Widerstand des Wassers - Lili B. Wilms - E-Book

Widerstand des Wassers E-Book

Lili B. Wilms

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Beschreibung

Verliebt in Nick, den großen Bruder seines besten Freundes, sieht Tobis Liebesleben düster aus. Zudem wachsen ihm die Kosten in der teuersten Stadt Deutschlands über den Kopf. Als ihm dann noch – wortwörtlich – der Boden unter den Füßen weggezogen wird, eilt ihm ausgerechnet Nick zu Hilfe. Damit wird Tobi die letzte Chance genommen, zu beweisen, dass er kein verantwortungsloser Nichtsnutz ist, für den ihn Nick offensichtlich hält. Unter seiner ruppigen Art verbirgt Nick seine wahren Gefühle: den dringlichen Wunsch, nach Jahren der Geheimniskrämerei, das Verhältnis zu seinem Bruder zu verbessern, und … seine Zuneigung für Tobi. Mit seiner Rolle als großer Bruder und mit seinen energiezehrenden Therapiestunden ist Nick vollauf beschäftigt, doch dann bekommt er die Chance, für Tobi da zu sein. Während ihres unverhofften Zusammenlebens kommen die beiden einander näher und entdecken Seiten aneinander, die sie aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit bisher nicht sehen konnten. Durch Tobi erfährt Nick, was es wirklich bedeutet, füreinander da zu sein, und dass die Kontrolle abzugeben nicht zwangsweise mit Hilflosigkeit einhergeht. Doch hinter den sorgfältig errichteten Fassaden hervorzukommen, ist schmerzhaft und als auch noch Tobis Vergangenheit droht, diesen einzuholen, bedeutet all das die vielleicht härteste Prüfung für ihre Beziehung … In "Widerstand des Wassers" erwartet dich eine gefühlvolle Friends-to-Lovers-Geschichte zum Wohlfühlen, gespickt mit einer Prise Agegap und einigen spicy scenes, frei nach dem Motto: consent is sexy!

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Lili B. Wilms

Widerstand des Wassers

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2023

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

Sirtravelalot – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-591-6

Inhalt:

Verliebt in Nick, den großen Bruder seines besten Freundes, sieht Tobis Liebesleben düster aus. Zudem wachsen ihm die Kosten in der teuersten Stadt Deutschlands über den Kopf. Als ihm dann noch – wortwörtlich – der Boden unter den Füßen weggezogen wird, eilt ihm ausgerechnet Nick zu Hilfe. Damit wird Tobi die letzte Chance genommen, zu beweisen, dass er kein verantwortungsloser Nichtsnutz ist, für den ihn Nick offensichtlich hält.

Unter seiner ruppigen Art verbirgt Nick seine wahren Gefühle: den dringlichen Wunsch, nach Jahren der Geheimniskrämerei, das Verhältnis zu seinem Bruder zu verbessern, und … seine Zuneigung für Tobi. Mit seiner Rolle als großer Bruder und mit seinen energiezehrenden Therapiestunden ist Nick vollauf beschäftigt, doch dann bekommt er die Chance, für Tobi da zu sein.

Während ihres unverhofften Zusammenlebens kommen die beiden einander näher und entdecken Seiten aneinander, die sie aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit bisher nicht sehen konnten. Durch Tobi erfährt Nick, was es wirklich bedeutet, füreinander da zu sein, und dass die Kontrolle abzugeben nicht zwangsweise mit Hilflosigkeit einhergeht.

Doch hinter den sorgfältig errichteten Fassaden hervorzukommen, ist schmerzhaft und als auch noch Tobis Vergangenheit droht, diesen einzuholen, bedeutet all das die vielleicht härteste Prüfung für ihre Beziehung …

Prolog

Nick

»Mhm.« Der Kerl sah ihn von unten an und klimperte mit den Wimpern.

Lachend strich ihm Nick eine blonde Locke aus den Augen. »Tobi, ja?«

Tobi nickte mit einem Grinsen und trat zwischen Nicks Beine.

Nick setzte sich aufrechter auf dem Barhocker hin. »Kann es sein, dass du mir überhaupt nicht zuhörst?« Er legte eine Hand locker an Tobis Taille.

»Ich höre durchaus, was du sagst. Nur bin ich mir nicht sicher, ob ich es hören will. Die Worte, auf die ich warte, klingen anders.«

Nick lachte und musterte den Mann vor sich. Die langen Haare hatte er zu einem Zopf zusammengebunden. Auf die Stirn hatten sich einzelne Strähnen gestohlen. Sein Lächeln wirkte so unbeschwert und ließ ihn noch jünger aussehen, als er vermutlich war.

Tobi strich mit beiden Händen Nicks Oberschenkel entlang. Die Berührung kribbelte über Nicks Leisten in seinen Oberkörper.

Er kam ihm weiter entgegen und Nick roch die süße Frische, die in Tobis Haar hing.

»Was willst du denn dann hören?«, murmelte Nick gegen Tobis Wange.

»Du wirst jetzt gleich sagen: Wir tanzen jetzt, bis uns der Schweiß über den Körper läuft und dann lieber Tobi, kommst du mit zu mir nach Hause und ich werde dich die ganze Nacht verwöhnen. Dir den süßen Schweiß vom Rücken lecken und alles tun, um dich glücklich zu machen.« Tobi war etwas zurückgewichen und sah Nick todernst an.

Dieser lachte schallend los. »Das werde ich also gleich sagen?«

Ein fettes Grinsen breitete sich über Tobis Gesicht aus.

Nick zog ihn wieder etwas zu sich. Es war die richtige Entscheidung gewesen, heute auszugehen. Und dass er nicht in seine eigene Bar gegangen war, sondern in diesen Club, stellte sich als perfekte Idee heraus. Das Fincken, sein Lokal, war im Moment schwer zu ertragen. Das Rumgesitze zu Hause hatte auch nichts gebracht. Die trüben Gedanken wurden dadurch nicht weniger, sondern mehr. Tobi war genau die Ablenkung, die er brauchte.

Wenn jemand Nicks Erinnerung an die Horrornacht vor einem Monat nehmen konnte, war es dieser Kerl, der ihn anflirtete, als gäbe es kein Morgen.

Ein Ziehen spannte sich von seiner Brust bis zu seinem Nabel. Sein Körper wurde völlig unwillkürlich in Alarmbereitschaft gesetzt. Nick zog leicht die Augenbrauen zusammen und Tobi sah ihn fragend an. Innerlich schüttelte sich Nick. Hier bestand keinerlei Gefahr. Er hatte sich eine geschlossene Flasche Cola gekauft und diese ausgetrunken, ohne sie aus der Hand zu geben.

Doch egal, wie sehr er sich bemühte, sein Innerstes zu beruhigen, es gelang ihm nicht. Seine Gedanken schweiften ab. An den Morgen danach. Als er in seinem Büro aufgewacht war. In komplett derangierter Kleidung. Und keinerlei Erinnerung an den vorausgegangenen Abend.

So als streute eine Frau Holle Erinnerungsfetzen in sein Gehirn wie Schneeflocken auf eine derangierte Landschaft, flatterten die Bilder auf ihn herab. Fuck.

»Genau das wirst du sagen!« Tobi riss ihn völlig aus den Gedanken. Worüber hatten sie sich gerade noch unterhalten. Ach so, tanzen. Und Schweiß.

»Ich bin nicht der größte Tänzer«, bemühte er sich möglichst ruhig zu sagen.

»Mach dir keine Sorgen, du wirst keinen Zweifel haben, wie und wohin wir uns bewegen.« Tobi presste sich an Nick, sodass sie hautnah aneinander standen. »Denn wenn ich mich nach rechts bewege,« er zog Nick mit sich. »wirst du mir folgen. Und wenn ich mich nach hinten bewege«, er umklammerte Nicks Nacken, als er sich nach hinten bog. »wirst du ebenfalls mit mir gehen.«

Nicks Schritt rieb an Tobi. Er wurde hart. Wie absurd. Sein Gehirn feuerte immer noch Warnungen an sämtliche Systeme seines Körpers und trotzdem reagierte er auf Tobi.

