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Auch Zackenbarsche sind nur Menschen. Schräge Figuren, böse Komik, Verzweiflung und Hoffnung: Ein kühner, rasanter Roman, in dem es um die Frage geht, ob auch Monster Menschen sind. Cornelia Karl führt ein zufriedenes Durchschnittsleben als berufstätige Frau und alleinerziehende Mutter. Dieses Leben endet jäh, als ihre zwölfjährige Tochter Elli spurlos verschwindet. Die polizeiliche Fahndung bleibt ergebnislos, der Fall landet bei den Akten. Ihre Trauer um Elli verwandelt sich in ein explosives Gemisch aus Wut, Trotz, Sarkasmus und Skrupellosigkeit. Sie beschließt, ihre Tochter im Alleingang zu finden, koste es, was es wolle. Die erste heiße Spur führt zu einem Sexualtherapeuten, der pädophile Männer behandelt. Cornelia Karl beginnt eine Affäre mit ihm, und die Suche wird zu einem aberwitzigen Spiel rund um Liebe, Lüge und die Macht der Hoffnung. Ein Shakespear'sches Drama mit feministisch-sarkastischem Grundton über ein abseitiges Thema – niemand kann das besser als Anita Augustin. Humorvoll, schräg und bissig bis zum letzten Tabu. Ein feministisches Drama in drei Akten: Wolf Haas meets Ophelia
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Seitenzahl: 330
Zackenbarsche sind auch nur Menschen
Schräge Figuren, böse Komik, Verzweiflung und Hoffnung: Ein kühner, rasanter Roman, der die Frage stellt, ob auch Monster Menschen sind.
Cornelia Karl führt ein zufriedenes Durchschnittsleben als berufstätige Frau und alleinerziehende Mutter. Dieses Leben endet jäh, als ihre zwölfjährige Tochter Elli spurlos verschwindet. Die polizeiliche Fahndung bleibt ergebnislos, der Fall landet bei den Akten. Ihre Trauer um Elli verwandelt sich in ein explosives Gemisch aus Wut, Trotz, Sarkasmus und Skrupellosigkeit. Sie beschließt, ihre Tochter im Alleingang zu finden, koste es, was es wolle. Die erste heiße Spur führt zu einem Sexualtherapeuten, der pädophile Männer behandelt. Cornelia Karl beginnt eine Affäre mit ihm, und die Suche wird zu einem aberwitzigen Spiel rund um Liebe, Lüge und die Macht der Hoffnung.
Ein Shakespear’sches Drama mit feministisch-sarkastischem Grundton über ein abseitiges Thema: Wolf Haas meets Ophelia.
Anita Augustin, geboren 1970 in Klagenfurt, studierte Philosophie und Theaterwissenschaft an der Universität Wien und absolvierte eine Ausbildung zur diplomierten Barkeeperin. Sie arbeitet als Dramaturgin in der freien Szene, an Stadt- und Staatstheatern sowie bei Festivals (u. a. Deutsches Theater Berlin, Schauspiel Hannover, Schauspiel Frankfurt, Volkstheater Wien, Salzburger Festspiele). Als Autorin schreibt sie Stücke, Libretti, Live-Hörspiele und Augmented-Reality-Games für die Bühne, ihre Romane »Der Zwerg reinigt den Kittel« und »Alles Amok« sind im Ullstein Verlag erschienen.
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Anita Augustin
ROMAN
Über das Buch
Über Anita Augustin
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
13 JAHRE SPÄTER
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Epilog
Die Autorin dankt von Herzen
Wie es aussieht, habe ich meinen Humor verloren. Wie es aussieht, muss ich mir einen neuen Humor suchen, weil der alte unauffindbar ist, sehr schade, es war ein guter Humor, das können Sie mir glauben, und wenn Ihnen zufällig ein herrenloser Humor über den Weg läuft, der nach seinem Frauchen sucht, dann rufen Sie mich bitte an, hier meine Nummer: 0815.
War das jetzt schon witzig?
Schon so mit neuem Humor?
Hm, schwer zu sagen, auf jeden Fall war es ein Versuch, nur die Nummer stimmt nicht, das ist keine Nummer mehr, unter der man mich erreichen kann.
0815. Was würde ich dafür geben, wenn das wieder meine Nummer wäre. Telefonnummer, Kontonummer, Lebensnummer. Morgens aufstehen, Frühstück machen, Tochter aus dem Bett scheuchen (Elisabeth! Jetzt aber dalli!), dann ab in den Tag. Elli zur Schule, ich zur Arbeit. Ein solider Job, anständig bezahlt, es hat immer gereicht für Elli und mich, sogar Urlaub haben wir gemacht, natürlich am Meer, sehen Sie da, in diesem Album, das ich jetzt für Sie aufschlage, da sind die Fotos.
Beweisfotos.
Aus meinem 0815-Leben als alleinerziehende Mutter.
Elli mit fünf, am Strand beim Sandbuddeln, den roten Plastikeimer gibt es immer noch irgendwo im Keller.
Elli mit sieben, im Hello-Kitty-Bikini, ein bisschen zu dick, Pausbacken und Fettröllchen, sie lacht in die Kamera, ich war auch übergewichtig damals, wir haben immer gut harmoniert, wir zwei.
Elli mit elf, hochaufgeschossen, dürr. Hinter ihr ein Schild, AUTOGRILL, da waren wir gerade auf dem Weg nach bella Italia, sie macht das Victoryzeichen, mit ernstem Gesicht, die Aufnahme hat mich damals, wie soll ich sagen, irritiert, weil Elli so fremd aussieht. So erwachsen.
Das letzte Bild, das ich von Elli habe, klebt nicht im Album. Es steht im Netz. Sie können es unter www.vermisste-kinder.net abrufen.
Am 1. August vor einem Jahr ist meine Tochter verschwunden. Spurlos, wie man so sagt. Ich bin von der Arbeit nach Hause gekommen, und sie war nicht da. Wahrscheinlich noch bei ihrer besten Freundin, habe ich gedacht und die Tiefkühlpizza ins Rohr geschoben, oder bei dem Jungen, in den sie verknallt war, Elias, ein netter Junge, sehr höflich, er hat sich vorgestellt, auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin. Mann, Mama, muss das sein?, hat Elli damals gesagt, und ich: Mann, Tochter, ja, das muss, ich will doch meinen zukünftigen Schwiegersohn begutachten! Haha, Mama, sehr witzig, be funny or die trying. Und da ist er also ganz brav angetrabt, mein Schwiegersohn, ein zwölfjähriger Blondschopf mit Zahnspange, wir haben zu dritt Limonade getrunken, dann sind die beiden losgezogen, zum Schwimmen ins Freibad.
