haus schon vor vielen Jahren verlassen haben. Sie suchten den Hof gründlich ab, doch der Dieb hatte sich vor ihren Augen in Luft aufgelöst. Vielleicht versteckte er sich noch irgendwo im Innenhof oder war unbemerkt durch einen geheimen Ausgang hinausgeschlüpft. Ein Gefühl von Panik befiel sie, besonders Dilah war völlig aufgewühlt. Er musste der grausamen Wahrheit ins Auge sehen: Er hatte den Mondstein verloren.

Dilah wollte gerade die Hoffnung aufgeben, als hinter einer verfallenen Mauer eine Gestalt hervortrat. Im blassen Licht des Mondes und der Handvoll Sterne am Himmel stützte sich der Mann mit einer Hand an der Mauer ab und schnappte nach Luft. Sein Gesicht war schweißbedeckt. Er sah aus, als hätte er Schreckliches durchgemacht. Mit seiner freien Hand hielt er einen blauen Edelstein umklammert – der Mondstein hatte auch bei ihm die Erinnerungen an ein früheres Leben zurückgebracht!

»Wer bist du?«, fragte er und sah Dilah an. »Wie ist der Schatz der Füchse in deinen Besitz gelangt?«

»Du … du weißt über den Mondstein Bescheid?«, stammelte Dilah.

»Mehr als das. Ich war einst einmal sein Besitzer. Bei den Füchsen bin ich unter dem Namen Nicholas bekannt.«

»Du bist Nicholas?!«, japste Dilah. Nicholas war der letzte Besitzer des Halsbands der Wiedergeburt gewesen – und ein brillanter, junger Patriarch der Polarfüchse. Dilah hatte großen Respekt vor ihm. Und nun standen sie sich als Menschen gegenüber!

»Ja, ich war Nicholas, aber nun heiße ich Leonardo.«

Leonardo … Dilah ließ sich den Namen langsam auf der Zunge zergehen. Er war sich sicher, dass er ihn schon einmal irgendwo gehört hatte. Nur wo?

»Du hast den Mondstein und du bist ein Mensch. Also bist du sicher auch einer der Besitzer des Halsbands der Wiedergeburt.« Leonardo seufzte. »Dann habe ich es also nicht geschafft, diese beiden Schätze zu zerstören.«

»Stimmt. Seit du das Fuchsrudel verlassen hast, ist einiges geschehen …«, antwortete Dilah zögerlich.

»Erzähle mir bitte alles, was du weißt!«

Dilah ordnete seine Gedanken, dann erzählte er Leonardo die ganze Geschichte: wie der Mondstein nach Nicholas’ Tod zum Nordpol zurückgekehrt war und dass Graumähne den Stein Arthur anvertraut hatte. Auch von dem Streit, den Karel mit Arthur aus Gier nach dem Mondstein angezettelt hatte, der ihn am Ende sein gesundes Hinterbein gekostet und im Fuchsrudel zu großen Unruhen geführt hatte. Dilah erzählte auch, wie seine Mutter ihm den Mondstein kurz vor ihrem Tod übergab und wie er danach den Nordpol verließ, um nach dem Halsband der Wiedergeburt zu suchen. Davon, wie seine Freunde und er sich anschließend in Menschen verwandelt hatten, und dass ihm Ulan erschienen war. Von der Entscheidung, sich mit seinen Gefährten und der Hilfe des Mondsteins erneut auf die Reise zu machen, von all den Erlebnissen, die sie unterwegs durchgemacht hatten, bis zu dem Zeitpunkt, als Jurek sie an diesen Ort geschickt hatte.

»So ist das also …«, sagte Leonardo und runzelte die Stirn. »Ich trage Verantwortung für das, was geschehen ist. Nun ist der Nordpol von einer schrecklichen Katastrophe bedroht … Ich habe beschlossen, mit euch zu kommen.«

»Du willst dich uns anschließen?«, fragte Dilah hoffnungsvoll.

»Ja. Als ehemaliger Besitzer des Halsbands ist es auch meine Pflicht, es nicht in die falschen Hände gelangen zu lassen«, erklärte Leonardo. »Hat Jurek euch vor seinem Tod irgendwelche Anweisungen hinterlassen?«

»Er schickte uns nach Kap Colm an der Küste von Waterson. Weißt du, wo das ist?«, fragte Dilah.

»Diese Küste liegt einhundert Kilometer nördlich von Penn.«

»Wunderbar!«, jubelte Poldi. »Dann sind wir also doch nicht so weit von unserem Ziel entfernt!«

»Weißt du, wie man dorthin gelangt? Wir müssen auf dem schnellsten Weg nach Kap Colm, dort wartet ein Bote der Weißen Königin auf uns«, sagte Dilah.