Fuck vor einer Minute war doch noch alles in Ordnung gewesen. Pass auf! Verlangte sein Gehirn.

Langsam schob Nick Tobi von sich.

»Entschuldige kurz. Ich muss mal kurz raus.«

»Ach ja? Soll ich mitkommen?«

Tobi wirkte ehrlich überrascht. Doch Nick schüttelte den Kopf.

»Ich muss nur kurz … Ich bin gleich wieder da.«

Hoffte er zumindest. Ein bisschen kaltes Wasser im Gesicht musste helfen.

Hastig schritt er auf die Toiletten zu. Zum Glück war sein Bruder nicht da. Er sollte ihn nie so sehen müssen.

Über dem Waschbecken stützte er sich ab und sah in den Spiegel. Er war käseweiß. Nick stellte den Wasserhahn an und ließ das Wasser laufen. Seine Finger wurden eisig darunter und die Kälte brachte ihn zurück in die Gegenwart. Neben ihm trat jemand an das Waschbecken. Die Tür öffnete sich und zwei weitere Typen kamen gemeinsam rein. Sie lachten.

Langsam beruhigten sich Nicks Gedanken. Seine Atmung wurde wieder ruhiger. Vermutlich hatte er sich mit einem Ausflug hierher doch übernommen. Verdammt. Irgendwie musste er diese Attacken in den Griff kriegen.

Er stellte das Wasser ab und ging zurück in den Barbereich. Als er an den zuckenden Leibern auf der Tanzfläche vorbeiging, sah er Tobi auf dem Hocker, auf dem er selbst zuvor gesessen hatte. Ein junger Kerl hing an ihm und Tobi lachte aus vollem Halse.

Ein Stich aus Enttäuschung bohrte sich in ihn. Nick hielt inne. Beobachtete das Grüppchen, das sich um Tobi scharte. Dieser war eine Schönheit. In jeder Hinsicht. Er war so jung und unbeschwert. Nick war ohnehin viel zu alt für ihn. Wahrscheinlich trennten sie über zehn Jahre Lebensweisheit. Und eine verdammte Nacht, an die sich Nick nicht erinnern konnte. Die ihn aber trotzdem wie ein Albtraum immer wieder heimsuchte. Ein bitteres Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Er würde Tobi nicht mit seinem Mist belasten. Vielleicht konnte er seine schrecklichen Erinnerungen mit neuen von diesem Abend ersetzen. Vielleicht konnte die Erinnerung an diesen jungen Mann, der so voller Leben an Nicks Lippen gehangen hatte, einen Teil seines Gehirns überdecken. Nick überlegte, einfach zu verschwinden.

Der Kerl an Tobis Hals nahm diesem sein Glas aus der Hand. Wie paralysiert blieb Nick stehen.

Sofort zog sich seine Haut zusammen. Er verspannte komplett. Tobi schien nicht zu stören, dass sein Glas verschwunden war. Auf der Theke hinter Tobis Rücken vertauschte der Fremde die Gläser. Holte sie hervor und hielt sie beide Tobi vor die Nase. Dieser schnappte nach einem und der Typ zog es wieder zurück. Stellte sie wieder auf der Theke ab. Einer aus der Gruppe stellte sich davor und dessen Rücken versperrte Nick die Sicht.

Nick wollte laufen. Er wollte weg. Tobi schlang seine Arme um den Typ, der die Gläser vertauscht hatte, und lehnte seinen Kopf gegen dessen Schulter.

Der Kerl, der soeben Nicks Sicht verdeckt hatte, reichte dem Typ, an dem Tobi lehnte, ein Glas. Tobi griff danach und Nick stürzte los.

Krampfhaft versuchte er, Zugriff zu seinen rationalen Gedanken zu finden.

Tobi durfte nicht dasselbe passieren, wie ihm selbst passiert war. Unaufhaltsam stieg die Panik in Nick hoch. Schnürte sein Herz ab. Erschwerte seine Atmung. Drang in sein Bewusstsein und packte sich die rationalen Gedanken. Steckte sie in eine Box und atmete ihren toxischen Atem aus, bis Nick nicht mehr denken konnte. Er musste Tobi retten.

Atemlos kam er vor dem Grüppchen zum Stehen. »Was denkst du, was du hier machst?«

Tobi starrte Nick mit weit aufgerissenen Augen an. »Äh, wie bitte?«

Doch Nick hörte ihn durch den Lärm des Clubs und das Rauschen in den eigenen Ohren nur schlecht. Er fühlte nur noch die eigene Hilflosigkeit. Wie er dalag. Ohne jegliche Erinnerung. In seinem Büro. Die Tür zur Bar geöffnet. Die Hintertür sperrangelweit auf. Alles um ihn herum verwüstet. Zerrissenes Hemd. Hilflos. So hilflos. Diese strangulierende Kombination aus Orientierungslosigkeit, Unglaube und purer Angst war so deutlich wie vor vier Wochen.

»Du kennst diese Typen doch gar nicht!«

Tobis Mund klappte weiter auf. »Ich höre wohl nicht richtig. Woher willst du das wissen? Und wenn ich mich nicht täusche, kennen wir uns auch nicht.«

»Das ist was anderes.« Nick wollte Tobi von dem Kerl ziehen. Die Getränke ausschütten. Tobi mitnehmen und alles dafür tun, damit ihm nie etwas zustieß.

Er selbst kam ja kaum zurecht, mit dem, was ihm passiert war. Wie würde so ein junger Mensch wie Tobi mit einer derartigen Erfahrung leben? Würde er daran zerbrechen? Nick würde alles tun, damit sich dieser nie diese Frage stellen musste.

»Das ist was anderes, weil …?« Tobi hatte sich nun vor Nick hingestellt und funkelte ihn wütend an.

Gut, weg von den Typen.

Weil ich dir niemals Hydroxybutansäure ins Glas mischen würde. Das, was sein Toxikologiebefund ergeben hatte. Denn Rohypnol gab es ja so eigentlich nicht mehr. Das war ihm bereits von den Beamten, die seine Anzeige aufgenommen hatten, mitgeteilt worden.

»Weil … weil du nicht weißt, zu was die fähig sind. Du wirfst dich irgendwelchen Typen hier an den Hals, ohne auf dich zu achten oder dich um irgendwas zu sorgen. Es könnte wer weiß was passieren. Wie kann man so leichtsinnig und verantwortungslos sein?«

Er wollte so viel mehr sagen. Tobi klarmachen, dass er aus eigener Erfahrung sprach. Dass Dinge passierten, die man nie für möglich hielt. Aber Nick war nur damit beschäftigt, zu atmen. So als versuchte er durch einen verstopften Strohhalm, Sauerstoff in seine Lungen zu bringen. Ausweglos. Nur darauf konzentriert, nicht ohnmächtig zu werden. Die Panik hatte sich in ihm mittlerweile verkörperlicht und rannte gefühlt von einem Ende seines Schädels zum nächsten. Laut schreiend, sodass Nick seine eigenen Gedanken nicht mehr hören konnte.

Die Anmut Tobias’ vor ihm konnte Nick nicht mehr bewundern. Dieser war wesentlich kleiner als er selbst. Wenn Nick oder irgendjemand hier wollte, könnte er ihn überwältigen und mit ihm anfangen, was er wollte. War Tobias das nicht bewusst? Wieso begab er sich in eine derartige Gefahr?

