Wie der Keim einer Südfrucht im Norden - Joachim Bartholomae - E-Book

Wie der Keim einer Südfrucht im Norden E-Book

Joachim Bartholomae

4,8

Beschreibung

In ihren Anfängen fokussierte die europäische Literatur auf Außenseiter; die Tragödien des Ödipus oder des Macbeth analysierten Widersprüche innerhalb der Kultur. Erst die deutsche Klassik verpflichtete sich hehren Erziehungszielen, weshalb sich heutige Leser bei der Lektüre oft gründlich langweilen. In unserer Zeit hat sich die Unsitte etabliert, die Literatur von Außenseitern in Schubladen zu packen und dann zu ignorieren, soweit man sich nicht selbst dieser Randgruppe zugehörig fühlt. Verleger Joachim Bartholomae will zeigen, dass dieser Haltung ein arges Missverständnis zugrunde liegt. Gerade am Beispiel Heinrich von Kleists wird deutlich, dass die Literatur oft der einzige Weg ist, auf dem Außenseiter mit der Mehrheitsgesellschaft kommunizieren können. Wer sich mit Werken befasst, die die Welt aus einer verschobenen Perspektive betrachten, sei es die einer Antigone, eines Michael Kohlhaas oder Tonio Kröger, lernt etwas dazu, das er auf anderem Weg kaum erfahren würde.

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JOACHIM BARTHOLOMAE

WIE DER KEIM EINER SÜDFRUCHT IM NORDEN

Kleist, Kafka und andere Außenseiter der Literatur

Männerschwarm VerlagHamburg 2012

Ach, ich trage mein Herz mit mir herum,

wie ein nördliches Land den Keim einer Südfrucht.

Es treibt und treibt, und es kann nicht reifen.

Heinrich von Kleist (1777-1811)

Ich denke oft: Du könntest die Bibel geschrieben haben, und es würde heißen, du hättest die Geschichte eines notorisch frauenfernen jungen Mannes vorgelegt, der sich mit dem verführerischen Charme seiner Rede in die Herzen von zwölf jungen Männern schmeichelt, ihnen den Kopf verdreht und sie ihrer normalen Umwelt entreißt. Wäre ich der Autor des Buches der Bücher, die Literaturkritik würde von einem umfangreichen Werk der homosexuellen Erbauungsliteratur sprechen, das eindeutig autobiografische Züge trägt.

Detlev Meyer (1950-1999)

Für Walter Foelske, mit Liebe und Unrat

I

Der Fremde, dessen Handlungen man nicht versteht, und vor allem der Außenseiter, der es wagt, seinen Mitmenschen die Stirn zu bieten, sind das Salz in der Suppe der Literatur1. Etwas flapsig könnte man sagen: Jahrhundertelang hatte ein Schicksal mit dem Tod des Helden zu enden, damit es sich lohnte, von den Dichtern besungen zu werden. Angefangen mit dem Gilgamesch-Epos lässt sich eine dichte Abfolge glorreicher Verlierer aufzählen, deren Geschichten für lange Zeit im Gedächtnis der Menschheit aufbewahrt wurden, gerade weil sie ihren eigenen Weg gegangen sind, anstatt den Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen. Immer ist es das Ausprobieren von Verhaltensweisen, was dem Helden die Aufmerksamkeit der Leser sichert, egal, ob seine Versuche erfolgreich verlaufen oder nicht.

Die spezifische Tendenz eines Menschen, sich zwischen zwei gleichrangigen Werten zu entscheiden, definiert seine Persönlichkeit. Wer wie Kleists Mestizin Toni zwischen sozialer Herkunft und Treue zum geliebten Menschen oder wie Kafkas Affe zwischen Selbstachtung und Überleben wählen muss, wird im Regelfall nach dem diskreten Hintertürchen suchen, um sich unbemerkt aus der Affäre zu ziehen; umso spektakulärer erscheint daher derjenige, der sich diesem unlösbaren Konflikt stellt. In der antiken Tragödie verkörperten Gottheiten diese «unfairen» Herausforderungen, später übernahmen die Tugenden der christlich geprägten Moral deren Funktion.