»Immer mit der Ruhe, Dilah. Ich sehe euch an, wie erschöpft ihr seid. Ihr müsst euch erst einmal erholen«, widersprach Leonardo sanft. »Kommt am besten mit mir mit.«

Leonardo gab Dilah den Mondstein zurück. Dann ging er voran und führte sie auf versteckten Pfaden hinaus in die Vorstadt. Im kalten Mondlicht glänzten ihre Umrisse silbern zwischen den wenigen Häusern, die in dieser weitläufigen Gegend noch standen. Vor einer verlassenen Ruine, aus der ein verfallener Kirchturm hoch aufragte, machten sie schließlich halt.

»Hier wären wir«, sagte Leonardo.

»Das ist dein …?«, staunte Dilah.

»Das ist mein behagliches Heim, das ich mit meinen fünf Geschwistern teile«, antwortete Leonardo fröhlich.

»Und deine Eltern?«

»Ich weiß nicht, wo sie sind. Ich weiß noch nicht einmal, ob sie noch am Leben sind«, antwortete Leonardo ein wenig unbestimmt. »Angela behauptet, sie hätten schlimme Verbrechen begangen, aber ich bin mir da nicht so sicher …«

»Was soll das denn bedeuten?«

»Ich bin ein Waisenkind. Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen und habe keine Ahnung, wo ich eigentlich herkomme. Alles, was ich weiß, ist mein Name und dass ich von einem weißen Fuchs gerettet wurde, als ich klein war«, sagte Leonardo und ein Lächeln erschien in seinem Gesicht. »Dieser Fuchs hat mich in die Stadt getragen. Er war mein Lebensretter.«

Der Mondstein glitt Dilah aus der Hand und fiel mit einem lauten Klirren zu Boden. Er konnte das Blut in seinen eigenen Ohren rauschen hören und fürchtete, er würde vor Schreck in Ohnmacht fallen. Leonardo! Endlich wusste er wieder, woher er diesen Namen kannte. Das Baby, das er vor vierzehn Jahren gerettet hatte, der Sohn des Waldhüters – das musste der Junge sein, der vor ihm stand! Und dieser Junge war der Patriarch der Polarfüchse gewesen! Dilah dankte glücklich dem Stern, der sein Schicksal mit dem von Nicholas verbunden hatte. Ob das vielleicht sogar Ulans Plan gewesen war?

»Deine Eltern sind nicht mehr am Leben, aber sie waren keine Verbrecher, im Gegenteil. Sie waren die gutherzigsten Menschen, die diese Welt jemals gesehen hat.« Für einen kurzen Moment sah Dilah Bruchstücke dieser wunderschönen Erinnerung vor seinen Augen: den silbrigen Kiefernwald, in dem glitzernde Schneeflocken vom Himmel schwebten. Den Rauch, der aus dem Kamin eines abgelegenen Steinhäuschens stieg, und das warme Licht, das aus dem Fenster fiel. Ein einfacher, ehrlicher Waldhüter saß mit seiner Frau hinter diesem Fenster und sie spielten mit ihrem kleinen Baby. Dilah war den Tränen nahe. Ihm war, als stünde er jetzt gerade vor diesem Fenster und werfe einen Blick hinein …

»Wirklich? Sag doch, haben sie mich geliebt?«, fragte Leonardo ungeduldig mit zitternder Stimme.

»Ja, sie haben dich sehr geliebt …« Dilah schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. »Sie hatten dich über alles lieb.«

»Ich wusste es.« Leonardos Mundwinkel hoben sich leicht, dann drehte er sich schweigend um.

Dieser stille Augenblick, bitter und süß zugleich, fühlte sich an, als hätte sich all die Liebe seiner Eltern binnen weniger Sekunden offenbart. Jedes Kind, das einen solchen Augenblick erlebt hat, wächst mit dieser Stille heran, auch wenn es ihm vielleicht nicht immer bewusst ist.

»Woher weißt du das alles überhaupt?«, fragte Leonardo nach einiger Zeit und drehte sich wieder zu Dilah um. »Du erzählst das, als hättest du es selbst miterlebt.«

»Ich … ähm … Es ist so …«, stammelte Dilah und wurde rot.

»Schon gut, du musst das nicht lange erklären. Ich glaube, ich kenne den Grund.«

»Was?«

»Hast du den Fuchs, der mir das Leben gerettet hat, auf der Suche nach dem Halsband kennengelernt?«

»Das stimmt! Er war mein Freund. Sein Name ist … Er heißt Molin«, seufzte Dilah erleichtert. Keiner seiner Gefährten wusste von dieser Sache und er beschloss, das Geheimnis für immer für sich zu behalten.