Wir tun, was wir können. Das hatte die Polizei gesagt. Aber ihm keinen Mut gemacht, dass irgendwas dabei rauskommen würde. Da keinerlei Beweise vorlagen. Keine Fingerabdrücke. Zumindest keine, die in seiner Bar, in seinem Büro ungewöhnlich waren. Er musste mit seinem Leben weitermachen, einfach so. Wieso verstand Tobi das nicht?

»Oh! Wenn ich mich dir an den Hals werfe, ist das okay?«

»Ja!« Gott er musste hier raus. Er brauchte Luft.

Tobi lachte lauthals. »Da ich jetzt dein Eigentum bin?«

»Was? Nein!« Was redete Tobi für einen Unsinn? »Weil die dir Gott-weiß-was ins Glas mischen können, während du damit beschäftigt bist, zu flirten.«

»Also bin ich schuld, wenn mir jemand was ins Glas mischt? Ist es das, worum es geht? Victim blaming der allerfeinsten Art?«

»Was?« Nicks Schädel brummte. Ein Gemisch aus Erinnerungen und der Panik um Tobi hämmerte durch ihn. »Das will ich doch gar nicht sagen. Ich meine doch nur, dass ich nicht will, dass du ... dass dir ... am besten ist, du kommst mit mir mit.«

Der Ausdruck auf Tobis Gesicht war unwirklich. Wie schmerzverzerrt verzog er den Mund zu einem sarkastischen Grinsen.

»Mit dir? Einem durchgeknallten Spinner, der mich anschreit. Um mir nochmal deutlicher zu sagen, wie verantwortungslos und leichtsinnig ich bin?«

»Es geht mir doch nur um deine Sicherheit!«, protestierte Nick mit letzter Kraft. Wieso willst du meine Hilfe nicht? Ich hätte jede Hilfe gebrauchen können. Jemanden, der hinschaut. Der etwas unternimmt.

Tobi schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. »Alle gleich. Das Letzte, um das du dich kümmern musst, ist meine Sicherheit. Ich sorge sehr gut allein für mich. Habe ich schon immer getan. Problemlos. Das Einzige, was mir tierisch auf die Eier geht, sind Typen wie du. Ich verschwende meinen Atem nicht weiter mit einem derartigen Unfug. Hab ein schönes Leben, Freak! Und vergiss, dass du mich kennengelernt hast.«

Tobi stürmte an ihm vorbei.

Blindlings ging Nick auf den Ausgang zu.

Tobi konnte er nirgends mehr sehen. Aber endlich war es ihm möglich, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Darauf, dass sein Atem ruhiger floss. Auch wenn es Stunden dauern würde, bis er wieder klar denken konnte. Er musste nach Hause.

Tobi

Mit immer noch pochendem Herzen und voller Wut stürmte Tobi in seine WG.

Von drinnen konnte er bereits den Lärm einer weiteren Party hören.

Er biss die Zähne zusammen. Er konnte froh sein, ein Zimmer gefunden zu haben. Als er jedoch die Tür aufschob und bereits die ersten Flaschen dahinter laut umfielen, konnte er einen Fluch nicht zurückhalten. Jeder zweite Abend. Und kein Mensch erachtete es für notwendig, aufzuräumen. Der saure Geruch von abgestandenem Bier, verbranntem Essen und … Menschen schoss ihm in die Nase. Ekelerregend.

Niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit, als er sich an den gackernden Typen vorbei zu seinem Zimmer schob. Aus dem Augenwinkel sah er ins Bad. Bitte keine Kotze. Er wandte den Blick ab. Tobi wollte sich jetzt nicht damit beschäftigen.

Zum Glück war seine Zimmertür verschlossen. Er hatte sie zugesperrt. Aber hin und wieder kam jemand auf die Idee, den Ersatzschlüssel rauszuholen und sich dorthin zurückzuziehen.

Seine Mitbewohner waren Arschlöcher. Und er war nur Untermieter.

Als er jedoch seinen Schlüssel im Schloss drehen wollte, schlug dieser sofort an. Es war nicht abgeschlossen.

Er drückte die Türklinke herunter und hörte sofort das unverkennbare Stöhnen einer Frau.

Tobi öffnete die Tür ganz und schaltete das Licht an. Auf seinem Bett steckte Thomas in irgendeiner Tussi, die erstmal laut quietschte, um dann grenzdebil zu kichern zu beginnen.

»Alter, mach das Licht aus!«, brüllte Thomas.

»Verpisst euch aus meinem Zimmer!«, schrie Tobi zurück.

Unbeeindruckt von seinem Ausbruch schüttelte Thomas den Kopf und begann weiter auf seinem Objekt der Wahl herumzuturnen.

»Du kannst mich mal. Ich bin gleich fertig.« Thomas grunzte mehr, als dass er sprach.

»Tommi, komm! Gehen wir zu dir rüber.« Die lebende Sexpuppe warf Tobi einen entschuldigenden Blick zu, den sie nicht halten konnte, da sie mit jedem Stoß Tommis in sie rhythmisch gegen das Bettende geschoben wurde.

»Jemand reingekotzt. Jetzt halt die Klappe, ich will fertig machen.«

Zurück war das dumme Gekicher der nun doch willigen Partnerin. »Okay!«

Tobi schloss die Augen. Er hatte in seinem Leben wahrlich nicht alles richtig gemacht. Er hatte kein Problem, zuzugeben, dass er große Fehler begangen hatte. Aber er hatte nicht ahnen können, hier zu landen. Als er seinem Vater zweifelsfrei deutlich gemacht hatte, dass er auf Penthäuser, Yachten, Villen, das ganze Geld, das diesen innerlich verrotten ließ, gerne verzichten würde, solange er ihn nicht mehr ertragen müsste, hatte er nicht damit gerechnet, hetero Sex in seinen eigenen vier Wänden beobachten zu müssen.

Tobi schüttelte sich. Es gab Grenzen. Erst dieser Penner – der den ganzen Abend den Eindruck gemacht hatte, ein sweeter Sexgott zu sein –, um Tobi dann kleinzumachen. Jetzt das da.

Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf sein Bett, das Tommi mit seinen stakkatoartigen Gehopse auf der Frau, die immer begeisterter quiekte, zum Wackeln brachte.

»Raus jetzt.« Tobi war müde.

Hinter ihm liefen Partygäste den Flur entlang, während sein Mitbewohner einen Urlaut losließ und wohl kam. Prüfend sah das Geschöpf unter Thomas in dessen Gesicht. Und atmete dann erleichtert laut aus.

Thomas rappelte sich hoch und zog sich das Kondom ab. Ließ es auf den Boden fallen. In aller Ruhe zog er eine Hose, die auf dem Boden lag, an.

Als er und seine Gespielin fertig waren, rempelte er Tobi beim Verlassen von dessen Zimmer leicht an. »Ich dachte, ihr Tucken seid lustiger. Aber du bist die lebende Spaßbremse.«

Tobi schloss hinter beiden zu und ließ sich in seinen Sessel fallen.

So ging es nicht weiter.

Er öffnete seine Mails und klickte die oberste an. Schnell verfasste er die Antwort, um die er seit drei Tagen herumgeschlichen war.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich nehme die Wohnung zum nächstmöglichen Termin. Die Kaution werde ich am nächsten Werktag auf dem Kautionskonto hinterlegen und Ihnen die Nachweise zukommen lassen.

Mit freundlichen Grüßen

Tobias Alber

Erschöpft senkte er sein Handy. Dreihundert Euro mehr pro Monat für eine siebzehn-Quadratmeter-Zelle mit Kochnische an einem problematischen Stadtrand. Aber zumindest hätte er alles für sich. Ruhe und die Sicherheit, dass niemand auf seinem Bett vögelte. Ihm wahrscheinlich eingeschlossen, denn bereits bei der Besichtigung war es schwierig gewesen, sich zu zweit darin zu bewegen.

