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Kinder mit Migrationshintergrund erzielen im deutschen Bildungssystem häufig schlechtere Noten als einheimische Kinder und besuchen nach der Grundschule eher „niedrigere“ Schulformen. Es scheint so, als seien sie „Bildungsverlierer“. Wie können diese Kinder gefördert werden, sodass sie am Ende der vierten Jahrgangsstufe auf das Gymnasium wechseln und dort erfolgreich sind? Welche Faktoren müssen gegeben sein, damit auch sie einen Bildungserfolg verzeichnen können? Dieses Buch beschäftigt sich ausgehend von diesen Fragen damit, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein erfolgreicher Übergang von allochthonen Kindern in die Sekundarstufe gelingen kann. Zunächst werden dazu grundlegende Definitionen gegeben und dabei besonders die Begriffe Migration, Migrant/in und Migrationshintergrund diskutiert. Zusätzlich gibt es einen kurzen Einblick in die Geschichte der Migration nach Deutschland. Da es in dieser Ausarbeitung auch um das Schulsystem geht, werden die einzelnen Primar- und Sekundarschulformen und die rechtlichen Übergangsregelungen und wesentlichen Abläufe skizziert. Anschließend wird die aktuelle Verteilungssituation von Migrantinnen und Migranten im deutschen Schulsystem verdeutlicht. Dabei wird vor allem die Verteilung auf die verschiedenen Sekundarschulzweige nach der vierten Klasse im Vergleich zu autochthonen Lernenden beschrieben. Aus dem Inhalt: - Bildungskarriere; - Bildungserfolg; - Herkunftseffekte; - Institutionelle Diskriminierung; - Ungleichheitsforschung
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Seitenzahl: 160
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Inhaltsverzeichnis
1 Überblick über die Arbeit
2 Definitorische Grundlagen
2.1 Migration – eine Begriffsbestimmung
2.1.1 Die Geschichte der Migration nach Deutschland
2.1.2 Migrationshintergrund und Generationsstatus
2.2 Der Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe im Bundesland Niedersachsen
2.2.1 Die Primarstufe
2.2.2 Das niedersächsische Sekundarstufensystem
2.2.3 Der Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe
3 Aktuelle Verteilungssituation von allochthonen und autochthonen Lernenden auf die verschiedenen Sekundarschulformen
4 Fragestellung der Ausarbeitung
5 Theoretische Auseinandersetzungen der Ungleichheitsforschung
5.1 Bourdieus Kapitalformen als Einflussfaktor auf die Schullaufbahn
5.1.1 Ökonomisches Kapital
5.1.2 Kulturelles Kapital
5.1.3 Soziales Kapital
5.1.4 Schlussfolgerungen aus der Kapitaltheorie für einen Sekundarschulübergang von Migrantinnen und Migranten
5.2 Bourdons primäre und sekundäre Herkunftseffekte
5.2.1 Primäre Herkunftseffekte
5.2.2 Sekundäre Effekte
5.2.3 Tertiäre Effekte
6 Die Bedeutung von außerschulischen Faktoren für einen erfolgreichen Übergang in die Sekundarstufe
6.1 Das Alter bei der Migration
6.2 Die Rolle der vorschulischen Bildung
6.3 Die deutsche Sprache als Voraussetzung für Bildungserfolg
6.4 Das häusliche Umfeld als Unterstützungskomponente
6.5 Bildungsaspirationen der Eltern
7 Innerschulische Faktoren und ihre Auswirkungen auf die Bildungskarriere
7.1 Sprachförderung im monolinguistischen Bildungssystem
7.2 Die Rolle der Deutschnote als Indikator für den frühen Übergang
7.3 Die Klassenzusammensetzung als Einflussgröße für Schulleistungen
7.4 Institutionelle Diskriminierung in der Primarstufe
8 Fazit
9 Literaturverzeichnis
„Jeder Mensch ist dazu bestimmt, ein Erfolg zu sein,
und die […] [Schule] ist dazu bestimmt,
diesen Erfolg zu ermöglichen.“
(unbekannter Autor)
Die Migration in ein fremdes Land, stellt hohe Anforderungen an die ganze Familie. Gerade auch schulpflichtige Kinder werden mit einer Fülle von neuen Situationen konfrontiert. Sie müssen sich nicht nur in einem fremden Sozialraum positionieren, sondern auch in das deutsche Schulsystem integrieren. Einer der wichtigsten Faktoren, um im neuen Schulsystem eine erfolgreiche Bildungskarriere einschlagen zu können, ist das Erlernen der deutschen Sprache.
