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Berlin 2003. Wolfgang Schneider ist 20 und heißt trotzdem Wolfgang Schneider. Er lässt die Provinz hinter sich, doch in Berlin hat niemand auf ihn gewartet. Zumal die Stadt im Umbruch ist: Die hedonistisch-anarchischen Neunziger liegen noch in der Luft, doch eine neue Zeit klopft an der Tür: Berlin will als Hauptstadt Ernst machen. Schon bald kann er die demonstrative Wichtigkeit der Menschen hier nicht mehr ernst nehmen. Leider rutscht er schnell in todernste Milieus ab, gerät ans Theater, in die Berliner Kunstszene und in eine kommunistische Hochschulgruppe namens »SacK und Klit«. Die schlimme Erkenntnis: Augenscheinlich sind in Berlin alle bekloppt. Durch ein Missverständnis freundet sich Wolfgang mit dem fast 80-jährigen Vicco von Bülow an. Der große Humorist scheint der Einzige zu sein, der sich selbst überhaupt nicht wichtig nimmt – und er erkennt in dem unbedarften Studenten ein Talent, von dem dieser noch gar nichts ahnt. Tilman Birr macht in seinem neuen Roman da weiter, wo Jakob Arjouni und Sven Regener aufgehört haben, und liefert ein hochkomisches Berlin-Panoptikum der Nullerjahre und zugleich eine Hommage an Deutschlands größten Komiker. »Tilman Birr ist ein sehr witziger Typ. Und schreiben kann er auch!« – Marc-Uwe Kling
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Seitenzahl: 408
TILMAN BIRR
ROMAN
SATYR VERLAG
TILMAN BIRR
ist Jahrgang 1980, Schriftsteller, Musiker und Kabarettist. Nach dem Studium der Geschichte und Anglistik arbeitete er als Stadtführer, Texter und Historiker, bevor er die Bühne und das Schreiben zu seinem Hauptberuf machte. Sein Debüt, der komische Episodenroman »On se left you see se Siegessäule – Erlebnisse eines Stadtbilderklärers«, hat sich über 30.000 Mal verkauft. Es folgten zwei weitere Bücher, zwei Musikalben und fünf Soloprogramme. Seit 2016 ist er eine Hälfte des Akustikrockduos »Welthits auf Hessisch«. Tilman Birr lebt in Berlin und Frankfurt am Main. Seine Auftrittstermine erfährt man unter www.tilmanbirr.de.
Die Arbeit an diesem Buch wurde durch ein »Neustart-Kultur«-Stipendium der VG WORT gefördert.
E-Book-Ausgabe September 2023
© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2023
www.satyr-verlag.de
Cover: Burkhard Neie, Berlin
Korrektorat: Matthias Höhne
Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.
E-Book-ISBN: 978-3-910775-01-5
e tu mi fai »dobbiamo andare al cine«vai al cine, vacci tu!
– Paolo Conte
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREIßIG
EINUNDDREIßIG
ZWEIUNDDREIßIG
DREIUNDDREIßIG
DANKE
An dem Tag, an dem die Amerikaner in Bagdad einmarschierten, war Wolfgang Schneider in Berlin angekommen. Viel hatte man ihm von dieser Stadt erzählt: Die Wohnungen würden fast nichts kosten, vor allem wenn sie eine Ofenheizung hätten, was vor der Wende absolut normal gewesen wäre. Jeder Zweite wäre DJ oder Musiker oder Performancekünstler. Stoffbeutel mit coolen Sprüchen bedrucken wäre hier ein Beruf. »I blame my parents« würde darauf stehen oder »I love my penis«. Bier wäre billiger als Kaffee, eigentlich wären ohnehin alle ständig betrunken. Wer unter dreißig ist, würde bis zwölf schlafen. Kurz: Jeder konnte sein, was er sein wollte.
Wolfgang war erst ein einziges Mal in Berlin gewesen, wenige Wochen zuvor, als er sich an der Universität eingeschrieben und eine Wohnung angemietet hatte. Auf der Straße hatte er Leute gesehen, die links langhaarig und rechts kahl rasiert waren. Erwachsene Menschen trugen ungeniert ABBA-T-Shirts. Freiwillig so bescheuert auszusehen, verdient Respekt, hatte Wolfgang gedacht. Zwei Männer waren in Bergarbeiterkluft, mit kohleverschmierten Gesichtern und Grubenlampen vor der Stirn durch den Bezirk gelaufen. An einer Ampel hatte neben ihm ein Mann mit eingefärbtem Smiley im Haar gestanden, sich einen großen Joint angezündet, dann das Gesicht verzogen und genüsslich einen fahren gelassen. Wolfgang hatte ihn angesehen, er aber hatte nur »Was’n?« gesagt.
Nun, ein paar Tage später, waren die Amerikaner in Kirkuk und Wolfgang klingelte bei Krause. Dies jedenfalls war der Name, der an der Klingel der Wohnung im Stockwerk unter ihm stand, und Wolfgang wusste nicht, was ihn erwartete. Vielleicht ein Pornoproduzent mit Riesenschnauzbart und getönter Brille. Oder etwas ganz anderes: eine Frau, die in ihrer Zweizimmerwohnung seltene Leguane züchtete und sie an Sternerestaurants in Moskau verkaufte. Wolfgang war auf alles vorbereitet.
Die Frau, die ihm öffnete, trug eine bunte, groß gemusterte Bluse, war ungefähr Mitte fünfzig und sah aus, als würde sie öfter mal auf Tupperpartys gehen. Sie erinnerte Wolfgang an die Nachbarin seiner Eltern. Na toll: War er vierhundert Kilometer von zu Hause weggezogen, um nun wieder Tür an Tür mit Frau Baltruschat zu wohnen?
»Hallo, ich heiße Wolfgang Schneider«, sagte Wolfgang.
»Ja, und?«, sagte die Frau und schaute erstaunt.
»Ich wohne jetzt obendrüber«, sagte Wolfgang. »Ich wollte mich nur mal vorstellen. Ich bin gestern eingezogen.«
Das stimmte nicht ganz, er war schon seit fünf Tagen hier, aber man will ja nicht gleich den Eindruck eines faulen Studenten machen, der so etwas Wichtiges wie die Vorstellung bei den Nachbarn tagelang verschleppt.
»Ja, guten Tach«, sagte die Frau zögerlich. »Krause. Eheleute Krause.«
»WAS IST DENN DA SCHON WIEDER LOS?«, rief eine Männerstimme aus dem Inneren der Wohnung.
»HIER IS EINER, DER SAGT, ER WOHNT OBENDRÜBER«, rief Frau Krause zurück.
»UND WAS WILL DER?«, rief die Stimme.
»HAT ER NOCH NICHT GESAGT«, rief Frau Krause.
»ICH WOLLTE NUR GUTEN TAG SAGEN!«, rief Wolfgang an Frau Krause vorbei in die Wohnung hinein. »ICH BIN JETZT IHR NEUER NACHBAR! WOLFGANG SCHNEIDER!«
»Schreien Sie doch nicht so laut«, sagte Frau Krause.
»Entschuldigung«, sagte Wolfgang. »Ich wollte mich nur vorstellen.«
»TACH AUCH. KRAUSE«, rief der Mann aus der Wohnung.
»Ja, das hab ich ja jetzt verstanden«, sagte Frau Krause. »Aber bei uns gibt’s gleich Abendessen.«
»Vielen Dank, ich habe schon gegessen«, sagte Wolfgang.
»Aber wir werden ja wohl dürfen«, sagte die Frau. »Wir sind immerhin arbeitende Leute. Die Kantine ist nicht so doll bei uns. Heute gab’s Nudeln mit irgend so ’ner Soße.«
»Nudeln hatte ich gestern.«
»Ich denke, Sie sind gestern eingezogen?«, sagte die Frau.
»Ja, aber man kann doch einziehen und trotzdem Nudeln essen.«
»Am selben Tag?«, fragte die Frau.
»Was will der?«, brummte der Mann von drinnen deutlich vernehmbar. Endlich hatte er aufgehört zu schreien.
»Der ist gestern eingezogen, aber es gab bei ihm trotzdem Nudeln«, rief Frau Krause.
»Find ich völlig in Ordnung«, gab der Mann zurück.
