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Im Frühjahr 1925 warten Norbys neue Sommerhäuser und das frisch renovierte Strandhotel auf die ersten Gäste. Tilda Jul aber sehnt sich fort aus dem kleinen Dorf an der Westküste Jütlands. Sie möchte in Kopenhagen Tiermedizin studieren. Doch die gesellschaftlichen Konventionen stehen ihrem Traum entgegen. Und ein Ausweg scheint nicht in Sicht. Wie Tilda geht es auch der Jazzpianistin Julia Krøger und der Kopenhagener Unternehmertochter Helle Møller. Julias Musik gefällt nicht jedem und Helles Kamerad Søren ahnt nicht, dass Helle mehr in ihm sieht als einen Freund. Malvine Hansen dagegen genießt ihr Leben. Sie wäre gern Großmutter und freut sich auf das Wiedersehen mit ihrer Tochter Sofie in Norby. Mit der Liebe hat sie längst abgeschlossen … Das Wiedersehen in Norby ist der selbstständige Folgeband zur Reise nach Norby. 'Eine gelungene Fortsetzung des Romans Reise nach Norby, mit bekannten und spannenden neuen Charakteren um das Jazzhotel in Jütland.' (Sabine Sch.)
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Seitenzahl: 342
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Kapitel I: Jütland, Ribe Amt, Norby, Ende April 1925
Kapitel II: Krausesvej, Østerbro, Kopenhagen
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
Kapitel XXVII
Kapitel XXVIII
»Nur noch ein wenig Geduld, Liebe. Wir gehen gleich hinunter.« Tilda Jul lächelte ihre Hündin an, die aus dem Körbchen vorm Bett erwartungsvoll zu ihr aufschaute. Seit der Vater ihr am Heiligen Abend den kleinen Cockerspaniel mit dem goldbraun gefleckten Fell und den lockigen Ohren in den Arm gelegt hatte, waren die beiden unzertrennlich. »Ich beeile mich schon, Melusine, siehst du?«
Sie griff zur Bürste und glättete energisch ihre kastanienbraunen Locken. Unterdessen zog der Duft von frisch aufgebrühtem Bohnenkaffee in ihre Dachkammer. Wie immer waren die Mutter und ihre Schwägerin Sofie vor ihr in der Küche, um gemeinsam das Frühstück vorzubereiten. Heute waren sie allerdings besonders früh dran, denn die Familie erwartete ihren Bruder James aus Schottland zurück. Nach Ostern war er mit seinen Freunden Axel und Christian aufgebrochen, um die ersten Tiere für seine Zucht schottischer Hochlandrinder nach Norby zu überführen. Gegen Mittag sollte der Dampfer am Hafen von Esbjerg eintreffen.
Gottlob brachte die Rückkehr des Bruders Abwechslung in die stillen Tage auf Julsgård. Tilda seufzte und begann, ihr Haar zum Zopf zu flechten. Wenn sie nur nach Kopenhagen zurückkönnte! Seit ihrem Besuch bei Sofies Mutter träumte sie davon, in der Hauptstadt zu leben. Doch das war leider genauso unmöglich wie ein Studium der Tiermedizin. Der Beruf des Tierarztes passt genauso wenig für eine Frau wie ein Leben als Junggesellin in der Großstadt, würden ihre Eltern sagen und darauf bestehen, dass sie weiter bei ihnen in Norby lebte.
Bedrückt schlang Tilda die losen Enden ihres Zopfs ineinander und ging zum Bett hinüber. Was blieb ihr bei diesen kümmerlichen Aussichten noch, außer in Trübsal zu versinken? Ich könnte mich auch in jemanden verlieben, überlegte sie. Seit Sofie und James sich gefunden hatten, brauchten sie zum Glücklichsein nur einander. Tilda schüttelte ihr Kopfkissen auf und zog die Steppdecke zurecht. Könnte Christian Pedersen dieser Jemand sein? Sie mochten sich doch gut leiden. Außerdem hatte er wie sie einige Zeit in Kopenhagen verbracht. Er verstand, weshalb sie vom Strand bei der Stadt und den hell erleuchteten Straßen schwärmte. Bei ihrer Weihnachtsgesellschaft auf Julsgård hatte er sogar das Marzipanschweinchen aus seiner Mandelgabe mit ihr geteilt. Vielleicht lag ihm ja mehr an ihr, als sie bislang gedacht hatte?
Sie reckte sich hoch und schloss das Gaubenfenster vor ihrem Bett. »Auf, Melusine!«, sagte sie munter. »Gehen wir frühstücken!«
Theo Jul trat wohlgelaunt zu seiner Schwiegertochter an den Komfur, um sich von ihr Kaffee einschenken zu lassen. »Guten Morgen, meine Liebe«, sagte er, sich die Hände reibend. »Du bist sicher genauso froh wie ich, dass James endlich nach Hause kommt, wie?«
Sofie nickte lächelnd und füllte ihm die Tasse. Theo mochte seine Schwiegertochter sehr und war froh, dass sie sich gut auf Julsgård eingelebt hatte. Sofie war gescheit und gab sich alle Mühe, zu lernen, was eine Hausfrau auf einem abgelegenen westjütischen Hof können musste. Ohne Anschluss an Gas- und Wasserleitungen war das keine einfache Aufgabe, zumal sie aus Kopenhagen kam und vor ihrer Hochzeit ein sehr komfortables Leben geführt hatte. Außerdem rechnete er ihr hoch an, dass sie Frieden mit ihrer Schwiegermutter hielt. James und Sofie würden ja auf Julsgård leben, bis sie ein eigenes Haus bauen konnten, und Freja war bisweilen schwierig, wenn es in ihrem gemeinsamen Haushalt nicht nach ihrem Willen ging. Aber Sofie behielt immer die Ruhe. Und sie hatte Vater und Sohn wieder näher zueinander gebracht. Gut, dass sie ihn darum gebeten hatte, James mit der Rinderzucht seinen eigenen Weg gehen zu lassen.
»Danke dir.« Theo drückte Sofies Schulter, nahm seinen Kaffee und ging zu Frau und Tochter hinüber an den Küchentisch. »Bitte, Tilda!«, sagte er milde tadelnd, als sie Melusine auf ihren Schoß hob. Nicht einmal Tapper, der betagte Cockerspaniel, durfte während des Essens an den Familientisch kommen.
»Nur ausnahmsweise«, bat Tilda. »Schließlich lasse ich Melusine heute zum ersten Mal länger allein und sie ist doch fast noch ein Baby.«
»Aber Mette Steensen kommt doch nachher und wird auf sie achtgeben«, erinnerte Theo sie lächelnd. Ach, seine Jüngste hatte so viel Liebe in sich und wusste nicht, wohin damit. Er sah Tildas bittenden Blick auf sich gerichtet und ließ sich erweichen. »Na, von mir aus. Aber wirklich nur dieses eine Mal«, sagte er und bat dann Freja, ihm Milch in seinen Kaffee zu gießen.