Elias Eder, wohnhaft am Baumbachplatz 1, gleich ums Eck, sein Vater ist Steuerberater, seine Mutter ist Lehrerin, Elias möchte auch Steuerberater werden, weil er dann den Menschen beim Ehrlichsein helfen kann, sagt er.
Um sieben habe ich Elli auf die Mailbox gequatscht. (Wo steckst du, Süße? Die Pizza wird kalt.)
Um acht habe ich schon ganz anders geklungen. (Elisabeth! Ruf mich an! Sofort!)
Um halb neun habe ich ihre beste Freundin angerufen.
– Bei dir ist sie nicht? Dann wird sie wohl bei Elias sein.
– Bei wem?
– Bei ihrem Freund. Elias.
– Welcher Elias?
Um neun habe ich die Klingelschilder am Baumbachplatz 1 nach Eder abgesucht, dann die Klingelschilder am Baumbachplatz 2 bis 5.
Um zehn war ich bei der Polizei.
Alles, was seitdem geschehen ist, möchte ich Ihnen ersparen. Die Vermisstenanzeige, die Suchaktion, die Öffentlichkeitsfahndung, die Verhöre, die Anschuldigungen, die Selbstvorwürfe, die Selbsthilfegruppe, die Psychologin mit ihrem Geschwätz von den Trauerphasen, das alles erspare ich Ihnen, auch wenn es vielleicht spannend wäre, so als Story. Und wahrscheinlich denken Sie jetzt: Die arme Frau. Die arme Frau ist sicher durch die Hölle gegangen.
Leider nein.
Schön wär’s.
Rein in die Hölle, durchgehen und wieder raus, das wär schön.
Fegefeuer. Da bin ich. Ich sitze seit einem Jahr in diesem beschissenen Fegefeuer und warte. Auf einen Anruf, eine Nachricht, ein … ach, mir doch egal, und wenn es eine Brieftaube ist, die in Ellis Zimmer flattert, wo ich jeden Abend auf dem Bett liege nach der Arbeit, neben dem verkeimten Plüschmaulwurf, den ich nie waschen durfte, mit Blick an die Decke, manchmal seitwärts eingerollt mit Blick auf das Puppenhaus, in dem Elli ihre Lieblingssachen aufbewahrt, einen pinkfarbenen Nagellack, Glitzerstifte, Mädchenkrimskrams, dabei ist Elli gar kein typisches Mädchen, eher burschikos, ich war immer stolz darauf, auf diese coole, rotzige Art meiner Tochter, und irgendwann wird sie hereinflattern, die Taube, ein Brieflein im Schnabel, ruckedigu, kein Blut ist im Schuh, Töchterlein fein ist bald daheim.
Gebetet. Habe ich auch schon. Weiß gar nicht, zu wem, muss irgendein Gott gewesen sein, auf jeden Fall hat er mich nicht erhört.
Die Statistik sagt: 50 % der als vermisst gemeldeten Minderjährigen tauchen innerhalb einer Woche wohlbehalten wieder auf, 80 % innerhalb eines Monats. Die Statistik sagt: Nur 3 % bleiben länger als ein Jahr verschwunden, manche für immer. Das BKA sagt: Bei einer Aufklärungsquote von über 95 % muss sich wirklich keiner einen Vorwurf machen, schon gar nicht das Bundeskriminalamt.
Eine gute Mutter. Das war ich, das bin ich, da lasse ich mir nichts einreden von wegen Aha, alleinerziehend, Soso, kein Vater.
Diese Frau damals, diese Beamtin vom BKA, die mich verhört hat, vier Stunden lang ohne Pause, die wollte mir das einreden.
– Sie sind also alleinerziehend?
– Ja.
– Also kein Lebenspartner?
– Nein.
– Was ist mit dem Vater?
– Keine Ahnung. Es war ein One-Night-Stand. Eine Samenspende, wenn Sie so wollen.
– Soso. Und Sie arbeiten.
– War das eine Frage?
– Sie arbeiten als Apothekerin?
– Ja.
– Vollzeit?
– Ja.
– Ihre Tochter ist also den ganzen Tag allein?
– Nein. Sie ist in der Schule, und dann ist sie entweder bei einer Freundin oder auf Achse.
– Auf Achse?
– Rad fahren, Fußball spielen, meistens schwimmen. Im Freibad oder im Hallenbad, Elli liebt das Wasser, sie hat es schon immer geliebt, schon als Kind.
– Als Kind? Ihre Tochter ist zwölf, Ihre Tochter ist ein Kind.
– Ja.
– Und wie alt ist der Junge, mit dem Elli oft auf Achse war in den letzten Wochen, dieser Elias?
– Auch zwölf.
– Könnte es sein, dass Elli den Jungen nur erfunden hat?
– Nein. Ich hab ihn ja gesehen. Er war zu Besuch.
– Wie oft?
– Ein Mal.
– Sie haben Ihre zwölfjährige Tochter mit einem gleichaltrigen Jungen, den Sie kaum kennen, ohne Aufsicht durch einen Erwachsenen auf Achse gehen lassen?
– Elli hat ein Handy, sie kann mich jederzeit anrufen. Außerdem halte ich nichts davon, ein intelligentes, selbstbewusstes Mädchen ständig zu beaufsichtigen. Ich bin keine von diesen Müttern, die ihre Kinder wie Hunde an der Leine halten, damit sie nicht …
– Wegrennen?
– … damit sie nicht zu Menschen werden. Zu eigenständigen, eigenverantwortlichen Menschen, die sich an keine Leine legen lassen, von niemandem.
– Könnte es sein, dass Elli weggerannt ist?
– Nein.
– Könnte es sein, dass Elli weggerannt ist, weil sie sich vernachlässigt gefühlt hat?
– Nein.
– Und wenn, wie Sie sagen, dieser Junge, dieser Elias keine Erfindung von Elli ist, könnte es sein, dass Sie ihn erfunden haben?
– Ich?
– Um die Tatsache, dass Elli weggerannt ist, zu verdrängen? Oder zu verschleiern?
Die Schnauze voll. Habe ich. Von mir selbst da auf Ellis Bett jeden Abend, von der Selbsthilfegruppe jeden Sonntag, ich geh da nicht mehr hin, diese Leute machen mich krank mit ihrer Trauer.
Wir sitzen im Kreis, vier Frauen, ein Mann, und irgendwann weinen alle. Am Anfang habe ich noch mitgeweint, dann sind mir die Tränen ausgegangen, ganz plötzlich, als hätte irgendwer den Hahn zugedreht.