Wie Nietzsche argumentiert, liegt gerade starken Kulturen viel daran, ihre inneren Widersprüche offen zur Sprache zu bringen.2 Wer sich mit den literarischen Neuerscheinungen der letzten Jahre beschäftigt, kann jedoch leicht den Eindruck bekommen, dass den Dichtern die Lust am Konflikt verloren gegangen ist. Schon die sogenannte Nachkriegsliteratur, die aus einer Überfülle möglicher Konfliktstoffe wählen konnte, erging sich immer wieder in einer Nabelschau von Befindlichkeiten. Inzwischen hat der Familienroman die Lufthoheit über den Bücherschränken erobert, und er wird sie vielleicht noch ein Weilchen gegen den Angriff der Vampirgeschichten und anderer Jugendbücher für Erwachsene verteidigen.

Was war passiert? Während Molière und Shakespeare sich vom Intrigenspiel an absolutistischen Höfen inspirieren ließen, verstand sich die deutsche Literatur seit Wieland und Lessing als pädagogisches Institut, und bei aller «Größe» und gelegentlich aufblitzendem Humor sind die kanonischen Werke der deutschen Klassik und Romantik «moralisch aufbauend» und deshalb in erster Linie eins, nämlich langweilig. Die Ausnahmen lassen sich an wenigen Fingern abzählen; an erster Stelle ist wohl unbestritten Heinrich von Kleist zu nennen, der auch dem «Schmutz seiner Seele»3 gerecht zu werden versuchte, was seinen Werken noch heute großes Interesse sichert. Dafür nahm er – als literarischer Außenseiter – die ablehnende Haltung vieler Zeitgenossen in Kauf. «Kleist leidet an der (…) unglücklichen Unfähigkeit, in Natur und Wahrheit das Hauptinteresse zu legen, und an dem Triebe, es in Verzerrungen zu suchen.»4 So schrieb Georg Friedrich Hegel über den klassischen Außenseiter; heute würde man sagen: Kleist versuchte, die Welt so zu zeigen, wie sie war, und nicht, wie sie sein sollte.

Aus Anlass des 200. Todestags des Dichters im vergangenen Jahr hatte die Kleist-Gesellschaft dazu eingeladen, über den «schwulen Kleist» zu reden. Im Verlauf der Podiumsdiskussion ergab sich die unerwartete Konstellation, dass der (vermutlich heterosexuelle) Professor der Germanistik mit viel Engagement biografischen Spekulationen nachhing, während ich als homosexueller Kleinverleger mit dem Bedürfnis, über Kleists Werk zu reden, kaum zum Zuge kam.

Über die Persönlichkeit des Heinrich von Kleist und die Gründe für seine Selbstwahrnehmung als Außenseiter der Gesellschaft ist viel spekuliert worden.5 In einem Brief an Ernst von Pfuel erinnert sich Kleist daran, den Freund beim Bad im Fluss mit «mädchenhaften Gefühlen» betrachtet zu haben: «als ob Du dem schönsten jungen Stier, der jemals dem Zeus geblutet, nachgebildet wärest»6. Eine weitere Badeszene schildert er im Marionettentheater7, und auch anderen jungen Männern schreibt er innige Liebesbriefe8. Vielleicht sehnte er sich danach, dauerhaft mit einem geliebten Freund zusammen zu leben, vielleicht hatte er sexuelles Interesse an Männern – diese Fragen lassen sich heute nicht mehr beantworten und sind im Grunde auch ohne Bedeutung.

Welches Interesse haben wir daran, einem längst verstorbenen Mann eine sexuelle Orientierung zu unterstellen, zu der er weder in Leben noch Werk jemals Stellung genommen hat?9 Seitdem Marcel Reich-Ranicki Mitte der 1980er Jahre Thomas Manns Homosexualität nicht länger ignorieren konnte10, inszenieren Teile des heterosexuellen Feuilletons die Rede über Details des Intimlebens mancher Autoren als Ausdruck ihrer vermeintlichen Toleranz, ohne sich jedoch die Mühe zu geben, den Auswirkungen einer homosexuellen Autorenperspektive im Werk nachzuspüren. Dabei wäre im Rahmen eines Literaturverständnisses, das von den Dichtern die Analyse der Beschränkungen erwartet, denen das Alltagsleben unterliegt, und Perspektiven auf eine alternative Realität einfordert, ein großes Interesse an den speziellen Blickwinkeln zu erwarten, die Positionen am Rande der Gesellschaft einem Autor ermöglichen. Im Falle des Herrn von Kleist heißt das: Wie immer er auch gelebt und was er sich gewünscht haben mag, seine Werke liefern Analysen der Problematik gesellschaftlicher Außenseiter, die in ihren Grundzügen bis heute Bestand haben. Sie sind jedoch von Sekundärliteratur aus zweihundert Jahren soweit verschüttet, dass es sich lohnt, sie einmal ganz unmittelbar ins Licht zu stellen.