Eine Auseinandersetzung mit diesem Phänomen wurde aus ganz persönlichen Beweggründen für die Abschlussarbeit im Master of Education gewählt. Die Bildungsbenachteiligung von Migrantinnen und Migranten wurde mir erst durch die Bildungsbiographie meines Lebenspartners vor Augen geführt. Im Alter von sechs Jahren migrierte er von Syrien nach Deutschland. Seine Eltern erhofften sich von dieser Migration eine bessere Schulbildung für ihre Kinder. Oft berichtet er davon, dass er sich in der Schule ‚alleingelassen‘ fühlte und sein Potential nicht entfalten konnte. Zwar beziehen sich diese Schilderungen auf einen Zeitraum von vor 20 Jahren, die Thematik ist jedoch aktueller denn je. Durch meine Tätigkeit als Deutsch-als-Zweitsprache Lehrerin an einer Grund- und Oberschule, begegnen mir täglich ähnliche Erfahrungen. Außerhalb des Förderdeutschunterrichts fühlen sich die Lernenden nur wenig berücksichtigt und gefördert. Dieses spiegelt sich dementsprechend auch in dem Notenbild oder den Beurteilungen der Lernenden wieder.
Gerade die Ergebnisse von PISA (Programme for International Student Assessment) und anderen quantitativen Forschungsstudien zeigen, dass Migrantinnen und Migranten im deutschen Bildungssystem häufiger schlechtere Noten erzielen, als einheimische Kinder. Daran gekoppelt ist folglich auch ein Übergang auf eher niedrigere Schulformen des Sekundarschulzweigs. Es scheint so, als seien Migrantinnen und Migranten die ‚Bildungsverlierer‘. Doch diese Befunde lassen sich nicht allein durch Sprachdefizite von allochthonen Kinder erklären. Eine Erklärung setzt sich aus einer komplexen Korrelation verschiedener außerschulischer und innerschulischer Variablen zusammen, die sich sowohl auf der Mikro- und Makro-, als auch auf der Mesoebene der Gesellschaft verorten lassen. Daraus lässt sich erkennen, dass nicht nur die Schülerinnen und Schüler allein für diese Bildungsschieflage verantwortlich sind, sondern auch weitere Parteien wie Eltern, Lehrkräfte oder auch die Schulorganisation, welche durch Gesetze des Bildungsministeriums bestimmt wird. Lernende mit einem Zuwanderungshintergrund genauso zu unterstützen und zum Bildungserfolg zu führen wie autochthone Kinder, das ist ein Langzeitziel des deutschen Bildungssystems, welches zum aktuellen Zeitpunkt nur unzureichend erfüllt wird.
Wie schafft man es jedoch, Migrantinnen und Migranten so zu fördern, dass sie am Ende der vierten Jahrgangsstufe auf das Gymnasium übergehen und dort erfolgreich sind? Welche Faktoren müssen gegeben sein, damit auch sie einen Bildungserfolg verzeichnen können? Die folgende Arbeit beschäftigt sich ganz zentral damit, welche Gelingensbedingungen gegeben sein müssen, damit ein erfolgreicher Übergang von allochthonen Kindern in die Sekundarstufe stattfinden kann.
Eingangs werden grundlegende Definitionen gegeben, um ein transparentes Fundament für nachfolgende Ausführungen zu schaffen. Dort werden besonders die Begriffe Migration, Migrant/in und Migrationshintergrund fokussiert. Darüber hinaus wird ein komprimierter Einblick in die Migrationsgeschichte nach Deutschland gegeben. Da es bei dieser Ausarbeitung auch um das Schulsystem geht, werden sowohl die einzelnen Primar- und Sekundarschulformen, als auch die rechtlichen Übergangsregelungen für den Wechsel in die Sekundarstufe und wesentliche Abläufe der Transition skizziert.