Sofie schraubte den Deckel auf die letzte Wärmekanne mit heißem Kaffee. Bald vierzehn Tage war James nun schon mit ihrem Stier und den beiden Kühen unterwegs. Von Inverness mit dem Zug nach Grimsby und dann weiter mit dem Dampfer über die Nordsee. Es war eine Reise mit vielen Unterbrechungen, damit die Tiere zwischenzeitlich ausruhen und grasen konnten. Sofie hatte James’ Route auf der Karte verfolgt und sich dabei an ihre Hochzeitsreise nach Schottland erinnert.
Sie ließ ihre Hand auf dem Kannendeckel liegen und richtete ihren Blick versonnen auf die Küchenwand. Seit sie im letzten September geheiratet hatten, waren James und sie nun zum ersten Mal voneinander getrennt. Zwar verbrachte er oft mehrere Tage in Esbjerg, um als Tierarzt bei den Exportställen zu arbeiten, doch so lange musste sie ihn noch nie entbehren. Gottlob konnte sie ihren Mann heute endlich wieder in die Arme schließen. Der Bote hatte ihnen vorgestern James’ Telegramme gebracht. Eins mit der Nachricht über seine Ankunftszeit, damit der Schwiegervater den Tageswagen und die Lastautos für den Transport der Tiere bestellen konnte, und eins für sie. Sofie, mein Herz, kann es kaum erwarten, dir unsere drei Schätze nach Hause zu bringen. Vermisse dich, James, stand in dem Formularbogen, den sie wie einen Schatz kleingefaltet unter ihrem Hemd trug. Sie griff nach dem großen Picknickkorb und setzte die Kannen hinein. Und ich vermisse dich …
Die nächsten Tage würden sie in ihrem alten Häuschen bei den Wiesen an der Landstraße nach Ringkøbing wohnen, um nah bei den Hochländern zu sein. Sofie hatte allerlei Vorräte hinausgeschafft, dazu Bettzeug und Kleidung, die Zinkwanne für ihr Waschwasser, Holz und Kohle zum Beheizen der offenen Feuerstelle in der Spülküche und zum Schluss noch den großen Kessel, der nun recht wacklig auf dem Dreibein in der Feuerstelle stand. Die Schwiegermutter und Tilda hatten ihr geholfen, die Stube zu säubern und die Chaiselongue aus der Gartenlaube in die Kate hinüberzutragen; so mussten James und sie nicht in dem unbequemen Alkoven in der Stube schlafen. Der Schwiegervater hatte nicht nur die Zollformalitäten geregelt und die Lastwagen angemietet. Er hatte sich auch hingebungsvoll um den Stacheldrahtzaun, das Gatter und den Brunnen für die Trinkstelle gekümmert, als wären die Hochländer seine eigenen Tiere. Vielleicht wollte er gutmachen, dass er James letztes Jahr wegen seiner Zuchtpläne noch einen Kindskopf geschimpft hatte?
Sie stellte die letzte Kanne in den Korb und legte die Brotdosen für ihren Imbiss am Hafen dazu. Dann setzte sie sich neben Tilda an den Küchentisch.
»Danke«, sagte sie mit Tränen in den Augen, »lieben Dank euch allen. Ich bin so froh über eure Hilfe, auch für James.«
»Na, na«, erwiderte Theo gerührt, »wir freuen uns doch genauso wie ihr auf die Hochländer.«
»Ja, wirklich, Sofie«, nahm Tilda das Wort, »die Aufregung um James’ Reise hat wenigstens mal Abwechslung in die ewige Langeweile auf Julsgård gebracht.«
Freja schüttelte unwillig den Kopf: »Übertreib nicht so, Tilda!« Sie wandte den Blick zu Sofie. Wie blass sie ausschaute! Und diese feinen Schatten unter ihren Augen … Sicher hatte sie die letzten Tage über ihre Kräfte gearbeitet. Und natürlich vermisste sie James schmerzlich. Freja lächelte in sich hinein. Oder war am Ende noch was ganz anderes mit ihrer Schwiegertochter?
»Jetzt frühstücke erst mal ordentlich«, sagte sie fürsorglich.
»Bitte nicht«, wehrte Sofie hastig ab. »Ich mag nichts essen.«
»Na, aber doch eine Kleinigkeit. Vielleicht ein Marmeladenbrot?«, fragte Freja aufmunternd und bestrich eine Scheibe Weißbrot mit Butter und Himbeermarmelade für sie, schön gleichmäßig und nicht zu dick.
Die Tür ging auf und Mette Steensen kam herein, gefolgt von Kathrine Söderblom.
»Ah, nun sind wir komplett«, sagte Theo vergnügt.
Den Steensens gehörte Norbys Krug, den sie gemeinsam bewirtschafteten. Heute hatte sich Mette von ihrer Arbeit in der Gaststube freigenommen, um auf Julsgård einzuhüten. Kathrine wollte mit nach Esbjerg fahren, um ihren Mann und ihren Bruder vom Schiff abzuholen.
Als die beiden Frauen näher zum Tisch traten, hob Tapper nur kurz den Kopf über den Rand seines Körbchens. Dafür drängte Melusine umso heftiger von Tildas Schoß und jagte begeistert um Mettes und Kathrines Beine. Tilda holte die Küchenhocker für die Gäste und Freja füllte ihnen die Tassen.
Theo blinzelte Kathrine zu. »Wie geht’s denn mit dem Umbau eures Hotels voran?«
Kathrine lächelte. »Gut. Trotzdem ich bin froh, dass Axel und Christian heute zurückkommen. Bis zur Eröffnung ist noch einiges zu tun. Und bis zum Eröffnungsfest sind es ja nur noch zwei Wochen.« Sie nippte an ihrem Kaffee.
Das Gespräch am Tisch wandte sich dem Wetter zu. Zwar war es ein bisschen frisch für die Jahreszeit, aber dafür hatten die Männer Glück mit der Überfahrt. Gott sei Dank war die See die Reise über ruhig geblieben!
Sofie beteiligte sich nicht an der fröhlichen Unterhaltung. Sie saß still vor ihrem Marmeladenbrot und kämpfte wieder einmal gegen die Müdigkeit, die sie in letzter Zeit so plagte.