Als Verleger, der sich auf Literatur aus schwulem Blickwinkel spezialisiert, bin ich seit nunmehr zwanzig Jahren mit dem problematischen Spannungsverhältnis von Biografie und Werk konfrontiert, in dem die Rezeption unserer Autoren stattfindet. Niemand hat etwas gegen «schwule Literatur», aber (fast) jeder heterosexuelle Leser ist überzeugt, dass sie für ihn nicht interessant sein kann, und darin wird er von vielen Buchhändlern und Rezensenten bestärkt. Diese Abwehrhaltung gegen Texte, die die Funktion von Literatur, Horizonte zu öffnen, geradezu exemplarisch erfüllen, ist unbedingt erklärungsbedürftig. Ich möchte mich hier jedoch nicht mit psychologischen Spekulationen, sondern mit aufregender Literatur beschäftigen.

Wie der gebildete Affe in Kafkas Bericht für eine Akademie (s. S. 40f) blicken homosexuelle (oder z.B. türkischstämmige) Autoren von außen auf das Leben der Mehrheitsgesellschaft; viele Verhaltensweisen erscheinen ihnen nicht unhinterfragt als normal, sondern hochgradig problematisch. Zudem leben diese Menschen zur gleichen Zeit am gleichen Ort wie die Mehrheitsgesellschaft, sind mit den gleichen Möglichkeiten und Begrenzungen konfrontiert, nutzen sie aber auf andere Weise. Soziologisch ausgedrückt sind sie dadurch eine «Kontrollgruppe» zum (heterosexuellen) Mainstream, die in ihrem Blick auf die Gesellschaft das Gewohnte in einem anderen Licht erscheinen lässt, Gewohnheiten und Vorurteile in Frage stellt, Klischees bricht oder bestätigt. (Ein für den Leser ähnlicher Effekt ergibt sich, wenn der Bücher arabischer oder chinesischer Autoren liest, die in ihrer Heimat zwar keine Außenseiter sind, dem Leser hierzulande jedoch Einblicke in fremde Welten ermöglichen.)

Die Fremdheit des Außenseiters mag ihn biografisch von seinen Mitmenschen absondern; literarisch ist sie ein Pfund, mit dem er wuchern kann. Solange große Teile des Publikums affirmative Literatur (und Familienromane?) bevorzugen, muss er seine Werke allerdings erst einmal bei der Literaturgeschichte abgeben. Als Christa Wolfs Kassandra erschien, stand das Buch im Kontext einer feministischen Kritik, der Diskussion eines weiblichen Schreibens, und besonders engagierte Buchhandlungen sortierten es ins Regal für Frauenliteratur ein. Heute würde das kein Mensch mehr tun. Niemand würde heute behaupten, dass Feridun Zaimoglu Gastarbeiterliteratur schreibt, was damals, als Kanaksprak und Koppstoff erschienen, durchaus noch der Fall war.

Zwanzig Jahre lang habe ich behauptet, Literatur schwuler Autoren sei «völlig normal», denn schließlich gibt es nur eine Literatur. Auch wenn wir in diesen zwanzig Jahren manchen schönen Erfolg erlebt haben, kann man kaum sagen, dass diese Strategie wirklich erfolgreich war. Ich werde deshalb im folgenden einige Lesarten anbieten, die das Fremdartige, die Außenseiterproblematik der Werke in den Mittelpunkt stellen, von Kleist über Kafka bis zur neueren Literatur, wobei Heinrich von Kleist als demjenigen, der den Außenseiter in der deutschsprachigen Literatur «erfunden» hat, besonderes Gewicht zukommen soll. Danach wende ich mich den «manifesten» erotischen Außenseitern, meinem Metier der «schwulen» Literatur, zu. Zum Auftakt werfe ich einen kurzen Blick auf vorliegende theoretische Verständnisse des Außenseiters.

II

Wer sich mit Außenseitern in der Literatur beschäftigt, kommt um die gleichnamige Studie Hans Mayers nicht herum, die das ehrgeizige Ziel verfolgt, in einer parallel geführten Betrachtung von Leben und Werk einiger homosexueller Künstler eine Kulturgeschichte der Homosexualität (sowie in weiteren Abschnitten der Frauen und der Juden) zu schreiben.