»Sehen Sie, Ihr Mann sagt’s auch«, sagte Wolfgang.
»Na hören Sie mal!«, sagte die Frau.
»Solange der nicht seine dreckigen Stiefel im Treppenaufgang stehen lässt wie diese Asozialen aus dem Parterre«, brummte der Mann.
»Mein Mann sagt, Sie sollen Ihre Stiefel nicht im Treppenaufgang stehen lassen«, sagte die Frau.
»Warum denn nicht?«, sagte Wolfgang.
»Weil’s scheiße aussieht«, rief der Mann. »Räumen Sie Ihre Stiefel weg und Sie können essen, was Sie wollen.«
»Ich hab ja gar keine Stiefel da stehen«, sagte Wolfgang.
»Na, dann gehen Sie doch essen, mein Gott«, rief der Mann. »Dann können wir uns die ganze Diskussion ja sparen. Wir essen auch gleich.«
»Ich hab ja schon gegessen. Heute war ich beim Dönerladen. Döner esse ich ganz gern.«
»Wir essen mehr gutbürgerlich«, sagte die Frau.
»Du sollst das nicht immer sagen«, rief der Mann aus der Wohnung. »Ich bin kein Bürgerlicher, ich bin Arbeiter und das wird auch so bleiben!«
»Na ja, wir essen eher so Hausmannskost«, erklärte die Frau. »Wir wohnen immerhin schon seit vor der Wende hier.«
»Vor der Wende gab’s ja noch viel mehr Ofenheizung als heute«, sagte Wolfgang.
»Wir kochen auf dem Herd«, sagte die Frau.
»Lustig, ich auch«, sagte Wolfgang.
»Aber seit wir letztes Jahr auf Usedom waren, will mein Mann auch indisch.«
»Isst man da viel indisch auf Usedom?«
»Nee, nich so«, sagte die Frau. »Da isst man eigentlich mehr gutbürgerlich.«
»WAS HAB ICH DENN GERADE GESAGT?«, rief Herr Krause.
»Also, wir waren da in einem indischen Restaurant. Seitdem will mein Mann indisch. Da denkt man, man kennt jemanden …«
»Nur wenn’s nicht so scharf ist«, rief der Mann. »Scharf mag ich nicht.«
»Scharf mag er nicht«, sagte Frau Krause.
»Das mag nicht jeder«, sagte Wolfgang. »Mag er denn Koriander?«
»Keine Ahnung«, sagte Frau Krause. »MAGST DU KORIANDER?«
»Wieso soll ich keine Koreaner mögen?«, rief Herr Krause. »Ich hab überhaupt nichts gegen Koreaner. Ich kenne gar keine Koreaner, nur Vietnamesen und das sind sehr anständige Leute.«
»Er kennt keinen Koriander«, sagte Frau Krause.
»Das isst man viel in Indien. Ein Freund von mir war neulich in Indien, in Kalkutta. Man macht sich ja keine Vorstellung.«
»Also, das wär mir nix.«
»Waren Sie schon mal in Indien?«
»Nein. Waren Sie schon mal auf Usedom?«
»Nein.«
»Sehen Sie.«
Frau Krause sah Wolfgang an. Wolfgang Frau Krause.
»Wat’n nu? Seid ihr tot?«, rief der Mann von drinnen.
»Also, Sie wollten ja nur Guten Tach sagen und gar nicht weiter stören«, sagte Frau Krause.
»Ja genau«, sagte Wolfgang. »Dann weiß ich jetzt Bescheid. Herzlich willkommen!«
»Herzlich willkommen?«, sagte Frau Krause.
»Jetzt lassense uns mal zu Abend essen«, rief Herr Krause. »Wir wohnen immerhin schon seit vor der Wende hier.«
»Ach so, dann ist das … natürlich … Danke«, sagte Wolfgang.
»Keine Ursache.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Wolfgang.
»Auf Wiedersehen«, sagte Frau Krause.
»TACH AUCH!«, rief der Mann von drinnen.
Dann schloss sich die Tür.
Zurück in seiner Wohnung warf Wolfgang sich auf die abgewetzte Kunstledercouch, die sein Vormieter zurückgelassen hatten. Eine Seitenlehne wackelte und an einer Stelle drückte ihm eine schiefe Holzstrebe ins Kreuz, aber wenn man die richtige Position gefunden hatte, ging es eigentlich. Der Vermieter hatte ihm die erste Monatsmiete erlassen unter der Bedingung, dass Wolfgang die Couch selbst entsorgte, die Dübellöcher zuspachtelte und die Wohnung strich. Super, hatte Wolfgang gedacht, eine Couch brauchte er eh noch und die Dübellöcher konnte er einfach ignorieren.
Durch die Wand hörte Wolfgang seinen Nachbarn laut fluchen. Ihn hatte er schon einmal getroffen und seitdem fragte er sich, was der eigentlich so machte. Manchmal hörte Wolfgang stundenlang Gewehrschüsse aus der Nachbarwohnung, ab und zu gefolgt von einem »Jaaa!« oder dem Ausruf »Fucker!«. Die Gewehrschüsse könnten natürlich von einem Computerspiel herrühren, aber ganz sicher war sich Wolfgang da nicht. Vielleicht hatte sich der Nachbar ja eine CD mit Gewehrschüssen gekauft, so wie es auch CDs mit Flughafengeräuschen oder Museumsatmo zu kaufen gibt, die man einlegen kann, wenn es einem zu Hause zu leise ist. Vielleicht stand der Nachbar auf Krieg. Vielleicht las er Landser-Hefte und hörte Störkraft. Das wäre zwar sehr unwahrscheinlich, denn er trug lange Haare und einen Ziegenbart, aber man soll Menschen ja nicht nach ihrem Äußeren beurteilen. Jeder Mensch verdient seine Chance und Wolfgang wollte dem Nachbarn trotz Haar- und Barttracht immer noch die Möglichkeit offenlassen, vielleicht doch ein Nazi zu sein.
Dieser Etagennachbar war der Erste, dem Wolfgang begegnete, als er hier einzog, in seine erste eigene Wohnung. Nun gut – so eigen, wie eine Wohnung eben sein konnte, wenn man sie von den Eltern bezahlt bekam. Im Ford Transit von Ekkehard Prengel, einem Arbeitskollegen von Wolfgangs Vater, war Wolfgang mit seinen beiden Freunden Felix und Sven nach Berlin gefahren, im Laderaum ein Teil seines Jugendzimmers und letzte Reste seiner Teenagerzeit. Die beiden Freunde hatte Wolfgang damit gelockt, dass sie ja noch ein paar Tage in Berlin bleiben konnten. Weil sich aber keiner von ihnen dreien in Berlin auskannte, waren sie in die nächstbeste Disko gegangen, die sich als schlimmer Schlägerschuppen für Drittligafußballfans herausstellte. Sven wurde von einem breiten Typen mit unverständlichem Dialekt für einen Punk gehalten und hätte fast eine Tracht Prügel kassiert. Danach hatte er Angst vor Berlin und die nächsten drei Tage hatten die Freunde vor der Playstation verbracht und das Haus nicht mehr verlassen.
Den Nachbarn hatte Wolfgang kennengelernt, als er und Felix gerade die Matratze hochtrugen. Leise seufzend war der Nachbar aus seiner Wohnung gekommen, hatte sich lässig in den Türrahmen gelehnt und gesagt: »Na, neu hier?«
»Ja, hallo! Ich bin Wolfi«, hatte Wolfgang geantwortet.
»Ä-hä?«, hatte der Nachbar geantwortet. »Student?«
Wolfgang hatte bejaht. Auf die Frage nach seinem Namen hatte der Nachbar »Mauper« geantwortet und dass er ja schon seit drei Jahren hier wohnte. Wolfgang wurde den Eindruck nicht los, dass sich der Nachbar ihm irgendwie überlegen fühlte.
