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William Shakespeare ist ein Phänomen: Alle kennen ihn, erstaunlich wenige wissen wirklich etwas über ihn. Diese Monographie sucht unter dem Schutt der Legenden nach dem Menschen Shakespeare - dem Kleinstädter, Schauspieler, Theaterunternehmer, dem vom Ehrgeiz getriebenen Stückeschreiber. Anhand einer thematisch gegliederten Darstellung des Werks wird zugleich der Frage nachgegangen, warum jede Generation den Dichter William Shakespeare als ihren Zeitgenossen neu zu entdecken vermag. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
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Seitenzahl: 223
Alan Posener
William Shakespeare
Ihr Verlagsname
William Shakespeare ist ein Phänomen: Alle kennen ihn, erstaunlich wenige wissen wirklich etwas über ihn. Diese Monographie sucht unter dem Schutt der Legenden nach dem Menschen Shakespeare – dem Kleinstädter, Schauspieler, Theaterunternehmer, dem vom Ehrgeiz getriebenen Stückeschreiber. Anhand einer thematisch gegliederten Darstellung des Werks wird zugleich der Frage nachgegangen, warum jede Generation den Dichter William Shakespeare als ihren Zeitgenossen neu zu entdecken vermag.
William Shakespeare stammt aus einer Kleinstadt; nur wenige Schritte von seinem Geburtshaus entfernt lagen Felder und Wiesen. Seine Großeltern, Onkel und Tanten waren Bauern. An Markttagen war Stratford erfüllt vom Blöken der Schafe, die auf den Hügeln der nahen Cotswolds weideten; auch an anderen Tagen prägten ländliche Gerüche und Geräusche die Stadt:
Ziegen, Schweine, Hühner, Hunde und Katzen gehörten zu jedem Haushalt wie der Misthaufen vor der Tür. Erst wenige Häuser hatten Schornsteine, und an kalten Tagen waren die Zimmer und Gassen vom Rauch der Kohle- und Holzfeuer erfüllt. In den hellen Sommernächten vergnügte sich die Jugend in den Wäldern der Umgebung; Liebespaare und unglücklich Verliebte zog es zum Fluss Avon. Als Shakespeare fünfzehn war, ertrank dort eine junge Frau namens Katharine Hamlet[1] – erinnerte sich der Dramatiker an sie, als er zwanzig Jahre später Ophelias Tod beschrieb?
Die Kleinstadt hat Shakespeare geprägt. Bilder aus der Landschaft seiner Kindheit und Jugend durchziehen das Werk: Wenn bunt Maßliebchen, Veilchen blau / Und Schneeglöckchen blüht silberweiß, / Wenn Kuckucksblumen rings die Au / Mit Gold bemalen rings im Kreis / […] / Wenn Lerchenschlag den Pflüger weckt, / Der frohe Schäfer flötet leicht, / Wenn Taube und Fink die Flügel reckt, / Das Mädchen ihren Kittel bleicht, / Von jedem Baum verspottet dann / Der Kuckuck jeden Ehemann: / Kucku! / […] / Wenn Eiszapfen beschweren die Wand, / Der Hirt sich auf die Nägel haucht, / Wenn Tom die Scheite schleppt zum Brand / Und Milch erst Zeit zum Auftaun braucht, / Wenn’s Blut uns stockt, der Weg verschneit, / […] / Wenn rund ums Haus der Sturmwind röhrt, / Wenn Vögel hocken dumm im Schnee, / Wenn Husten selbst die Predigt stört, / Und Marions rote Nas’ tut weh, / Und Obst liegt schon zum Punsch bereit, / Dann ist’s, dass nachts das Käuzchen schreit. / Komm mit! Schuhu tönt’s froh im Kreis, / Und Hanne macht den Kessel heiß.[2]
Es ist über Shakespeare schon so viel gesagt, dass es scheinen möchte, als wäre nichts mehr zu sagen übrig, und doch ist dies die Eigenschaft des Geistes, dass er den Geist ewig anregt.
