Willst Du wirklich sterben, Vater meines Herzens? - Carola Gehrke - E-Book

Willst Du wirklich sterben, Vater meines Herzens? E-Book

Carola Gehrke

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Beschreibung

"Kannst du Zeuge sein" "Was bitte? Zeuge? Wofür?" "Für mein Ableben." Als Ulrichs Antrag auf Sterbehilfe bewilligt wird, stürzt die Autorin in einen tiefen Konflikt. Sie hatte nicht mit der Bewilligung und schon gar nicht mit einem so frühen Termin für den selbstbestimmten Tod ihres Wahlvaters gerechnet. Über drei Jahrzehnte hatte er als Bestatter mit eigenem Institut Hinterbliebene betreut und Verstorbene in ihre letzte Ruhestätte begleitet. Genoss das Leben in jedem Augenblick. Nun hat er sich entschieden zu gehen. So macht sich die Autorin auf die Reise durch die letzten fünf Tage seines Lebens mit ihm. Feinfühlig und dicht am Geschehen reflektiert sie innere Prozesse und Erlebnisse. Einfühlsam gibt sie Ulrichs Gedanken und Erzählungen zu Kindheit, Krieg, Leben, Altern und Sterben wieder und setzt sich mit ihm darüber auseinander. Zusammen erinnern sich die beiden ihrer außergewöhnlichen gemeinsamen Geschichte. Wird sie aufhören können, die längst gefällte Entscheidung des 'Vaters ihres Herzens' zu bekämpfen? Ein höchst aktuelles und berührendes Buch über die unerlässlichen Dinge, die unser Menschsein bestimmen und denen wir alle in der einen oder anderen Weise begegnen. Ein Buch über die Kraft der Liebe, über Akzeptanz, Verbundenheit und Verlust, über den Schmerz und die Weite des Himmels, der sich öffnet, wenn wir die Peripherie unseres Seins überschreiten.

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Seitenzahl: 135

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Die Autorin

Foto: UMK

Carola Gehrke, 1965 in Berlin geboren, ist promovierte Biologin und Germanistin. In Schweden forschte sie über die Auswirkung globaler Klimaveränderungen auf arktische und antarktische Ökosysteme. 2006 zog sie nach Los Angeles, wo sie Promotionsprogramme in Integrativer und Traditioneller Chinesischer Medizin an der Yo San University leitete. Seit 2013 lebt sie in ihrer Geburtsstadt Berlin, schreibt Lyrik und Kurzgeschichten und arbeitet an ihrem ersten Roman.

Für meine zwei Väter!

Den, der mich ins Leben rief

Und den, der mir half, darin anzukommen

In Liebe

— * —

„Sei standhaft, duldsam und verschwiegen!“ „Ich gelbsten führe Dich. Die Liebe leitet mich!“

Aus dem Libretto der Oper ‘Zauberflöte’ von Wolfgang Amadeus Mozart

Inhaltsverzeichnis

Kannst du Zeuge sein?

Die Zahl Fünf

Der erste Tag

Der zweite Tag

Der dritte Tag

Der vierte Tag

Der fünfte Tag

Der letzte Morgen

Danach

Was bleibt?

Dank und Nachwörtchen

Kannst du Zeuge sein?

Dienstag, 12. Juli 2022

Mit einem großen Glas Wasser, zerzaustem Haar und sandigen Sommerfüssen sitze ich auf meinem Sofa, als mein Handy klingelt. Ein unglaublicher Segeltag ist es gewesen. Knallblauer Himmel über der Berliner Havel bei lieblichen fünfundzwanzig Grad und dazu heftigen Böen, die aus ewig wechselnden Richtungen wie übermütige Kinder über mich und meinen Segelkameraden herübergetobt waren.

Auf meinem klingelnden Handy lese ich einen Namen. „Ulrich B.“ „Ja“, antworte ich, froh und müde zugleich, „Hallo Ulrich!“ So wie beinahe jeden Abend, wenn wir einander nur für wenige Minuten anrufen, uns erkundigen, wie der Tag gewesen ist. Belangloses Geplauder. ‘Wie war dein Mittagessen?’, und ‘Warst du heute schon unten auf dem Branitzer?’ Der Branitzer – ein von mächtigen Kastanienbäumen umsäumter Platz in Berlin-Westend, auf dem Ulrich täglich seine Runde geht. Nur in Begleitung und mit Pausen auf einer der vielen Bänke. Wenn er sich kräftiger fühlt, gar eine zweite Runde hinterher. So was halt. Diesmal ist es anders.