Alle weiteren Nachbarn hatte Wolfgang bisher nur gehört. Aus der Wohnung über ihm kam jeden Abend gegen halb zwölf ein Geräusch, als ob jemand einen alten Kühlschrank von einer Ecke des Zimmers in eine andere zog. Von unten hörte er oft Techno und, wenn er das Fenster zum Hof offen ließ, auch laute Unterhaltungen auf Spanisch. Das störte ihn überhaupt nicht, im Gegenteil. Wenn in seiner Heimatstadt Löhne jemand spanisch gesprochen hatte, dann war das ein kulturelles Ereignis, organisiert vom Kulturamt und gesponsert von der Sparkasse. Eigentlich hatte in Löhne nie jemand spanisch gesprochen, ohne dass es Caipirinha im Plastikpfandbecher und Bratwurst dazu gegeben hatte. Hier in Berlin dagegen gab es alles. Ein paar Tage zuvor war Wolfgang sogar Zeuge einer nächtlichen Auseinandersetzung geworden. Aus dem Stockwerk über ihm hatte er nachts gegen halb eins lautes Gerumpel gehört, diesmal eher, als ob sich zwei Sumoringer auf dem Boden wälzten. Kurz darauf schlugen Türen und jemand polterte das Treppenhaus hinunter und grunzte dabei: »Du Wichser! Du Scheißwichser! Ich mach dich … – WART DU NUR AB, DU! – Du Wichser, du!«
Zwanzig Sekunden später brüllte jemand auf der Straße: »DU ARSCHLOCH! WIR SEHEN UNS WIEDER BEI DER TESTAMENTSERÖFFNUNG VON MA UND PA!«
Abgefahren! Wolfgang wohnte jetzt in einer Großstadt, da waren die Leute nicht immer nett zueinander. Aber damit kam er klar, er war ja jetzt einer von ihnen. Es hatte lange genug gedauert, aber andererseits war es auch ganz schön schnell gegangen. Seine ganze Adoleszenz lang wartete man darauf, endlich achtzehn zu werden und das Kaff zu verlassen, in dem sich die eigenen Eltern zwanzig Jahre zuvor niedergelassen hatten, wofür man sie schon oft verflucht hatte. Dann machte es plopp und das alles war eingetreten. Wolfgang fand es immer noch erstaunlich, dass er im vorigen Jahr zum ersten Mal hatte wählen dürfen. Bei der vorletzten Bundestagswahl war er gerade mal so in dem Alter gewesen, dass er in der Öffentlichkeit Bier trinken durfte. Bei der vorvorletzten hatte er noch nicht mal Schamhaare gehabt. Ob diesen Politikern bewusst war, dass eine Legislaturperiode die Zeit ist, die unschuldige, niedliche Kinder brauchen, um zu rauchenden, trinkenden und herumhurenden Assis zu werden, die Autos zu Schrott fahren und ungewollte Schwangerschaften produzieren? Natürlich ist dieser Weg nicht bei allen vorgezeichnet. In Löhne allerdings schon. Es sei denn, man haut früh genug ab und geht dorthin, wo es keine vorgezeichneten Lebenswege gibt. In der Großstadt werden die Karten neu gemischt. Hier wird niemand sagen: »Du bist doch der Kleine vom Metallbau-Schneider.« Hier war Wolfgang Wolfgang, niemand anders.
Es gab da allerdings eine kleine Einschränkung: Wenn man zwanzig ist und Wolfgang heißt, bringt das natürlich Probleme mit sich. Noch schlimmer ist es, wenn man mit Nachnamen Schneider heißt. Leider traf auf Wolfgang Schneider beides zu. Als Wolfgang Schneider bekommt man vielleicht leicht einen Ausbildungsplatz an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Gelsenkirchen. Zur Anbahnung von Geschlechtsverkehr im städtischen Studentenmilieu ist der Name aber eher von Nachteil. Kann man sich den Satz »Wolfgang, ich will mit dir schlafen« aus dem Mund einer tätowierten Berliner Stoffbeutel-Designerin vorstellen? Wolfgang war fest davon überzeugt, dass der Name eines Menschen ihn prägt. In den Neunzigern soll es an der deutschen Botschaft in Athen einen Militärattaché namens Sturmhard Eisenkeil gegeben haben. Mit diesem Namen macht man keinen Yoga-Ashram auf. Seit ihm im Alter von dreizehn Jahren bewusst geworden war, dass Wolfgang kein üblicher Name für einen Menschen mit Jahrgang 1983 ist, versuchte er, gegen diese Prägung anzukämpfen. Vielleicht hätte er gar nicht damit angefangen, Punkrock zu hören und Haschisch zu rauchen, wenn seine Eltern ihn Lennart oder Henrik genannt hätten. Andererseits war er auch froh, keinen Kindernamen bekommen zu haben: Florian, Benjamin, Fabian – so konnte man heißen, bis man zehn war, danach war es nur noch peinlich.
Aber nun konnte er alles auf null setzen und sich einen ganz neuen Namen geben. In der einzigen Punkkneipe im Landkreis Herford, in der er bis vor Kurzem verkehrte, war das in der Steineschmeißerfraktion völlig üblich gewesen. Da hatten sich die Leute Zecke, Zichte, Cowboy oder Klonk genannt, einer sogar Müllsack. Das hielt Wolfgang für etwas übertrieben. Bisher hatten ihn die meisten Leute Wolfi genannt, aber das kindliche i am Ende war nun wirklich nicht mehr altersgemäß. Da könnte er sich gleich einen Bärchenpulli anziehen. Mauper hatte Wolfgang ja behandelt, als sei er leicht zurückgeblieben. »Wolf« klang allerdings auch ein bisschen nach Märchenbuch. Man nennt sich ja auch nicht Hirsch oder Hase. Ein männlicher Endvokal war zweifelsfrei das o: Rocco, Mario, Django. Und so beschloss er: Er war von nun an Wolfo.
Auf das Studentenleben hatte Wolfgang sich gefreut. Es hatte nur einen Nachteil: Man musste studieren. Dazu wiederum musste man wissen, was man studieren wollte, und das war das viel größere Problem: Wolfgang hatte überhaupt keine Ahnung, was ihn interessierte. Nur dass irgendetwas passieren musste, das war klar. So läuft das halt: Man macht die Schule fertig, man macht eine Ausbildung, man fängt einen Beruf an. Bisher war ihm alles einfach so passiert. Die Schulzeit hatte er mit Hanfkonsum und dem Bedienen von Spielekonsolen herumgebracht, unterbrochen von gelegentlichen Besäufnissen in den Partykellern von Freunden. Nicht viel los, keine Katastrophen, keine großen Glücksmomente – so hatten die Menschen in Westfalen seit Jahrhunderten gelebt. Sollte gerade Wolfgang Schneider da eine Ausnahme machen? Trotz seines Hangs zur Couch hatte er das Abitur ohne große Anstrengungen geschafft und so hatte niemand gemerkt, dass Wolfgang eigentlich ein Rumhänger war. Desinteressiert, aber freundlich, lethargisch, aber mit ganz anständigen Zensuren.
Auch ein Berufswunsch war nirgends zu finden, sosehr Wolfgang auch suchte. Auf gar keinen Fall wollte er ein Handwerk lernen, wie seine Eltern es getan hatten und wie einige seiner Freunde es nun auch vorhatten. Das Erlernen eines Handwerks sah Wolfgang als ersten Schritt zum vorzeitigen Altern: Dann habe ich mit dreiundzwanzig ausgelernt, dachte er, dann heirate ich, baue ein Haus, bekomme Kinder und zack! – bin ich mein Vater. Unversehens auf die gerade Bahn geraten, abgerutscht ins Eigenheimbesitzermilieu – wer einmal dort hineingerät, kommt nicht so leicht wieder heraus, denn dafür gibt es keine staatlich finanzierten Aussteigerprogramme.
Deshalb war Wolfgang ziemlich schnell klar: Er wollte studieren. Seit er den Film Anatomie gesehen hatte, erschien ihm ein Studium als äußerst erstrebenswerter Zeitvertreib. Zwar ging es in dem Film eigentlich um eine Geheimgesellschaft an der Heidelberger Universität, die je nach Angebot Studenten, Professoren und gelegentlich auch Nicht-Akademiker umbrachte, um sie zu sezieren. Aber die Morde waren ja fiktiv, dachte Wolfgang. Der dargestellte studentische Alltag – ein heiteres Geschehen geprägt von Bierkonsum am Badesee und freundschaftlichem Geschlechtsverkehr unter attraktiven jungen Menschen, eine davon Franka Potente –, der war doch sicher real und erschien Wolfgang sehr verlockend. Von einer mordenden Geheimgesellschaft konnte er sich ja einfach fernhalten.