Nachfolgend soll die aktuelle Verteilungssituation von Migrantinnen und Migranten im deutschen Schulsystem verdeutlicht werden. Dabei wird vor allem die Verteilung auf die verschiedenen Sekundarschulzweige nach der vierten Klasse im Vergleich zu autochthonen Lernenden beschrieben, welche die prekäre Schieflage im Bildungssystem visualisiert. Aus diesen Erkenntnissen wird im Folgekapitel ein Katalog mit Leitfragen bezüglich möglicher Einflussfaktoren auf den Bildungserfolg aufgestellt. Aus diesem Katalog wird die folgende operationalisierte Forschungsfrage abgeleitet: Welche Gelingensbedingungen müssen geschaffen werden, damit Migrantinnen und Migranten erfolgreich in das Sekundarschulsystem übergehen?
Um die Frage angemessen beantworten zu können, werden die Sozialpraxeologien von Bourdon und Bourdieu fokussiert, die Hinweise darauf geben, warum Migrantinnen und Migranten benachteiligt sind. In den Kapiteln 5 und 6 werden sowohl außerschulische, als auch innerschulische Faktoren untersucht, die Einfluss auf die Bildungserfolge von Lernenden mit Migrationshintergrund haben. An dieser Stelle werden Variablen wie das Alter der Migration, die Rolle der vorschulischen Bildung, Elternaspirationen und Unterstützungsfaktoren untersucht und in Bezug auf ihre Gelingensfunktion für den schulischen Übergang diskutiert. Weiterführend werden auch Aspekte wie die deutsche Sprache als Voraussetzung für Bildungserfolg, die Relevanz der Deutschnote, die Klassenzusammensetzung und auch der Aspekt der institutionellen Diskriminierung als Gelingensbedingungen thematisiert.
In der Fachdebatte können diverse Definitionen bezüglich des Phänomens der Migration gefunden werden. Diese unterschieden sich sowohl in der Konkretheit der Begriffsbestimmung, als auch darin, dass sie unterschiedliche Personengruppen als ‚Migrant/in‘ bezeichnen. Die Begrifflichkeit Migration stammt aus dem Lateinischen und terminologisiert nach Klaus und Klein (2011, 367) „alle Formen räumlicher Mobilität“ von Menschen. Migration schließt in diesem Kontext sowohl die Binnenmigration, also die Wanderung innerhalb eines Landes, als auch die Immigration in ein Land ein, welches nicht das bisherige Aufenthaltsland darstellt. Dieses wird dann als internationale Migration bezeichnet (vgl. Schmickler 2015, o.S.).[1]
Diese breitgefächerte Auffassung muss durch zentrale Merkmale ergänzt werden, um ein klareres Bild vom Migrationsbegriff herauszukristallisieren. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2016) geht nicht nur von einer ‚räumlichen Mobilität‘ aus, sondern weiterführend davon, dass der Wanderungsprozess den Lebensmittelpunkt des Individuums verlagert (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016a, 10). Migration stellt unter diesem Gesichtspunkt einen Veränderungsprozess auf verschiedenen Ebenen des Individuums dar. Diese Alternanz kann auf verschiedenen Gründen beruhen. Betrachtet man die Migrationsgeschichte Deutschlands (s. K. 2.1.1) sind politische Situationen im Herkunftsland, Erwerbstätigkeitschancen, Bildungschancen oder familiäre Gründe Motive für Migrationsbewegungen (vgl. Norrenbrock 2008, 14). Ein weiteres zentrales Merkmal ist die zeitliche Dauer des Aufenthalts. Migration findet nur dann statt, wenn ein „auf Dauer angelegt[er] bzw. dauerhaft werdender Wechsel“ (Treibel 2003, 21f.) vorgesehen ist. Damit werden kurzweilige Aktivitäten an anderen Aufenthaltsorten, die dem Tourismus oder der Freizeitbeschäftigung zugeschrieben werden können, von dem Migrationsbegriff abgegrenzt (vgl. Norrenbrock 2008, 14). Die Vereinigten Nationen setzen den Maßstab, dass von einer Zuwanderung ausgegangen werden kann, wenn das Individuum mindestens ein Jahr an einem Zielort lebt, beziehungsweise sein/ihr Lebensmittelpunkt für mindestens ein Jahr verlegt (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016a, 11).