„Endlich erreiche ich dich“, höre ich Ulrich erregt, ja ungehalten. „Kommst du am Montag um zehn Uhr?“ fragt mich seine gepresst klingende Stimme, „kannst du Zeuge sein?“ „Was bitte? Zeuge? Wofür?“ „Für mein Ableben.“

Ich spüre wie meine Stirn sich in Falten legt. „Äh was? Wofür?“, frage ich noch zurück. Das muss einer seiner Witze sein und ich warte auf sein Kichern. Vergeblich. Ich will mich nicht erinnern, worum es geht, tue es doch und mir bleibt die Luft weg. Das hier kann nicht mein Leben sein, denke ich noch und erinnere mich meiner Fassungslosigkeit vom Anfang des Jahres, als ich erfuhr, dass Ulrich, unterstützt von seiner Familie, bei einer deutschen Organisation einen Antrag auf Sterbehilfe gestellt hatte. Ich selbst hatte klargestellt, dass ich mich da raushalten würde und mich mit dem Wissen beruhigt, dass ein Antrag sowieso erst frühestens nach sechs Monaten entschieden werden könne.

„Du hattest doch immer vom Herbst, also September, Oktober gesprochen“, stottere ich entsetzt. „Es sind doch noch gar keine sechs Monate vergangen.“ Warum sagt er jetzt nichts? „Nein“, trotzt er, „nein, es ist jetzt. Am Montag. Um zehn.“

Ich bin ganz still. Vielleicht habe ich falsch gehört und die Stille wird die Worte wie ein Schwarzes Loch verschlucken und eine Wiese voller Blumen erblühen lassen. Damit alles so wird wie früher. Wie noch vor wenigen Minuten. Als ich einfach nur berauscht und müde von Wind, Wasser und Sonne dasitzen wollte, den tollen Tag mit ihm, dem Segler auf so vielen Meeren, am Telefon teilen, früh schlafen gehen, um morgens erfrischt in noch einem Sommertag zu erwachen. Vor wenigen Minuten. Als alles noch offen war. Blauer Himmel über der Havel.

Mein Handy ans Ohr pressend schaue ich auf die Uhr. Es ist 19 Uhr und 37 Minuten. Während mir Tränen in die Augen schießen, würge ich noch hervor, „Ulrich…. bitte… darf ich rüberkommen?“, „Ja“, sagt er nur, deutlich erleichtert, „ja.“ Und „Gut. Sehr gut. Komm schnell.“

Ich lasse alles stehen und liegen. Auch meine Erschöpfung, meine Müdigkeit. Immerhin erinnere ich mich, meine Balkontür zu verriegeln. Ich greife nach meinem Wohnungsschlüssel, Fahrradhelm, Sattelschutz. Als ich auch noch meine Tasche greifen will, rutschen mir Helm und Schlüssel aus der Hand und landen scheppernd auf dem Boden.

Ein Riesenschreck fährt mir in die Glieder. Das furchtbare Gefühl im Magen wie steil abwärts auf einer Achterbahn. Haltlosigkeit und das Gefühl, keine Kontrolle mehr über das Dasein zu haben, rollen lawinenartig durch mich hindurch. Das lasse ich nicht zu, stülpe mir den Helm auf den Kopf, klammere meine Utensilien nur noch fester an mich und knalle die Wohnungstür extra laut hinter mir zu. Den Sieben-Minuten-Radweg durch die Villenstraßen von Westend lege ich, zwei roten Ampeln trotzend, in nicht einmal vier zurück. Vor Ulrichs Haustür japse ich nach Luft, drücke auf die Klingel und sofort lässt er mich rein. Er muss an der Tür gewartet haben, denke ich noch. Zwei Treppenstufen auf einmal nehmend jage ich in den ersten Stock hoch.

Als ich um die letzte Treppenkurve biege, sehe ich ihn. Ulrich. Wie er da steht. Auf seinen Krückstock vor sich gestützt, dabei wankend, ein bisschen wie ein einsames Segelschiff auf einem stillen Meer. Aus seinen immer noch klarblauen Augen, die siebenundneunzig Jahre Leben gesehen haben, strahlt er mich an. Genau wie immer. Ein Leuchtturm in meinem Leben. Seine Augen, sein Gesicht, ja sein ganzer Körper scheinen zu leuchten. Ein Anblick, der mich so hilflos warm, weit und offen macht wie immer – selbst jetzt noch, als ich diese ängstliche Unsicherheit in seinen Augen wahrnehme. Ich bleibe stehen, sauge seine Erscheinung mit meinen Augen auf. Tränen laufen mir übers Gesicht. So wird er nicht mehr oft stehen. Wie kann ich das aushalten?