Er würde doch anfangen, Nachtschichten am Fließband zu übernehmen. Damit konnte er sein finanzielles Dilemma leichter bewältigen.

Entschlossen setzte er sich auf. Genug des Selbstmitleids, Tobi! Er hatte alles, was er brauchte. Bald eine vernünftige Wohnung. Er war erst ein paar Wochen in der Stadt, doch er hatte bereits echte Freunde gefunden.

Erneut nahm er sein Telefon zur Hand und begann Izi zu schreiben.

Du hattest – natürlich – Recht. Der Abend war ein Reinfall auf ganzer Linie. Nach einem Griff in die menschliche Pechkiste noch Chaos in der Bude. Ich hab jetzt die Wohnung übrigens genommen. Ich hätte auf dich hören sollen und mit dir ausgehen.

Nur Minuten später antwortete sein neuer bester Freund. Izaak war eine Seele von einem Menschen. Wieso konnte sich Tobi nicht in jemanden wie diesen verlieben? Und sie waren glücklich bis ans Lebensende. Uagh. Leider nicht. Und überhaupt erinnerte er sich selbst, wollte er keine Beziehung. Denn es schien, als gehörte es zur Grundausstattung der Typen, die er sich aussuchte, dass sie Arschlöcher waren.

Mein Schatz, das tut mir wirklich leid. Ich will nicht sagen – ich hab´s ja gesagt – nein, ich sag es nicht. Aber es wird alles gut. Die Wohnung ist ein super Anfang. Das Angebot bleibt: Du kannst bei mir einziehen. Sofort. Aber wenn du nicht willst, versteh ich das. Und du bist immer willkommen.

Als er Izi kennengelernt hatte, war er zunächst skeptisch gewesen. Wenn die Münchner Oberschicht nur annähernd etwas mit der Hamburger Gesellschaft zu tun hatte, hieß es vorsichtig sein. Doch Izi war derart liebenswert und bodenständig, trotz seines berühmten Vaters mit der internationalen Fußballkarriere, dass Tobi nicht anders konnte, als sich Hals über Kopf zu verlieben. Wie man einen besten Freund liebte. Und sie teilten ihre Zurückhaltung gegenüber den Reichen und Schönen. Izi war, im Gegensatz zu Tobi, als Kind aus dem Rampenlicht gehalten worden. Dessen Eltern hatten ihn, nachdem sie von Malta nach München gekommen waren und die Berühmtheit des Vaters über die Familie hereingebrochen war, sehr vorsichtig mit dem Thema in Berührung gebracht. Und Tobi war beeindruckt gewesen. Anders sein eigener Vater, der alles aus seiner Familie, Unternehmen, Freundeskreis in der Presse ausschlachtete, solange es ihm zugutekam. Sobald etwas nicht nach seiner Nase lief, wurde es unter den Teppich gekehrt.

Tobi schüttelte sich. Er war so froh, mit alldem abgeschlossen zu haben. Und er konnte und wollte nicht in Izis schicke Altstadtwohnung ziehen. Tobi musste wissen, dass er auf eigenen Beinen stand. Dass er etwas hatte, was ihm gehörte. Worin er sich zurückziehen konnte.

Er glaubte nicht, dass ihm Izi je in den Rücken fallen würde. Nein. Aber hier ging es ums Prinzip.

Tobi schickte ein Kuss Emoji. Ich weiß! Und ich kann dir nicht sagen, wie froh ich darum bin!

Sofort kam die nächste Antwort.

Morgen kommst du erstmal zum Brunch. Andi hat einen Termin. Aber Nadine ist auch da. Und mein Bruder kommt auch. Wir werden dir zeigen, dass du hier eine Familie hast. Nadine kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen und mein Bruder braucht selbst eine kleine Ablenkung. Ich freu mich.

Tobi lächelte. Es war alles bestens. Er hatte einen Job, eine neue Wohnung und Freunde. Ein wirkliches Leben. Keine Show im goldenen Käfig, die ihn zu einer Marionette seines Vaters machte. Für kein Geld der Welt würde er an eine derartige Position zurückkehren. Sein Abgang war nicht wirklich glorreich gewesen. Und manchmal überlegte Tobi, ob er sich seinen Akt der Genugtuung nicht hätte sparen sollen. Aber es war, wie es war. Und unterm Strich bereute er nichts. Außer, dass er wohl mit der Trennung von seiner Familie auch seinen Bruder verloren hatte.

Aber wenn dieser weiter nach der Pfeife ihres Vaters tanzen wollte, konnte Tobi dies nicht verhindern. Zum Selbstschutz musste er zu sich selbst stehen.

Ich kann es nicht erwarten.

Tobi sah auf sein Bett. Bäh. Er konnte es wirklich nicht erwarten.

Izi nahm ihn am nächsten Tag bereits an der Türe in die Arme und wiegte ihn. »Ah! Du Armer! Es tut mir echt leid. Du hast aber auch ein Pech.«

Dankbar drückte sich Tobi an ihn. Auch wenn die Berührung rein freundschaftlich war, tat sie so unendlich gut. Sie war wie Wasser und Luft für seine Seele. Dass er vor einigen Wochen Izi kennengelernt hatte, obwohl dies von dessen Freund Andi argwöhnisch beäugt worden war, war reines Glück.

Mit einem Strahlen stand Nadine vom Tisch auf, als er schließlich in Izis großes Wohnzimmer trat. »Komm her, mein Hase, setzt dich zu Mama und erzähl ihr, was alles passiert ist.«

Im Lichte des Tages betrachtet, hatte der Streit in der Nacht seine Wirkung verloren. Tobi würde in wenigen Tagen in seine neue Wohnung ziehen, wo er alleine leben würde. Und er würde die Finger von emotional gespaltenen Männern lassen, die ihren Bullshit über ihm ausluden.

Dazu würde er sich im Kreise seiner neuen Freunde von deren Fürsorge einlullen lassen.

Er sah auf das reichliche Frühstück. Und er würde sich definitiv den Bauch vollschlagen, bis er nicht mehr gehen konnte. Er würde vielleicht nicht bei Izi einziehen. Aber er würde das Restwochenende hier an diesem Esstisch verbringen.

In wenigen Worten umriss er, was am Tag zuvor passiert war. Es war Schnee von gestern. Tobi hatte auch keine Lust mehr, sich damit zu beschäftigen.

Sie saßen schon eine Stunde zusammen, als es an der Tür klingelte.

»Das muss Nick sein. Ich dachte schon, er kommt nicht mehr.«

Richtig. Izis Bruder wollte noch kommen. Den hatte Tobi schon fast vergessen. Nick. Izi hatte bisher nur von seinem Bruder gesprochen. Hm. Der Name war hoffentlich kein schlechtes Omen. Es gab in München mit Sicherheit Tausende von Nicks. Dass der Kerl von der Nacht zuvor ebenfalls Nick hieß, war sicherlich einfach ein riesiger Zufall.

»Wie geht es deinem Bruder eigentlich?«, schaltete sich Nadine ein.

Schulterzuckend ging Izi zur Wohnungstür. »Sehen wir gleich.« Er wandte sich kurz zu Tobi und fuhr fort. »In Nicks Bar wurde eingebrochen vor ein paar Wochen. Ihn hat das alles sehr mitgenommen. Zum Glück wurde nur ein bisschen Bargeld gestohlen und ein Chaos veranstaltet. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ihm ginge, wenn noch Mitarbeiter von ihm da gewesen wären. Na ja, jedenfalls ist er ziemlich durch den Wind. Ich hoffe, er erholt sich bald von dem Schreck.«

Ein erneutes Klingeln ertönte und Izi drehte sich entschuldigend um. In wenigen Schritten war er beim Eingang und riss die Tür auf.