Anders als Sofie hatten Helle Møller und Søren Lauridsen ihr Frühstück im Wintergarten der møllerschen Villa voller Appetit verzehrt. Sie waren heute früh mit dem Nachtboot von Bornholm gekommen, wo sie das letzte halbe Jahr lang gelebt hatten. Nach seiner aufgelösten Verlobung mit Sofie hatte Søren eine Lehrerstelle in Rønne angenommen. Und Helle war mit ihm mitgereist, um dem Freund und Kameraden auf der verschlafenen Insel im Nirgendwo, wie sie Bornholm nannte, in seinem Liebeskummer beizustehen.
»Gut, dass du deine alte Stubenwohnung in Nørrebro wieder beziehen kannst«, bemerkte Helle und lehnte sich im Korbsofa zurück. »Oh, und denk dran, auf dem Heimweg fürs Abendessen einzukaufen, Darling.«
Søren lächelte. »Mach dir meinetwegen keine Gedanken, Butzelchen. Nach diesem großzügigen Frühstück brauche ich erst mal nichts weiter.« Er deutete eine Verneigung gegen Helles Mutter an, die ihnen gegenübersaß und ihre Kaffeetasse im Schoß balancierte.
Helle legte den Kopf schief. »Du wirst dich wundern, wie schnell du wieder hungrig sein wirst«, widersprach sie. »Also, kauf’ dir wenigstens ein Brot und etwas Milch. Und Kaffee natürlich.«
Sie betragen sich so vertraut wie ein altes Ehepaar, dachte Eveline Møller, die das trauliche Bild über ihr Pincenez hinweg betrachtete. Besonders Helle schien völlig ungeniert. Sie saß lässig an Hr. Lauridsens Schulter gelehnt und stützte den Kopf gegen die Rückenlehne des Sofas. Eben hatte er ihr Feuer gegeben und zündete sich nun selbst eine Zigarette aus dem marmornen Kästchen auf dem Beistelltisch an.
Was sollte hier in Kopenhagen aus dieser seltsamen Freundschaft werden? Darling. Butzelchen … Eveline runzelte die Stirn. Die beiden waren doch nur Freunde? Kusine Lisbet hatte in ihren Briefen jedenfalls nichts Gegenteiliges berichtet. Stattdessen hatte sie von den einnehmenden Manieren des jungen Mathematiklehrers mit den hübschen, brünetten Locken und den haselnussbraunen Augen geschwärmt, der Helle und ihr bei seinen Besuchen in ihrem stillen Haus stets so eine reizende Gesellschaft war. Er übte sogar Nachsicht, wenn die liebe Helle in ihrem Eifer die Regeln beim Kartenspiel gelegentlich zu eigenwillig deutete. Bei der Erinnerung an diese Worte musste Eveline lächeln. Offenbar hatte sich die weltfremde alte Dame nie gefragt, ob Hr. Lauridsens Nachsicht mit Helles Schummeleien nur von seiner Großherzigkeit herrührte oder eher auf zartere Gefühle schließen ließ. Aber natürlich musste diese Frage um Helles willen gestellt werden. Vor allem aber wäre zu fragen, wie ihre Tochter zu Hr. Lauridsen stand. Zwar hatte Helle sich ihr nie anvertraut, doch Eveline meinte, dass sie schon früher ein kleines Tendre für Sofies ehemaligen Verlobten gehabt hatte. Immerhin waren Helle und Sofie beste Freundinnen. Da könnte es Anstoß erregen und Helles Ruf schaden, wenn sie ihn nun, ein knappes halbes Jahr nach seiner Entlobung mit Sofie, zu mehr als einer freundschaftlichen Verbindung ermuntern würde. Auch wäre es im Hinblick aufs Geschäft völlig unpassend, würde Helles Vater überdies sagen. Behutsam stellte Eveline ihre Tasse auf den Korbtisch.
»Ich hoffe, es hat geschmeckt«, sagte sie und erhob sich. »Sie werden mich entschuldigen, Hr. Lauridsen. Frøken Janne braucht mich für den Einkaufszettel. Vater kommt heute sehr pünktlich zum Mittagessen, Helle«, setzte sie auf dem Weg zur Tür hinzu. »Deinetwegen.«
»Schon gut«, erwiderte Helle, »ich laufe nicht weg, Mutter.«
Eveline nickte. So kannte sie ihre Tochter. Munter, sorglos und eine Spur zu forsch. Diese Helle gefiel ihr besser als die junge Frau, die heute Morgen Hr. Lauridsen in der Havnegade vor der Frem besorgt den Schal zurechtgezupft hatte und sich jetzt um sein Wohlergehen bekümmerte. Nun, wenn Helle erst einmal ihr gewohntes Leben wieder aufnahm, würde sie hoffentlich bald die Alte sein.
»Ich wünsche einen guten Tag«, sagte sie und öffnete die Tür zum Korridor. »Pünktlich um zwölf, Helle. Vater bringt jemanden mit. Also lass uns bitte nicht warten.« Sie trat in den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Hoffentlich nicht einen der vielversprechenden jungen Männer, die der Vater ihr gern als möglichen Schwiegersohn an die Seite setzte, dachte Helle. Sie drückte ihre Zigarette aus und sah Søren an, der ihren Blick erwiderte. Oh, wie sie es mochte, wenn sein Lächeln sein ganzes Gesicht erhellte und seine Augen goldbraun schimmerten. Er schaute sie bald so liebevoll an wie früher Sofie. Nur waren sie beide nicht Liebende, sondern Freunde. Und deshalb nannte Helle Søren unverfänglich Darling, obwohl sie viel lieber Liebling zu ihm sagen würde …
»Ich sollte wohl bald gehen«, sagte Søren lustlos.
»Nicht meinetwegen, Darling«, erwiderte Helle und lehnte sich wieder an ihn, »bis zum Mittagessen ist es noch lange hin. Lass uns lieber überlegen, was wir am Sonntag unternehmen wollen. Bummeln gehen? Am Gefionbrunnen stehen? An den Seen entlangspazieren? Die Hirschsprungsche Sammlung besuchen?« Lächelnd zählte sie alle Vergnügungen auf, denen sie bei ihren Strandspaziergängen auf Bornholm nachgetrauert hatten.
Søren seufzte und griff nach dem Aschenbecher, um seine Zigarette neben ihrer auszudrücken. »Am liebsten alles auf einmal. Aber als guter Sohn werde ich zu meinem alten Herrn nach Dragør hinüberfahren und mich bei ihm zurückmelden.«
Seine Stimme klang bitter. Zwischen dem alten und dem jungen Lauridsen stand es nicht zum Besten. Der Alte hatte seinem Sohn nicht verziehen, dass er lieber Lehrer sein wollte, statt der Familientradition zu folgen und wie der Vater Lotse auf dem Øresund zu werden. Søren wiederum konnte seinem Vater die Härte nicht vergeben, mit der er ihn erzogen hatte, nachdem er die Mutter aus dem Haus getrieben hatte – Gott weiß, wohin.