So hatte er sich für das durchschnittlichste und harmloseste Fach entschieden – das Reihenhaus unter den Studienfächern, überraschungsfrei wie die Lüneburger Heide und übersichtlich wie ein Schrauben- und Nägelset direkt nach dem Kauf: Sozialwissenschaften. So viel anders als der Gemeinschaftskundeunterricht am Gymnasium kann das ja nicht sein, dachte Wolfgang. Den hatte er nämlich immer mit recht ordentlichen Ergebnissen hinter sich gebracht. Man brauchte dafür wenig Vorkenntnisse und auch sonst keine besonderen Fähigkeiten, man lernte ein paar Theorien auswendig, gab sie in der Diskussion stark vereinfacht wieder und was sich immer gut machte, waren Sätze wie »So einfach isses ja nicht« oder »Das kann man nicht verallgemeinern«. Damit wäre das Tagessoll erfüllt und man könnte zum Geschlechtsverkehr an den Badesee.
Das war also der Plan gewesen. Und nun saß er mit vielen anderen müden Studentinnen und Studenten in einem überheizten Seminarraum und musste sich in eine Anwesenheitsliste eintragen. Allgemeiner Konsens: Im Bett war’s schöner. Wenn man die Stimmung im Raum in zwei Wörter hätte packen wollen, dann in diese: »Ja, äh …«
Wolfgang sah sich um: Für den Typen im Anzug war die Uni wahrscheinlich der erste Schritt zum Führungsjob. Den Habitus hatte er sich jedenfalls schon zugelegt: Er guckte »kompetent«. Ein anderer Student trug eine Art Kartoffelsack aus dicker Baumwolle, auf dem in bunten Buchstaben das Wort »Venezuela« eingestickt war. Der wird mir gleich am meisten auf die Nerven gehen, dachte Wolfgang. Der Rest schien zu denken: Ach je, schon wieder Uni. Na gut, muss man durch, wenn man später mal einen Job haben will. Leider ging es Wolfgang da nicht anders. Franka Potente war nicht anwesend.
Zum Glück hatte Wolfgang noch einen Platz an einem Tisch bekommen. Die Frau, die schon dort saß, hatte auf seine Frage, ob da noch frei wäre, geantwortet: »Ja, aber ich hab ’nen Freund.«
Daraufhin hatte Wolfgang beschlossen, nicht mehr mit ihr zu reden. Nun machte er sich extra schmal, um nicht in den Verdacht zu kommen, am Beziehungsstatus seiner Sitznachbarin etwas ändern zu wollen.
Der Dozent erschien, ein smarter Mittvierziger mit grau melierten Haaren und etwas zu engem Hemd:
»So, meine Damen und Herren, Sie haben die Texte für heute gelesen. Lassen Sie uns gleich stante pede und ad hoc in medias res gehen. Wir hören heute das Referat von Frau Bonin über die Broken-Windows-Theorie. Bitte sehr, Frau Bonin.«
In den mittleren Reihen erhob sich eine dünne Frau mit betonfester Make-up-Fassade, ging nach vorne und begann zu reden: »Ja, gut. Also, die Broken-Windows-Theorie wurde von Wilson und Kelling 1982 formuliert. Genau. Grob gesagt: Sichtbare Zeichen von kleinerer Kriminalität – also, zum Beispiel Vandalismus, genau – und auch antisoziales Verhalten ziehen größere Kriminalität nach sich. Genau.«
Sie sprach sehr monoton und betonte jeden Satz gleich. Anscheinend fand sie ihr eigenes Referat sehr langweilig.
Durch die bodentiefen Fenster konnte man direkt auf die Straße sehen, der Seminarraum lag ebenerdig. Draußen stand ein drahtiger Mann in Arbeitskleidung und unterhielt sich mit einer rauchenden Frau im weißen Kittel. Der Mann hielt einen Eimer in der Hand und gestikulierte viel. Was hatten ein Mann mit Eimer und eine Frau mit Kittel wohl miteinander zu besprechen?
»Na, Großer? Eimer dabei?«
»Ja klar, sichasicha, seffaständlich, Eima ha’ ick imma bei. Musste ja heutzutare, jeht ja nich anders. Weeßt ja nich, was passiert. Eima hab ick imma bei.«
»Aber gestern hattest du keinen Eimer, oder?«
»Nee, jestern hatt ich nich, jestern war Ausnahme, jestern war ick nach Arbeit noch inne Philharmonie, da jeht dit nich mit Eima. Kommste nich rein mit Eima, da passen die auf. Hab ick denn zu Hause jelassen. Aber heute ha’ ick wieder Eima bei. Sicha is sicha.«
Wenn gerade keine Filme oder Computerspiele zur Hand sind, kann die Realität ein ganz passabler Ersatz sein, dachte Wolfgang. Sie musste natürlich gut gemacht sein. Diese Realität hier hatte alles, was es für eine gute Realität brauchte: Mann, Frau, Eimer. Authentisch. Wolfang hatte sich schon öfter dabei erwischt, wie er beim Betrachten von Bäumen im Wind dachte: Verdammt gut animierte Grafik.
»Ja, äh …«, sagte die Referentin. »Genau. Insgesamt soll der Eindruck entstehen: Die Bewohner hier kümmern sich um ihre Umgebung. Also zum Beispiel, dass man Graffiti schnell entfernt, dass herumliegender Müll schnell abtransportiert wird und dass öffentliches Urinieren geahndet wird. Genau.«
»Bah! Do hätt i ah in Ampfing bleim kenna«, hörte Wolfgang einen Bayern raunen.
»Find ich gut mit deinem Eimer«, sagte die Frau im weißen Kittel draußen. »Ist immer gut, wenn einer einen Eimer dabeihat. Ich seh so viele Leute jeden Tag, ich würde mir echt wünschen, dass da mehr mit Eimer dabei sind.«
Als ganz kleines Kind hatte Wolfgang auch mal einen Eimer gehabt, einen grünen Spielzeugeimer aus Plastik. Er war mit der Familie im Urlaub am Neusiedler See gewesen, spielte im Sand, da erschien ein österreichischer Junge und sagte: »Leihst mir dein Kübi?«
Wolfgang hatte ihn nur ratlos angesehen. Er aber wiederholte: »Derf i dein Kübi ham? Den Kübi. Da! Dein Kübi!«
Wolfgang verstand nichts. Der Junge aber wurde immer lauter, bis er irgendwann schrie: »KÜÜÜ-BIII! DEIN KÜÜÜ-BIII!«, und Wolfgang weinend weglief. Noch Jahre später ängstigte Wolfgang sich in Österreich, weil er fürchtete, es könnte ihn jemand in der Landessprache ansprechen.
»Dit is einfach ’ne Eimergegend«, sagte der Arbeiter draußen. »War immer so, wird ooch immer so bleim.«
»Genau«, sagte die Frau. »Da freu ich mich auch immer. Seh ich einen mit Eimer, denk ich: Hier biste zu Hause.«
»Ick war neulich in Spandau. Gloobste, da hat eena ’n Eimer bei? Nüscht. Null. Keena. Uff die Idee komm die jar nich. Da war ick froh, wie ick wieda weg war.«
»Ach nee, dit is mir nüscht.«
Ein anderes Eimererlebnis hatte Wolfgang in seiner Jugend gehabt. In Svens Partykeller hatte es Julian mit dem Campari übertrieben und sich in einen Putzeimer erbrochen. Oben in der Wohnung saßen Svens Eltern und guckten Wer wird Millionär?, weshalb der Inhalt des Eimers auf die februarkalte Straße gekippt wurde, wo er gefror und einen schönen roten Eisplacken bildete.
»Es geht da … genau … zum großen Teil um psychologische Aspekte … Oder auch: Angst vor Kriminalität … muss man sich in seinem Viertel sicher fühlen … Und in New York … Rudy Giuliani Bürgermeister … Kriminalität stark gefallen. Genau.«
Auf einmal war es still.
Das Referat musste zu Ende sein. Fünfundzwanzig Minuten hatte die Referentin gesprochen.
»So. Gibt es da jetzt Fragen zu?«, fragte der Dozent.