Schließlich springe ich die letzten Stufen zu ihm hoch, werfe meine Sachen auf die Kommode, um ihn richtig zu umarmen. So wie immer. Wir setzen uns, auch das wie immer, ins Esszimmer, er rechts an den Kopf des langen Esstisches, und ich an die Ecke links von ihm. Lange sprechen wir. Irgendwann rutscht seine an den Stuhl gelehnte Krücke ab und knallt auf den Boden. Er bekommt einen Wutanfall, will einen Schluck Wasser trinken. Dabei kippt ihm das Glas aus seinen zitternden Händen, bevor ich es zu fassen bekomme. Die Wasserlache fließt quer über den Tisch.“Ulrich! Ach Ulrich!“, schilt er sich selbst in hartem Ton. „Ulrich! Lieber Ulrich!“, versuche ich ihn zu beschwichtigen, „du kannst doch nichts dafür. Sei doch um Himmels Willen bloß nicht so streng mit dir!“ Doch bleibt er in seiner krassen Selbstdisziplin unerreichbar für mich. Auch das wie immer – und irgendwie erleichtert mich das.

Ich halte seine Hände. Oder hält er meine? Wer weiß das schon. Meine Fragen, nackt und roh, lauern wie hungrige Mäuler, stürzen sich auf Ulrich, finden keine Antwort, wohl aber Gehör. Lange sprechen wir. Wie froh er ist, dass ich gekommen bin. Wie entsetzt ich bin, dass ihm die Sterbehilfe so schnell gewährt wird. Damit hätte ich nie im Leben gerechnet. Dass sie es überhaupt bewilligen. Es macht mich wütend.

Ich schluchze, warum es so schnell passieren muss. Ihm gehe es doch jetzt gut. Oder zumindest deutlich besser. Er spricht von den leisen Seiten seines Lebens, wenn das Essen von der zitternden Gabel kippt, wenn er nicht weiß, ob ihm im nächsten Augenblick ein Schwächeanfall alle Kraft rauben und ihn wie so oft stürzen lassen wird. Ich weiß um die Details. So oft haben wir darüber gesprochen. Monatelang habe ich ihn im Wechsel mit anderen Menschen im Alltag unterstützt.

„Siebenundneunzig!“, prustet er plötzlich entsetzt, ja, zornig heraus, „mein Gott ich bin siebenundneunzig!“ Und dann: „Das ist doch kein Leben und es wird nicht besser.“

Irgendwann ist alles gesagt, alles geweint, unsere Hände genug gehalten. Was ich mich nicht traue zu sagen, ist: „Bitte, bitte, bleib doch noch ein bisschen.“ Weil ich weiß, es würde nichts ändern. „Ich geh’ jetzt erst mal nach Hause schlafen.“ Ulrich nickt. Begleitet mich am Rollator zur Tür. Wie immer.

Bevor wir uns, auch das wie gewohnt, zum Abschied umarmen, bricht die eine, die zurückgehaltene Frage aus ihm heraus: „Verstehst du mich, Carola?“ Und noch einmal: „Verstehst du mich?“ Ich schaue ihn an, blicke in seine flehenden Augen, fühle seine Verzweiflung über das, was sein Leben für ihn nach reich gefüllten Jahren geworden ist, spüre sein eigenes inneres Wanken im Entschluss. Mein Herz zieht sich zusammen. Doch ist es nicht am wichtigsten, dass er sich selbst versteht? Liebe birst aus meinem Herzen, als ich ihm ernst und standhaft gegenüberstehe. „Ja, Ulrich. Ja, ich verstehe dich.“ Und das meine ich auch so. Zumindest in diesem Augenblick.

Ich spüre, wie die Anspannung aus seinem Körper entweicht, wie er wieder kleiner, schwächer wird. Wie maßlos ihn das Leben anstrengt. Wir umarmen uns, halten uns lange, tanken mit und voneinander. Tränen strömen mir aus den Augen, weil ich begreife, dass unsere Vater-Tochter-Umarmungen ab jetzt gezählt sind. Als wir uns wieder mit Abstand gegenüberstehen, gehen wir in unser über Jahre eingespieltes, ureigenes Ritual. Jeder legt seine Handflächen vor den Brustkorb aneinander. Vor das Herz.