»Hat er sich denn mit dir gemeinsam in einen Menschen verwandelt?«

»Nein, unsere Wege haben sich danach getrennt und wir sind uns nie wieder begegnet.«

»Wie schade. Ich hätte mich so gerne persönlich bei ihm bedankt«, sagte Leonardo und lächelte. »Kommt, ich stelle euch meine Familie vor!«

Leonardo führte sie in die Kirche. Ihre Schritte hallten durch den hohen, düsteren Saal, vorbei an Statuen, von denen der Putz bröckelte, und durch das Gewölbe eines schmalen Korridors. Dahinter stand ein kleines Häuschen, hinter dessen Fenstern Kerzenlicht flackerte. Leonardo stieß eine knarrende Tür auf und ein leicht muffiger Geruch strömte ihnen entgegen. Vier kleine Jungen und ein Mädchen empfingen sie mit lachenden Gesichtern.

»Großer Bruder, du bist zurück!«

»Du hast ja Freunde mitgebracht! Wer seid ihr?«

»Richtig, das sind Freunde, obwohl wir uns gerade erst kennengelernt haben«, sagte Leonardo. »Sophie, stell dich und die anderen doch mal vor.«

»Guten Abend!« Sophie zupfte etwas verlegen an ihrem Kleid. In ihrem blonden Haar steckten zwei Spangen und ihre rosigen kleinen Wangen waren von Sommersprossen bedeckt. »Ich heiße Sophie und bin zehn Jahre alt. Das ist Tom, er ist zwölf, Bill hier ist zehn, Charlie sechs und das hier ist Colin, er ist acht.«

Der Anblick der klugen und liebenswerten Kinder ließ Erinnerungen in den fünf Freunden wach werden. Poldi kniff Sophie verspielt in die Wange und Gänseblümchen kramte eilig alle Süßigkeiten aus seinem Rucksack hervor und verteilte sie. Am meisten interessierten sich die fünf Kinder aber für den Feuerelf in Dilahs Flasche. Sie setzten sich staunend um ihn herum und versuchten, ihn zu streicheln. Kimi schien die Neugierde der Kinder zu genießen und veränderte mehrmals seine Form, als wollte er sie beeindrucken.

»Komm, Kimi, lass uns tanzen!« Dilah öffnete die Flasche und Kimi hüpfte heraus. Er wuchs immer weiter in die Höhe, bis seine Flammen beinahe die Decke erreichten. Dann drehte er sich schnell im Kreis und sprühte bunte Feuerfunken, die aussahen wie ein Feuerwerk. Die dunkle, feuchte Hütte füllte sich mit Wärme und Licht und die Kinder hüpften jauchzend vor Freude in dem kleinen Zimmer um Kimi herum.

Spätnachts, als die Kinder bereits zusammengekuschelt auf dem großen Holzbett friedlich eingeschlafen waren, versicherte sich Leonardo noch einmal, dass alle gut zugedeckt waren. Gemeinsam mit Dilah und seinen Freunden setzte er sich an den Tisch. Zwischen ihnen stand eine einzelne Kerze, die ihre wächsernen Tränen vergoss. In ihrem flackernden Licht, das große Schatten an die Wand warf, unterhielten sie sich leise miteinander.

»Du hast diese Kinder also auf dem Weg zum Zirkus entführt?«, fragte Dilah.

»Ja, ich konnte nicht zulassen, dass man sie an den Zirkus verkauft«, antwortete Leonardo.

»Ha, du bist der Schattendieb, nach dem überall gefahndet wird!«, gluckste Poldi. »Du hast wirklich Mut!«

»Ja. Sonst hätten wir uns heute Abend aber vielleicht auch nie kennengelernt. Wie sagt man so schön: Hätten wir uns nicht gestritten, wären wir nicht Freunde geworden!« Leonardo grinste und eine Reihe weißer Zähne blitzte auf. Dann lächelte er sie glücklich an.

»Und die Polizei hat dich bis jetzt wirklich kein einziges Mal gefasst? Das ist doch unglaublich!«, rief Anselm.

»Klingt so, als wärst du derjenige, der in Penn für Recht und Ordnung sorgt«, sagte Gänseblümchen.

»Ach was. Ich tue nur, was ich für richtig halte«, widersprach ihm Leonardo bescheiden. »In drei Tagen gebe ich wieder eine kleine Vorstellung. Ihr seid herzlich dazu eingeladen, hoffentlich wird es euch gefallen.«

»Du hast vor, noch einmal zuzuschlagen?«, fragte Dilah.