Tobi schenkte sich Kaffee nach. So ein Einbruch war echt Mist. Hoffentlich konnten sie Nick aufheitern. Izi war ein Sonnenschein. Wenn Nick nur halbwegs so drauf war wie sein Bruder, würde er wohl in Kürze wieder strahlen wie ein Kraftwerk.

»Hallo Nick!«, rief Nadine.

»Hi Nadine!«, entgegnete eine Stimme, die Tobi nicht unbekannt war. Langsam hob dieser den Kopf.

Das durchgeknallte Scheusal von vergangener Nacht stand vor ihm. Die Augen weit aufgerissen und leichenblass, starrte es Tobi an. Panik. In Nicks Gesichtsausdruck und in Tobis Herz.

Nadine und Izi schnatterten weiter und schoben das Zeug auf dem Tisch zurecht, damit Nick Platz fand.

Schließlich sah Izi auf. »Nick, das ist Tobi, der beste Mensch, der mir je begegnet ist.«

»Hey«, protestierte Nadine.

»Neben der treuen Seele hier natürlich.« Izi zwinkerte Nadine zu.

»Und das ist Nick, der beste Bruder, den sich ein Mensch wünschen kann.«

Tobis Gedanken rasten. Er warf Izi einen Blick zu. Völlig unbedarft sah dieser von einem zum anderen. Das war kein Set-up. Izi wusste nicht, was zwischen seinem Bruder und Tobi vorgefallen war. Und Nick war ebenso ahnungslos. Hölzern streckte er Tobi seinen Arm entgegen.

Fassungslos fiel Tobis Blick auf die Hand vor sich.

Sein Herz raste und in Sekundenschnelle musste er eine Entscheidung treffen.

Egal wie sehr er seinen Vater verachtete, eines hatte er aus dessen Geschäftemacherei gelernt. Zeige nicht dein Blatt, solange du nicht alle Einzelheiten kennst. Lasse dir nicht in die Karten schauen, solange du nicht den nächsten Spielzug deines Gegners kennst.

Tobi wusste ja nicht mal, ob Nick ein Gegner war. In jedem Fall würde er sich nicht in die Karten sehen lassen. Izi würde ihm verzeihen. Musste ihm verzeihen, wenn alles rauskam.

»Freut mich, Nick.«

»Mich auch«, knarzte Izis Bruder. Tobi sah ihm an, dass Nick am liebsten verschwunden wäre und nicht wollte, dass Tobi sie auffliegen ließ.

So sehr er am Abend zuvor auf Tobi herabgesehen hatte, so verunsichert wirkte er jetzt. Ein ein Meter neunzig großes Häufchen Elend.

Ja. Tobi hatte keine Ahnung, wie Nicks Karten aussahen. Und er selbst würde seine eng an seiner Brust halten.

»Sicher«, murmelte er.

Vier Jahre später

Kapitel 1

Nick

Nicks Magen krampfte sich zusammen. Seine Gedanken wanderten zu Izaak und Tobi. Wo war sein Bruder? Wo war Tobi? Er atmete tief ein. Loslassen. Er würde die Gedanken loslassen. Aber etwas wie eine Vorahnung hatte sich von Nicks Magen über sein Herz in seinen Kopf ausgebreitet. Irgendwas stimmte nicht. Sie waren nicht sicher. Diese fixe Idee hatte sich in Nick festgebissen. Und er wurde sie nicht los. Ein durchgeknallter Mandant könnte Izaak angreifen. Eine Krankheit könnte ihn dahinraffen.

Nick bemühte sich, ruhig zu atmen. Er hatte vor nicht einmal einer Stunde mit Izaak telefoniert. Die Sorgen waren nicht echt.

Aber sie fühlten sich so real an, wie die Hände, mit denen sich Nick über das Gesicht rieb.

Die aufsteigende Panik machte ihn kraftlos und rastlos gleichzeitig.

Nick sah sich um. Seine Küche. Er war in Sicherheit. Irgendwie musste er seinen Herzschlag beruhigen. Wie wild flatterte das Organ in seiner Brust und trieb ihn nervös umher.

Getrieben lief er in einer Acht durch den Raum.

Was wäre, wenn Tobi…? Tobi hatte niemanden. Diese Gedanken kamen nicht von ihm. Das hatte er in der Therapie gelernt. Was wäre, wenn… nahm sein Gehirn in Beschlag und verhinderte das Denken. Er musste diese Art von Überlegungen loswerden. Sie ablegen. Wie mit einem Scheibenwischer wegwischen.

Abrupt blieb er stehen.

Mit einem Satz löste er sich aus seiner Acht und trat auf die Küchenzeile zu. Dort fand er sein Handy und griff danach. Seine Hand zitterte. Mit verkrampften Fingern strich er über das Display und öffnete seine eingespeicherten Nummern. Sein Blick fiel auf den ersten Kontakt.

Der Druck, der gegen seine Schläfen presste, wurde immer stärker. Sie sind sicher. Beide. Izaak ist sicher. Tobi ist sicher. Aber Tobi …

»Absolut notwendig« so hatte er die Nummer abgespeichert. Damit war sie ganz oben. Dies war der erste Name, den er sah.

Sie waren sicher.

Er konnte den Kreis durchbrechen. Es waren nur Gedanken. Die Angst durfte nicht sein Handeln bestimmen. Dennoch versuchte sein Finger wie von selbst, in den Kontakt nach unten zu scrollen. Zu Tobi. Doch das Telefon glitt aus seinen Händen und fiel polternd in die Spüle. Hektisch griff er hinterher. Ein brennender Schmerz jagte durch seine Hand und er schrie auf. Blut tropfte von seiner Fingerkuppe. Entgeistert blickte er auf die Wunde, die das Obstmesser in seinen Finger geschnitten hatte. Fuck.

Unstet fuhr sein Blick herum. Das Blut löste die Gedanken, die ihm bis soeben den Atem geraubt hatten leicht. Mit seiner unverletzten Hand fischte er sein Handy zu sich und rief »Absolut notwendig« an.

Nach nur einem Klingeln wurde abgehoben und Nick konnte kaum die Begrüßungsformel abwarten. Anna war selbst dran. »Hi Anna. Hier ist Nick. Könnten Sie … ich meine … haben Sie meinen Termin heute schon vergeben, oder könnte ich doch noch vorbeikommen?« Seine Stimme war gehetzt, höher als gewöhnlich. Sie war mit den letzten Worten völlig ausgefranst, sodass er sich selbst kaum verstehen konnte.

Im Gegensatz zu seiner Therapeutin offenbar. »Nein, das ist kein Problem. Der Termin ist offen. Kommen Sie einfach vorbei.«

Nick atmete aus und seine Schultern fielen wieder nach unten. Erschöpft lehnte er sich gegen den Kühlschrank. »Danke. Das …«

Er presste die Lippen zusammen.

»Ist alles in Ordnung, Nick? Brauchen Sie Hilfe?«

Er nickte. »Nein. Ich komme zurecht.« Er war ein wandelnder Widerspruch. Seine Therapeutin belügen. Über das Stadium war er hinaus, hatte er gedacht. Auch wenn das heute einen derart großen Rückschritt bedeutete, über den er nicht nachdenken wollte. »Nein. Warten Sie. Ich war soeben an der Grenze zu einer Panikattacke.« Er presste die Augen zusammen und fühlte seinem heftig schlagenden Herz nach. Seinen Füßen, die immer noch rastlos herumlaufen wollten. Er presste die zitternden Finger gegen seine Nasenwurzel. »Ich hatte soeben eine Panikattacke. Ich ... habe eine Panikattacke. Ich würde gerne so schnell wie möglich vorbei kommen.«

»Nick, wir können auch jetzt reden. Ich habe grade Zeit. Haben Sie etwas, was sie erdet?«

Er war ein Trottel. Schon über ein Jahr Therapie und immer wieder zog er zurück auf Los. So als wäre das sein erstes Rodeo. Mit der letzten Kraft schob er sich vom Kühlschrank weg, zog die Tür auf und griff automatisch hinein. Die Kälte des Kühlpads wirkte sofort auf seine Finger, die sich darum schlossen. Er legte es sich mit einem vielmals geübten Griff in den Nacken und konnte schlagartig freier atmen. Fuck. Unter größter Anstrengung öffnete er seine Augen, die sich geschlossen hatten, und er inspizierte seinen Kühlschrank.