Ich verneige mich vor ihm. „Herr B.“

Er verneigt sich zurück. „Frau Doktor.“

„Schlaf gut, Ulrich! Bis morgen!“ „Kommst du morgen?“, fragt er unsicher. „Ja“, sage ich mit fester Stimme, „Ja! Ich bin morgen Nachmittag um vierzehn Uhr bei dir, wenn deine Pflegerin geht.“ Nie zuvor bin ich mir meiner Sache so sicher gewesen. Ich werde da sein. Er lächelt. „Gut!“, sagt er, „gut!“

Langsam gehe ich die Treppenstufen hinab, versuche so zu sei wie immer – und kann es nicht. Als ich die schwere Eingangstür aufdrücke, werde ich vom unverschämt lauen Sommerabend verschluckt. Ich nehme mein Rad, lege meinen Helm in den Korb, will losfahren, aber es geht mir zu schnell. Überhaupt geht mir alles zu schnell.

Ich schaue auf meinen Kalender. Juli. Vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn. Während ich mein Rad schiebe, beginne ich zu rechnen. Und dann breche ich in Tränen aus, haltlos, ohne Helm, unter den Kastanien und Linden, die Ulrich genauso liebt wie ich.

Wir haben noch fünf Tage.

Die Zahl Fünf

Nach dem ersten Schock hätte ich nie gedacht, dass mir die Zahl Fünf solche Ruhe, solche Hoffnung geben könnte. Zumindest erst einmal, bis ich meine Haustür aufschließe. Geborgen in meinen eigenen vier Wänden wird mir für einen kurzen Augenblick gleich einem Blitzschlag in aller Schärfe bewusst, was da auf mich zukommt. Sofort schiebt sich ein Nebel dazwischen, lullt mich ein mit der Fünf. Wir haben noch fünf Tage und dafür spielt nur eines eine Rolle – nämlich dass ich jeden Nachmittag und Abend mit Ulrich verbringen werde.

Aber was werden wir tun? Womit werden wir die Zeit verbringen, die so endlich und dazu so kurz bemessen ist? Fünf Tage erscheinen mir mit einem Mal unwiderruflich brutal und unnötig geizig. Die Frage ist doch stets „Was würdest du tun, wenn du noch fünf Tage, vier, drei, zwei, einen Tag zu leben hättest?“.

Aber noch nie habe ich jemanden fragen gehört „Was, wenn ein Mensch, dem du nahe stehst, nur noch fünf Tage, genau gesagt bis Montag um zehn Uhr, zu leben hätte, weil er entschieden hat, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen? Wie würdet ihr eure Zeit miteinander verbringen wollen? Was sagen? Was beschweigen?“.

Überrumpelt habe ich zugesagt. Natürlich würde ich Zeugin sein. Dabei wird es mir von Minute zu Minute mulmiger. „Nein!“, schreit alles in mir. „Nein! Nein! Nein!“ Denn will ich mir das wirklich antun, zuzuschauen, wie mein Wahlvater sich das Leben, also sein Leben nimmt? Denn das ist es ja de facto. Ein Suizid, wie es so klinisch sauber heißt. Ein Selbst-Mord. Wenn auch medizinisch bewilligt und unterstützt. Aber wo und was ist ‘das Selbst’? Und wird ‘das Selbst’ tatsächlich vernichtet, wenn der Körper aufhört zu leben? Auch habe ich keinen Schimmer, wie das vor sich gehen soll. Wird der Arzt Ulrich etwas spritzen?

In ein leichtes Tuch gehüllt gehe ich auf meinen Balkon, schaue hoch in den Nachthimmel, der sich dicke Wolken anzieht und das Gewitter prophezeit, das in meinem Hirn bereits seit Ulrichs Anruf tobt. Im ersten Schock habe ich zugesagt, weil ich Ulrich mit diesem Wunsch für seine letzten Augenblicke nicht allein lassen wollte. Aber wenn ich ehrlich bin – auch und gerade deshalb, weil ich die gemeinsamen Minuten horten will. Wie ein Eichhörnchen seine Nüsse möchte ich sie an einem sicheren Ort verstecken für die harten Zeiten danach.