»Ja. Ich werde noch eine letzte Sache erledigen, bevor wir aufbrechen«, erklärte Leonardo ernst. »In drei Tagen findet das Sonnenfest statt. Das ist der beste Zeitpunkt für einen kleinen Feldzug, den ich bereits seit langer Zeit geplant habe.«

»Können wir dir dabei helfen?«

»Nicht nötig. Es ist bereits alles vorbereitet.« Leonardo sah Dilah erwartungsvoll an. In seinen traurigen blauen Augen spiegelte sich das flackernde Kerzenlicht. »Dilah, kannst du mir die ganze Geschichte meiner Eltern erzählen? Ich möchte so gern alles über sie wissen.«

Dilah war im Stillen sehr dankbar für diese Frage. Mit viel Leidenschaft erzählte er die Geschichte seiner Begegnung mit der Familie des Waldhüters. Nur die Hauptfigur darin – sich selbst – ersetzte er durch seinen erfundenen Freund Molin. Leonardo hörte ihm gespannt zu. Als Dilah zu der Stelle kam, an der Mideo und Lily ihn umarmten und küssten, bekam Leonardos Gesicht einen sehnsüchtigen Ausdruck. Als er hörte, wie die beiden von den Holzdieben umgebracht wurden, ballte er vor Wut die Fäuste unter dem Tisch. Zuletzt brachte Molin das kleine Waisenkind in die Stadt und die Geschichte war zu Ende.

Die fünf Freunde bereiteten sich auf dem Boden des Häuschens ein Nachtlager. Leonardo löschte die Kerze und ging leise noch einmal hinaus. Kurz darauf war eine traurige Melodie zu hören. Leonardo saß hoch auf einem Baum in dem Wald hinter der Kirche, und während er auf seiner Mundharmonika blies, ging ihm alles Mögliche durch den Kopf. In dieser Nacht machte er kein Auge zu.

KAPITEL 2

Die Wege trennen sich

»Ein Drohbrief ist das, ein Einschüchterungsversuch, nichts anderes!« Bürgermeister Grayson schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch und schüttelte den Kopf, als verscheuche er eine lästige Fliege. »Dieser Mistkerl!«, schnaubte er.

Strahlender Sonnenschein fiel an diesem Morgen durch die hohen Fenster des Bürgermeisterbüros. Das Licht spiegelte sich funkelnd in den teuren Kristallleuchtern, in den antiken Vasen und in den zahlreichen Medaillen und Auszeichnungen an der Wand. In seinem prächtigen Büro tobte Grayson gerade vor Wut. Vor ihm standen der verlegen dreinblickende stellvertretende Bürgermeister Marshall und der Polizeichef von Penn, Kelly. Auf dem glänzenden Mahagonischreibtisch lag ein Zettel. In eleganter Kursivschrift stand darauf geschrieben:

In drei Tagen besuche ich das Haus des Bürgermeisters. Ob ich wohl finden werde, was es dort zu holen gibt?

Ich freue mich auf ein inniges Gespräch mit Ihnen, bitte stellen Sie einen kleinen Imbiss bereit.

Der Schattendieb

»Letztes Mal das Verwaltungsgebäude, dieses Mal mein Haus!«, bellte Grayson und schnappte nach Luft. Die beiden Enden seines Schnurrbarts zitterten leicht und sein dickes Gesicht war rot angelaufen. »Was soll es in meinem Haus schon zu holen geben!«

»Herr Bürgermeister, ich verstehe nicht …«, gab Marshall höflich zurück.

»Sehe ich denn aus wie ein korrupter Beamter?!«

»Oh nein. Sie sind der unbestechlichste Beamte, den ich kenne, das schwöre ich.« Scheinbar tief bewegt von der Selbstlosigkeit des Bürgermeisters blickte Marshall seinen Vorgesetzten an. Ehrfürchtig hielt er seine Hände gefaltet und Tränen der Rührung glitzerten in seinen Augen.

»Was heckt er dieses Mal bloß wieder aus?«

»Herr Bürgermeister, ärgern Sie sich nicht.« Marshall strich sich die öligen schwarzen Haare aus dem Gesicht und lächelte unterwürfig. »Er würde es doch nicht wagen, aus Ihrem Haus zu stehlen.«

»Blödsinn!«, brüllte Grayson aufgebracht und Speicheltropfen flogen aus seinem Mund. »Das letzte Mal haben Sie auch behauptet, er würde sich nicht ins Verwaltungsgebäude trauen. Er hat sich sehr wohl reingetraut und er hat sogar mein Büro geplündert!«