Ganz im Duktus der Frankfurter Schule betrachtet Mayer diese drei Gruppen von Außenseitern als Exempel für das Gelingen oder Misslingen des Projekts der Aufklärung. Insofern nähert er sich seinem Thema vom Gleichheitspostulat her: «Formale Gleichheit vor dem Gesetz ist nicht mit der materialen Egalität einer gleichen Lebenschance zu verwechseln, eignet sich vielmehr, wie die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft demonstriert, vorzüglich zur Verhinderung.»(S. 9) Solche Worte klingen heute ungewohnt; wahrscheinlich würde selbst Die Linke sich scheuen, von materialer Egalität zu sprechen. In der Mitte der 1970er Jahre, als Hans Mayer diese Sätze schrieb, war das anders. Die westeuropäische Schwulenbewegung zum Beispiel sah ihre Zielsetzung in der Verwirklichung einer solchen Egalität sexueller Lebensweisen, weshalb die von ihr geführte außerparlamentarische Auseinandersetzung auf die Beseitigung der Heteronormativität als bestimmendem Kulturmuster abzielte; vom heute verbreiteten Verständnis von Emanzipation als Entdiskriminierung und «friedlicher Koexistenz» war man meilenweit entfernt.11 Insofern stimmen Mayers Denkvoraussetzungen mit der politischen Praxis jener Zeit überein: Moderne Gesellschaften sollen sich an dem Ziel messen lassen, dass jeder Lebensentwurf als gleich gültig angesehen wird. Eine Rede von «normal» und «abweichend» muss dieses Ziel notwendigerweise verfehlen, selbst wenn die Abweichung nicht strafrechtlich verfolgt wird.

Mayer unterscheidet zwischen «intentionalen», also selbstgewählten, und «existentiellen» Außenseitern, die nicht die Macht haben, ihren Status zu verändern. Als existentielle Außenseiter oder auch «Monstren» nennt er Frauen, Juden und Homosexuelle. «Ihnen leuchtet nicht das Licht des kategorischen Imperativs, denn ihr Tun kann nicht zur Maxime einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit gemacht werden.» (S. 11) Indem Mayer wie selbstverständlich davon ausgeht, homosexuelle Männer könnten nicht unter den Schutz eines allgemeinen Sittengesetzes gelangen, wie es sein schönes Wort vom «Licht des kategorischen Imperativs» impliziert, zeigt er, dass er die Forderung nach einer «materialen Egalität» noch nicht zu Ende gedacht hat.

Als Außenseiterfiguren in der Literatur nennt Mayer Faust und Hamlet, Shylock und Eulenspiegel, Don Juan, Don Quijote und Jeanne d’Arc. Heinrich von Kleist gerät ihm dabei nicht in den Blick, was erstaunlich ist, da er schreibt: «Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie Fremdheit in der bestehenden Gemeinschaft bedeuten. Verurteilt werden sie nicht durch eine strukturell und ideologisch feindliche Gegenschicht, sondern durch Ihresgleichen.» (S. 16) Damit erklärt Mayer das Fehlen einer tragfähigen Peergroup zum Hauptmerkmal des Außenseiters und unterscheidet ihn dadurch vom Angehörigen einer verfeindeten Gruppe oder Subkultur: Allein steht er einer übermächtigen Mehrheitsgesellschaft gegenüber, deren Hass er sich dadurch zuzieht, dass er sich ihren Regeln nicht unterwirft. Diese Beschreibung traf auf sexuelle Außenseiter für lange Zeit zu, ganz offensichtlich nicht jedoch auf das Volk der Juden oder das Geschlecht der Frauen, die untereinander stets starken Zusammenhalt finden und durchaus von feindlichen Gegenschichten verfolgt werden. Ein gutes Beispiel für diesen Unterschied ist der Streit des Homosexuellen Graf Platen gegen den Juden Heinrich Heine: Heine forderte jüdische Freunde auf, ihm in einer Auseinandersetzung beizustehen, die aufgrund ihrer antisemitischen Anlage auch sie betraf. Graf Platen dagegen stand ein solches gleichgesinntes Umfeld nicht zur Verfügung; nicht, weil er der einzige Homosexuelle seiner Zeit gewesen wäre, sondern weil er selbst weit davon entfernt war, in seiner Lebensweise irgendeinen Ansatzpunkt für subkulturelle Solidarität oder Gemeinschaftsbildung zu erkennen.12

Mayer wollte unter seinem Außenseiterbegriff wohl ganz einfach solche Personen zusammenfassen, die unter ihrer besonderen Lebensweise beziehungsweise deren gesellschaftlicher Missachtung oder Unterdrückung gelitten haben, was für seine Zwecke ja vollkommen ausreichend war.