Eine halbe Minute herrschte Schweigen. Hundert Studenten guckten ins Leere oder starrten vor sich auf den Tisch. Auf dem Gang draußen hörte man jemanden auf Türkisch telefonieren.
»Vielleicht erst mal methodisch?«, sagte der Dozent.
Wieder schwieg das Volk.
»Oder Verständnisfragen?«
Wolfgang versuchte, sich an das gerade stattgefundene Referat zu erinnern. Er hatte nichts verstanden, aber er hatte auch nicht zugehört. Die Frage, die er am liebsten gestellt hätte – »Kannst du das alles noch mal wiederholen, aber bitte kürzer und nicht so leiernd?« –, erschien ihm vermessen.
Ganz hinten hob ein Student seine Hand auf Kopfhöhe und lächelte verlegen.
»Ist das eine Meldung da? Bitte sehr.«
»Ja, äh …«, sagte der junge Mann mit Brille. »Also, ich wohne in Friedrichshain und ich fühle mich dort sehr sicher.«
»Aha?«, sagte der Dozent.
»Ja. Doch. Schon. Ich kann das also gar nicht so nachvollziehen mit der Angst vor Kriminalität.«
»Na gut. Ist ja auch mal interessant. Haben Sie sonst inhaltliche oder methodische Anmerkungen oder Fragen zu dem Referat von Frau Bonin?«
»Ach so. Nee, das jetzt nicht. Ich wollte das nur mal sagen.«
»Schön«, sagte der Dozent.
»Also ich wohn im Wedding«, sagte jemand anders. »Und da sieht man wirklich ganz selten mal ein zerbrochenes Fenster. Also, eigentlich fast gar nicht. Das ist auch echt nicht so, wie das in den Medien immer dargestellt wird.«
Jemand seufzte.
»Na gut, dann mal anders«, versuchte es der Dozent: »Diese Broken-Windows-Theorie war in den Sozialwissenschaften sehr umstritten. Können Sie sich vorstellen, warum?«
»Nö«, sagte eine Frau im Kapuzenpulli. »Scheint doch zu funktionieren. In New York hat das doch anscheinend geklappt.«
»Genau«, sagte die Referentin.
»Genau!«, sagte der Dozent. »Da wird’s nämlich interessant. New York wird immer als Beweis herangezogen, dass die Theorie recht hat. Es gibt da aber massive Einwände. Welche Einwände könnten das sein? Irgendwelche Ideen?«
»Also ich weiß nicht«, sagte der Mann im Anzug. »Das mit der vielen Polizeipräsenz find ich nicht so gut. Wenn man dauernd gefilzt wird, ohne dass man was getan hat. Da fühlt man sich ja wie ein Verbrecher.«
»Warum denn?«, fragte die Frau im Kapuzenpulli. »Wer nichts zu verbergen hat, der kann sich doch filzen lassen.«
»Nee, find ich nicht«, sagte der Mann im Anzug.
»Doch, find ich schon«, sagte die Frau im Kapuzenpulli.
»Lassen wir Ihre persönlichen Meinungen nochmal einen Moment beiseite«, sagte der Dozent. »Was ist der methodische Fehler, wenn man die sinkende Kriminalitätsrate in New York als Effekt der angewandten Broken-Windows-Theorie begreift?«
In der zweiten Reihe meldete sich eine Frau, deren Brille fast so groß war wie ihr Kopf. »Ich finde, das sollte man nicht so verbinden.«
»Aha! Gut!«, sagte der Dozent. »Worauf stützen Sie diese Aussage?«
»Weiß ich nicht«, sagte die Frau. »Find ich halt.«
»Also ich will nicht einfach so auf der Straße von einem Polizisten durchsucht werden«, insistierte der Mann im Anzug. »Ich find das ja schon schlimm, dass heutzutage überall Kameras sind.«
»Es geht jetzt gerade nicht darum, was Sie wollen«, sagte der Dozent.
»Warum denn nicht?«, fragte der Mann im Anzug. »Ich bin ein mündiger Bürger mit Wahlrecht und allem. Natürlich geht es darum, was ich will.«
»Ja, aber nicht jetzt«, sagte der Dozent. »Das ist hier kein Bürgertreffen, sondern ein sozialwissenschaftliches Seminar. Sie sollten alle Wissenschaftler sein.«
»Also, zuallererst sehe ich mich mal als Mensch«, sagte der Anzugträger.
Die Frau im Kapuzenpulli verdrehte die Augen und stöhnte lautlos.
»Was dagegen?«
»Nein, nein, ist okay«, sagte die Frau. »Ich sehe mich zwar zuallererst als Ameisenbär, aber mit Menschen komm ich auch gut klar.«
Der Dozent lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. In den folgenden zehn Minuten diskutierten eine Handvoll Studenten diese Themen: Polizeigewalt, aggressive Autofahrer, Ronald Schill, künstlerischer Gehalt von Graffiti, mangelnder Ausbau von Fahrradwegen in Reinickendorf, auch der Nahostkonflikt wurde kurz gestreift. Wolfgang fürchtete, dass einer der Diskutanten aufstehen und jemandem Schläge androhen würde.
»Also wenn sich hier niemand zur Frage äußert, dann mach ich das jetzt selbst«, sagte der Dozent schließlich. »Die sinkende Kriminalität kann auch andere Gründe haben. In den meisten amerikanischen Großstädten ist in dieser Zeit die Kriminalität gesunken, auch ohne die Politik der angewandten Broken-Windows-Theorie. In New York ist außerdem die Arbeitslosigkeit in den Neunzigerjahren um vierzig Prozent zurückgegangen. Dann sind Verhütungsmittel billiger und leichter verfügbar geworden, auch das spielt dort mit hinein. Dass die abnehmende Kriminalität eine Auswirkung der angewandten Broken-Windows-Theorie ist, ist also nicht gesichert. Das ist der eigentliche Fehler bei dieser Annahme. Nur weil etwas gleichzeitig geschieht, heißt das nicht, dass es kausal miteinander verbunden ist. Wir sprechen da von einem klassischen ›Cum hoc ergo propter hoc‹-Fehlschluss.«
»Mir egal, ich bleib bei meiner Meinung«, sagte die Frau im Kapuzenpulli.
»Ich auch.«
»Ich auch.«
»Möchte da noch jemand etwas hinzufügen?«, fragte der Dozent.
»Nein!«, rief jemand.
Als die Diskussion für beendet erklärt wurde, waren fünf Leute sauer, der Dozent eingeschlossen. Der Rest guckte genauso anteilnahmslos vor sich hin wie schon zu Beginn der Sitzung. Der Mann im venezolanischen Kartoffelsack hatte entgegen Wolfgangs Erwartung keinen Ton von sich gegeben.
Wolfgang ging in die Mensa. Obwohl er gerade nicht nach einer Partnerin suchte, sagten ihm im Lauf des Tages noch drei Frauen, dass sie einen Freund hätten.
Wolfgangs Oma hatte immer gesagt: »Junge, lern anständig für die Schule, sonst wirst du irgendwann Optiker.«
Wolfgang hatte nicht gewusst, was daran so schlimm sein sollte. Hatte Optiker im veralteten Wertesystem seiner Oma als unehrenhafter Beruf gegolten, so wie früher Kesselflicker oder Scherenschleifer? Wer gar nichts kann, muss Brillen verkaufen? Erst im Erwachsenenalter hatte Wolfgang herausgefunden, dass das norddeutsche Idiom seiner Großmutter schuld an seiner Verwirrung war, dass es nicht Optiker, sondern »Opticker« heißen musste und dass das die hamburgische Bezeichnung für einen ungelernten Arbeiter war, der im Park den Müll aufsammelt.