Was nützt es unseren Kindern, wenn wir weinen?
Pascal, 9, vor zwei Jahren entführt, vom eigenen Vater in irgendein Ausland, die Mutter tippt auf Tunesien, das ist verdammt weit weg, aber sie könnte ja trotzdem hinfliegen und ihren Sohn suchen, stattdessen hockt sie hier und heult.
Sivan, 16, kein Kind mehr, wenn es nach dem Gesetz geht, aber minderjährig, und mit Vollbart sieht er fast volljährig aus, den hat er sich wachsen lassen, der dumme Junge, dann ab nach Syrien, auf in den Kampf, sein Vater zeigt uns ein Bild, das letzte Lebenszeichen, Sivan mit Kalaschnikow vor einem zerbombten Haus, er lächelt, vielleicht ist er glücklich, sagt sein Vater unter Tränen, vielleicht ist er tot, Inschallah.
Lene, 5, wie vom Erdboden verschluckt. Gerade noch da, da auf dem Spielplatz neben der Rutsche, plötzlich weg. Manchmal, sagt Lenes Mutter, manchmal denke ich, irgendeine kinderlose Frau, die sich nichts sehnlicher wünscht als ein Kind, hat mein kleines Mädchen mitgenommen, weil es das entzückendste kleine Mädchen auf dem ganzen Spielplatz war. Jetzt lebt Lene mit ihrer neuen Mami in einem hübschen Häuschen irgendwo auf dem Land, umgeben von bunten Blumen und zwitschernden Vögeln und … Dann weint Lenes Mutter. Sie weint, statt auf der ganzen Welt nach dem Miststück zu suchen, das ihre Tochter gestohlen hat.
Am schlimmsten ist die Mutter von Lisbeth.
Lisbeth, 13, auf dem Schulweg verschwunden. Ein Zeuge hat ausgesagt, dass zwei Männer in weißen Schutzanzügen aus einem Krankenwagen gesprungen sind und Lisbeth in den Wagen gezerrt haben. Am helllichten Tag, vor seinen Augen. Der Zeuge war ein versoffener, paranoider Penner, aber seitdem glaubt Lisbeths Mutter, ihre Tochter sei von der internationalen Pharmaziemafia entführt worden, um als Laborratte herzuhalten für einen Impfstoff gegen SARS-CoV-4, und das, so schluchzt sie bei jedem Treffen, das ist immerhin besser als eine Entführung durch irgendwelche perversen Kinderschänder, oder?
Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Weinen, trauern, spinnen, Schluss damit, ganz egal, was die Psychologin sagt.
Die Psychologin sagt: Es gibt fünf Phasen der Trauer, die wir alle durchlaufen, wenn ein geliebter Mensch tot ist. Die fünfte Phase müssen wir als Ziel betrachten, es heißt Akzeptanz. Bis dahin durchlaufen wir erstens, die Phase des Leugnens, zweitens die Phase der Wut, drittens – und da unterbreche ich jetzt, ein für alle Mal. Ich unterbreche und sage: Wut. Wut ist gut. Dabei bleibe ich, in dieser Phase, genau da. Außerdem, und nur, damit wir uns richtig verstehen: Meine Tochter ist nicht tot.
Ich liege in Ellis Bett, ein letztes Mal, seitwärts eingerollt, mit Blick auf das Puppenhaus.
Der Nagellack.
Die Glitzerstifte.
Reliquien im heiligen Schrein meiner Tochter, was für ein Bullshit.
Ich stehe auf, gehe aus dem Zimmer, schließe die Tür, sperre sie ab, gehe in die Küche, werfe den Schlüssel in den Mülleimer, trage den Mülleimer aus der Wohnung fünf Stockwerke nach unten, kippe ihn über der Mülltonne aus, gehe mit leerem Eimer wieder nach oben, setze mich an den Küchentisch und schwöre beim Leben meiner Tochter, dass ich sie finden werde.
Wenn du nach einem spurlos verschwundenen Kind suchst, von dem alle denken, es sei tot, dann machst du es so: Du lässt nicht locker. Du stellst das Suchprofil ins Netz, du bietest Geld gegen Information, du gehst jeden Abend nach der Arbeit durch die Stadt und klebst Zettel an Litfaßsäulen, Hauswände, Briefkästen.
VERMISST! WER HAT ELISABETH GESEHEN?
Darunter ein Bild, die Personenbeschreibung, die Telefonnummer für zweckdienliche Hinweise, die Höhe der Belohnung.
Du wirst Hinweise bekommen. Die meisten dienen nur einem einzigen Zweck: dich abzuzocken. Leute rufen an, wollen deine Tochter gesehen haben, an einer Bushaltestelle nahe der türkischen Grenze, auf einem Markt in Marokko, im Café nebenan. Wenn du fragst: Welcher Markt? Welches Café?, dann sagen diese Leute: Erst das Geld.
Du löst dein Erspartes auf, aber es reicht nicht für jeden Hinweis, du musst wählen. Türkei, Marokko, so weit weg, Elli ist hier verschwunden, hier in dieser Stadt, gleich ums Eck, direkt nebenan, dem gehst du nach. Du vereinbarst einen Treffpunkt, übergibst das Kuvert mit den Scheinen, bekommst den Namen des Cafés, aber das Café gibt es gar nicht.
Der Sommer geht vorbei, der Herbstwind reißt die Zettel von den Hauswänden, du klebst neue, auch bei Regen, auch bei Schnee.
Mitte Februar ruft ein Mann an. Er sagt: Ich kann mich auch täuschen, es ist schon länger her, aber dieses rothaarige Mädchen da auf dem Bild, das kommt mir bekannt vor. Spielt die Kleine gerne Fußball?
Der vereinbarte Treffpunkt ist ein Güterbahnhof am Stadtrand. Gleise, Waggons, ein brachliegendes Feld. Der Mann wartet schon auf dich, er ist alt, sein Hund auch. Der Mann sagt: Wir gehen hier immer Gassi, jeden Tag, bei jedem Wetter, und da drüben, sehen Sie (er zeigt auf die Brache), da habe ich Ihre Tochter öfter gesehen, glaube ich, beim Fußballspielen mit den Jungs, die hier immer abhängen, sie war das einzige Mädchen, sehr auffällig, auch wegen der roten Haare, fast so rot wie Ihre. Und dort (er zeigt auf einen verrosteten Frachtcontainer, in dem ein großes Loch klafft), dort geht am Sonntagnachmittag immer die Post ab, laute Musik, so mit Wummern, der ganze Container wackelt, ich weiß nicht, was die da drin machen, wahrscheinlich tanzen, manchmal stehen ein paar Kids vorne draußen und rauchen, Zigaretten oder Joints, das kann ich aus der Entfernung nicht beurteilen, und so lange sie mich und meinen Hund in Frieden lassen, lasse ich sie in Frieden.