Johann Wolfgang von Goethe, 1813
Das ist keine idyllische Beschreibung eines ländlichen Arkadien, keine Schäferlyrik, wie sie am Hof in Mode war. Der Hirt mit seinen kalten Fingern, die über Nacht gefrorene Milch, die hustende Gemeinde, die sich auf den warmen Punsch nach der Predigt freut, und Marions rote Nase sind aus der Erinnerung gezeichnete realistische Miniaturen, ebenso wie die Mädchen, die im Frühling ihre Kleider am Fluss bleichen – und die betrogenen Ehemänner. Marianne Hacket, die dicke Kneipenwirtin von Wincot (d.h. Wilmcote, wo Shakespeares Mutter geboren wurde), und Christoph Schlau, Sohn des alten Schlau von Burton auf der Heide (d.h. Barton-on-the-Heath, wo Shakespeares Tante lebte), von Geburt Hausierer, per Ausbildung Wollkammhersteller, kraft Transmutation Bärenführer und von Beruf jetzt Kesselflicker[3] aus Der Widerspenstigen Zähmung sind ebenso nach dem Leben skizzierte ländliche Typen wie der liebenswert-beschränkte Friedensrichter Schaal und sein Vetter Stille, die Rekruten Schimmelig, Schatte, Warze, Schwächlich und Bullenkalb in Heinrich IV., der Betrüger Autolycus und die Schäfergesellschaft im Wintermärchen und viele andere.
Dem kleinstädtischen Bürgertum hat Shakespeare nur einmal Hauptrollen in einem Stück gegeben: In der Komödie Die lustigen Weiber von Windsor schildert er Pfarrer, Arzt und Gastwirt, wohlhabende Bauern und Handwerker sowie ihre Frauen – seine Nachbarn, Freunde, Verwandten – mit einem klaren Blick für ihre Schwächen, doch mit Sympathie. Und die lebenslustigen, aber tugendhaften Ehefrauen tragen den Sieg über den anmaßenden Hauptstädter und verkrachten Höfling Falstaff davon.
In den Dramen sind Hof und Hauptstadt oft Orte der Intrige und des Verderbens, aus dem die Menschen aufs Land oder in den Wald fliehen – in Wie es euch gefällt etwa in den «Ardenner Wald», den Wald von Arden, in der Nähe Stratfords: Sind diese Wälder / Nicht sorgenfreier als der falsche Hof? / Wir fühlen hier die Buße Adams nur, / Der Jahrszeit Wechsel; so den eis’gen Zahn / Und böses Schelten von des Winters Sturm. / Doch wenn er beißt und auf den Leib mir bläst, / Bis ich vor Kälte schaudre, sag’ ich lächelnd: / «Dies ist nicht Schmeichelei; Ratgeber sind’s, / Die fühlbar mir bezeugen, wer ich bin.»[4]
Doch die Höflinge, die es aufs Land, in den Wald, auf eine einsame Insel verschlägt, kehren zum Happy End an den Hof zurück. Eben weil Shakespeare das Landleben kennt, kann er aus Stratford kein Arkadien, aus Arden keinen Garten Eden machen. Zur Buße Adams – und Evas – gehörte die schwere körperliche Arbeit auf dem Feld, in der Werkstatt, im Haushalt. Das Leben war kurz. Krankheit und Tod waren allgegenwärtig: Beide älteren Schwestern William Shakespeares starben noch als Kinder; in seinem Geburtsjahr (1564) raffte die Pest etwa ein Siebtel der Bevölkerung Stratfords hinweg; in den Jahren vor seinem Tod (1616) verhungerten die Kinder der Armen zu Dutzenden im Wald von Arden.
Arden war der Mädchenname von Shakespeares Mutter Mary. Die Familie Arden war alteingesessen und eine der vornehmsten in der Grafschaft Warwickshire; eine weit verzweigte, ländlich-konservative Sippe. In der Regel waren die Ardens katholisch. In William Shakespeares Jugendjahren war Henry Arden Hoher Sheriff von Warwickshire. Mary war eine entfernte Verwandte dieses hohen Beamten. Ob sie sich für etwas Besseres hielt als ihren Mann, den Weißgerber und Handschuhmacher John Shakespeare? Ihr Vater hatte Land in der Umgebung Stratfords besessen, und John Shakespeares Vater war sein Pächter gewesen.
John Shakespeares Lebenslauf ist zunächst eine typische Erfolgsgeschichte der elisabethanischen Zeit. Wie viele Zeitgenossen kehrt er der bäuerlichen Lebensweise seiner Vorfahren den Rücken, um in der Stadt sein Glück zu machen. Seine Geschäfte gehen gut, er spekuliert mit Wolle, Gerste und Bauholz, kauft Häuser und Grundstücke, wird in den Rat der Stadt gewählt und schließlich sogar Bürgermeister. Auf dem Höhepunkt seines Ansehens beantragt er bei der zuständigen Behörde in London die Anerkennung als «Gentleman» und die Erteilung eines Familienwappens (1576). Sein Sohn William, geboren zu Beginn eines «Baby-Booms», der zur Verdoppelung der Bevölkerung Englands innerhalb eines halben Jahrhunderts führen wird, ist zwölf.