In den Sozialwissenschaften ist Fremdheit unter Seinesgleichen auf verschiedene Weise untersucht worden. Immer geht es dabei um die Etablierung von sozialen Verhaltenserwartungen. Neben Norbert Elias’ Untersuchungen zum Prozess der Zivilisation ist hier vor allem Michel Foucault zu nennen, der in der Analyse der Umwidmung von Leprosorien in Irrenanstalten soziale Ausgrenzung in ihren radikalsten Formen beschreibt.13 Foucaults These, dass moderne Gesellschaften nicht jedes Leben gleich achten, dass bestimmten Gruppen von Menschen ein geringeres Lebensrecht zugebilligt wird als anderen, ist inzwischen auch von der Queer Theory als gedankliche Triebfeder aufgegriffen worden.14 In deren Gedankengebilde gilt bereits die Übernahme sozialer Rollenmuster als Ursache physischer Vernichtung, Hospitalisierung oder sozialer Ächtung.

Die Abgrenzung zwischen Seinesgleichen und Anderen bezieht sich stets auf die Möglichkeit und Bereitschaft zu gegenseitiger Verständigung. Diesen Sachverhalt hat der Systemtheoretiker Niklas Luhmann bereits in seiner Definition dessen berücksichtigt, was aus soziologischer Sicht als «Gesellschaft» zu verstehen sei: die Gesamtheit aller füreinander erreichbaren Kommunikationen.15 Dieser Begriff meint eine sehr grobe Struktur, die die Erlernbarkeit von Sprachen und Kommunikationsmustern ermöglicht. Und gerade dann, wenn die Teilnahme an der Gesellschaft allen offen steht, wird die Nicht-Teilnahme einiger Außenseiter als Affront gewertet – sei es die Unfähigkeit des Wahnsinnigen, sei es die bewusste Ablehnung des Kritikers.

Die Einsicht in die eigene Andersartigkeit einerseits und die subjektive Unmöglichkeit einer Anpassung andererseits sind die Faktoren, die in ihrem Zusammenwirken den Außenseiter hervorbringen. Indem er der Gesellschaft seine eigene Subjektivität entgegensetzt, provoziert er nolens volens eine Reaktion. Christa Wolf hat das sehr prägnant in einem der Schlusssätze ihrer Erzählung Kein Ort. Nirgends zum Ausdruck gebracht. Wolf imaginiert in dieser Erzählung eine Begegnung Kleists mit Caroline von Günderode, die beide ihren Platz in der Welt nicht finden konnten. Sie gelangen zu der Einsicht:

Wenn die Menschen gewisse Exemplare ihrer eigenen Gattung aus Bosheit oder aus Unverstand, aus Gleichgültigkeit oder aus Angst vernichten müssen, dann fällt uns, bestimmt, vernichtet zu werden, eine unglaubliche Freiheit zu. Die Freiheit, die Menschen zu lieben und uns selbst nicht zu hassen. (S. 118)

In diesem Sinne möchte ich jene, die von Ihresgleichen aus Bosheit, Unverstand, Gleichgültigkeit oder Angst «vernichtet» werden, als Außenseiter bezeichnen. Die Art der «Vernichtung» unterliegt dabei ständigen Veränderungen. Immerhin hat der Zivilisationsprozess im Laufe der Jahrhunderte Methoden hervorgebracht, die es den Menschen ermöglichen, unliebsame Andere unsichtbar zu machen, zu marginalisieren, ohne sie physisch beseitigen zu müssen.16 Damit soll nicht geleugnet werden, dass unter anderem in den Großstadtdschungeln der USA, die den Erfahrungshintergrund für Judith Butlers Philosophie abgeben, nach wie vor ganz reale Gefahren für Leib und Leben drohen.