Helle nickte mitfühlend. »Ich könnte doch mitkommen und im Strandhotel auf dich warten«, schlug sie vor. »Und nach deinem Besuch bummeln wir zum Hafen hinunter und schauen ein bisschen über den Sund.«
Søren lächelte. »Das wäre schön. Nur würde mein alter Herr alles ganz falsch verstehen. Ich komme mit einer jungen Frau nach Dragør hinüber und stelle sie ihm nicht vor? Das kann für ihn nur eins bedeuten … Und glaub’ nicht, dass er deinen Besuch nicht bemerken würde. Man würde ihm schnell genug von dir erzählen.«
Helle setzte sich aufrecht hin. »Es ist mir egal, was dein Vater von mir denkt«, erwiderte sie kämpferisch.
Sørens Lächeln vertiefte sich. »Aber mir nicht. Und da ich ihn nicht daran hindern kann, schlecht von dir zu denken, bleibst du besser hier.«
Helle fuhr sich mit einem Seufzer durch ihre kurzen, blonden Haare. »Dann sehen wir uns wohl nicht am S…Sonntag?« Wenn Helle traurig oder sehr bewegt war, zog sie beim Sprechen gern den Anlaut ein wenig in die Länge. Allerdings erlaubte sie sich diese Eigenart nur bei Menschen, die sie mochte und denen sie vertraute.
Søren verstand und nahm ihre Hand. »Nein. Tut mir leid.«
»M … macht doch nichts«, erwiderte Helle betont lässig, »es kommen ja noch viele Sonntage, nicht?« Sie ließ sich wieder gegen die Sofalehne sinken. »Soll Frøken Janne noch mal Rührei für dich machen? Mit eingelegten Pilzen?«
Aber Søren ließ sich nicht verlocken. »Lass gut sein, Helle. Einmal muss ich ja doch los.«
»Dann sollten wir jetzt wohl das Abschiednehmen hinter uns bringen.« Helle achtete sorgfältig auf ihre Aussprache. Søren bemerkte auch das und drückte ihre Hand.
»Ich hab’ gehofft, du bringst mich noch zur Straßenbahn«, sagte er aufmunternd. »Wie sieht es übrigens mit deinem Samstagnachmittag aus?«
»Gut!«, entgegnete Helle wieder fröhlich.
»Dann sehen wir uns also am Samstag? Wir könnten in die Hirschsprungsche Sammlung gehen.«
»Abgemacht.« Søren stand auf. »Wo hat Frøken Janne eigentlich meinen Rucksack hingestellt?«
***
Freja stellte ihre leere Kaffeetasse auf die Kühlerhaube des Tageswagens, den Tor Torsten, ihr Wagenmann, bei der Auffahrt zum Kai geparkt hatte. Plötzlich nervös, hatte Theo nach dem Frühstück ungeduldig zum Aufbruch gedrängt. Er wollte nochmals mit dem Zollinspektor sprechen und lieber rechtzeitig am Hafen sein, falls die Lastwagen vor der ausgemachten Zeit ankommen würden. Jetzt waren sie viel zu früh dran.
Sie wandte sich um und schaute zu den Rindern, die von der Hafenbahn zu den Exportställen hinter ihr gebracht wurden. Nicht alle ließen sich gutwillig führen. Was es wohl erst geben würde, wenn die wilden Hochländer vom Schiff heruntersollten? Sie lächelte. Nun, Theo und James würden das Entladen schon gemeinsam zurechtbringen. Ach, es war solch eine Freude, zu sehen, wie gut Vater und Sohn nach den vielen Reibereien der letzten Jahre jetzt miteinander auskamen!
Sie drehte sich zu Sofie, die neben ihr am Wagen lehnte, auf die See hinausblickte und dabei fröstelnd die Schultern zusammenzog.
»Geht es dir gut?«, fragte sie besorgt. »Wir könnten uns auch in den Wagen setzen, da hätten wir’s wärmer.«
Sofie winkte ab. »Es ist nur die Aufregung. Und ich bin neuerdings oft müde.«
Freja nickte. »So ging es mir mit James und Tilda auch.«
Ein kleines Lächeln umzog Sofies Mund. »Behalt’ die Neuigkeit noch für dich«, bat sie, »ich will mir erst ganz sicher sein.«
»Bestimmt«, versprach Freja. Sie legte die Hand an Sofies Arm. »Diese Müdigkeit geht übrigens schnell vorüber. Vielleicht hast du sie bis zum Eröffnungsfest des Strandhotels schon überstanden.«
»Das wäre schön. Sie ist mir nämlich sehr lästig, gerade jetzt, wo James mich doch so braucht.«
»Und du ihn«, entgegnete Freja bestimmt. »James wird sicher nicht wollen, dass du dir zu viel zumutest.«
»Nein«, seufzte Sofie. James vergaß gern, dass sie kräftiger war, als ihre zarte Figur vermuten ließ.
Theo kehrte mit Tilda vom Zollamt zurück. »Inspektor Thomsen kommt nachher persönlich ans Schiff. Er möchte gern selbst nach den Tieren und den Zollpapieren sehen«, sagte er zufrieden und nahm Freja um die Taille.
Sie drückte ihn an sich. »Was wären wir ohne dich, mein Lieber.«
»Meine alte Bekanntschaft mit Thomsen macht eben manches möglich«, erwiderte Theo leichthin. »Außerdem hat der Tierarzt in Grimsby schon per Telegramm bestätigt, dass die Tiere gesund an Bord gegangen sind. Deshalb ist Thomsen auch einverstanden, dass wir sie gleich mitnehmen, wenn ich hier noch mal nach ihnen gesehen habe.«
Sofie lächelte ihn an. »Ach, Schwiegervater, James und ich können dir gar nicht genug danken.«
Theo schüttelte den Kopf. »Thomsen erlässt euren Rindern die Quarantäne nur, weil James die Zollformalitäten in England so sorgfältig erledigt hat. Also, lob’ lieber deinen Mann, Sofie.«
Sie strahlte. »Das werde ich bestimmt!«
»Und jetzt komm mit«, verlangte Tilda. Sie fasste Sofie am Ärmel. »Vorn an der Kaikante ist die Aussicht doch viel besser als hier.«
***
In sich gekehrt blickte Søren auf die Fassaden der Mietshäuser, während die Straßenbahn den Blegdamsvej entlangratterte. Wie gern Helle und er einander doch mochten! Als sie sich vor dem Wartepavillon auf Trianglen zum Abschied umarmt hatten, war sie genauso betrübt gewesen wie er. Aber sie hatten sich beide zusammengenommen, um den anderen nicht mit der eigenen Traurigkeit zu bekümmern.