Ein Jahr später bereits ist John Shakespeare in Schwierigkeiten. Er kann seine Schulden nicht bezahlen, verpfändet das Erbe seiner Frau, erscheint nicht zu den Sitzungen des Rats und wird 1591 in einer Liste von neun Männern aufgeführt, die beim gesetzlich vorgeschriebenen sonntäglichen Kirchenbesuch fehlen – «aus Angst vor Festnahme wegen Schulden», heißt es entschuldigend im Bericht an die Überwachungsbehörde des Erzbischofs von Canterbury.[5] Um diese Zeit erlebt sein ältester Sohn die ersten Bühnenerfolge. Bald kann William dazu beitragen, den wirtschaftlichen Niedergang der Familie aufzuhalten.
Über die Gründe für John Shakespeares Schwierigkeiten ist wenig bekannt. Möglicherweise fiel er der langjährigen politischen Fehde zwischen Henry Arden und dem mächtigen Robert Dudley zum Opfer. Dudley, Graf von Leicester und Favorit der Königin, war ein protestantischer Eiferer. 1583 gelang es ihm, dem verhassten Arden, der auf seinem Anwesen Park Hall einen katholischen Priester versteckt hielt, den er als Gärtner ausgab, die Planung eines Mordanschlags gegen Elisabeth zugunsten der katholischen Maria Stuart anzuhängen. Henry Arden wurde hingerichtet, sein Kopf zur Abschreckung über dem Brückentor der London Bridge aufgespießt, wo ihn William Shakespeare vielleicht noch gesehen hat. Neu entdeckte Dokumente zeigen, dass John Shakespeare bereits 1570 und 1572 dreimal vor Gericht zitiert wurde, weil er illegal mit Wolle gehandelt und Geld gegen Zinsen verliehen hatte. Die Anklage stützte sich in allen drei Fällen auf die Aussagen eines berufsmäßigen Denunzianten. Wurde John Shakespeare wegen seiner Verbindungen zu den Ardens wirtschaftlich ruiniert?[6]
Eine andere Theorie sieht in Hamlets Ausfall gegen das schwindelköpfige Zechen die Spur eines privaten Dramas: Doch meines Dünkens (bin ich eingeboren / Und drin erzogen schon) ist’s ein Gebrauch, / Wovon der Bruch mehr ehrt als die Befolgung.[7] In den örtlichen Legenden, die von den ersten Shakespeare-Biographen im 18. Jahrhundert aufgeschrieben wurden, spielten Williams Zechtouren eine nicht unbedeutende Rolle. Wurde der Sohn mit dem Vater verwechselt?
Man musste aber kein Alkoholiker sein, um finanziell ins Schlingern zu kommen. Die Bevölkerung wuchs schneller als die Wirtschaft; noch schneller wuchs die Armut (vor allem durch die Einhegung von Gemeindeland für die Schafzucht), stieg die Inflation (aufgrund des Zuflusses von Gold und Silber aus Südamerika nach Europa). Wer spekulierte, konnte sich leicht verrechnen.
Der tiefe Fall des Vaters muss auf den ältesten Sohn, der den Aufstieg stolz miterlebt hatte, einen starken Eindruck gemacht haben. In Timon von Athen heißt es: Und Armut, die, der Pest gleich, alle meiden, / Bleibt einsam wie die Schande.[8] Wahrscheinlich bildete der Ehrgeiz, diese Schande vom Familiennamen zu tilgen, einen starken Antrieb für William Shakespeares Karriere. Mit dem im Showgeschäft verdienten Geld wird er das zweitgrößte Haus in Stratford kaufen, Landbesitzer werden, das vom Vater nicht mehr verfolgte Verfahren zur Anerkennung als Angehöriger des niederen Adels erfolgreich abschließen können (1596). In einem Sonett spricht er davon, wie ein Vater, altersschwach, vergrämt, / Sich seines Kindes freut, wie’s wirkt und schafft[9]. In dem frühen Drama Heinrich VI. ruft der verwundete Talbot nach seinem Sohn: Dich, Tod, stolzierend mit Gefangenschaft, / Musst’ ich belächeln bei des Sohnes Kraft. / Als er mich sah, wie knieend ich erlegen, / Schwang über mir er seinen blut’gen Degen[10]. Das eindringliche Bild wird in Heinrich IV. wiederholt, als Prinz Hal seinen in der Schlacht gestürzten Vater beschirmt – Hal, der (wie Shakespeare?) seinem Vater Kummer gemacht hat, weil er sich in Londons Unterwelt herumtreibt, aber Schulden zahlen will, die ich nie versprach und die Zeit einbringen, eh’ die Leut’ es denken.[11]