»Nick? Sind sie dran?«

»Shit, ja. Entschuldigen Sie, Dr. Ferber. Ich bin grade am Kühlschrank und suche nach was zum Dranriechen.«

»Gut. Machen Sie das. Ich warte, bis Sie so weit sind.«

Mit spitzen Fingern hob Nick den Deckel einer Take-away-Box an, die sicher schon eine Woche alt war. Pad Thai Reste. Er hielt sie sich unter die Nase und wandte sich sofort davon ab. Ekelhaft. Er sollte sich wirklich angenehmere Düfte, die ihn aus seinen Gedanken holen konnten, zusammenstellen und bei sich tragen. Aber Pad Thai wirkte offensichtlich wie scharfe Minze.

»Entschuldigen Sie. Ich hab nicht daran gedacht.«

»Keine Entschuldigung notwendig. Geht’s besser?«

»Ja.«

»Dann sehen wir uns so schnell Sie können? Ist das in Ordnung?«

Nick schmiss die Box mit den Essensresten in den Mülleimer und lehnte sich wieder gegen den Kühlschrank. »Ich bin gleich da.«

Er sah auf seinen Finger. Er brauchte ein Heftpflaster.

Nach einer Panikattacke und fast einer Stunde Gespräch war Nick froh, dass in Annas Zimmer eine Couch stand, auf der er, völlig fertig, liegen konnte.

Während er nachdachte, starrte er die Zimmerdecke an. Nicht darüber, was er sagen wollte. Sondern wie. »Ich weiß, warum ich die letzten Termine abgesagt hatte. Es ist der Jahrestag. Und ich wollte es ohne Termin bei Ihnen schaffen.«

»Das hatten Sie nie kommuniziert. War das ein spontaner Gedanke?«

Spontan? »Latent spontan? Es war kein großer Plan dahinter. Aber irgendwie hoffe ich – immer –, dass ich es schaffe. Diesem Tag nicht die Macht gebe, die er vermeintlich hat.«

»Und wie fühlt es sich jetzt an?«

»Jetzt, da ich völlig gescheitert bin?«

»Versuchen Sie, ohne Wertung zu betrachten, was passiert ist.«

Nick seufzte schwer. »Was passiert ist? Nun, genau das, was zuvor immer passiert ist. Statt bei Ihnen hier rumzuliegen und über mich zu reden, habe ich versucht, mich abzulenken. Und genau wie zuvor hat das natürlich nicht geklappt. Die Angst und …« Er gestikulierte um seinen Kopf, »was da drin ist, hat sich wieder ein Ventil gesucht. Und es war wieder Izaak und Tobi.«

Anna ließ den Stift sinken und richtete ihren Blick auf ihn. Sie sah ihn intensiv und ohne Urteil an. Auch wie immer.

»Und wie fühlen Sie sich dabei?«

Nick fuhr sich mit beiden Händen über sein Gesicht. »Wie ein Versager. So als ob ich in den zwei Jahren bei Ihnen keinen Fortschritt gemacht hätte. Wir reduzieren zwar Stunden, aber ich brauche immer noch eine Regelmäßigkeit. Ich dachte ehrlich gesagt vor zwei Jahren, ich wäre viel weiter. Jetzt.«

»Sie haben unglaublich viel geschafft in dieser Zeit, Nick. Versuchen sie mal, einen Blick auf alle Erfolge zu richten und sagen Sie mir, wieso heute auch ein Erfolg war.«

Er hob den Kopf und versuchte, ihr einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Die zusammengekniffenen Augen und das vorgeschobene Kinn sollten ihr zeigen, dass er keine Lust auf eine derartige Schönfärberei hatte. Anna lächelte ihn über die Distanz nur an und forderte ihn mit einem Kopfnicken auf, zu reden.

Lange starrte er vor sich hin, ohne, dass Anna Anstalten machte, ihn in seinen Gedanken zu unterbrechen. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich kann das heute nicht. So lange hatte ich keine Attacke mehr. Und heute war so schlimm wie seit Jahren nicht mehr.«

»Aber was war anders als zuvor?«

Was war anders? Nick dachte krampfhaft nach. »Ich … ich hab Sie angerufen.«

»Richtig. Sie haben sich selbst aus der Panikattacke geholt. Sie haben sich Hilfe geholt und mich angerufen.«

»Ich habe nicht mal an das Kühlpack gedacht. Oder etwas zu riechen. Oder zu atmen. Versuchen zu atmen.«

»Bevor Sie sich wieder tadeln, loben Sie sich, für das, was sie erreicht haben. Nicht nur jetzt, sondern auch, wenn Sie nach Hause gehen.«

»Okay. Ich versuche es.«

Anna antwortete nicht. Und Nick dachte darüber nach, was passiert war. Eine unglaubliche Müdigkeit erfasste ihn. Aber er würde hier nicht einschlafen.

»Wir haben noch ein paar Minuten. Möchten Sie noch über etwas anderes reden?«

»Ich weiß nicht. Richtig brennt mir nichts auf der Seele. Ich bin nur fertig.« Er fühlte sich leer.

»Sie hatten beim letzten Termin gesagt, dass wir uns über die symbolischen Krücken, die sie sich zurechtgelegt haben, unterhalten können. «

»Ich will wirklich nicht über Robert reden.«

Die Stille, die folgte, drohte ihn zu zerquetschen. Fuck. Obwohl Anna ihm oft genug Fallen stellte – wie er ihr scherzhaft vorwarf – dieses Loch hatte er sich selbst geschaufelt.

»Wir müssen nicht über Ihren Freund reden. Zählt denn Robert zu diesen Krücken? Der Vorschlag war eher allgemein gedacht. Ob die Hilfsmittel, die Sie sich zu Beginn unserer Gespräche zurechtgelegt hatten, noch funktionieren oder ob Sie diese justieren wollen. Gibt es etwas, was überhaupt nicht mehr funktioniert und sie sehr belastet?«

Hastig setzte sich Nick aufrecht hin. »Wie dem auch sei. Ich will nicht über Robert reden.«

»Alles klar. Über was würden Sie denn gerne reden?«

»Ich habe das Schlafmittel nicht mehr genommen. Seit einer gewissen Zeit.«

Anna setzte an, etwas zu sagen, doch Nick fuhr schnell fort. »Ich weiß, ich soll auch das bereden. Auch, wenn ich sie nach Bedarf nehmen darf. Aber ich wollte den Tag wirklich bewusst erleben. Ohne Betäubung. Ich wollte mir beweisen, dass ich den Tag alleine bewältigen kann.«

»Nick, auch auf die Gefahr hin, dass Sie das alles wissen: Halten Sie sich an die Dosierungsanweisungen! Fragen Sie im Zweifel. Ja, Sie nehmen das Medikament nach Bedarf. Aber zögern Sie nicht, mich oder einen Arzt danach zu befragen. Lassen wir das doch mal so stehen. Sie sagen, ohne Betäubung. Hatten Sie nicht gesagt, Sie vertragen es gut?«

»Ja, das tu ich.« Jetzt, da die Angst ihre Fesseln löste und Nick wieder atmen und denken konnte, kam er sich fast albern vor. »Mit dem Schlafmittel kann ich wieder durchschlafen und die Angstattacken sind nahezu verschwunden und definitiv nicht mehr so intensiv. Ich hatte schon befürchtet, dass ich nie wieder einen derartigen Zustand erreiche. Dennoch … irgendwie fühlt es sich an wie Schummeln. Ich trickse mich und meinen Körper medikamentös aus. Ich wollte das nicht. Nicht an dem Tag. Danach hätte ich es wieder genommen. Denke ich.«

»Okay. Darüber müssen wir reden …«

»Ich weiß. Wirklich. Ich muss das jetzt nicht hören. Stellen Sie mir einfach den Plan zusammen. Ich habe meine Lektion gelernt.« Voller Resignation schloss er kurz die Augen.