Ach, er vermisste ihr gemeinsames Leben auf Bornholm jetzt schon. Wehmütig dachte er an die gemütlichen Abende in Kusine Lisbets guter Stube mit ihren Plaudereien über den letzten Schulklatsch und die Neuigkeiten aus Kopenhagen. Auch die Badmintonspiele in Kusine Lisbets Garten waren Helle und ihm schnell zu einer lieben Gewohnheit geworden. Er lächelte bei der Erinnerung an ihr Weihnachtsmatch in Wintermänteln und Handschuhen. Helle hatte ihm eifrig die Federbälle abgejagt und er hatte ebenso eifrig ihre Aufschläge pariert, während es langsam anfing zu schneien. Seitdem nannte er sie »Butzelchen«, weil sie ihm mit ihren strahlend grünen Augen und den geröteten Wangen wie ein Winterkobold vorgekommen war; ein rechter Butz.
Søren nahm seinen Rucksack auf und schob sich zwischen den Fahrgästen im Gang zum Ausstieg des Straßenbahnwagens vor. Auf ihren langen Strandspaziergängen hatten Helle und er allmählich begonnen, sich einander anzuvertrauen. Endlich konnte er darüber reden, wie sehr er als Junge die Mutter entbehrt hatte. Und Helle hatte ihn zum ersten Mal die kleinen Schleifer in ihren Anlauten hören lassen, als sie von ihrer Furcht vor der Ehe und dem eintönigen Leben als Hausfrau sprach, das ihr wie eine Falle vorkam.
Die Straßenbahn hielt. Søren sprang behände vom Trittbrett auf das Pflaster des Sankt Hans Torv hinab. Es hätte mit ihrem guten Leben auf Bornholm immer so weitergehen können, wenn ihm nicht seine Lehrerkollegen zugesetzt hätten. Sie hatten von ihm verlangt, dass er im Klassenzimmer härter durchgreifen solle. Obwohl er es für falsch hielt, wurde er gegen die eigene Überzeugung ungeduldiger mit seinen Schülern. Er schämte sich, weil er fast so streng und fordernd auftrat wie sein Vater. Aber Helle hatte nur den Kopf über seine Gewissensbisse geschüttelt und darauf bestanden, dass sie nach Kopenhagen zurückkehrten. An seiner alten Schule würde es ihm besser gehen. »In Frøken Rasmussens Lehrinstitut für junge Damen wird die Mathematik nicht so ernst genommen«, hatte sie gesagt. »Und die Lehrer auch nicht.«
Søren schmunzelte. Helle kannte sich mittlerweile bald besser mit ihm aus als er selbst. Und sie hatte eine sehr treffende, heilsame Art, die Dinge beim Namen zu nennen.
Er schritt zügig über den Platz. Gleich war er zu Hause. Am Rand des Sankt Hans Torv blieb er für einen Augenblick stehen, um die Schultern unter der drückenden Last seines Rucksacks zu dehnen. Nur von einem wusste Helle nicht und sollte es auch nicht wissen, dachte er. Dass er sie begehrte. Sehr. Und auch liebte? Vielleicht …
Nachdenklich umfasste er die Tragegurte seines Rucksacks und ging weiter. Liebe war so ein großes Gefühl, mit dem man nicht leichtfertig umgehen durfte. Und hatte er nicht vor einem halben Jahr noch geschworen, niemals jemand anderen zu lieben als Sofie? Außerdem war Helles Herz vergeben. An wen, behielt sie allerdings für sich. Søren wusste nur, dass der von fern Geliebte nichts von Helles Zuneigung ahnte. Nun, er würde bestimmt nicht an ihre besondere Freundschaft rühren, indem er Helle mit seinen Gefühlen plagte.
Er bog in die Ahornsgade ein und legte rasch die paar Schritte zu seiner Haustür zurück. Vor den Eingangsstufen blieb er stehen, um den Geruch der Straße einzuatmen. Es roch wie immer, dachte er lächelnd, nach Erbsensuppe, Staub und Bratkartoffeln. Die Bäume auf dem kleinen Vorplatz gegenüber hatten ihre hellen, grünen Blätter schon ganz entfaltet. Nun freute er sich doch ein wenig, nach Hause zu kommen.
Die alte Fru Johanesen lehnte sich aus einem der unteren Fenster, seinen Wohnungsschlüssel in der Hand. »Hab’ schon ä’ dich gewä’ded!«, begrüßte sie ihn fröhlich.
Sørens Lächeln vertiefte sich, als er ihren Nørrebroer Zungenschlag hörte. Jetzt war er wirklich daheim.
Schon erstaunlich, wie viele Jazzfreunde es hier draußen gab, dachte Kathrine. Tor Torsten war auch einer. Er hatte sich von ihr gerade den Weg zur Jazzkneipe in der Stormgade zeigen lassen, über die sie auf der Fahrt nach Esbjerg gesprochen hatten.
»Dein Mann und du, ihr kommt wohl oft her?«, fragte Tor auf dem Rückweg zu den Exportställen.
Kathrine schüttelte den Kopf. »Der Ausbau unseres Hotels lässt uns kaum Zeit für anderes. Und bei unseren letzten Besuchen haben wir mehr mit den Sängern verhandelt als getanzt. Wir wollten unbedingt Teddy Baker für einen Auftritt gewinnen.«
Tor schmunzelte. »Ihr traut euch ja was.«
Kathrine lächelte auch. »Und wir hatten Glück. Er wird bei unserer Hoteleröffnung singen.«
Der Vertrag mit dem bekannten Sänger war ihre erste Willkommensüberraschung für Axel und Christian. Die zweite war die große Pfanne mit Biksemad auf dem Komfur. Ach, es war höchste Zeit, dass die beiden heimkamen. Zu dritt lebten sie so gut zusammen. Axel und Christian hatten einander wie Brüder angenommen.
Tor nickte anerkennend. »Man hört ja die tollsten Geschichten über Teddys Auftritte«, sagte er. Dann wies er zum Kai hinüber. »Die Lastwagen sind angekommen. Besser, ich spute mich.«
Sie eilten zum Stallgelände. Tor ließ Kathrine höflich den Vortritt am Einlass und schritt dann rasch auf die kleine Gruppe der Wagenmänner zu, die sich um Theo versammelt hatten.
Am Tageswagen stellte Freja Kaffee und Brote für die Männer bereit. Kathrine gesellte sich zu ihr. »Kann ich dir was helfen?«, fragte sie.
Freja winkte ab und deutete auf eine der Wärmekannen: »Nimm dir lieber einen Schluck warmen Kaffee! Wer weiß, wie lange wir hier noch stehen müssen.«
Tilda drehte sich zu ihnen um und rief: »Kommt her, ich seh’ was!«
Ihr Vater unterbrach seine Ansprache an die Männer und trat zu ihnen. Tatsächlich, südlich von Fanø kam ein kleines schwarzes Dampfschiff auf. Theo legte einen Arm um Freja, den anderen um Tilda. »Ja, das könnten sie sein«, sagte er und schickte Tor Torsten nach dem Inspektor.