Weiterhin kennzeichnend für Migration ist die Modifikation des sozialen Lebensraumes. Ein dauerhafter Wechsel findet nicht nur ausschließlich auf der räumlichen Metaebene statt, denn er beinhaltet auch eine eindeutige Veränderung der sozialen Lebenswelt (vgl. ebd., 13). So werden beispielsweise gewohnte soziale Räume mit Vertrauenspersonen und stabilen Strukturen verlassen und müssen an dem neuen Verweilungsort erneut aufgebaut werden. Durch die Differenzen und der Distanz zwischen neuer und alter Kultur werden physische Kontakte beeinträchtigt (vgl. Diefenbach 2008, 20).
Zusammenfassend kann Migration also als Wanderungsprozess verstanden werden, bei dem das Individuum aus verschiedenen Gründen für mindestens ein Jahr den gewohnten sozialen Raum verlässt und den Lebensmittelpunkt an einen anderen Ort verlagert, sodass es vor der Herausforderung steht, sich in einem neuen Sozialgefüge zu positionieren. Wie schon beschrieben, kann eine Migration verschiedenste Gründe haben. Meistens soll durch die (Aus-)Wanderung eine Verbesserung der Lebenschancen erreicht werden (vgl. Schmickler 2015, o.S). Mögliche Gründe für die Verlagerung des Lebensmittelpunktes können beispielsweise bessere Arbeits- oder Bildungsaussichten, eine anstehende Hochzeit oder Familienzusammenführungen, Wohlstandswanderungen, militärisch bedingte Migrationen oder aber auch Zwangsmigrationen wie eine Flucht sein (vgl. Oltmer 2012, o.S.) In Deutschland können aktuell vier anteilsmäßig große Migrationsgruppen kategorisiert werden:
1. Arbeitsmigranten
2. Flüchtlinge
3. Aussiedler
4. Zuwanderer (größtenteils innereuropäische Migration) (vgl. Schulz-Kaempf 2006, 421ff.; Stanat 2008, 688).
Doch auch bezüglich dieser Klassifizierung gibt es verschiedene Ansichten. Das Völkerrecht sieht es zum Beispiel vor, dass Flüchtlinge nicht zu den Migranten gezählt werden (vgl. Schmickler 2015, o.S.). Dieses wird einerseits durch die Migrationsabsicht begründet. Migranten und Migrantinnen seien nicht wegen einer konkreten bedrohlichen Situation im Heimatland gewandert, sondern um ihre Lebenslage zu verbessern. Bei Flüchtlingen stehe die Motivik des unsicheren Herkunftslandes im Vordergrund, weshalb sie unfreiwillig migrieren und somit eine eigene Bevölkerungsgruppe bilden. Andererseits wird damit argumentiert, dass für die Gruppen verschiedene Regierungen und Behörden zuständig sind. Diesen müssen zusätzlich auch verschiedene Gesetzestexte zugeordnet werden (vgl. Edwards 2015, o.S.).
Vor dem Hintergrund der politischen Arbeit in Behörden scheint diese Klassifizierung nachvollziehbar. Für die vorliegenden Ausführungen wird die Gruppe der Flüchtlinge jedoch zu der Bevölkerungsgruppe der Migranten gezählt, da sie einerseits durch die offen gewählte Migrationsdefinition einbezogen werden können und die Merkmale von Migration erfüllen. Andererseits stellt diese Gruppe im aktuellen Geschehen und gerade im Kontext des deutschen Bildungssystems eine Gruppe dar, die keinesfalls vernachlässigt werden darf.
Deutschland kann als Einwanderungsland auf eine lange Geschichte zurückblicken. Im Jahr 2014 erfasste der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes 16,4 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund[2] in Deutschland. Gemessen an der Gesamtbevölkerung sind dies 20,3 % (vgl. Statistisches Bundesamt 2015, o.S.). Lange Zeit wollte sich die Regierung nicht eingestehen, dass die deutsche Bevölkerung durch Migrationsprozesse entscheidend geprägt wurde. Erst Ende der 1990 Jahre kam das Bekenntnis und Unionspolitiker äußerten sich öffentlich zu dieser Thematik – sie betitelten Deutschland offiziell als Einwanderungsland (vgl. Gresch 2012, 27). Erste dokumentierte Wanderungen nach Deutschland lassen sich bereits in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) verorten. Das deutsche Gebiet war zu diesem Zeitpunkt geprägt von Zerstörung und einem starken Bevölkerungsrückgang. Diese Tatsache machten sich besonders die Hugenotten zu Nutzen. Schätzungsweise 300.000-400.000 von ihnen immigrierten nach Deutschland. Darüber hinaus dauerte die Einwanderungsbewegung in Deutschland bis zum 18. Jahrhundert an. Im Gegensatz dazu war das 19. Jahrhundert durch eine transatlantische Abwanderung gekennzeichnet. Ein Teil der deutschen Bevölkerung wanderte in die USA aus, um den dortigen Wirtschaftsaufschwung zu ihren Vorteilen zu nutzen und sich ein besseres Leben aufzubauen (vgl. Hanewinkel, Oltmer 2015, 2).