»Also gut. Aber lassen Sie mich das Eine noch sagen. Gehen wir die Frage von der Perspektive der »Krücken« aus nochmal an. Nach einem Unfall gibt es so schwere Verletzungen, dass eventuell ein kurzer Krankenhausaufenthalt, eine Operation oder eine Physiotherapie nicht ausreichen. Manchmal müssen Implantate eingesetzt werden. Medikamente lebenslang genommen werden. Das ist bei Ihnen ähnlich. Ich kann nicht sagen, für wie lange es Sinn macht, ein Medikament zu nehmen. Wir können Dosierung und Einsatz immer – miteinander – besprechen. Und vielleicht kommen wir zu dem Ergebnis, dass es erst mal für unbestimmte Zeit eingenommen werden sollte. Macht Sie dies schwächer als jemanden, der ein Implantat in der Schulter hat? Der es benötigt, um seinen Arm voll funktionsfähig einsetzen zu können.«

Nick überlegte. »Natürlich erfordern physikalische Gesetze, dass beispielsweise Implantate eingesetzt werden. Wenn meine Schulter zertrümmert ist, wäre es doch nicht schlau, auf ein kleines Stückchen Metall zu verzichten, wenn man dafür seinen Arm benutzen kann.«

Anna sagte nichts. Nick überlegte weiter. Ah, verdammt. »Es fällt mir trotzdem schwer.« Er seufzte.

»Das verstehe ich.« Anna setzte sich im Stuhl zurecht. »Trotzdem will ich Ihnen nochmal sagen, dass Ihre Erfolge in derart kurzer Zeit eindrucksvoll sind. Mit und ohne Schlafmittel. Und so wie es in den letzten Wochen gelaufen ist, möchte ich Sie bitten, es sich wirklich zu überlegen, diese Hilfe anzunehmen.«

»Das ist es nicht. Ich fühle mich damit wirklich – ich will nicht übertreiben – aber wie neu geboren. Fast wie vor dem Überfall. Ich befürchte nur, dass es nicht wahr ist.«

Anna nickte versonnen. »Und andere Hilfsmittel, die Sie für sich gewählt haben? Wie kommen Sie damit zurecht?«

Nick überlegte. »Die Security in der Bar war längst überfällig. Sie geben mir ein gutes Gefühl. Vor allem auch für meine Mitarbeiter. Ebenso mein Umzug. Das Sicherheitskonzept ist etwas over the top. Aber ich mag die Wohnung. Die Gegend. Und ich fühle mich dort wohl. Dass ich das Catering aufgegeben habe, ist schmerzhaft. Aber die wechselnde Kundschaft, nie zu wissen, wie die Räume aussehen, die Unwägbarkeit, das vermisse ich nicht. Mir gefällt nach wie vor die Idee davon. Auch würde ich wieder gerne mehr kochen. Vielleicht schaffe ich es irgendwann, es wieder aufzunehmen. Aber im Moment ist es besser, darauf zu verzichten.«

»Sehr gut! Es gefällt mir, wie sicher Sie sich sind. Versuchen Sie, Medikamente, wenn sie für Sie funktionieren, auch aus diesem Blickwinkel zu betrachten.«

Nick nickte. »Ist gut.« Er wusste, wie viel ihm Therapie und das Schlafmittel gebracht hatten. Vermutlich war es an der Zeit, Vorstellungen von sich selbst an seine neue Realität anzupassen.

Kapitel 2

Tobi

»Das Zimmer ist wirklich perfekt!« Kleiner als sein Apartment im Hochhaus, in dem er seit fast vier Jahren lebte, aber auch günstiger. Langsam konnte er die Kosten seines Alleinlebens nicht mehr bewältigen. Tobi sah sich erneut um. Dabei war ihm weniger der Raum als die Leute wichtig. Er konnte überall leben. Aber nicht mit jedem.

»Ja. Wir haben viele Bewerber. Aber du scheinst ein cooler Typ zu sein. Die anderen Mitbewohner sind auch alle da. Komm doch mit in die Küche, damit wir uns besser kennenlernen können. Die Chemie muss ja stimmen, wenn man so eng zusammenlebt.«

»Das sind wohl wahre Worte. Meine erste WG-Erfahrung hier war nicht so toll. Aber mein Einzimmerapartment ist auch nicht so spitze. Wird Zeit für was Neues.« Es wurde vor allem Zeit für etwas, wo es nicht im Halbjahrestakt Mieterhöhungen hagelte. Seit die neue Hausverwaltung ihre Arbeit aufgenommen hatte, bereitete sie Tobi schlaflose Nächte. Und nicht die schlaflosen Nächte, die man sich wünschte. Er drohte in seiner geliebten Oase unter der Kostenlast zu ersticken. Für ein paar Quadratmeter. In einem mittelmäßigen Viertel.

Als sie in die Küche traten, sah Tobi in die erwartungsvollen Augen der anderen Mitbewohner. Die hoffentlich bald seine Mitbewohner würden. Näher in der Innenstadt, weniger Miete, näher bei Izaak. Jep.

»Also Tobi«, begann ein Mädel. Melissa, »was studierst du denn?«

Tobi winkte ab. »Ich studiere nicht.«

»Ah. Okay. Was hast du studiert?«

Leicht irritiert sah er von Melissa in die Gesichter reihum. »Ich arbeite bei Siemens.«

»Oh. Ein Ingenieur. Wie cool. Haben wir noch gar nicht. Jemand, der praktisch veranlagt ist. Ich studiere nordische Mythologie.«

»Nein. Ich bin in der Produktion.« Vier ratlose Augenpaare starrten ihn an.

»Was heißt das?« Den Namen dieses Kerls wusste Tobi nicht mehr.

»Fließband.« Regelmäßiges Einkommen heißt das. Ihr arroganten Pinsel.

»Oh.« Betroffen sah Melissa zu dem Typ, der Tobi durch die Wohnung geführt hatte.

Dieser ergriff wieder das Wort. »Dann wäre wer der Mieter? Nicht deine Eltern?«

Tobi ließ die Frage kurz sacken. Überlegte, was er sagen sollte. Der Zug war hier ohnehin abgefahren. Aber er nicht engstirnig. »Nein. Ich selbst bin der Mieter.«

So was wie Erleichterung ging durch die Gruppe.

Melissa zuckte fast entschuldigend mit den Schultern. »Ah, das ist dann blöd. Der Vermieter will einen sicheren Bürgen. So mit sicherem Geld und so. Wir sind ja auch alle keine Mieter hier.«

»Tja. Dann wird’s wohl nichts.« Der Wohnungsführer ging Richtung Tür.

Tobi nickte mit zusammengebissenen Kiefern einmal in die Runde und trottete hinterher.

Als sie am Eingang standen, öffnete der Kerl ihm. »Tja. Sei froh. Das hätte eh nicht gepasst. Ist ja ne ganz andere Welt. Das Leben bei uns hätte dich sicher gelangweilt.«

Er würde nichts sagen. Er sagte nichts. Tobi sagte gar nichts mehr. Alles, was er jetzt von sich geben würde, wollte er seinem inneren Karma nicht antun. Diese Herrschaften waren es nicht wert. Ohne sich nochmal umzusehen, lief er die Treppe hinab.