Arbeit galt in Wolfgangs sozialdemokratischer Familie als wichtige und ernste Angelegenheit. Wolfgangs eigenes Verhältnis zu Arbeit war jedoch durch seinen allerersten Job nachhaltig gestört. Nachdem in seinem siebzehnten Lebensjahr die Fixkosten für Bier und Zigaretten deutlich angestiegen waren und abzusehen war, dass das erst mal so bleiben würde, hatte er an einer Tankstelle als Autoeinseifer angefangen. Sein Chef, Herr Hengstle, war ein Choleriker und Schikaneur, der einmal am Tag einen Ausraster hatte. Dann beleidigte er jeden Angestellten, der ihm unter die Augen trat, nur um danach wieder den Benzfahrern in den Enddarm zu kriechen. Aber auch die Benzfahrer selbst waren nicht ohne gewesen. Manche hofften geradezu darauf, dass ihr geliebtes Auto mit einem Kratzer aus der Waschanlage kam, damit sie einen Grund hatten, den wehrlosen Einseifer anzubrüllen. Drei Monate hielt Wolfgang das aus, bis er sich eines Morgens vor Angst übergeben musste. Dann war er einfach nicht mehr hingegangen. Wenn das Arbeit ist, hatte er damals gedacht, dann möchte ich bitte niemals arbeiten.
Jetzt musste er allerdings. Das Geld, das seine Eltern ihm monatlich überwiesen, reichte gerade für Miete und Essen. Jede darüber hinausgehende Freude war damit nicht zu finanzieren. Kurz hatte Wolfgang überlegt, ob er sich nicht einfach nur von Kartoffeln ernähren und dafür auf die Qual eines Nebenjobs verzichten könnte. Er hatte sorgfältig abgewogen: die Liebe zu Bier und Hanf auf der einen Seite, die Abneigung gegen Arbeit auf der anderen. Bier und Hanf hatten gewonnen. Der bärtige Jugendpfarrer in Löhne hatte also recht: Liebe ist immer stärker als Hass. Außerdem musste ja nicht jeder Nebenjob so schrecklich sein wie der an der Tankstelle. Man würde sicher auch arbeiten können, ohne an einen Choleriker zu geraten, aber man würde nicht Bier und Hanf konsumieren können, ohne sie vorher käuflich zu erstehen. Das hatten schon einige versucht und war nie gut geendet.
Wolfgang ging los, erwarb in einem arabischen Schnellimbiss ein sehr kleines Glas Tee und damit das Recht, eine Stunde lang durch das dort ausliegende Stadtmagazin Zitty zu blättern, die erste Anlaufstelle für Jobsuchende. Die meisten Angebote klangen schrecklich: »Outbound Callcenter Agent«, Aushilfe im Café, Catering auf »coolen Events« (wahrscheinlich Firmenfeiern von Steuerberatern), »ein spannendes Team erwartet dich«. Die knappste Anzeige lautete so: »Theater sucht Studenten für Einlass und Kasse. Studentenstatus wichtig.«
Das war doch was. Was konnte man da schon falsch machen? Etwas Besseres als ein »spannendes Team« finde ich überall, dachte Wolfgang, rief die angegebene Telefonnummer an und sprach mit einer sehr freundlichen Frau Sandberg, die ihn gleich für den folgenden Tag um elf zum Gespräch einlud. Er solle einfach am Bühneneingang seinen Namen sagen, dort wisse man schon Bescheid.
Am nächsten Tag fuhr Wolfgang fast eine Dreiviertelstunde in Richtung Westen und erschien pünktlich um fünf vor elf am Bühneneingang. In der abgewetzten Loge saß ein Pförtner, der aussah, als säße er dort schon seit den Fünfzigerjahren.
»Hallo«, sagte Wolfgang. »Ich heiße Schneider. Ich bin hier wegen dem Job.«
»Hallo, ick heiße Hofmeister«, sagte der Pförtner. »Ick bin hier, weil ick hier anjestellt bin.«
»Ich hab einen Termin, ich soll zu …«
»Jaja, weeß ick schon«, unterbrach ihn der Pförtner. »Sie gehen hier wieder raus, einmal quer über den Hof und durch die grüne Stahltür. Dit is die Kantine, da hilft man Ihnen weiter.«
»In der Kantine?«, fragte Wolfgang. »Nee, ich wollte eigentlich zu …«
»Doch, doch, dit stimmt schon«, sagte der Pförtner. »An Tagen wie heute ist die Bewerbung erst ma in der Kantine. Sonst würden Sie sich hier hoffnungslos verlaufen. Gehnse ma rüber, da sitzt jemand und weiß Bescheid.«
»Alles klar, danke«, sagte Wolfgang.
»Tjaja …«, sagte der Pförtner.
In der Kantine war eine Art Empfangstisch aufgebaut, dahinter saß eine Dame mit wilder Frisur und las.
»Hallo«, sagte Wolfgang höflich. »Ich komme wegen dem Job. Ich hab um elf eine Verabredung bei …«
»Ja, ist schon klar«, sagte sie und reichte Wolfgang einen A5-Zettel mit einem schief kopierten Kontaktdatenformular, das er auszufüllen hatte.
»Damit gehen Sie hier den Gang entlang, dann in den zweiten Stock in Zimmer 204. Da macht jemand mit Ihnen weiter.«
Wolfgang bedankte sich und fragte sich, wie viele Leute sich wohl noch auf diesen Job bewarben. Das Treppenhaus war kalt und roch nach Schmieröl, die Wände glänzten grau von Hunderttausenden Berührungen. Im Zimmer 204 saß eine hübsche Frau mit einem Maßband um den Hals und rauchte. Als sie Wolfgang sah, lächelte sie und sagte: »Ah ja! Also dann bitte mal hier an die Wand stellen.«
Wolfgang musste die Arme ausbreiten, gerade stehen und tief einatmen, während die Frau ihm ihr Maßband auf verschiedene Körperteile legte und ab und zu eine Zahl murmelte. Wolfgang fand das irgendwie lustig. Das letzte Mal, dass er vor jemandem Turnübungen machen musste, war bei der Musterung gewesen. Hoffentlich musste er sich nicht gleich noch ausziehen.
»Wofür brauchen Sie das denn?«, fragte er.
»Na ja, deine Maße müssten wir schon kennen, oder? Wäre doch ganz praktisch.«
»Ach so, ja … natürlich«, sagte Wolfgang.
Nachdem die Frau die Messergebnisse auf Wolfgangs Zettel vermerkt hatte, erschien ein überarbeitet aussehender junger Mann in Cargohosen und mit viel Werkzeug am Gürtel. Dies wäre der Kollege von der Bühnentechnik, sagte die schöne Frau, der würde Wolfgang nun mitnehmen.
»Du bist ein bisschen spät dran«, sagte der junge Mann. »Die anderen sind schon fast durch.«
»Tatsächlich?«, sagte Wolfgang. »Aber ich hab doch einen Termin um elf.«
»Das kann überhaupt nicht sein. Wir vergeben keine Termine. Alle haben um 9:30 Uhr zu erscheinen und dann wird gewartet.«
Wolfgang fragte nicht weiter.
Es ging Treppen hinauf und hinunter, durch Türen und lange Gänge.
Vor einer Tür saß ein Mann mit einem Klemmbrett.
»Ich hab hier noch einen«, sagte der Überarbeitete.
»Wunderbar, her damit«, sagte der mit dem Klemmbrett. »Einmal Zettel.«
Wolfgang reichte ihm sein Formular und bekam im Gegenzug ein A4-Blatt ausgehändigt. Der Überarbeitete öffnete die Tür, sagte: »Da drin warten, du wirst aufgerufen«, und verschwand.
Der Raum sah aus wie das Wartezimmer einer sehr schäbigen Arztpraxis in Kasachstan. Auf angegrauten Schalenstühlen, die irgendwann mal strahlend orange gewesen sein müssen, saßen sechs Leute: Ein paar Herren unter dreißig, zwei davon in sehr modischer Kleidung, eine Frau in bunten Klamotten, eine bebrillte Dame um die fünfzig, die Wolfgang an seine frühere Französischlehrerin erinnerte, und ein Mann mit Bierbauch, der aussah, als hätte er vierzig Jahre lang in Köpenick Wasseruhren abgelesen. Die Berliner Version der Village People, dachte Wolfgang. Am Ende des Raums lag eine zweite Tür. Dahinter hörte man jemanden schreien. Wolfgang sah auf das Blatt. Ein einziger Absatz stand darauf:
Finde die, deren Namen hier geschrieben stehen. Es steht geschrieben, dass der Schuster bei seiner Elle bleiben soll, der Schneider bei seiner Leiste, der Fischer bei seinem Bleistift und der Maler bei seinem Netz. Ich aber werde geschickt, um die Personen zu finden, deren Namen hier stehen, und kann nicht herausfinden, welche Namen der Schreiber hier schrieb. Ich muss zu den Gelehrten. Recht bald.