Weitere migrationsrelevante Phasen in der deutschen Geschichte waren der 1. und 2. Weltkrieg. Schon während des 1. Weltkrieges konnten rund 2 Millionen ausländische Arbeiter, besonders aus Ost- und Südeuropa oder den Niederlanden, verzeichnet werden (vgl. Meinhardt 2006, 31). Dennoch ist der Zeitraum zum Ende des 1. Weltkrieges und auch dieser innerhalb des 2. Weltkrieges durch eine signifikante Abwanderung gekennzeichnet. Hier sind besonders verfolgte Bevölkerungsgruppen aufzuführen, die aufgrund des nationalsozialistischen Regimes flüchteten. Aufgrund dieses Artefakts wird die genannte Zeitspanne auch als das ‚Jahrhundert der Flüchtlinge‘ bezeichnet. Trotz alledem subventionierte sich die Auswanderungszahl durch eine sehr hohe Zuzugszahl, welche unter anderem auch durch Zwangsarbeit unter der nationalsozialistischen Herrschaftsform bedingt war (vgl. Hanewinkel, Oltmer 2015, 2).
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges war Deutschland durch eine blühende Wirtschaftssituation gekennzeichnet. Dieses führte vor allem dazu, dass es zu Engpässen auf dem deutschen Arbeitsmarkt kam. Deutsche Arbeiter allein, konnten die Massen an wirtschaftlichen Aufträgen nicht bewerkstelligen. Aus diesem Grund wurden Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben. Besonders vor dem Hintergrund, dass die DDR-Grenze im Jahr 1961 geschlossen wurde, konnte der Bedarf „nicht weiter über deutschstämmige Zuwanderer gedeckt werden und es kam zu einer Zuwanderung von über zwei Millionen Gastarbeitern“ (Gresch 2012, 28). Gastarbeiter kamen aus den verschiedensten Ländern nach Deutschland (bspw. aus Griechenland, Italien, Marokko, Jugoslawien). Besonders stark repräsentiert war jedoch die Gruppe türkischer Arbeiter, wie auch eine große Anzahl an Aussiedlern (vgl. Relikowski 2012, 14).
Durch diese Bevölkerungsveränderung gab es folglich auch Umgestaltungsprozesse auf allen Ebenen der Schulstruktur. Ein prägendes Ereignis war der Beschluss, dass Kinder von Gastarbeitern seit den 1960er Jahren offiziell schulpflichtig waren und am deutschen Schulunterricht teilnehmen mussten. Als Konsequenz bauten sich Vorbereitungsklassen oder Förderprogramme für diese Kinder auf, die die Anschlussfähigkeit und Eingliederung gewährleisten sollten (vgl. Gomolla 2009, 27).