Als er das Haus verließ, zog er seine Jacke am Kragen eng zusammen.

Dieser Januar war kalt, nass und drang einem bis tief in die Knochen. Doch es tat gut, die kühle Luft einzuatmen. Schlagartig konnte er wieder klarer denken.

Nope! Er würde sich nicht von derartigen Idioten aus der Bahn werfen lassen. Er war besser als diese kleingeistigen Wichtigtuer.

Als er an seiner U-Bahn-Haltestelle ausstieg, ging er eilig auf seinen Wohnblock zu. Nach vier Jahren war alles komplett vertraut. Beim Bettler neben der Bank ließ Tobi die Münzen aus seiner Jackentasche in dessen Becher hineinfallen. Er nahm die Abkürzung durch das Einkaufszentrum, ohne einen Blick an die Geschäfte zu verschwenden. Die schweren, großen, gläsernen Ausgangstüren fielen hinter ihm zu und vor ihm erstreckte sich der Park. Es fühlte sich an, als liefe er gegen eine eisige Wand.

Trotz der Temperaturen trieben sich etliche Kinder auf dem Spielplatz herum. Er sah kurz, ob er jemanden kannte. Aber keines der Kinder aus seinem Haus war darunter.

Das Nasskalt des Winters drang durch seine Jacke. Unter seinen Füßen knirschte das gefrorene Gras bei jedem Schritt. Die dünnen Sohlen seiner Sneakers hielten den Frost kaum ab. Mit jedem Meter froren ihm die Zehen mehr ein.

Er hastete auf seinen Wohnblock zu. Sprang die Stufen zur Eingangstür hinauf und nahm die Beine in die Hand. Dem Aufzug, der seit Jahren nur noch in Ausnahmefällen funktionierte, schenkte er keine Beachtung. Mit jedem Stockwerk, das er erklomm, konnte er die Gerüche, die aus den Wohnungen drangen, den Menschen, die sich dahinter verbargen, zuordnen. Als er ganz oben im neunten Stock ankam, bog er in seinen Flur ein. Vorbei am Winterkranz an der Tür einer Mutter mit Tochter. Wie immer roch es nach irgendwelchem Gebäck. Schnell vorbei sonst bekam er Hunger. Je mehr er sich seiner eigenen Tür näherte, desto unangenehmer wurden die Gerüche. Er sah schon von Weitem, dass sein Nachbar das Essen, das ihm täglich geliefert wurde, wieder nicht zu sich reingeholt hatte. Als er daran vorbeiging, sah das alles nach mittlerweile drei Tageslieferungen aus. Da er Herrn Pordack aber jeden Abend rumpoltern hörte, durfte er wohl davon ausgehen, dass dieser noch lebte.

Schnell schloss er seine Tür auf und verschloss sie sofort wieder. Himmlische Ruhe. Seine vier Wände. Perfekt eingerichtet, wie er es wollte. Siebzehn Quadratmeter sein persönliches Königreich.

Im winzigen Flur sein Schrank. Dem gegenüber die Kochnische. Direkt dahinter das Schlafzimmer, mit einem Tischchen. Tobi streifte sich die Schuhe ab und ging direkt auf das Fenster am Ende des kleinen Raumes zu. Mit einem tiefen Seufzer sprang er auf die Kissen im Sessel davor. Er stützte sein Kinn in seine Hand und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Die Sicht war überwältigend heute.

Problemlos sah er bis zu den Alpen. Sie wirkten so nah, so als ob er die Hände ausstrecken und den Schnee berühren könnte. So als ob es zwei Meter wären, die sein Hochhausfenster von der Berglandschaft trennten.

Eigentlich wollte er diese Aussicht nicht aufgeben. In keiner Innenstadtwohnung konnte er diese Aussicht genießen. Alles war verbaut.

Wie konnte es dazu kommen, dass er sich dieses Kleinod in einem Bau, der zu neunzig Prozent aus Sozialwohnungen bestand, nicht mehr leisten konnte?

Tobi zog sich eine Decke heran und kuschelte sich tiefer in seine Kissen. Den Kopf zum Fenster gewandt drang die Kühle an seine Wange.

In der Wohnung neben ihm polterte es. Tobi horchte kurz auf. Sein Nachbar schlurfte weiter rum. Alles klar so weit. Tobi hatte aufgegeben, das Gespräch zu suchen oder seine Hilfe anzubieten. Lukas und Tanja, das Ehepaar zwei Türen weiter, hatten ihm bestätigt, dass sein Nachbar schon immer so war und Gespräche leider nicht möglich waren.

Dennoch hatte es einige Zeit gedauert, bis Tobi diesen Umstand akzeptieren konnte. Nun beschränkte er sich auf die akustische Bestätigung, dass »alles in Ordnung war.«

Im Moment war er ohnehin mit sich selbst beschäftigt. Die Mieterhöhungen waren kaum mehr tragbar. Izaak hatte gesagt, dass sie rechtlich in Ordnung waren.

Vielleicht war es den Aufwand gar nicht wert, seinen Frieden hier aufzugeben. Der Mist heute in der WG hatte ihm gezeigt, dass es nicht einfach werden würde, eine neue Bleibe zu finden. Das hatte er aber schon vorher gewusst und hatte eine derartige Erinnerung daran nicht gebraucht. Tobi seufzte schwer.

Die Sonne stand tief und gab den Bergen vor seinen Augen einen wunderschönen Anstrich.

Sein Handy brummte und Tobi zog es aus der Tasche. Er lachte, als er das Meme sah, das ihm Izaak geschickt hatte.

Heute war Emily Galeas Geburtstag. Auch, wenn er die Einladung zur Feier von Izaaks Mutter ein bisschen erwartet hatte, war Tobi heilfroh gewesen, als er sie tatsächlich erhalten hatte.

Ein wildgewordenes Partyhuhn sprang auf Tobis Display herum. Egal, was Izi andeuten wollte: Das Partyhuhn war eher er selbst als seine Mutter. Lustig war es allemal.

Tobi musste sich fertig machen. Er hatte versprochen, bei den Vorbereitungen zu helfen. Nicht nur versprochen. Es war ihm wichtig. Seine maltesische Ersatzfamilie hatte ihn, als Izaak ihn das erste Mal mit zu dessen Eltern geschleift hatte, vom Fleck weg adoptiert. Er bemühte sich immer wieder, nicht dauernd bei ihnen zu sein, um nicht lästig zu werden. Aber bei den großen Festen wie Geburtstagen, Weihnachten, Jahrestagen war er immer mit dabei. Frau Galea würde sein Fehlen nicht erlauben. Und er wollte es nicht anders. Wenn nicht Nick gewesen wäre.

Nachdenklich spielte Tobi mit seinem Telefon.

Ihr schwieriges Verhältnis in den letzten Jahren glich einer Achterbahnfahrt. Und Tobi war nicht klar, wie sie gerade zueinanderstanden.

Nachdem sie sich anfänglich ignoriert hatten, wallte zwischen ihnen eine seltsame Spannung auf.

Ein ungesunder Mix aus sexueller Anziehung, Moralpredigten von Nick, Tobis Bedürfnis, diesen besserwissenden Kerl zu reizen und in die Schranken zu weisen, einer Entschuldigung von Nick für sein anmaßendes Verhalten, kompletter Harmonie zwischen ihnen, die schon an Freundschaft grenzte, die Augenblicke, in denen Nick so frei und liebevoll war und all dies über Tobi auszuschütten schien, nur, damit der Kreislauf von vorne begann, wurde zwischen ihnen in Gang gesetzt. Die vertrauten Momente waren besonders. Tobi wollte sie festhalten. Doch wie Wasser zerrannen sie immer zwischen seinen Fingern.