Jeden Sonntag?, fragst du.
Jeden, bestätigt der Mann.
Du hältst ihm das Kuvert mit dem Geld hin. Er nimmt es, er sagt: Viel Glück.
Am Sonntag fährst du wieder zu der Brache am Güterbahnhof. Wummernde Musik aus dem Container, die Party ist in vollem Gange, du hämmerst mit der Faust gegen das Blech, die Musik bricht ab, Stille. Du rufst: Hey, keine Angst, ich habe nur eine Frage, irgendwer soll rauskommen und mit mir reden! Bitte!
Der Junge ist sechzehn oder siebzehn. Er kriecht durch das Loch im Container, baut sich vor dir auf, fast schon ein Mann, halbstark, zwei Köpfe größer als du, er trägt ein kurzärmeliges Shirt trotz der Kälte, sein linker Unterarm ist mit einem grinsenden Totenkopf tätowiert.
Der Halbstarke mustert dich von oben herab, dann sagt er gelassen: Was gibt’s, Lady?
Und du sagst, was es gibt. Zeigst ein Bild von Elli. Fragst, ob er das Mädchen kennt, schon mal gesehen hat. Klar, sagt der Halbstarke, die hat mit uns gekickt. Dann ruft er durch das Loch in den Container: Berni, komm raus, dein Typ ist gefragt!
Elias.
Elias Eder, der zwölfjährige Blondschopf kriecht durch das Loch. Du erkennst ihn sofort, auch wenn er älter aussieht, älter als zwölf, was er damals angeblich war, älter als dreizehn, was er jetzt sein müsste, ein Teenager mit Bomberjacke und Zahnspange.
Berni alias Elias braucht ein paar Sekunden, um dich wiederzuerkennen, dann sagt er höflich: Hallo, wie geht’s? Und wie geht’s Elli?
Die Geschichte ist wahr, der Junge namens Berni lügt nicht, das siehst du ihm an, während er die Geschichte erzählt. Ein Freundschaftsdienst, ein Deal. Elli hat ihm ihr Taschengeld gegeben, damit er den netten Boyfriend spielt. Klare Anweisung von Elli für das Vorstellungsgespräch, wie sie es nannte: nette Klamotten tragen, höflich sein, Elias Eder heißen, ums Eck wohnen, Vater Steuerberater, Mutter Lehrerin, so oft wie möglich lachen, Zahnspange zeigen, das kommt gut, das wirkt niedlich.
Warum?, fragst du. Warum das Theater?
Na ja, sagt Berni verlegen, damit Sie keine ätzenden Fragen stellen, wenn Elli bei ihrem echten Lover ist.
Ihrem was?
Ihrem Sugardaddy, sagt der Halbstarke grinsend und zündet sich eine Zigarette an. So ein alter Knacker mit wenig Haaren, der hat uns manchmal beim Kicken zugesehen, der war total verschossen in die Schnecke.
Und sie in ihn, ergänzt Berni.
Wie alt?, fragst du.
Uralt, sagt der Halbstarke.
Um die dreißig, bestätigt Berni.
Wie war sein Name?, fragst du.
Beide zucken mit den Schultern.
Wie hat er ausgesehen?
Ganz normal, sagt Berni hilflos.
Wie ein Kifi eben aussieht, sagt der Halbstarke.
Ein was?
Ein Kinderficker. Die sehen ganz normal aus, normalerweise.
Du gehst zur Polizei. Mit Berni und seinem Vater, der kein Steuerberater ist, sondern Bauunterunternehmer. Mein Sohn hat nichts verbrochen, sagt er, es war nur ein Lausbubenstreich, das Mädchen hat ihn dazu angestiftet.
Nach der Vernehmung heißt es: Die Personenbeschreibung trifft auf jeden zweiten Mann mit weißer Hautfarbe und Ohren zu. Wie sollen wir einen anonymen Sexualstraftäter ohne Gesicht finden, der im Dunkelfeld agiert? Und wer weiß, ob hier überhaupt eine Straftat vorliegt? Wer weiß, ob der Unbekannte ursächlich mit dem Verschwinden Ihrer Tochter zu tun hat? Wenn ja, dann müssen wir warten. So furchtbar es klingt, aber wir müssen warten, bis der Mann sich erneut an einem Kind vergreift und dabei nicht nur erwischt, sondern auch angezeigt wird. So furchtbar es klingt, aber wir müssen hoffen, dass der Mann pornographische Aufnahmen von Ihrer Tochter gemacht hat und diese Aufnahmen ins Netz stellt oder über unverschlüsselte Messengerdienste mit anderen Pädophilen teilt. Dann haben wir eine minimale Chance. Es handelt sich um die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen.
Pädophilie. Pornographie. Dunkelfeld.
Du trägst die Worte von der Polizei nach Hause wie einen finsteren Schatz. Der Schatz gehört jetzt dir, du kannst jetzt damit machen, was du willst, also mach was draus, mach dich schlau.