Bosheit, Unverstand, Gleichgültigkeit oder Angst – welche persönlichen Merkmale sind dafür verantwortlich, die Masse der «Blonden und Blauäugigen»17 derart gegen sich aufzubringen? Schlagen wir also nach bei Kleist.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte

bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Joachim Bartholomae

Wie der Keim einer Südfrucht im Norden

Kleist, Kafka und andere Außenseiter der Literatur

© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2012

Umschlaggestaltung: Carsten Kudlik, Bremen, unter Verwendung eines Fotos von Manuel Pawellek 1. Auflage 2012

ISBN der Buchausgabe: 978-3-86300-121-6 ISBN der Ebook-Ausgabe: 978-3-86300-129-2

Männerschwarm Verlag

Lange Reihe 102 – 20099 Hamburg

http://www.maennerschwarm.de

Über den Autor

Joachim Bartholomae (Jg. 1956) studierte Soziologie und arbeitet seit 1985 im Buchhandel. Er ist Mitbegründer des Männerschwarm Verlags in Hamburg und dort seit zwanzig Jahren für das literarische Programm zuständig.

INHALT

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

Literatur

Impressum

Über den Autor

1Sicherlich trifft diese Beobachtung auf den und die Fremde gleichermaßen zu, aber ich kapituliere vor der Herausforderung, dies auf sowohl korrekte wie auch sprachlich erträgliche Weise niederzuschreiben. Solange keine geschlechtlich korrekten Schreibweisen in Umlauf sind, die dem Verständnis des Texts dienen, anstatt Verwirrung zu stiften (denn die Binnenmajuskel allein reicht ja längst nicht mehr aus!), bediene ich mich der hergebrachten, wenn auch ärgerlichen Methode, bei Pluralbildungen oder Gattungsbegriffen auch Frauen der männlichen Deklination zu unterwerfen. Verzeihe mir, wer kann.

2Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Stuttgart 1986, bes. Kap. 3 u. 23

3Brief an seine Schwester Marie, Spätherbst 1807 (Nr. 116)

4G. W. F. Hegel, Berliner Schriften 1818-1831, Frankfurt/M 1986, S. 218

5s. vor allem Heinrich Detering als Vertreter einer biografisch inspirierten Literaturwissenschaft in: Das offene Geheimnis, Göttingen 1994, S. 117-156; für die neuere Forschung s. Jens Bisky, Kleist, Reinbek 2007

6An Ernst von Pfuel, Dezember 1804 oder Frühjahr 1805 (Nr. 86)

7«Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit einem jungen Mann, über dessen Bildung damals eine wunderbare Anmut verbreitet war.» Über das Marionettentheater, in Kleist, Werke Bd. 2, S. 343

8An Ludwig von Brockes, November 1801 (Nr. 55), sowie an Heinrich Lohse, 23. Dezember 1801 (Nr. 59)

9Eher im Gegenteil: seiner Verlobten Wilhelmine von Zenge schreibt er unverblümt: «Ich fühle, dass es mir notwendig ist, bald ein Weib zu haben.» (Brief 27 v. 13.11.1800) – Zur «biografischen Methode» in der Literaturwissenschaft äußert sich aktuell besonders kritisch Andreas Kraß: Der Sündenbockmechanismus, in: Niendel/Weiß (Hg.), Queer zur Norm, Hamburg 2012, S. 86-106

10Marcel Reich-Ranicki, Thomas Mann und die Seinen, München 1987

11Pretzel/ Weiß (Hg.), Rosa Radikale – Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre, Hamburg 2012

12Zum Streit Heine-Immermann-Platen s. Keppler / Bartholomae, «Schlaffe Ghaselen» und «Knoblauchgeruch», Hamburg 2012

13«Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben – dieser obskuren Gesten, die, sobald sie ausgeführt, notwendigerweise schon vergessen sind –, mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie außerhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau soviel über sie aus wie über ihre Werte», Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M 1969, S. 9

14So sehr prägnant Judith Butler in Queere Bündnisse und Antikriegspolitik, Hamburg 2011, bes. S. 25-30

15Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft Bd. 1, Frankfurt/M 1997, S. 145

16So Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt/M 1978 u. 1979, Bd. 1 S., 279ff, Bd. 2, S. 371ff

17Thomas Mann, Tonio Kröger, in: Frühe Erzählungen, Frankfurt/M 1981, S. 341

18Damit lädt er zu der Spekulation ein, dass es vielleicht das Schicksal des schönen Grafen ist, mit dem er sich selbst identifiziert: mit einem Liebhaber nämlich, der jede Selbstbeherrschung verliert und dennoch auf Vergebung hoffen darf.

19Diesen Bezug stellt der Kurfürst selbst her, als er sich von einem «Tyrannen» (IV. Akt, 1. Auftritt) und dem «Dei von Tunis» (V. Akt, 2. Auftritt) abgrenzt.