Auch Sofie und Kathrine umarmten einander. Beide zitterten. Langsam war der Namenszug der Alexandrine am Bug zu erkennen.
»Jetzt dauert’s nicht mehr lange«, sagte Sofie.
»Nein«, erwiderte Kathrine und begann vor Freude und Sehnsucht zu schluchzen.
Die Alexandrine ging längsseits und wurde vertäut. Bald war auch die Gangway ausgebracht und die vier Frauen an der Kaikante warteten immer ungeduldiger darauf, dass sich endlich einer ihrer Heimkehrer an der Luke zeigte.
Theo stellte sich an die Zugangsbrücke, um die Tiere gleich zu untersuchen, wenn sie vom Schiff kamen. Während Inspektor Thomsen sich zu ihm gesellte, erschien als Erster ein Matrose in der Lukenöffnung und winkte der Gesellschaft am Kai lässig zur Begrüßung. Theo schmunzelte, als Freja höflich zurückwinkte. Tilda dagegen seufzte nur enttäuscht auf und Sofie und Kathrine umklammerten einander noch fester.
Endlich brachte Christian Pedersen das erste Rind die Brücke herab. Kathrine schaute mit Tränen in den Augen zu, wie der Bruder die kleine schwarze Kuh geduldig über die hölzernen Streben der Gangway führte.
Theo näherte sich ihr vorsichtig. Die Kleine machte einen munteren Eindruck und schien die Fahrt gut überstanden zu haben. Behutsam legte er eine Hand an das Fell über ihrem Hals, um ihre Temperatur zu prüfen. Er sah nach Maul und Klauen und schaute danach kurz auf Augen und Nase, derweil Inspektor Thomsen die Papiere prüfte. Die Frauen beobachteten die Männer in gespanntem Schweigen.
»In Ordnung«, sagte der Inspektor endlich.
»Gesund!«, ergänzte Theo und winkte Christian, seinen Weg zu den Lastwagen fortzusetzen, wo die Wagenmänner fürs Aufladen bereitstanden.
Christian nickte den Frauen im Vorübergehen grüßend zu. Er sah Kathrines Tränen und sagte tröstend: »Axel ist gleich bei dir.«
»Ich hab’ euch beide vermisst«, erwiderte Kathrine dem Bruder lächelnd und wischte sich über die nassen Wangen.
»Wir dich auch, Nana.«
Tilda blickte Christian nach. Mit seinem blonden Bart sah er wie ein richtiger Seemann aus, ganz anders als der Christian, den sie sonst kannte. Und sie mochte es, dass seine Augen lächelten, wenn er Kathrine ansah. Es wäre schön, wenn er sie auch so anschauen würde, dachte sie und beschloss, es mit dem Verlieben zu probieren.
Die andere, rotbraune Kuh war größer und ängstlicher als die erste. Axel brachte sie nur mit Hilfe des Matrosen die Gangway herunter. Sie folgte nicht gern und die Männer hatten große Mühe, sie nach der Untersuchung zum Wagen zu führen.
Erschöpft und verschwitzt kam Axel endlich zu Kathrine. »Ein Bauer wird aus mir bestimmt nicht mehr«, sagte er und ließ sich von ihr in die Arme nehmen.
»Entschuldige meinen Aufzug, Liebling, ich hätte mich gern noch für dich frisch gemacht.«
Sie strich liebkosend über seine unrasierten Wangen. »Keine Sorge, ich nehme dich auch so zurück. Konntest du unterwegs denn ab und zu etwas zeichnen?«
»Oh, mein Skizzenbuch ist gut gefüllt. In Schottland geht einem als Maler das Herz auf«, erwiderte er lächelnd und hielt Kathrine fest an sich gedrückt.
James brachte den Stier von Bord. »Jamsie, mein Schatz! Endlich bist du da!« Sofie wollte James nicht ablenken und flüsterte ihre Willkommensworte nur, obwohl sie ihre Sehnsucht nach ihm am liebsten laut herausgerufen hätte.
Sie richtete ihren Blick auf den Stier. Mit klopfendem Herzen betrachtete sie die gedrungene Gestalt des rotbraunen Tiers und die ausladenden, geschwungenen Hörner über seinem mächtigen Schädel. Wahrhaftig, jeder Zoll ein König! Und wie ruhig er sich am Halfter die Gangway herabführen ließ! Als ob er wusste, dass er seine Kraft nicht beweisen musste. So hatte James sich diesen Augenblick erträumt, als sie an ihrem Verlobungsfest zum ersten Mal auf dem Sofa in seiner Stube gesessen und die Abbildungen der Hochländer in seinem Buch betrachtet hatten. Und jetzt sah er genauso glücklich aus, wie sie es sich für ihn gewünscht hatte. Er brachte den Stier zu seinem Vater und schaute strahlend zu Sofie hinüber. Sie lächelten sich zu. Nein, sie brauchten keine Worte, um einander zu sagen, dass sie sich liebten.
Als die Tiere aufgeladen waren, kamen die Männer zu Freja an den Tageswagen, um sich zu stärken. Auch Christian ließ sich das üppig belegte Butterbrot zum heißen Kaffee gut schmecken.
Tilda gesellte sich zu ihm. »Du hast dir ja einen Bart wachsen lassen«, sagte sie.
Er zuckte lächelnd die Achseln. »Es war das Einfachste, weißt du.«
Tilda nickte. »Ich … ich mag es leiden«, erwiderte sie und wirkte plötzlich befangen.
Er fuhr sich mit dem Daumen übers Kinn. »So? – Na, vielleicht lass ich ihn stehen, was meinst du?«
Sie nickte wieder. »Ich könnte die Tage ja mal vorbeikommen und du erzählst mir von Schottland.«
»Sicher«, antwortete Christian, erstaunt darüber, dass sie extra anfragte. Tilda kam doch sonst auch zu ihnen herüber, wie es ihr gerade einfiel.
Nun drängte James wegen der Tiere zum Aufbruch. Tilda streckte erst die Arme nach Christian aus und bot ihm dann die Hand.
»Bis bald«, sagte sie errötend.
Er sah sie einmal mehr verwundert an, bevor er ihre Hand ergriff.