Du recherchierst, durchstöberst das Netz, sammelst Informationen über Pädophilie, Pädosexualität, Pädokriminalität. Du lernst die Unterschiede kennen. Ein Pädophiler ist jemand, der Kinder liebt. Und sexuell begehrt. Ein Pädosexueller ist jemand, der sexuelle Handlungen mit Kindern vollzieht. Nicht jeder Pädophile ist ein Pädosexueller, weil nicht jeder Pädophile sexuelle Handlungen mit Kindern vollzieht. Jeder Pädosexuelle ist ein Pädokrimineller, weil sexuelle Handlungen mit Kindern verboten sind. Gesetzlich verboten, moralisch verboten. Du lernst die Statistiken kennen. 60 % aller Sexualstraftaten an Kindern werden von Personen begangen, die nicht pädophil sind, ein Drittel der Taten ereignet sich im sogenannten familiären Nahraum. Die Täter sind Väter, Stiefväter, Großväter, die Mütter machen manchmal mit, oft wissen sie von nichts. Du hast Verständnis für diese Mütter, du hast ja auch nichts gewusst vom Sugardaddy deiner Tochter, jetzt lernst du ihn kennen. Du lernst, dass Sugardaddy aufgrund seiner sexuellen Orientierung zu einer diskriminierten Minderheit gehört, die zu Recht kein Recht auf ein erfülltes Sexualleben hat und auch bei der Regenbogenparade nicht mitmachen darf. Groben Schätzungen zufolge dürfte zirka 1 % der Gesamtbevölkerung pädophil veranlagt sein, manche Experten gehen von 10 % aus, das sind Millionen Menschen, fast alle männlich, weibliche Pädophilie gilt als Rarität, aber nichts Genaues weiß man nicht. Du verstehst, wo der statistische Hund begraben liegt. Wie soll man verlässliche Daten sammeln, wenn es kaum Daten gibt? Welcher Pädophile outet sich schon freiwillig als pädophil? Welcher pädophile Politiker macht es wie so mancher schwule Politiker und veröffentlicht seine sexuelle Orientierung, um den Minderheitenbonus bei Wahlen einzustreichen? Es gibt keine Pädocafés, keine Pädofilmfestivals, keinen Pädolifestyle. Woran erkennt man einen Pädophilen? An gar nichts. Es ist so, wie der Halbstarke gesagt hat: Die sehen ganz normal aus. Und sie sehen nicht nur so aus, sie sind es auch. Normale Männer mit normalen Klamotten, normaler Frisur, normaler Intelligenz. Sie sitzen an der Supermarktkasse, sie tragen die Post aus, sie spielen Klarinette in einem Orchester oder dirigieren es. Rechtsanwälte, Bauarbeiter, Lehrer, Ärzte, Pfarrer, Taxifahrer, Universitätsprofessoren, Fußballtrainer, Schauspieler, lauter Kinderficker – oder doch nicht? Lauter pädosexuelle Verbrecher – oder doch nur harmlose arme Schweine, die vom Kinderficken träumen? Ein feiner Unterschied, aber dieser feine Unterschied ist dir gerade ziemlich egal, da bist du übrigens nicht allein, das beweisen Umfragen. 78 % der Befragten würden keine Person mit sexuellem Interesse an Kindern in der Nachbarschaft dulden, auch wenn diese Person noch nie eine einschlägige Straftat begangen hat. 85 % können sich nicht vorstellen, mit einer solchen Person befreundet zu sein. 50 % finden, man sollte diese Person vorsichtshalber einsperren. 77 % finden, diese Person wäre besser tot. Du findest das nicht. Du willst Sugardaddy finden, lebend. Du willst diese perverse Sau finden, diesen Kinderschänder, der sich an deiner Tochter vergriffen hat, sie womöglich gefangen hält, als Sexspielzeug, du könntest heulen vor Wut, vor Verzweiflung, vor Angst um dein Kind, aber du verbietest dir jede Träne, du verbietest dir Angst und Verzweiflung, so bleibt nur die Wut, kalt und scharf wie ein frisch geschliffenes Messer, damit wirst du das Schwein schlachten, wenn du es gefunden hast.
Wer weiß, ob hier überhaupt eine Straftat vorliegt?
Egal, der Verdacht genügt.
Wer weiß, ob der Unbekannte ursächlich mit dem Verschwinden Ihrer Tochter zu tun hat?
Egal, es ist deine einzige Spur.
Der alte Knacker war total verschossen in die Schnecke. Und sie in ihn.
Sie in ihn, hat Berni gesagt. Das macht dir zu schaffen. Du musst immer wieder daran denken, sie in ihn. Kann nicht sein, denkst du, ist nicht wahr, kein zwölfjähriges Mädchen verliebt sich in einen alten Knacker. Und wenn doch? Dann hat er sie manipuliert, verführt, gefügig gemacht, mit allen Tricks. Und wenn nicht? Was, wenn deine selbstbewusste, coole Tochter, die viel zu schlau ist, um auf irgendwelche Tricks hereinzufallen, sich aus freien Stücken mit dem Knacker eingelassen hat? Verschossen, verknallt, verliebt, Liebe. Was weiß eine Zwölfjährige schon von Liebe, denkst du, was weiß eine Zwölfjährige schon von Sex, und du bist froh, dass dir die Experten darin recht geben. Ein Kind, sagen sie, kann einer sexuellen Handlung zwar willentlich zustimmen, aber nicht wissentlich. Es gibt keinen einvernehmlichen Sex zwischen Kindern und Erwachsenen, weil einvernehmlicher Sex auf dem Wissen aller Beteiligten beruht, worauf sie sich hier einlassen, und kein Kind über dieses Wissen verfügt. Der Unterschied zwischen willentlich und wissentlich ist fein, aber entscheidend, der Unterschied ist dir nicht egal, aber erzähl das irgendeinem pädophilen Knacker, der seine Träume wahr macht und dann behauptet: Ich habe die Schnecke gefragt, sie hat ja gesagt, sie hat es auch gewollt, es war Liebe.
Missbrauchsbegünstigende Wahrnehmungsverzerrung. So heißt das unter Experten, wenn ein Pädophiler ein Kind liebt und denkt, das Kind liebt ihn auch. Auf dieselbe Weise.
Liebe.
Das Wort kotzt dich langsam an, du kannst es nicht mehr hören. Missbrauch aus Liebe, wie sieht sowas aus, wie muss man sich das vorstellen?
Wir müssen hoffen, dass der Mann pornographische Aufnahmen von Ihrer Tochter gemacht hat und diese Aufnahmen ins Netz stellt.
Kinderpornographie. Du machst dich schlau. Du lernst, dass der Ausdruck nicht gut ist, weil Kinder keine Pornodarsteller sind. Du lernst, wie der bessere Ausdruck heißt: Missbrauchsabbildung. Du lässt dich vom Gesetz belehren, was darunter zu verstehen ist, und dann stellst du dir deine Tochter auf einer Missbrauchsabbildung vor. Du stellst sie dir ganz oder teilweise unbekleidet vor, in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung. Du stellst sie dir mit unbekleidetem Gesäß oder unbekleidetem Genital vor, in aufreizender Art wiedergegeben. Dann versuchst du dir eine sexuelle Handlung an deiner Tochter vorzustellen. Oral, anal, genital. Es ist unvorstellbar. Du kriegst das nicht hin in deinem Kopf. Bei jedem Versuch taucht immer nur das Bild deiner pausbäckig lachenden Tochter im Hello-Kitty-Bikini auf. Du lernst, dass pädophile Männer sich sogar bei solchen Bildern einen abrubbeln, bei Urlaubsfotos auf Facebook, bei Selfies auf Instagram, bei Clips auf TikTok. Auch die bildende Kunst kann als Wichsvorlage geeignet sein, es gibt tonnenweise Gemälde, Skulpturen, Fresken mit ganz oder teilweise unbekleideten Kindern, die in geschlechtsbetonter Körperhaltung aufreizend posieren. Das ist so ekelhaft, es widert dich an, und dabei hast du keine Ahnung. Keine Ahnung von dem, was da an Bildern noch so durchs Netz rauscht, durchs dunkle Netz. Such nicht danach, lass die Finger davon, schau nicht hin, oder willst du dir die Augen ausstechen müssen? Bleib lieber bei dem, was dich schlaumacht und weiterbringt, denk nach. Denk an das, was du von der Polizei mit nach Hause genommen hast, an deinen finsteren Schatz, deinen Wortschatz.