Ob die Geburt des Bruders Gilbert (1566) im jungen William ein Gefühl des Zurückgesetztseins ausgelöst hat, eine tief sitzende Angst vor Liebesverlust und ein Kompensieren seiner Ängste und Aggressionen durch starke Identifikation mit dem Bruder und den nachfolgenden Geschwistern – Ursprung seiner Fähigkeit, sich in die Psyche seiner Dramengestalten einzufühlen –, bleibt psychoanalytischer Spekulation überlassen. Das Thema feindlicher Brüder, die Usurpation der Rechte des älteren durch den jüngeren, spielt allerdings in auffällig vielen Dramen Shakespeares eine Rolle: Titus Andronicus, Heinrich VI., Richard III., König Johann, Viel Lärm um nichts, Wie es euch gefällt, Hamlet, König Lear, Der Sturm. Gilbert wird erfolgreicher Kurzwarenhändler mit Geschäften in London und Stratford. Wie die jüngeren Brüder Richard und Edmund bleibt er unverheiratet und stirbt vor dem berühmten Stückeschreiber. Edmund folgt dem sechzehn Jahre älteren William in die Hauptstadt, wird Schauspieler, zeugt ein uneheliches Kind und stirbt mit siebenundzwanzig Jahren. Vermutlich bezahlt William das teure Begräbnis mit Glockengeläut in der Kirche St. Mary Overy, unweit des Globe Theatre. Eine Schwester Anne stirbt noch vor ihrem achten Geburtstag, die Schwester Joan überlebt den Dramatiker und ihren Mann, einen Hutmacher, um dreißig Jahre. In seinem Testament vermacht William dieser letzten Überlebenden der insgesamt acht Kinder John und Mary Shakespeares eine große Geldsumme sowie ein lebenslanges Wohnrecht im gemeinsamen Geburtshaus in der Henley Street.
An seine Schulzeit dachte Shakespeare wahrscheinlich, wie die meisten Menschen, mit gemischten Gefühlen zurück. Bekannt sind die Zeilen aus Wie es euch gefällt vom weinerlichen Buben, der mit Bündel / Und glattem Morgenantlitz, wie die Schnecke, / Ungern zur Schule kriecht[12] und der pedantische Schulmeister Holofernes aus Verlorene Liebesmühe: Oho, ich wittere falsches Latein[13]. Über Holofernes’ Schöpfer schrieb sein Rivale Ben Jonson, er habe «wenig Latein und noch weniger Griechisch» gekonnt.[14] Als Sohn eines Maurers war Jonson stolz darauf, der gelehrteste Dramatiker seiner Zeit zu sein. Ein wenig Neid auf den anderen großen Aufsteiger schwingt in der Bemerkung mit. (Im Gegensatz hierzu vermuten die «Anti-Stratfordianer» des 19. und 20. Jahrhunderts angesichts der miserablen Bildungsmöglichkeiten, die ihre Zeit dem Sohn eines Handwerkers zugestand, einen Hofmann oder Gelehrten als Autor der Werke Shakespeares; der «Bauernlümmel aus Stratford», wie ihn Henry James nannte, könne sich unmöglich die universelle Bildung angeeignet haben, die in ihnen zum Ausdruck komme.)
Francis Bacon (1561–1626), Philosoph
Michelangelo Merisi da Caravaggio (1573–1610), Maler
Miguel de Cervantes (1547–1616), Schriftsteller
Francis Drake (1545–1595), Weltumsegler, Pirat, Admiral
El Greco (1541–1614), Maler
Galileo Galilei (1564–1642), Astronom und Philosoph
Frans Hals (1580–1666), Maler
Johannes Kepler (1571–1630), Astronom
Michel Eyquem de Montaigne (1533–1592), Philosoph
Claudio Monteverdi (1568–1643), Komponist
Pocahontas (1595–1617), Prinzessin
Peter Paul Rubens (1577–1640), Maler
Wenig Latein hin, universelle Bildung her: Die Stratforder Lateinschule, die William als Sohn eines Ratsherrn kostenlos besuchen durfte, war keine Klippschule. Das aufstiegsorientierte Bürgertum ließ sich die Bildung seiner Kinder etwas kosten – der männlichen Kinder: Trotz der elisabethanischen Bildungsrevolution und des Vorbilds der Königin, die zu den gebildetsten Menschen ihrer Zeit gehörte, konnten um 1600 immer noch 89 Prozent aller Frauen ihren eigenen Namen nicht schreiben.[15] Mag sein, dass der Unterricht in den unteren Klassen wenig anspruchsvoll war:
EVANS: … Fas ist «lapis», Filliam?