Axel nahm ihn beim Arm und sagte fröhlich: »Kathrine hat Biksemad mit Roten Beten für uns gemacht. Ist sie nicht die Beste?«
***
Frøken Janne hatte als Willkommensgruß Helles Lieblingsessen serviert: Hähnchenragout im Reisrand. Der Tisch war mit dem goldgeränderten Geschirr auf dem gestärkten Leinentuch festlich eingedeckt und der Vater hatte zur Feier des Tages sogar seinen guten Riesling spendiert. Nur war Helle nicht feierlich zumute. Sie hatte das zarte Fleisch in der feinen Sauce kaum angerührt und auch am Wein nur eben genippt, und lächelte entschuldigend, als Frøken Janne ihren Teller mit erhobenen Brauen fortnahm.
Ihr Vater lobte die Hauswirtschafterin überschwänglich: »Da ist Ihnen wieder mal ganz was Schönes gelungen, Frøken Janne. Die Sauce ist fast zu gut für ein bescheidenes Mittagessen an einem gewöhnlichen Mittwoch, würde ich meinen.«
Helle seufzte in sich hinein. Die gute Laune ihres Väterchens war nicht nur seiner Freude über ihre Rückkehr geschuldet. Er ließ es sich nicht nehmen, vor Bertel Bertelsen, seinem ersten Buchhalter, den aufgeräumten Hausherrn zu geben. Helle blickte zu dem jungen Mann, der in strammer Haltung und mit geröteten Wangen neben ihr am Tisch saß. Während des Hauptgangs hatte er die kleine Tischgesellschaft erst mit seinen Ausführungen zum Geldgesetz und der unerwartet raschen Aufwertung der Krone unterhalten, um danach, unterstützt von Helles Vater, die Diskontierungsgrundsätze der Frachtreederei Møller darzulegen. Glücklicherweise waren beide Männer damit zufrieden gewesen, als Einzige zu reden, sodass Helle sich auf ihr Gesellschaftslächeln und ein gelegentliches Nicken zurückziehen konnte.
Frøken Janne stellte die Teller auf den Servierwagen und wandte sich zu Helles Mutter: »Der Nachtisch, wenn’s beliebt, Frue?«
»Bitte.« Eveline Møller nickte. »Und den Kaffee gleich danach im Wintergarten. Ihr werdet ja doch bald ins Geschäft zurückwollen«, sagte sie zu ihrem Mann.
»Eile mit Weile, Eveline«, erwiderte Hans Sofus jovial und strich sich behaglich über den Bauch. »Hr. Bertelsen soll uns doch nicht für ungastlich halten.« Er zwinkerte dem jungen Mann zu, der noch ein wenig mehr errötete und eilig seinen Löffel in das Schälchen mit Schokoladenpudding tauchte, das Frøken Janne gerade vor ihn hingestellt hatte.
Helle kostete ebenfalls von ihrer Schokoladenspeise. Unwillig lauschte sie Hr. Bertelsens Ausführungen über den Niedergang der Exportrate für Butter. Wie man ein solches Vergnügen daran haben konnte, so viele Zahlen herzusagen, dachte sie. Søren würde es sich niemals einfallen lassen, sie dermaßen zu langweilen. Dazu war er viel zu rücksichtsvoll. Außerdem kannten sie beide kein schöneres Vergnügen, als sich gemeinsam an etwas zu freuen.
»Denken Sie nur, Frøken Møller, die Preise sind seit letztem Jahr im gewogenen Durchschnitt um zwanzig Øre das Kilo gefallen.« Bertel Bertelsen lehnte sich eifrig zu ihr herüber. »Rechnen Sie das mal auf eine Tonne hoch!«
Helles Kopf schmerzte noch vom Weinen über ihren Abschiedskummer. Der Verfall der Exportraten für Butter war ihr herzlich egal. Aber natürlich ging es nicht an, sich Hr. Bertelsen gegenüber unhöflich zu zeigen. »Das wären dann zweihundert Kronen, nicht?«, fragte sie freundlich. »Es ist nur eine Schätzung. Sie werden es sicher besser wissen, Hr. Bertelsen.«
»Aber gleich gar nicht, Frøken Møller. Zweihundert Kronen, in der Tat! Mit den Eierpreisen sieht es übrigens ähnlich aus. Ein Desaster. Wer will da noch unsere Frachtraten bezahlen? Wenn das so weitergeht …«
Ja, wie würde es weitergehen? Helle rückte ein wenig von Hr. Bertelsen weg. Auf Bornholm hatten Søren und sie in den Tag hineingelebt und waren glücklich miteinander gewesen. Da hatte sie nie weitergedacht als bis zum nächsten behaglichen Abend, wenn Søren an Kusine Lisbets Damensekretär die Hausaufgaben seiner Schüler korrigierte, während sie las oder Briefe schrieb. Ach, und unsere leidenschaftlichen Kartenpartien! Sie lächelte ein wenig. Søren mochte es so sehr, wenn sie ihn herausforderte. Und sie mochte es, dass er ihr nach einigen Vorhaltungen ihre kleinen Tricks vergab. Immer. Helle unterdrückte einen Seufzer. Wie würde sie ihre Strandspaziergänge vermissen, bei denen sie nach schön geformten Steinen oder Muscheln gesucht und sich voneinander erzählt hatten! Behutsam löste sie den Pudding vom Rand des Schälchens und schob ihn in der Mitte des Glasbodens zusammen. Sie hatte sich schon zu Søren hingezogen gefühlt, als er noch Sofies und ihr Mathematiklehrer gewesen war. Inzwischen war sie darin geübt, ihr Herz zu hüten, obwohl ihre Zuneigung zu ihm stärker war als ihre Vernunft. Nach ihrer gemeinsamen Zeit auf Bornholm liebte sie ihn noch mehr als vorher, während er nichtsahnend ihre besondere Freundschaft hochhielt. Eine feine Fußangel hatte sie sich da gelegt …
Bertel Bertelsens Stimme drang an ihr Ohr. »… vielleicht am Samstag?«
Helle legte ihren Löffel auf den Unterteller. »Wie bitte?«, fragte sie, schroffer als beabsichtigt.
»Ich würde Sie gern am Samstagnachmittag nach Kontorschluss zum Spazierengehen abholen«, wiederholte Hr. Bertelsen geduldig und schaute sie bittend an.
Helle sah seinen Blick und bekam Mitleid. Weiß der Himmel, was das Väterchen ihm ihretwegen versprochen hatte. Und Bertel Bertelsen wollte seine Chance natürlich bestmöglich nutzen.
»Tut mir leid«, erwiderte sie sanft, »dieser Samstag ist bereits vergeben.«
»Und der nächste Samstag?«
Sie lächelte höflich. »Ich kann noch nichts versprechen. Aber ich lasse Sie wissen, wie meine Pläne sind.«
Helle sah, wie sich die Blicke ihrer Eltern über den Tisch hinweg trafen. Sie musste nachher mit ihnen sprechen. Sonst würde die Suche nach einem passenden Ehemann für sie weitergehen, die doch zu nichts führen konnte außer dem immer gleichen Verdruss. Das Väterchen war bereits deutlich verstimmt, kniff die Lippen zusammen und betrachtete jetzt das Tischtuch, während Hr. Bertelsen merklich in sich zusammensackte.