Klingt wie Fantasy, dachte Wolfgang. Der junge Dalaman, Sohn der schönen Schafhirtin und des Dorfschmieds, mit wundersamer Zauberkraft gesegnet, erfährt seine Mission: Er muss die fünf Weisen des Turmes finden und das uralte Rätsel von Bogdingnag lösen. Nur so kann er die Menschheit vor dem finsteren Zauberer Hasduran retten. Mit fünfzehn hatte Wolfgang jede Fantasy verschlungen, die er bekommen konnte. Stapelweise Bastei-Lübbe-Bücher und DVDs mit schlimmen amerikanischen B-Movies. Sein Zimmer hatte voller Poster von Zwergen mit Äxten oder Orks mit Trinkhörnern gehangen. Dann aber hatte er zum ersten Mal Geschlechtsverkehr und plötzlich interessierte ihn Fantasy nicht mehr.
Er las den Text noch einmal. Wie hätte Christopher Lee die se Sätze gesprochen? Oder noch besser: Klaus Kinski? Langsam und irr, mit vielen Pausen, mit rollendem r und breiten Vokalen. »Es steeht geschriieeben … dass derr Schuuusterr … bei seinerr Elle bleiben soll … ich bin saa wild nach dainem Errdbeerrmand.« Warum hatte Kinski nie Fantasyfilme gedreht?, fragte sich Wolfgang. Er wäre die perfekte Besetzung für den finsteren Zauberer aus dem Schattenland gewesen.
Einer der modisch gekleideten jungen Männer versuchte, den Text auswendig zu lernen. Mit geschlossenen Augen sagte er ihn fast lautlos immer vor sich hin, nur seine Lippen bewegten sich. Auch die Französischlehrerin schaute mit heruntergezogenen Mundwinkeln ununterbrochen auf ihr Blatt und machte ab und zu ein stimmloses Stöhngeräusch durch die Nase. Nur der Wasseruhrenableser hatte sein Blatt neben sich gelegt und guckte stur geradeaus. Hier lief irgendetwas anders, als Wolfgang es sich gedacht hatte.
»Entschuldigung, wollt ihr auch zu Frau Sandberg?«, fragte Wolfgang in die Runde.
»Was? Nee!«, sagte einer der jungen Herren.
»Wäh?«, machte ein anderer.
Die bunte Frau lächelte und schüttelte den Kopf. Die Französischlehrerin blickte überhaupt nicht auf. Der Wasseruhrenableser reagierte nicht. Wahrscheinlich verstand er kein Hochdeutsch.
Wolfgang war also offensichtlich falsch hier. Aber hatte er nicht alles richtig gemacht? Und was sollte er nun tun? Einfach aufstehen und gehen wäre doch unhöflich, immerhin hatten sie ihn vermessen und registriert. Aber was passierte hier? Alle fünf Minuten kam eine Frau in den Raum und bat jemanden, mitzukommen. Nach einer Weile hörte man jenseits der Tür gedämpfte Schreie und schon kam der Mensch wieder zurück, raffte seine Sachen und verschwand sofort. Na gut, schreien kann ich, dachte Wolfgang.
Zwanzig Minuten saß er da und schwitzte. Dann erschien die Frau wieder, sagte: »Wolfgang Schneider?«, und sah den Mann mit dem Bierbauch an. Als Wolfgang »Ja« sagte, sagte sie: »Ach so! Einmal mitkommen«, und wandte sich wieder um.
»Entschuldigung, da muss etwas schiefgelaufen sein«, sagte Wolfgang, während er ihr hinterherlief. »Mein Name ist Wolfgang Schneider, ich sollte eigentlich …«
»Ja, weiß ich doch. Hier geht’s rauf. Sie werden schon erwartet«, sagte die Frau, schob Wolfgang durch einen Durchgang und schon stand er auf einer hell erleuchteten Bühne.
Oh Scheiße!
In dem Saal saßen ungefähr fünf Leute. Wolfgang konnte sie nicht genau erkennen, das Licht schien ihm direkt in die Augen.
»Äh … Hallo?«, sagte er in die helle Dunkelheit.
»Ja, hallo, Herr Schneider«, antwortete eine Männerstimme. »Seien Sie ganz locker, wir sind ganz nett. Also, einmal gerade stehen, bitte.«
Wolfgang streckte sich, eine Kamera klickte.
»Einmal Arme ausbreiten.«
Wie oft denn nun noch? Wolfgang breitete die Arme aus, es klickte wieder.
»Danke, stehen Sie bequem. Den Text haben Sie. Lesen Sie mir den doch bitte einmal vor.«
Die Scheinwerfer strahlten Wolfgang direkt ins Stammhirn. Er sah auf den Zettel und musste die Augen zusammenkneifen. Langsam begann er zu sprechen. Aber Kinski, der Gestörte, der Wahnsinnige, hatte sich in seinem Kopf festgefressen.
»Finde … Finde die, derren Naamen hierr …«
Weiter kam er nicht. Er musste sich räuspern.
»Kein Problem«, sprach die Stimme von unten. »Einfach gleich noch mal.«
Wolfgang setzte erneut an, aber nach vier Wörtern hatte schon wieder Kinski die Macht über ihn erlangt. Sein Schwitzen wurde stärker. Er konnte doch nicht schon wieder abbrechen! Los, lies weiter, Schneider, ermahnte er sich. Sonst merken die noch, dass du hier falsch bist, und dann ist aber was los. Er schaffte es, den Text fehlerfrei vorzulesen. Aber Kinski, der verfluchte Kinski, war immer noch da, denn in Wolfgangs Kopf klang der Text ganz anders:
Finde die, deren Namen hier geschrieben stehen. Es steht geschrieben, dass der Schlüsselmeister der Erste sein wird, der durch das Tor der Erkenntnis gehen muss. Sodann soll der Hohepriester folgen. Er allein hat die Macht. Sei wachsam, Wanderer! Der Weg ist beschwerlich, die Gefahren sind dunkel und überall. Aber dort im Land des eiskalten Feuers, jenseits der Berge von Kwartanor, dort sollst du es finden, das Schwert der Verdammnis. Du musst zu den Gelehrten. Recht bald!
Unten begannen Leute zu tuscheln. Wolfgang hörte Fetzen wie: »… also kann man doch nicht … wie der hier … Hab ich ja überhaupt noch nie …«
Wolfgang stand da wie ein erwischter Sechstklässler. Großartig. Das hatte er wohl verbockt.
»Danke, Herr Schneider«, sprach die Stimme. »Das machen wir jetzt noch einmal, aber ein bisschen anders.«
»Ja, tut mir leid«, sagte Wolfgang. »Ich glaube auch, ich bin hier falsch. Ich wollte eigentlich …«
»Nein, nein, es ist alles gut. Jetzt stellen Sie sich doch bitte mal vor, Sie sind sehr wütend und sagen diesen Text, ja? So richtig außer sich. Und bitte.«
Wütend konnte Wolfgang. Der alte Piesacker Hengstle hatte einen solchen Eindruck hinterlassen, dass Wolfgang ihn auch nach vier Jahren noch mit sich herumtrug. Manchmal erschien ihm Hengstle auf der Straße oder in der U-Bahn und immer wenn jemand schrie – und in Berlin schrie man viel, so viel hatte er schon mitbekommen –, sah er irgendwo Hengstles Hinterkopf, seinen blauen Overall oder seinen watschelnden Gang. Wolfgang sprach den Text, aber in seinem Kopf klang er wie der alte Tankstellencholeriker:
Finde die, deren Namen hier geschrieben stehen. Sacht ma, seid ihr alle zu dumm zum Scheißen oder was? Du SAUDUMMER SCHUSTER, du bescheuerter!!! Du bleibst gefälligst bei deinen Netzen, ist das klar?!? Man muss sich ja fragen, ob man es nur mit SCHWACHSINNIGEN zu tun hat! Pass mal auf, Freundchen, ich sach so was nur einmal: Wenn die Namen, die hier stehen, sich nicht bald selbst rausfinden, dann geh ich aber zu den Gelehrten, da kannste aber sicher sein. Recht bald!