WILLIAM: Ein Stein.
EVANS: Und fas ist ein Stein, Filliam?
WILLIAM: Ein Kiesel, zum Beispiel.
EVANS: Nein! Ein Stein ist «lapis». Ich pitte dich, pedenke tas in teinem Kehirn.[16]
Der Hauptlehrer der Lateinschule aber musste einen Universitätsabschluss haben. Im Laufe ihrer vier- bis sechsjährigen Schulzeit lasen die Schüler – auf Latein – Aesops Fabeln, Schriften von Erasmus und Cato, Dramen von Terenz und Plautus (in manchen Schulen mussten die Schüler jede Woche eine Szene aus Plautus zur Übung vorspielen), die moralischen Dichter Palingenius und Mantuanus, die Rhetoriker Cicero und Quintilianus, die historischen Berichte Sallusts und Cäsars und schließlich Vergil, Horaz und vor allem Ovid, dessen «Metamorphosen» Shakespeares Lieblingsbuch blieb – jedenfalls seine Hauptquelle für Bilder, Zitate und Anspielungen neben der Bibel. Die Schüler mussten auch eigene lateinische Texte produzieren: zunächst Übersetzungen aus der (kalvinistischen) Genfer Bibel, dann Dialoge nach dem Muster des Erasmus, schließlich Aufsätze und rhetorische «Deklamationen». Ein wenig Griechisch wurde anhand des Neuen Testaments unterrichtet. Ein aufmerksamer Schüler konnte hier eine humanistische Grundbildung erhalten, die keinen Vergleich zu scheuen brauchte. Wie «Filliams» Mutter staunte: Er hat doch mehr gelernt, als ich gedacht habe.[17]
Shakespeare war aufmerksam; das bezeugen die Stücke. Klassenbester muss allerdings ein gewisser William Smith gewesen sein, ebenfalls Sohn eines Ratsherrn, der als Einziger seines Jahrgangs an der Universität Oxford studieren konnte und seine Tage als Lehrer in einer Kleinstadt beendete.
Die Religion bestimmte das Leben und Denken in einer Weise, die wir uns heute kaum vorstellen können. Das heißt nicht, dass alle Menschen gläubige Anhänger einer der christlichen Kirchen waren (und schon gar nicht, dass sie nach deren moralischen Geboten lebten); Giordano Brunos Lehre von der Göttlichkeit der Natur etwa kommt dem Atheismus nahe. Aber Bruno war bereit, für seine Überzeugungen zu sterben (1600); das ist eine religiöse Haltung. Und fast alle Stücke Shakespeares sind von einem in diesem Sinne religiösen Gefühl durchdrungen, wenn sie auch nie direkt christliche Themen behandeln – schon allein deshalb, weil Königin Elisabeth I. die Darstellung religiöser Fragen auf der Bühne verbot. Dieses Verbot zeigt, welche Emotionen mit dem Glauben verbunden waren. In Frankreich etwa reichte das Gerücht eines Komplotts der protestantischen Hugenotten aus, um die katholische Bevölkerung in eine rasende Pogromstimmung zu versetzen, der am 24. August 1572 in der Bartholomäusnacht 70000 Protestanten zum Opfer fielen. Wir müssen die geistige Situation des 16. und 17. Jahrhunderts eher mit der heutigen islamischen Welt vergleichen als mit der fast völlig säkularisierten westlichen Welt, die aus den Religionskämpfen der Renaissance hervorgegangen ist. Philosophische, moralische, ökonomische und vor allem politische Fragen wurden in religiösen Begriffen diskutiert, und jede religiöse Frage hatte sofort politische Implikationen, zumal Europa in zwei feindliche Blöcke – den katholischen unter Führung Spaniens und den protestantischen unter Führung Englands – gespalten war, die ständig irgendwo in Europa gegeneinander Krieg führten. Als Shakespeare vierundzwanzig war, schickte Spanien mit der Armada eine Invasionsarmee gegen England. Wenige Jahre nach seinem Tod sollte der europäische Bürgerkrieg zur Verwüstung und Entvölkerung Deutschlands im Dreißigjährigen Krieg führen.
1517 Martin Luther schlägt 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg.
Beginn der Reformation und des europäischen Bürgerkriegs.
1558–1603 Elisabeth 1.