20«Der Prinz von Homburg ist der erbärmlichste General.» G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Frankfurt/M 1986, S. 201

21Krämer/Mackert, Plessy revisited, in: AG Queer Studies (Hg.) Verqueerte Verhältnisse, Hamburg 2009, S. 66-81, besonders S. 71

22So erzählt auch Joseph Conrad in seinem Roman Victory eine «Inselgeschichte », deren Held ursprünglich Gustav oder August heißen sollte (Kleist wechselt die Vornamen von der Rieds wahllos zwischen Gustav und August, was in den meisten Ausgaben auf Gustav vereinheitlicht wird). Auch bei Conrad sind die Liebenden der Bedrohung durch eine Mordbande ausgesetzt. In ihrer Ausweglosigkeit wählt die Frau den Opfertod, der Mann begeht danach Selbstmord. Allerdings sind die Akzente auf interessante Weise anders gesetzt als bei Kleist. Conrads transethnische Liebende stecken seit Wochen in der Sprachlosigkeit fest und die junge Frau begreift den Tod als einzige Möglichkeit, ihre Liebe zu bezeugen: «(...) all her energy was concentrated on the struggle that she wanted to take upon herself, in a great exaltation of love and self-sacrifice, which is woman’s sublime faculty; altogether on herself, every bit of it, leaving him nothing, not even the knowledge of what she did, if that were possible.» (Joseph Conrad, Victory, Oxford 2004, S.239) Auf dieses Pathos konnte Kleist verzichten. – Auch der Spielfilm Crying Game von Neil Jordan aus dem Jahr 1992 verwendet Tonis Manöver im transethnischen Kontakt und unter Bedrohung durch eine Mordbande: Die «gemischtrassige» und zudem transsexuelle Dill bindet ihren «weißen» Geliebten Fergus ans Bett, um ihn daran zu hindern, selbst eine Mordtat zu begehen, zu der ihn eine Bande von IRATerroristen zwingen will. Dill erschießt ihrerseits eine IRA-Agentin und besiegelt damit die «Verlobung» mit Fergus, der zuvor mit Ekel davor zurückgeschreckt war, ein Mädchen mit männlichem Genital zu lieben. – Im Vergleich dieser Varianten treten deren jeweilige Besonderheiten hervor.

23Vor allem ist hier an Christa Wolfs gebetsmühlenhaft wiederholte Bezeichnung «Achill, das Vieh» zu denken, s. Christa Wolf, Kassandra, Frankfurt/M 2008, z.B. S. 96f, 109, 140

24In seinem völligen Mangel an Selbstzweifeln und Anpassungsbemühungen zeigte sich August Graf von Platen in seinem Streit mit Heinrich Heine im Jahr 1829 als eine wahrhaft Kleist’sche Figur; s. Keppel/ Bartholomae, «Schlaffe Ghaselen» und «Knoblauchgeruch», Hamburg 2012

25So Joyce Carol Oates, Kafka’s Paradise, in: New Heaven, New Earth, New York 1974, S. 247-286

26s. dazu Wysling / Fischer, Dichter über ihre Dichtungen: Thomas Mann, Teil I: 1889-1917, München 1975, S. 224-226. Im Jahr 1940 schrieb Mann an Lulla Adler: «The story The Blood of the Walsungs must not be thought of in terms of present day conditions. It was written thirty-five years ago, when antisemitism was rare in Germany and when a Jewish setting for a story had no particular significance.» (Wysling a.a.O., S. 229) Diese Behauptung scheint mir allerdings vollkommen aus der Luft gegriffen zu sein. – Die Buchfassung von 1921 endet stattdessen etwas farblos: «dankbar soll er uns sein. Er wird ein minder triviales Dasein führen, von nun an.» Thomas Mann, Wälsungenblut, in Mann, Frühe Erzählungen, S. 524

27Spenders Held Paul Schoner bezeichnet diese Gedanken unmittelbar darauf selbst als «vulgär, populistisch, verabscheuungswürdig» (S. 252). Hier soll allerdings keine Diskussion über «Massenpsychologie» oder dergleichen geführt, sondern die literarische Gestaltung von Wahrnehmungen und Empfindungen beschrieben werden, und als solche hat dieser Wutausbruch Bestand.