Trotz eines Anwerbestopps in Folge der ‚Krise unqualifizierter Arbeitskräfte‘ sowie einer Ölkrise, blieb die Anzahl der Migranten in Deutschland relativ konstant. Zwar kehrten einige Gastarbeiter wieder zurück in ihr Heimatland, andere jedoch ließen, trotz steigender Arbeitslosigkeit, ihre Familien nach Deutschland einreisen (vgl. Gresch 2012, 28). Denn „die Verbindungen zur Heimat wurden lockerer, vor allem bei den Kindern der Gastarbeiter, der sogenannten ‚Zweiten Generation‘.“ (Herbert 2003, 232)
Besonders um 1980 änderte sich die Zusammensetzung der Migranten in Deutschland erneut erheblich. Durch den Anwerbestopp bedingt, gab es nur vereinzelt Zuzüge aus Gründen der verbesserten Arbeitschancen. Die neuen zentralen Einwanderungsgruppen in dieser Zeit waren Asylanten und (Spät-) Aussiedler[3] (vgl. Tarvenkorn 2011, 43; Gresch 2012, 28f.). Die zweite genannte Bevölkerungsgruppe erhielt seit 1999 bereits bei ihrer Einreise die deutsche Staatsangehörigkeit (vgl. Gresch 2012, 29). Ihr großer Andrang war auch bestimmt durch die Vereinigung des geteilten Deutschlands. Nach diesem politischen Ereignis stiegen die Einwanderungszahlen besonders aus Osteuropäischen Ländern, bis zu einem Höhepunkt im Jahre 1992. In diesem Jahr waren 1,5 Millionen Migranten in Deutschland ansässig (vgl. Hanewinkel, Oltmer 2015, 3ff.).
Mit dem Regierungswechsel im Jahr 1998 und dem Eingeständnis, dass Deutschland offensichtlich ein Einwanderungsland ist, vollzogen sich Veränderungen im Bereich der Migrations- und Integrationspolitik. Die Folgen waren eine gelockerte Regelung bezüglich des Staatsbürgerschaftsrechtes in Deutschland und das im 2005 ratifizierte Zuwanderungsgesetz (vgl. Relikowski 2012, 14f.). Das Einwanderungsgesetz hat zur Folge, dass der Anwerbestopp von niedrig qualifizierten Arbeitern weiterhin besteht, für hochqualifizierte Kräfte aus dem Ausland gelten jedoch Sonderregelungen. So konnten die Einwanderungszahlen im Verhältnis geringgehalten werden (vgl. Tarvenkorn 2011, 44).
Abbildung 1: Zu- und Fortzüge über die Grenzen Deutschlands von 1991-2014 (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016a, S. 12).
Die Abbildung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge visualisiert die internationalen Zu- und Fortzüge ausgehend von Deutschland für den Zeitraum von 1991 – 2014. Die kontinuierliche Abnahme der Immigrationszahlen kann unter anderen auf die politischen Veränderungen zurückgeführt werden. Auffällig ist, dass seit einem Migrationstiefstand im Jahr 2008 ein kontinuierliches Wachstum an Zuzügen verzeichnet werden kann. Dieses kann unter anderem auch durch die Erweiterung der Europäischen Union erklärt werden. Mitgliedsstaaten verfügen über das Recht der innereuropäischen Freizügigkeit und können sich so einen beliebigen Wunschheimatort innerhalb der Gemeinschaft auswählen (vgl. Gresch 2012, 29f.).
Dadurch können auch die besonders hohen Einwanderungszahlen durch Bürger aus Polen, Rumänien, Italien, Bulgarien oder auch Ungarn in den letzten Jahren erklärt werden (vgl. Statistisches Bundesamt 2015, o.S.). Im Jahr 2014 stellt diese innereuropäische Migrationsgruppe fast drei Viertel aller zugewanderten Personen dar (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016a, 15). Ein weiterer Anstieg der Migrationsrate kann auch für die Jahre 2015 und 2016 vorgewiesen werden. Aktuell ausgewertete Daten diesbezüglich liegen bis zum jetzigen Zeitpunkt nur in beschränkter Form vor. Allerdings lässt sich seit dem Jahr 2015 ein radikaler Wechsel der Migrationsgruppen erkennen. Eine Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, aus dem Jahr 2016, verdeutlicht die aktuelle Konstitution.
Abbildung 2: Die zehn zuzugsstärksten Herkunftsländer (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016b, S. 8).
Das Hauptherkunftsland aktueller Zuzüge ist Syrien. Signifikant starke Zuwächse gibt es auch aus weiteren arabisch geprägten Räumen, wie dem Irak oder Afghanistan. Diese Zusammenhänge lassen sich mit Blick auf die aktuelle politische Lage dieser Länder erklären. In diesem Falle sind Migranten, die nach Deutschland kommen, Zwangsmigranten. Sie zeichnen sich durch eine Flucht vor Gewalt und dem Bedürfnis nach Schutz des eigenen Lebens aus (vgl. Oltmer 2012, o.S.). Solange der Krieg in diesen Regionen der Welt nicht aufhören sollte, kann davon ausgegangen werden, dass weiterhin hohe Migrationszahlen dieser Länder verzeichnet werden können, vorausgesetzt die Flüchtlings- und Migrationsgesetzte werden nicht geändert.