Ihre Mutter läutete mit dem silbernen Glöckchen neben ihrem Teller nach Frøken Janne. Dann erhob sie sich. »Ich hoffe, es hat geschmeckt«, sagte sie, »wenn ich dann zum Kaffee nach nebenan bitten dürfte.«
James Jul schaute stolz und erleichtert auf die kleine Herde hinter dem Stacheldrahtzaun. Die anstrengende Reise von Schottland nach Norby hatte auf den Wiesen hinter ihrer Kate ein gutes Ende gefunden. Er war froh, dass er auf Christian und Axel zählen konnte. Auf der Überfahrt hatten sich die beiden damit vergnügt, den Kühen ihre Namen zu geben. Die schwarze sollte Runa heißen, die rotbraune Ragnhild, hatten sie ihm fröhlich verkündet.
Runa war ein echter Kyloe von den Hebriden. Sie hatte die Härten der Überfahrt besser überstanden als Ragnhild, der die beiden Tage in dem engen Verschlag auf der Alexandrine gar nicht gefallen hatten. Doch jetzt graste sie ruhig, wenn auch ein wenig abseits von ihren Gefährten. Gelegentlich hob sie den Kopf und schaute sich um, bevor sie gemächlich weiterfraß. James nickte billigend. Auch Ragnhild würde sich bald an ihr neues Zuhause gewöhnen.
Und der Stier? James sah zu dem kräftigen Hochländer hinüber und sein Herz ging auf. Ihn auf die Gangway herauszubringen, Sofies liebevollen Blick zu sehen und zu wissen, dass sie sein Glück mit ihm teilte, war der schönste Augenblick der ganzen Reise gewesen.
Lächelnd wandte er sich zu ihr und zog sie an sich. Sofie lehnte sich gegen ihn.
»Zufrieden?«, fragte sie und zeigte ihm ihr Lächeln mit den Grübchen.
Er strich ihr über die kupferroten Locken. »So zufrieden, wie man nur sein kann. Ich hab’ unsere Hochländer wohlbehalten nach Hause gebracht und ich bin wieder bei dir.«
Sofie legte ihm einen Arm um die Hüfte. »Komm ins Haus, sicher ist dein Waschwasser heiß.«
James ließ sich gerne von ihr in die kleine Stube ihrer Kate führen. Sofie hatte die Zinkwanne und eine Schale Seifenflocken auf den Tisch gestellt und ein Handtuch für ihn bereitgelegt. James schlüpfte aus Pullover und Hemd, während sie heißes Wasser aus dem Kessel in einen großen Krug auf der Sitzbank goss. Sie mischte kaltes Wasser dazu, das sie bereits von der Pumpe im Hof geholt hatte.
»So geht es, glaube ich«, sagte sie und benetzte seinen Handrücken mit einigen Wassertropfen.
»Sehr gut.« James beugte sich über die Wanne. »Nach Hause zu kommen ist doch das Schönste«, fuhr er fort und seufzte behaglich, während Sofie ihm vorsichtig das warme Wasser über Kopf und Oberkörper goss, »auch wenn wir gerade in Kopenhagen sein sollten.«
James hatte Sofie für das Frühjahr einen Besuch bei ihrer Mutter versprochen, nur war der Frühling eben auch die günstigste Zeit, um ihre Rinder gut über die Nordsee zu bringen. Deshalb hatten sie die Reise in die Hauptstadt verschoben.
Sofie stellte den Krug zur Seite, fasste ihn um und schmiegte sich gegen seinen Rücken. »Wir sind genau da, wo wir sein sollten. Hier.« Sie streichelte über seine Rippen. »Du hast abgenommen.«
»Stimmt!« Er schmunzelte. »Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich nach deinem Essen gesehnt habe. Ich war die Wirtshäuser so leid. Da kann einer sagen, was er will, eine gute Küche führen sie drüben nicht.«
Sofie lachte. »Ich füttere dich schon raus. Für den Anfang gibt es Graupensuppe mit Rauchfleisch und Würstchen zum Mittag. Außerdem hab’ ich Unmengen Reispudding für dich gemacht.«
Reispudding mit Kirschen … James lächelte bei dem Gedanken daran, wie sie ihm das erste Mal seine Leibspeise gekocht hatte. Er zog ihre Hände an seinen Mund und küsste sie. »Danke«, erwiderte er weich, »danke für alles, Sofie.«
Sie tupfte einen Kuss auf seinen Rücken. »Wofür? Ich will doch, dass du glücklich bist.«
Er strich über ihre Hände. »Eben dafür.«
Sofie füllte den Wasserkrug auf und James seifte sich die kastanienbraunen Locken ein.
»Warum hat unser Stier eigentlich noch keinen Namen?«, fragte sie. »Ist Christian und Axel nichts mehr eingefallen?«
James hatte den beiden gern die Freude gelassen, nach passenden Namen für ihre Kühe zu suchen. Für den Stier hatte er sich allerdings etwas anderes überlegt. »Ich würde ihn gern nach Vater nennen. Wenn du einverstanden bist?« Er sah Sofie fragend an.
Sie kam mit dem Krug zurück an den Tisch. »Aber ja! So können wir uns wenigstens anständig bei ihm bedanken. Er hat es mehr als verdient.«
James nickte. »Ohne seine Hilfe hätte ich unsere Hochländer nicht nach Hause holen können.«
»Und ich wäre ohne die Familie und unsere Freunde auch nicht zurechtgekommen«, erwiderte Sofie. Sie erzählte ihm, dass Mette Steensen zusammen mit Kathrine die Brombeerhecken vor den Wiesen ausgelichtet hatte. Und seinem Vater hatte Mette dabei geholfen, die neuen Zaunpfähle einzuschlagen.
»Aber es blieb trotzdem noch mehr als genug für dich zu tun, wie?«, fragte er mit einem Nicken zur Stube hin.
Sofie zuckte mit den Schultern. »Nicht der Rede wert«, entgegnete sie leichthin.
James blickte prüfend auf Sofies blasses Gesicht. Die Rundungen ihrer Wangenknochen traten deutlich hervor. Kein Wunder, dass sie nach der Schufterei der letzten beiden Wochen erschöpft war. Er hätte seine Eltern doch bitten sollen, auf Sofie zu achten, auch wenn es ihr natürlich nicht recht gewesen wäre.
»Vater hatte übrigens viele Anfragen für dich wegen der Fleischbeschau bei den Exportställen«, sagte Sofie in seine Gedanken hinein. Sie hob den Wasserkrug.