1564–1616 William Shakespeare
1618–1648 Dreißigjähriger Krieg verwüstet Deutschland
1642 Beginn des englischen Bürgerkriegs
1649 Karl 1. wird hingerichtet. England wird puritanische Republik.
In England versuchte Elisabeth durch einen Religionskompromiss das Auseinanderbrechen des Landes zu verhindern. Der Kern ihrer Religionspolitik bestand darin, sowohl radikalen Protestanten wie auch Katholiken Gewissensfreiheit zuzugestehen, sofern sie sich äußerlich der Staatskirche anpassten. Letztlich konnte der «elisabethanische Kompromiss» jedoch die Gegensätze nur übertünchen, nicht auflösen. Auf der einen Seite ermunterten jesuitische Missionare Katholiken zum Widerstand und zettelten Verschwörungen an. Auf der anderen Seite wuchs der Einfluss kalvinistischer Protestanten auf die Staatskirche.
Das Vordringen des Protestantismus war in Stratford deutlich spürbar. William Shakespeares älteste Schwester wurde noch von einem katholischen Geistlichen getauft, den der mehrheitlich protestantische Stratforder Rat wenig später davonjagte. Ein Jahr vor Williams Geburt gingen Arbeiter mit Spitzhacken gegen die Fresken und Statuen der Stratforder Kirche vor, und in seiner Kindheit war die Bilderstürmerei noch im Gange: Zwei Jahre nach seiner Geburt wurde der geschnitzte und bemalte Lettner zerstört, fünf Jahre danach das bunte Glas der Fenster durch klares ersetzt. Im elegischen Sonett 73 gehört die Erinnerung an die von Elisabeths Vater Heinrich VIII. aufgelösten und nun verfallenden Klöster, in denen einst die Mönche (sweet birds) sangen, zu den Bildern von Herbst und Tod, die das Gedicht durchziehen: Die Zeit des Jahres magst du in mir sehn, / Wo gelbe Blätter, keine, wenige hangen / Auf diesen Ästen die im Wind sich drehn, / Chor-Trümmer kahl, wo einst die Vögel sangen.[18] Die Reform der Staatskirche konnte jedoch mit der Radikalisierung der militanten Protestanten nicht mithalten. Die Fraktion der Puritaner, denen jeder Kompromiss in Glaubensfragen suspekt war, wuchs von Jahr zu Jahr.
Das «Schießpulver-Komplott» des Jahres 1605 wirkt wie ein Sinnbild für den Widerspruch zwischen der oberflächlichen Stabilität dieses «goldenen Zeitalters» und den unterirdisch wirkenden Kräften der Zerstörung: Unter dem Saal, in dem Elisabeths Nachfolger Jakob I. der feierlichen Parlamentseröffnung beiwohnte, hatten fanatische Katholiken genug Sprengstoff zusammenbekommen, um das ganze Gebäude in die Luft zu jagen. Nur ein Zufall verhinderte den Anschlag. Um diese Zeit arbeitete Shakespeare in London an seinen Tragödien König Lear und Macbeth, die von Bildern des Chaos und der Auflösung überkommener Ordnung durchzogen sind: Liebe erkaltet, Freundschaft fällt ab, Brüder entzweien sich; in Städten Meuterei, auf dem Lande Zwietracht, in Palästen Verrat; das Band zwischen Sohn und Vater zerrissen […]. Wir haben das Beste unserer Zeit gesehen: Ränke, Herzlosigkeit, Verrat und alle zerstörenden Umwälzungen folgen uns rastlos bis an unser Grab.[19]
Seit 1533 Heinrich VIII. betreibt Loslösung der englischen Kirche von Rom. Beginn der Katholikenverfolgung.
1553–1558 Maria I. führt Katholizismus wieder ein, verfolgt Protestanten.
1558–1603 Der «elisabethanische Kompromiss».
1587 Hinrichtung der Maria Stuart.
Papst ruft zum «Kreuzzug» gegen Elisabeth auf.
1588 Spanischer Invasionsversuch scheitert.
1593 Gesetze gegen Puritaner und Katholiken.
1605 Katholisches «Schießpulver-Komplott» gegen Jakob I. und sein Parlament.
Entfernte Verwandte aus dem Umkreis der Familie Arden waren übrigens am Anschlag auf das Parlament beteiligt. In Stratford wurde Shakespeares Tochter Susanna von den Kirchenvorstehern wegen angeblicher Sympathien für den Katholizismus denunziert. Susanna sollte noch die Explosion des Bürgerkriegs erleben, die Machtergreifung der Puritaner in der ersten modernen, das heißt von einer Ideologie und ihren Trägern geleiteten Revolution, die Hinrichtung des Shakespeare-Bewunderers König Karl I. und die Schließung der Theater (1642) im Namen der Tugend.