Pädophilie. Pornographie. Dunkelfeld.
Das dunkle Feld. Irgendwo da treibt sich Sugardaddy herum, gesichtslos, namenlos, aber hat ein Gesicht, er hat einen Namen, er ist die Nadel im Misthaufen, und du wirst sie finden. Der pädophile Misthaufen, lernst du, weiß bisweilen selbst, dass er stinkt, dann will er zum Heuhaufen werden und nach trockenem Gras duften. Bald wirst du einen anderen Namen für diese Heuhaufenpädophilen kennenlernen: die Gentlemen. Du wirst den Mann kennenlernen, der die Mistkerle so nennt. Von ihm wirst du viel über sie erfahren. Über ihre Laster, ihr Leid, ihren erklärten Willen, sich nie an einem Kind zu vergreifen oder es nie wieder zu tun. Jetzt weißt du noch wenig über sie, aber es reicht, um eine Lücke in der Polizeiarbeit zu schließen. Du denkst: Wenn Sugardaddy kein Wiederholungstäter ist und keine Missbrauchsabbildungen ins Netz stellt, dann bleibt noch eine minimale Chance, dass er dort auftaucht, wo alle Heuhaufenpädos auftauchen: beim Therapeuten.
Dein Glück, dass 95 % aller ambulant arbeitenden Psychotherapeuten nicht bereit sind, pädophile Patienten zu betreuen. Dein Glück, dass es in dieser Stadt, in der du lebst, in der Sugardaddy lebt, dass es hier in dieser Stadt einen Arzt gibt, der sich nicht zu schade ist für den Abschaum. Du stößt schon nach kurzer Recherche auf seinen Namen, dann immer wieder, der Mann gilt in Fachkreisen als Experte, auf seiner Website bietet er neben dem gängigen sexualtherapeutischen Behandlungskatalog auch Therapieplätze für Männer mit pädophiler Sexualpräferenz an und garantiert absolute Vertraulichkeit bei jeder Anfrage. Du klickst auf die Vita, da ist ein Foto. So also sieht ein Abschaumexperte aus, denkst du. Belanglose Züge, glatt rasiert, seriöses Lächeln, akkurate Frisur, intelligente Augen hinter der Hornbrille. Sein Name ist Leopold Frank.
Du sammelst Informationen über Doktor Frank. Berufliche Karriere, Privatleben, alles, was das Netz hergibt. Du erfährst, dass er bei einem Ärztekongress im Schweizer Kurort Davos einen Vortrag halten wird. Du nimmst dir frei, packst deinen Koffer, fährst nach Davos. Du weißt nicht, wie du es anstellen wirst, du weißt nur, dass dich nichts davon abhalten kann.
Die Sonntage sind für Doktor Leopold Frank heilig. Er betrachtet es als quasireligiöses Ritual, sie stets auf dieselbe Weise zu verbringen, und das seit Jahren.
Um Punkt zehn chauffiert er seine Frau Yvette zu einer Konditorei, wo „die Damen“, wie Frank den illustren Kreis aus befreundeten Arztgattinnen nennt, sich jeden Sonntag bei einem ausgedehnten Sektfrühstück über Gott und die Welt unterhalten. Yvette trägt zu diesem Anlass mit nachgerade zwanghafter Verlässlichkeit eine doppelreihige Perlenkette, von der Frank noch heute weiß, wie viel sie gekostet hat, obschon der Zeitpunkt des Erwerbs Jahre zurückliegt, ebenso der Moment, in dem er die Kette um den damals noch schlanken Hals seiner Gattin gelegt hatte. Aus welchem Anlass, weiß Frank nicht mehr, es könnte ein runder Geburtstag oder das zehnjährige Hochzeitsjubiläum gewesen sein, die Erinnerungsspur verliert sich im Nebel einer langen, glücklichen Ehe.
Vor der Konditorei entlässt Frank seine Frau bei laufendem Motor mit einem Kuss auf die Wange in ihr Vergnügen.
„Bis später, Liebling“, sagt Yvette, „grüß mir Karl.“
„Mach ich.“
Sie steigt aus, schließt die Autotür und wirft ihm durch die Scheibe noch einen undefinierbaren, leicht umflorten Blick zu.
Frank fährt nie gleich los. Er wartet, bis Yvettes dicklicher Körper mit dem für ihn typischen, halb schwankenden, halb watschelnden Gang in der Konditorei verschwindet.
Der Anblick rührt ihn.
Warum, weiß er nicht.
Es hat (entfernt, aber doch) etwas mit Tierfilmen zu tun und dem feuchtglänzenden Fell großäugiger Robbenbabys.
Die Fahrt aufs Land dauert knapp neunzig Minuten. Frank fährt bei offenem Fenster, auch im Winter, und hört Vivaldis Le Quattro Stagioni in umgekehrter Reihenfolge. Vier, drei zwei, eins. Winter, Herbst, Sommer, Frühling.
Je nach Verkehrslage erreicht Frank sein Ziel beim Largo in cis-Moll oder beim Allegro in E-Dur des ersten Violinkonzerts La Primavera. Es läuft also auf den musikalischen Frühling hinaus, auch im kalendarischen Winter.
Karl steht immer schon da, wenn Franks Wagen über den Feldweg holpert. Eine schmale Gestalt mit brandroten Haaren, die ihre Farbpracht keiner überambitionierten Friseurin zu verdanken haben, sondern einer feurigen Laune der Natur. Karl steht am toten Ende des Weges unter einem Kastanienbaum, der seit Jahren als Treffpunkt dient. Im Herbst leuchten die Haare wie das chlorophyllarme Blattwerk des Baums, im Winter sieht es aus, als hätte sich Karl den Kopf angezündet, um einen möglichst dramatischen Kontrast zur verschneiten Landschaft im Hintergrund herzustellen.
Frank parkt den Wagen am Rande des Feldwegs neben dem von Karl und steigt aus. Er atmet tief durch. Landluft. Sommerlich mild, nicht so stickig wie in der Stadt. Dann geht er die letzten Meter auf Karl zu wie auf eine menschgewordene Mohnblume.
„Na?“, sagt sie lächelnd, als er da ist.