Im letzten halben Jahr stand Ulrich schon so viele Male an der Schwelle zum Tod, habe ich mich und haben wir uns schon so oft verabschiedet, dass sein Sterben sich bereits ein bisschen ausgelaugt und verbraucht angefühlt hatte. Jetzt verstehe ich erst, was ‘Es ist ernst‘ wirklich bedeutet. Die Male zuvor hatte ich Ulrich gefragt, ob er allein sein möchte, wenn er stirbt. Er, der lange Zeit seines Lebens so gerne mit sich allein gewesen war, hatte mich immer neu mit seiner Antwort überrascht: „Nein, das möchte ich nicht. Ich möchte, dass du bei mir bist.“ Ich frage mich, wann aus dem Steppenwolf ein Kranich geworden ist. Frei und selbstbestimmt, ja, das noch immer, aber jetzt eben auch Begleitung in der Weite suchend.

Ratlos nippe ich an einem Glas Wasser, suche Trost und Antworten im kühlen Nass. Ich muss mit jemandem sprechen. Automatisch greife ich zum Handy, um Ulrichs Nummer zu wählen. Denn er, der Mitt-Neunzigjährige, ist es gewesen, an den ich mich in den letzen zwei Jahren als ersten zu wenden pflegte, wenn ich glaubte, allein auf dieser Welt zu sein, wenn alles um mich herum zusammenbrach. Wie nach dem Tod meiner Mutter und der gleichzeitigen Trennung von meinem Freund, als ich mich so manchen Abend verloren fühlte und den Tränen nah bei Ulrich anrief.

„Kann ich rüberkommen?“ – „Aber ja!“, pflegte er zu antworten. Es ist dieser Ton, diese Melodie darin, die sich am Ende weit öffnet wie seine Arme, die mich zuverlässig in Empfang nehmen. Jedes Mal. Ein Gesang, ein Refrain zwischen den Strophen meines Lebens, wenn ich stolpere, der mich allein mit seinen Worten schon zu halten pflegt, bevor ich überhaupt Ulrichs Wohnung betrete. „Aber ja!“ Dann ließ er mich bei sich ankommen, setzte sich neben mich, hörte mir zu, ließ mich weinen und sagte „Ich verstehe dich“, streichelte meine Hand oder mein Haar, während ich meinen Kopf schluchzend in seiner Schulter vergrub.

Ausgerechnet jetzt bräuchte ich seine Unterstützung am meisten. Und ausgerechnet jetzt ist er selbst es, der meinem Leben ein Bein stellt und als Ansprechpartner wegfällt. Erst jetzt spüre ich mit Erschrecken, wie leer mein Leben an wirklich nahen Kontakten zurzeit wirklich ist. Das bisher einzigartige Glück, als erwachsene Frau den Rückhalt meines Wahlvaters genießen zu dürfen, bekommt Schrammen. Mein Leben wird sich ändern, ja ändern müssen, und irgendwie, ja, irgendwie ist das auch gut so!

Trotz inzwischen später Stunde rufe ich eine Freundin an. Dann noch eine. Die eine ist so im Frieden mit dem Kreislauf von Geburt und Sterben, Kommen und Gehen, dass ich einen Augenblick mit ihr darin ruhen kann. Sie erinnert mich an mich selbst. Erleichtert lege ich auf, doch sofort überschwemmt mich die Angst vor Montag erneut. Die andere Freundin entrüstet sich, wie Ulrich mir das antun könne, mich, die Tochter seines Herzens, so zu verlassen. Beharrt darauf, dass er sich der Liebe Willen entschließen sollte, ja, müsste, zu bleiben, bis ein natürlicher Tod ihn hole. Sollte? Müsste? Mit jedem ihrer Worte wächst der Abstand zwischen uns. Mein lebenslanges inneres Bekenntnis zum FREIEN Willen eines jeden Menschen lässt mich das Gespräch mit ihr abrupt beenden. Zumindest weiß ich jetzt besser, wo ich selber stehe. Sicherlich an einem Abgrund. Aber bereit zu fliegen.

Mit dieser inneren Klarheit gehe ich ins Bett und sinke sofort in einen tiefen Schlaf unendlicher Erschöpfung. Wenige Minuten später schrecke ich entsetzt und mit heftiger Angst im Bauch wieder hoch, ohne mich erinnern zu können, warum. Eine Ertrinkende, die in den tosenden Wassern ihrer Emotionen wild um sich schlägt, nach einem Grund sucht, nach etwas, das sie greifen, ja be-greifen kann, etwas, das diesem Gefühlschaos einen Anlass, einen Sinn und somit Halt geben könnte. Als die Erinnerung plötzlich wieder da ist, packe ich zu und ziehe mich daran an Land. Das da heißt Ulrich und Montag und Oh weh. Zumindest aber macht das Durcheinander in mir jetzt einen gewissen Sinn.