28s. Alexander Zinn, «Die Bewegung der Homosexuellen» – Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten im antifaschistischen Exil, in: Detlef Grumbach (Hg.), Die Linke und das Laster, Hamburg 1995, S. 38ff

29s. dazu Gary Schmidt, Koeppen – Andersch – Böll, Homosexualität und Faschismus in der deutschen Nachkriegsliteratur, Hamburg 2001, S. 53ff

3030 Die Titel finden sich im Literaturverzeichnis.

31Man wünscht sich, dass E.M. Forsters Held Maurice seinem platonischen Freund Clive so deutlich hätte die Meinung sagen können! Vgl. E.M. Forster, Maurice, S. 212ff

3232 Detlef Grumbach hat für seinen Sammelband Schwule Nachbarn deutsche Gegenwartsautoren um Texte gebeten, in denen sie Begegnung en mit Schwulen thematisieren. Die ablehnenden Reaktionen darauf sind sehr erhellend, s. Grumbach, Schwule Nachbarn, Hamburg 2009, S. 239ff

33Dieter Claessens, Nova Natura, Düsseldorf und Köln 1970, S. 10-14

34Ähnlich klaustrophobe Konstellationen findet man in Neil Bartletts Roman Alles von mir, Leipzig 1992; einziger Ort der Handlung ist eine kleine Bar in London, in der zwei Menschen unter den Augen einer anscheinend recht konstanten «Gemeinde» zueinanderfinden: externe Ereignisse werden lediglich als Fensterschau überliefert. Auch Jonathans kleiner Bauernhof in Tony Duverts Roman Als Jonathan starb gehört dazu, auf den ich weiter unten ausführlicher eingehen werde (s. S. 63ff).

35Der amerikanische Autor Dennis Cooper schreibt seit 1989 unentwegt von jungen Männern, die auf ihrer Suche nach Nähe und Verständnis die Grenze des Körpers durchbrechen (z.B. Closer, dt. Ran), wobei die Unterschiede zwischen französischen Bürgersöhnen der 1950er Jahre und amerikanischen Straßenkindern klar zutage treten, die Radikalität von Jourdans Herangehensweise trotz vieler Liter Bluts jedoch nicht erreicht wird. Christoph Geiser wiederum erzählt vom Verspeistwerden und allen damit verbundenen Wünschen und Ängsten: Wunschangst, in: Christoph Geiser, Wunschangst, Hamburg 1993, S. 67-81

36man vergleiche nur Wagners Tristan und Isolde!

37So verweigerte die Autorenbuchhandlung Berlin die Annahme einer Anzeige für zwei Erzählungen Hervé Guiberts in ihrem Kundenmagazin, und das schwule Hamburger Stadtmagazin Hinnerk verweigerte die Annahme einer Anzeige für Duverts Roman, beide mit der Begründung, man wolle keine «Werbung für Pädophilie» machen.

38So Steven Lukes, Power: «the tree-dimensional view of power (…) allows for consideration of the many ways in which political issues are kept out of politics.» (S. 24)

39Allerdings lassen sich ernsthafte literarische Auseinandersetzungen mit dieseem Thema an wenigen Fingern abzählen. Nabokovs berühmter Roman Lolita sagt dabei wahrscheinlich mehr über das Kind als über den Erwachsenen; faszinierend ist Hervé Guiberts Reise nach Marokko, weil hier der Ich-Erzähler vorsätzlich versucht, die Rolle eines Pädophilen einzunehmen, was ihm anfangs nicht gelingen will. Unter deutschsprachigen Autoren ist vor allem Reinhard Knoppka mit Anmache und Herzschuss zu nennen.

40Christoph Geiser, Wüstenfahrt, Frankfurt/M 1987, S. 62f

41Christoph Geiser, Wie auf Wolke 7, in: Geiser, Der Angler des Zufalls, Hamburg 2009, S. 192/ 196

42Peter Rehberg, «Homoskin» – Weder Dramaqueen noch Klon, in: Bauer u.a., Unbeschreiblich männlich, Hamburg 2007, S. 121-134

43Natürlich erscheinen Romane aus homosexueller Perspektive auch in Verlagen des heterosexuellen Mainstreams. Dabei handelt es sich jedoch um die wenigen Ausnahmen, die die Regel bestätigen, und zudem überwiegen dabei Werke von Autoren aus fernen, mehr oder weniger exotischen Ländern sowie historische Stoffe. Auf diese Weise werden Konfrontationen mit der Lebensweise des Mainstreams vermieden (s. u.a. Philippe Besson, Luka Maric, Max Behr, Perihan Magden, Tendai Huchu, Rachid O. und Abdellah Taia).