„Na?“, sagt er lächelnd, als er da ist.
Dann küssen sie einander, mit geschlossenen Augen und verschlungenen Zungen.
Cornelia Karl. Franks Geliebte seit mehr als zehn Jahren, er weiß nicht mehr, wann genau es begonnen hat, die Erinnerungsspur verliert sich im Nebel einer langen, glücklichen Affäre.
Wo und wie es begonnen hat, weiß Frank noch genau, nämlich als Erweckungserlebnis im Rahmen eines von tödlicher Langeweile geprägten Ereignisses, genannt Ärztekongress.
Damals, im Hotel Congress zu Davos, einem Viersternegral von ausgesuchter Hässlichkeit, wäre der aufstrebende Sexualmediziner Dr. Leopold Frank während eines Vortrags über die karzinomatöse Prostata fast eingeschlafen. Eingeschlafen und vom Sessel gekippt, im vollbesetzten Vortragssaal unter lauter Koryphäen, vor den Augen und Ohren der renommiertesten Kollegen auf dem Fachgebiet, rrrums! Man stelle sich vor!
Allein die Vorstellung, es hätte geschehen können, löste bei Frank noch Monate danach regelrechte Panikattacken aus. Cornelia Karl hingegen bedauerte es schon im Moment der Rettung vor dem reputationstechnisch ruinösen Eklat, dass sie, neben Frank sitzend, ihren Ellbogen in seine Seite gerammt und damit ein „wirklich amüsantes Intermezzo“ verhindert hatte.
Nach dem Vortrag folgte noch ein Vortrag, dann noch einer. Frank saß hellwach neben seiner Retterin und atmete den Duft ihrer prachtvollen roten Haare ein. Allerlei Adjektive schwirrten durch seinen Kopf, darunter „betörend“, „rassig“, „verrucht“, „wild“. Der Sex, den er wenig später im Hotelzimmer mit Cornelia Karl hatte, wurde diesen Adjektiven mehr als gerecht.
Als Sexualmediziner und Therapeut wusste Frank alles über die schillernde Vielfalt des menschlichen Geschlechtslebens bis hin zu den bizarrsten Perversionen, als Mann war er nie über die Missionarsstellung mit Yvette hinausgekommen. Yvette verweigerte schon damals jedwede abweichende Praktik, wobei unter abweichend alles zu verstehen ist, was nicht der Fortpflanzung dient. Sie ließ sich weder anal penetrieren noch lecken, von delikateren Techniken ganz zu schweigen. Die Ehe blieb dennoch kinderlos. Mit Karl erschlossen sich Frank erstmals jene Dimensionen der Lust, wie er sie bis dato nur vom Hörensagen kannte, namentlich aus den Fachbüchern und aus den Berichten seiner Patienten. Dank Karl wurde Frank zu dem, was er heute ist: ein gefragter Therapeut, der sich mit großem Einfühlungsvermögen den sexuellen Nöten seiner Patienten widmet, ganz egal, wie abstoßend, verwerflich oder lächerlich die sexuelle Vorliebe auch sein mag, aus der jene Nöte sich speisen.
Homo sum, humani nihil a me alienum puto, pflegt Frank zu sagen, wenn ihn jemand nach den Härten seines Berufs fragt. Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches, glaube ich, ist mir fremd.
In diesem Sinn war Frank nach dem Ärztekongress an Yvette herangetreten mit der Bitte, sein zutiefst menschliches Bedürfnis nach einem erfüllten Sexualleben zu befriedigen und ihm eine Geliebte zuzugestehen. Selbige Geliebte, so Frank mit aller Offenheit, hätte sich bereits gefunden, ihr Name sei Cornelia Karl, und sie bestehe darauf, bei ihrem männlichen Nachnamen genannt zu werden, dies mit der Begründung, dass Frauen die besseren Männer wären, wenn man sie nur lassen würde, man solle ihnen also wenigstens ihre männlichen Namen lassen. (Frank & Karl, das gemahnte Frank eher an eine Rechtsanwaltskanzlei denn an eine Affaire d’amour, auch ein solides Bestattungsunternehmen könnte so heißen, aber er respektierte den Wunsch seiner frisch rekrutierten Geliebten, wie er alles respektierte, was Frauen an Eigentümlichkeiten so mit sich bringen, das war er sich selbst als Frauenversteher alter Schule schuldig.)
Yvette reagierte einschlägig. Auch alte Schule. Sie brach in Tränen aus, zerschlug eine Vase und packte ihre Koffer, um in das elterliche Heim zurückzukehren, aus dem Frank sie herausgeheiratet hatte.
Elf Tage harrte Frank mit bewundernswerter Gelassenheit aus. Er ging seiner Arbeit nach, bügelte die Hemden selbst und traf Karl kein einziges Mal, weil es ihm wie ein Verrat an Yvette vorgekommen wäre. Am Abend des elften Tages wurde Frank für sein vorbildliches Verhalten belohnt. Er kam nach Hause und fand Yvette im Wohnzimmer vor, wo sie gerade eine neue Vase mit Blumen der Saison bestückte. Der Tisch war gedeckt, das Silberbesteck glänzte frisch poliert, es roch nach Cordon bleu, Franks Lieblingsessen.