Im Zuschauerraum kicherte eine Frau. War das jetzt ein gutes oder schlechtes Zeichen?
»Danke, Herr Schneider«, sagte die Männerstimme. Sie klang deutlich erheitert. »So, jetzt mal ehrlich: Sie kennen den Text?«
»Öhm … ich hab ihn ja hier.«
»Nein, ich meine: Sie kennen das Stück, aus dem der Text kommt?«
»Nee. Keine Ahnung.«
»Also, Sie sind mir ja ein ganz Gerissener.«
»Jetzt lass doch«, unterbrach eine Frauenstimme. Einen Moment lang tuschelten die Stimmen wieder.
»Wolfgang?«, sagte die Frauenstimme schließlich.
»Ja?«
»Die Figur zu diesem Text ist eigentlich ein bisschen dumm. Kannst du dumm?«
»Natürlich kann er das, guck dir den mal an«, sagte der Mann.
»Jetzt lass mich mal«, sagte die Frau. »Wolfgang, kannst du dumm? Sag Ja.«
»JA!«, rief Wolfgang.
»Dann mach jetzt mal den dümmsten Menschen, den du kennst.«
Dafür musste Wolfgang nicht lange nachdenken. Der dümmste Mensch, den er kannte, war ganz eindeutig Frank Lapp. Daran bestand überhaupt kein Zweifel. Frank Lapp war mit Wolfgang in der Grundschule gewesen, hatte aber den Titel »dümmster Mensch in Wolfgangs Bekanntenkreis« weit über diese Zeit hinaus verteidigen können. Er war dieser traurigste der Dummen: gutmütig, freundlich, aber unglaublich schwer von Kapee und meistens hilflos. Der, der immer am längsten am Zahlenstrahl stand. Der, der immer Letzter im Eckenrechnen wurde. In der dritten Klasse hatten Wolfgang und zwei Freunde Frank dazu gebracht, gegen den Mercedes 190 des Hausmeisters zu urinieren. Sie hatten etwas Wasser gegen drei Reifen geschüttet und Frank geholt: »Hier, Frank! Der Schröder hat gesagt, wir sollen gegen seine Autoreifen pinkeln. Das ist gut für die, dann halten die länger. Guck, wir drei haben schon. Du musst noch.«
Frank hatte sich vor einen Reifen gestellt, ausgepackt und es plätschern lassen. Sofort war der Hausmeister aus seiner Wohnung gestürmt, wüst schimpfend und mit den Armen fuchtelnd. Von Panik ergriffen war Frank mit offenem Hosenstall vom Hof gerannt und hatte sich dabei eingenässt. Der Hausmeister war jedoch urplötzlich stehen geblieben, hatte sich umgesehen und war sofort wieder in seiner Wohnung verschwunden. Erst viele Jahre später wurde Wolfgang klar, warum der Hausmeister sich so abrupt gefasst hatte: Ein Achtjähriger, der mit heraushängendem Schniepel vor einem Fünfzigjährigen wegrennt und um Hilfe schreit, ist keine gute Referenz in der Nachbarschaft. Nach der Grundschule hatten Wolfgang und Frank kaum noch etwas miteinander zu tun, aber wenn sie sich mal über den Weg liefen, sah Wolfgang immer noch den eingenässten Grundschüler. Zuletzt waren sie sich in einem Getränkemarkt begegnet, wo Frank Leergut herumräumte.
Wolfgang stellte sich so hin, wie Frank immer gestanden hatte. Leicht gebeugt, die Schultern immer ein bisschen hochgezogen und mit einem Gesichtsausdruck, der ständig zu sagen schien: »Hä? Versteh ich nicht.« So sprach er den Text. Aber er dachte dies:
Finde die, deren Namen hier geschrieben stehen. Puh … Ja, also … das ist jetzt … da kann man natürlich … weiß ich jetzt auch nicht genau. Der Klaus, der das normalerweise bei uns macht, ist auch gerade nicht da. Und der Computer ist auch kaputt. Ich soll hier eigentlich nur aufpassen, dass keiner was klaut. Weil, wenn der mit dem Netz da beim Schreiber steht … also, da muss man dann halt … weiß ich nicht. Aber am besten fragen Sie die Gelehrten noch mal. Ich geh da jetzt auch hin. Also, recht bald, meine ich.
Wieder kam Gekicher von unten, diesmal von drei oder vier Leuten. Sofort ging das Getuschel wieder los: »… ist doch … also, kann sich … Oder willst du die Hausfrau von vorhin … Soll er noch mal das von …«
Wolfgang stand, wartete und verstand nichts. So also hatte sich Frank Lapp immer gefühlt. Kein schönes Leben.
»Ach, Entschuldigung. Kann ich jetzt gehen?«, fragte Wolfgang.
»Moment«, sagte der Mann und tuschelte weiter.
»Herr Schneider?«, sagte er schließlich.
»Ja, ich bin noch da.«
»Wir würden gern noch mal Ihre allererste Interpretation sehen.«
»Meine was?«
»So wie Sie den Text ganz am Anfang gesprochen haben, das hat uns gut gefallen. Einfach noch mal genauso wie eben, ja? Und bitte.«
Na gut, dachte Wolfgang. Wenn sie Kinski wollen, sollen sie Kinski bekommen. Den konnte er, der wird immer bleiben. Jetzt machte ihm das fast schon Spaß. Er beschloss, noch eine Schippe draufzulegen:
Finde die Namen, Fremder! Die Namen, die hier geschrieben stehen! Fürwahr, so geht es seit Jahrtausenden: der Schlüsselmeister! Ja, der Schlüsselmeister soll der Erste sein, der durch das Tor der Erkenntnis gehen muss. Walk tall! Hold your head up high! Sodann soll der Hohepriester folgen. Er allein soll folgen und folgen soll nur er. Die Macht er hat. Sei wachsam, oh Wanderer, du Wanderer, du! Der Weg ist beschwa-ha-ha-herlich, die Gefahren sind dunkel und überall. Aber dort im Lannnnd-ä des eiskalten Feuers, jenseits der Berge von Kwartanor, dort sollst du es finden, finden sollst du dort das Schwert der Verdammnis. Du musst zu den Gelehrten. Recht bald!
Unten lachte jemand laut. Jemand anders applaudierte.
»Wunderbar, Herr Schneider«, sagte der Mann. »Und jetzt mal im Ernst: Was haben Sie denn bisher für Rollen gespielt?«
Das hatte er also ziemlich verbockt. Noch drei Tage später ärgerte Wolfgang sich sehr über sich selbst. Er hätte einfach besser aufpassen und am Bühneneingang deutlicher machen sollen, wer er war und wohin er wollte. Dann hätte er den Job am Einlass auch bekommen, da war er sich sicher. Doch als er die Probebühne endlich verlassen konnte, war es schon nach zwölf. Noch mal zehn Minuten hatte es gebraucht, bis er Frau Sandberg endlich gefunden hatte. Die war aber sehr reserviert. Wer beim Vorstellungsgespräch über eine Stunde zu spät kommt, wäre leider nicht geeignet für die Arbeit am Einlass, sagte sie. Pünktlichkeit, Disziplin, tadelloses Äußeres, Begeisterung fürs Theater und ein hohes Maß an Flexibilität, so meinte sie, wären unerlässlich. Der Einlass wäre eine der wichtigsten Aufgaben am Theater, denn sonst käme ja niemand hinein, das wäre doch logisch. Dass der Pförtner Wolfgang falsch geschickt hatte, ließ sie nicht gelten. Der hätte hier nichts zu sagen, wo man denn da hinkäme, wenn man dem Pförtner die Organisation des Hauses überlassen würde.
Stattdessen war Wolfgang nun Statist. Oder besser gesagt: Kleindarsteller, der zweitniedrigste Mannschaftsgrad. Er sollte zwar wie die anderen Statisten auch herumlaufen oder -tanzen, aber an einer oder zwei Stellen musste er auch noch sprechen. Einen Soldaten sollte er spielen, einen Diener, einen Gast eines Festes und vielleicht auch noch einen Trunkenbold, wenn er da Erfahrung hätte. Er müsste also dauernd Kostüme wechseln und wäre am Abend »ein vielbeschäftigter Mann«. So hatte ihm das