Eine Vorahnung dieser Tugenddiktatur bieten der Statthalter Angelo – ein gefallener «Engel» – in Maß für Maß und der Haushofmeister Malvolio – «der Übelwollende» – in Was ihr wollt. Malvolios Geisteshaltung entlarvt der Junker Tobias Rülps mit der Frage: Meinst du, weil du tugendhaft bist, soll es in der Welt kein Salzgebäck und Bier mehr geben?[20] Malvolio wird von Junker Tobias und Shakespeare lächerlich gemacht; aber in der allerletzten Szene der Komödie, nach dem für Shakespeare typischen Happy End, geht er mit den ominösen Worten ab: Ich räch mich noch an eurem ganzen Pack![21]
In welchem Glauben wurde William Shakespeare erzogen? In welchem Glauben erzog er (oder vielmehr seine Frau Anne) seine Kinder? Äußerlich jedenfalls passten sich die Shakespeares der Staatskirche an. Das Zeugnis der Stücke ist zweideutig: Sie zeigen aber, dass Shakespeare mit Glaubensartikeln, Bräuchen und Begriffen des Katholizismus vertraut war, was angesichts der katholischen Verbindungen der Familie Arden nicht verwundert. Der Jesuit Edmund Campion war um das Jahr 1580 in der Gegend von Stratford missionarisch tätig. Um diese Zeit – Shakespeare war fünfzehn – wurde ein gewisser John Cottom Hauptlehrer an der Lateinschule. Cottoms jüngerer Bruder war ein jesuitischer Missionar, der mit Campion zusammen festgenommen, gefoltert und 1582 hingerichtet wurde. John Cottom zog sich aus dem Schuldienst – wahrscheinlich nicht ganz freiwillig – zurück und bekannte sich später als Katholik. 1757 wurde bei der Renovierung von William Shakespeares Geburtshaus in den Dachziegeln versteckt das «geistliche Testament» John Shakespeares gefunden: ein formelhaftes katholisches Glaubensbekenntnis, das gegenreformatorische Missionare damals in hoher Auflage bei sich führten. Shakespeares Vater muss dieses Dokument um 1580 unterzeichnet haben. Ende des 17. Jahrhunderts notierte der Pfarrer Richard Davies über William Shakespeare: «Er starb als Papist.»[22] Vielleicht, vielleicht auch nicht; aber seit frühester Jugend wird er die seelische Zerrissenheit der Epoche in seiner Heimatstadt, in seiner Familie, in sich selbst gespürt haben.
Im Winter 1582 heiratete William Shakespeare Anne Hathaway, Tochter eines wohlhabenden Bauern. Zuvor musste ein besonderer Dispens vom Bischof in Worcester eingeholt werden, denn der Bräutigam war noch minderjährig, und die Hochzeit sollte schnell stattfinden: Die Braut war schwanger. Im Mai 1583 kam Susanna zur Welt. Mit ihren sechsundzwanzig Jahren war Anne Hathaway für elisabethanische Verhältnisse keineswegs eine alte Braut; die späte Heirat mit einem noch älteren Mann war die Regel. Aber Anne war acht Jahre älter als William – eine Tatsache, die zu allerlei Spekulationen Anlass gegeben hat, zumal in Verbindung mit dem Rat des Herzogs in Was ihr wollt: Die Frau soll doch noch immer einen nehmen, / Der älter ist als sie, dann passt sie zu ihm, / Dann herrscht sie sicher in des Gatten Brust: / Denn, Junge, wie wir uns auch brüsten; unsre / Herzen sind schwindlig, unbeständiger, / Gieriger, rascher schwankend hin und her / Als die der Frauen.[23]
War Anne Hathaway, fragte sich James Joyce, das Urbild jener geilen grauäugigen Göttin der Liebe, die im frühen Versgedicht Venus und Adonis einen keuschen, unwilligen, mädchenhaften Jungen verführen will? Ihn rückwärts stoßend, wie er sie es müsste, / Lenkt seinen Leib sie, doch nicht seine Lüste. […] Und wie ein Aar, der lange Zeit gefastet, / Den Schnabel senkt in Federn, Fleisch und Bein, / Die Schwingen schüttelt und nicht eher rastet, / Als bis er voll ist und der Raub herein, / So küsst sie …[24]