Welchem Einfluss er den Gesinnungswandel seiner Gattin zu verdanken hatte, wusste Frank genau, denn er hatte darauf spekuliert. Was auch immer man von Schwiegermüttern halten mag, sie sind im besten Fall so, wie es das Klischee sagt: bösartig und schlau. Yvette verlor kein Wort über das, was ihr in den letzten elf Tagen an Zurechtweisungen durch Helene, ihre Mutter, zuteilgeworden war, aber es dürfte auf folgenden Text hinausgelaufen sein (so zumindest imaginierte Frank Helenes Text, während er in Gesellschaft von Yvette und ihrem aufreizend belanglosen Geschwätz das köstliche Cordon bleu verzehrte):
Mein liebes Kind, ich habe dich unter Schmerzen empfangen, unter Schmerzen ausgetragen, unter Schmerzen geboren. Ein Sohn warst du nicht, eine Tochter wollte ich nicht, und all meine Bemühungen, aus dir einen Mann zu machen – also ein autonomes, souveränes, machtbewusstes, egoistisches, rücksichtsloses, erfolgreiches Individuum –, all diese Bemühungen sind gescheitert. Ich bin gescheitert. An dir. Und an deinem Vater, der, kindisch vernarrt in dich ob des banalen Umstands, überhaupt ein Kind zustande gebracht zu haben, seinen gesamten erzieherischen Elan in die verzärtelnde Förderung deiner Weiblichkeit investiert hat. Babypuppen, Haarspangen, rosa Röckchen mit den denkbar albernsten Applikationen, das waren seine pädagogisch fatalen Geschenke an dich – was habe ich gelitten! Und was habe ich nicht versucht, um dem etwas entgegenzusetzen. Fechtunterricht, Karatekurs, Bogenschießen. Sogar ins Ballett habe ich dich geschickt, auf dass dein Rückgrat gestärkt werden möge für die Herausforderungen eines abenteuerlichen Lebens im Zeichen wahrer Männlichkeit – vergebens. Vergeb’ne Liebesmüh, mein liebes Kind. Was blieb mir also anderes übrig, als dich wohl oder übel und auf Wunsch deines weibischen Vaters in einer katholischen Hauswirtschaftsschule anzumelden, wo das Lehrpersonal, bestehend aus milde lächelnden, in frigide Schwesterntracht gekleideten Möchtegernmärtyrerinnen, nur ein einziges Ziel verfolgte: aus Menschen Frauen zu machen. Das, liebe Yvette, ist nun wirklich gelungen, da kann man nicht meckern. Kurz nach deiner Ausbildung zur Frau hat dich, folgerichtig, ein Mann zur Frau genommen. Leopold war und ist mir ein lieber Schwiegersohn, verfügt er doch über eine von mir hoch geschätzte Tugend, nämlich Tapferkeit vor dem Feind. Kraft dieser Tugend hat Leopold es gewagt, bei mir um deine Hand anzuhalten. Ein dahergelaufener Medizinstudent aus ärmlichen Verhältnissen – die Mutter Kellnerin, der Vater Bauarbeiter, beide früh verstorben –, ein Student kommt im frisch von der Stange gepflückten Billiganzug zu mir und bittet rotzfrech um die Hand meiner Tochter. Ha! Das nenn ich Courage! Und jetzt hat er also eine Geliebte, der Leopold. Du lieber Himmel, Yvette, eine Geliebte, das kommt in den besten Ehen vor, was regst du dich auf, und jetzt wein doch nicht, Kindchen, nicht schon wieder, reiß dich zusammen, ermanne dich und denk nach, denk doch ein einziges Mal nach in deinem Leben! Leopold hat eine Geliebte, na und? Will er dich deswegen verlassen? Nein! Will er dich betrügen? Nein, er ist ehrlich mit dir, er bittet dich um dein Einverständnis, und das sollte dir den allergrößten Respekt abnötigen, denn das schafft nur ein mutiger Mann unter hundert Feiglingen, frag deinen Vater, der kennt sich da aus, der Feigling. Alles, was Leopold will, ist ein bisschen Spaß im Bett. Grundgütiger, Yvette, das kann man ihm nun wirklich nicht verübeln, schließlich wurde dir im Rahmen deiner Ausbildung zur Frau zwar beigebracht, wie man einen Mann bekocht, aber nicht, wie man ihn befriedigt, was ich, nebenbei gesagt, für grob fahrlässig halte, aber sei’s drum. Ich bin nicht für die Lehrpläne von Haushaltsschulen zuständig. Was diese Person betrifft, mit der Leopold ein bisschen Spaß haben will, diese Karl, so muss ich sagen: Chapeau! Eine Frau, die bei ihrem männlichen Nachnamen genannt zu werden wünscht, kann keine schlechte Frau sein. Also, Yvette, und um es auf den Punkt zu bringen: Du solltest deine bescheidene Karriere als Arztgattin nicht mutwillig aufs Spiel setzen. Übe dich in Demut, dieser weiblichsten aller Tugenden, sie ist der Schlüssel zu einem langen, bequemen, bedeutungslosen Leben.
Nach dem Cordon bleu servierte Yvette das Dessert. Wie nicht anders zu erwarten, hatte sie Franks Favoriten unter den Nachspeisen zubereitet, gedeckten Apfelkuchen. Dann servierte sie ihm etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Etwas, das ihn mitten im Satz („Schatz, dieser Kuchen wäre eines Gottes würd“) verstummen ließ.
Das Etwas lag auf einem Porzellantablett mit secessionistischem Dekor, welches Yvette nur bei festlichen Anlässen zu benützen pflegte, um die Canapés zu reichen. Diesmal aber reichte sie Frank, der ungläubig auf das Tablett starrte, keine kleinen Köstlichkeiten, sondern ein Blatt Papier.
Büttenpapier.
Mit Wasserzeichen.
Überschrift: Vertrag.
In diesem Vertrag hatte Yvette die Konditionen festgehalten, unter welchen sie gewillt war, ihrem Mann eine Mätresse zu gönnen.
Frank überflog das Schreiben, dann las er es Wort für Wort.
Neben solchen Albernheiten wie „Der Vertragspartner Leopold Frank darf seine Geliebte Cornelia Karl, genannt Karl, nie inniger lieben als seine Ehefrau Yvette Frank“ wies das Schreiben auch verblüffend konkrete Bedingungen auf, die Yvette mit einer für sie ungewöhnlichen Kälte formulierte hatte. Zum Beispiel „Der geschlechtliche Verkehr mit Karl hat nicht öfter als einmal pro Woche und unter Verwendung geeigneter Verhütungsmittel stattzufinden“ oder „Der ungeschützte Verkehr mit Yvette Frank hat jederzeit auf ihren Wunsch hin stattzufinden“. Im Falle einer Vertragsverletzung drohe dem Vertragspartner Leopold Frank die „standesrechtliche Scheidung“ sowie eine monatlich auf das Konto seiner Ex-Gattin zu überweisende Pönale in Höhe von … Frank schluckte. Der Betrag war astronomisch. Er sah Yvette an, sie hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Und da wurde Frank von einer solch überbordenden Zärtlichkeit für seine Frau erfasst, dass es ihm die Brust zu sprengen drohte.
So viel bin ich ihr wert, dachte er.
So viel will sie mir nehmen, wenn sie mich verliert.
Er unterzeichnete das juristisch völlig wertlose Stück Papier (jeder Rechtsanwalt wäre in homerisches Gelächter ausgebrochen) und schwor sich, nie, niemals, unter keinen Umständen vertragsbrüchig zu werden.
Wer ist Karl?
Wer ist diese Person, wie Helene sagen würde, was macht diese Person von Montag bis Samstag, wenn sie nicht mit Frank, beim Kastanienbaum startend, durch die hügelige Landschaft spaziert, um nach gut einer Stunde in dem Jagdhaus anzukommen, das Frank seinerzeit als Liebesnest auserkoren und dauerhaft gemietet hatte?
Ein Rätsel.