Der Überblick über die deutsche Migrationsgeschichte zeigt, dass Deutschland seit langer Zeit ein Einwanderungsland ist. Die Konstitution der Migrantengruppen steht oftmals in Verbindung mit wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen im Heimat- und Zuzugsland. Insgesamt lässt sich jedoch eine sehr heterogene Gruppe von Migranten und Migrantinnen in Deutschland verzeichnen.
Der Begriff Migrationshintergrund wird im fachwissenschaftlichen Diskurs als Überbegriff verwendet, der einer sehr heterogenen Bevölkerungsgruppe, meist ohne klares Referenzsystem, zugeordnet wird. Beschäftigt man sich mit verschiedenen Auffassungen wird deutlich, dass es für die Begrifflichkeit des Migrationshintergrundes keine klare Operationalisierung gibt. Gomolla und Fürstenau (2009, 9) bezeichnen diesen Terminus als „ungenaue Hilfskonstruktion“, der durch beliebig gewählte Merkmale signiert werden kann. Eine unumgängliche Frage diesbezüglich, stellt auch die Zuschreibung dieses Status dar. Bis zu welcher Generation wird ein Migrationsstatus ‚vererbt‘? Würde der Migrationsstatus an eine große Zahl an Generationen weitergegeben werden, hätte dann nicht fast jede Person einen Migrationshintergrund? (vgl. Diefenbach 2008, 21). Im Folgenden sollen diese Fragen geklärt werden; darüber hinaus wird ein Überblick über diverse Konzeptzuschreibungen gegeben, um eine für diese Arbeit passende, Definition der Zuschreibungen Migrant/in und Migrationshintergrund herauszukristallisieren.
Amtliche Auswertungsverfahren definieren den ethischen Hintergrund einer Person oftmals durch das Merkmal der aktuellen Staatsangehörigkeit (vgl. Razum, Spallek 2004, o.S.; Stanat 2006, 202). Diese Determinierung scheint unzureichend gewählt. Eine solche Zuschreibung würde implementieren, dass „Schüler, die de facto aus Migrationsfamilien stammen, aufgrund ihrer deutschen Staatsbürgerschaft nicht als solche kategorisiert […] [werden]“ (Fereidooni 2011, 65). Die PISA-Studie wählt diesbezüglich eine differenziertere Vorgangsweise. Dabei werden vornehmlich die Herkunftsländer der Eltern als Klassifikationsmerkmal herangezogen. Hierfür werden drei Möglichkeiten in Betracht gezogen:
1. beide Elternteile sind in Deutschland geboren
2. ein Elternteil ist im Ausland geboren
3. beide Elternteile sind im Ausland geboren (vgl. Stanat 2006, 202).
Aus dieser Abgrenzung wird deutlich, dass ein Migrationshintergrund dann vorliegt, wenn mindestens ein Elternteil ausländischer Herkunft ist. Folglich sind Menschen mit einem anderen ethischen Hintergrund nicht länger überwiegend ohne deutsche Staatsangehörigkeit, sondern können trotz deutscher Staatsbürgerschaft einen Migrationshintergrund aufweisen (vgl. Diefenbach, Weiß 2006, 15).
Auch diese Kategorisierung erscheint besonders vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsmigrationsbewegung in Deutschland (s. K. 1.2) nicht befriedigend und muss erweitert werden. Gerade im Kontext der Flucht kommt es zu dem Phänomen, dass immer mehr unbegleitete Jugendliche und Kinder in Deutschland eintreffen. Dies bedeutet, dass sie die Flucht ohne ihre Eltern antreten. Somit handelt es sich bei diesen Kindern um die erste und nicht die zweite Migrationsgeneration (vgl. Diefenbach 2008, 20). Sie würden durch ein solches Raster nicht optimal aufgefangen werden. Die OECD sieht eine breitere Auffassung des Migrationshintergrundes vor, die vor diesem Hintergrund passender erscheint. Hier haben diejenigen Personen einen anderen ethischen Hintergrund, die mindestens ein Elternteil mit ausländischer Herkunft haben (2. Generation) oder