Obwohl weder Shakespeare noch seine Zeit prüde waren (mindestens 20 Prozent aller Erstgeborenen wurden außerhalb der Ehe gezeugt), hat die Keuschheit – nicht nur die weibliche – einen zentralen, fast mystischen Wert in den Dramen. Romeo und Julia etwa sind ein archetypisches Liebes- und Opferpaar, weil sie zugleich die Sinnlichkeit und die Unschuld der Jugend verkörpern. Julia besteht auf dem Segen der Kirche, bevor sie Romeo in ihre Kammer lässt. Dann aber bittet die noch nicht ganz Vierzehnjährige die Nacht: Und lehr mich mit Gewinn ein Spiel verlieren, / Gespielt um Jungfraunschaft und Reinheit zweier![25] Und im Sturm warnt Prospero bei der Verlobung seiner Tochter Miranda ihren zukünftigen Gatten: Zerreißt du ihr den jungfräulichen Gürtel, / Bevor der heil’gen Feierlichkeiten jede / Nach hehrem Brauch verwaltet werden kann, / So wird der Himmel keinen Segenstau / Auf dieses Bündnis sprengen: dürrer Hass, / Scheeläugiger Verdruss und Zwist bestreut / Das Bett, das euch vereint, mit eklem Unkraut, / Dass ihr es beide hasst.[26]
Ein merkwürdiger Schreibfehler im Heiratsantrag, wo die Braut als «Anne Whateley aus Temple Grafton» bezeichnet wird (Anne Hathaway kam aus dem Dorf Shottery), hat ebenfalls die Phantasie der Biographen angeregt: Gab es vielleicht zwei Annes? Die eine, aus Temple Grafton, «süß wie der Mai und scheu wie ein Faun» (so Anthony Burgess in seiner Shakespeare-Biographie[27]), William Shakespeares wahre Liebe, seine Julia/Miranda – die andere jene gar nicht scheue Anne, die er heiraten musste und einige Jahre später mit drei Kindern in Stratford sitzen ließ? Anne Whateley, wenn sie je existierte, hat keine weiteren Spuren hinterlassen. Sie bleibt geisterhaft, wahrscheinlich das Produkt unleserlicher Handschrift und der elisabethanischen Unbekümmertheit in Sachen Rechtschreibung, die uns 83 Variationen des Familiennamens Shakespeare überliefert, darunter Saxber, Shaxper, Shaxberd, Shakesbye, Shacosper, Shake-Speare und gelegentlich auch Shakespeare.
War Shakespeares Ehe glücklich? Die Frage unterstellt eine Vorstellung der Ehe als Seelenbündnis, wie sie erst im 18. Jahrhundert zum allgemeinen Ideal wurde. Zu Shakespeares Zeiten und in seiner sozialen Schicht war die Ehe vor allem ein Arbeitsverhältnis. Die Frau leitete den Haushalt und sicherte die Nachkommenschaft. In dieser Hinsicht war die Ehe der Shakespeares mäßig erfolgreich. Sie hatten weniger Kinder als der Durchschnitt der Ehepaare – nur drei, wovon der einzige Sohn, Hamnet, als Kind starb. Shakespeare wird es zu schätzen gewusst haben, dass der Besitz in Stratford während seiner Abwesenheit gut verwaltet wurde. Allerdings verlangen die Heldinnen vieler Dramen ein intimeres Verständnis der Ehe: Sagt, Brutus, heißt’s in unserm Ehebund, / Ich solle von Geheimnissen nichts wissen, / Die Euch betreffen? – Euer zweites Ich, / Bin ich das nur in Grenzen? wie gepachtet, / Bei Tisch, im Bett Euch angenehm zu sein / Und leicht mit Euch zu plaudern? Hab ich mein / Quartier nur in der Vorstadt Eurer Lust? – / Wenn es nicht mehr sein soll, ist Portia nur / Des Brutus Dirne, aber nicht sein Weib![28]
Nach der Geburt der Zwillinge Hamnet und Judith 1585 gab es keine Kinder mehr: Der Vater war erst zwanzig, die Mutter noch keine dreißig Jahre alt. Bald danach muss Shakespeare nach London gezogen sein – geflüchtet vor der Ehe und dem engen Leben eines Kleinbürgers? Getrieben vom Ehrgeiz oder seiner bei einem Gastspiel Londoner Schauspieler entdeckten theatralischen Sendung? Angelockt vom Glanz der Metropole oder der Aussicht auf schnelles Geld?
Hausbacken wird, wer jung zu Hause bleibt, sagt Valentin seinem Freund Proteus im frühen Stück Die beiden Veroneser: