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Windelträger ist die Geschichte eines Mannes, den die Diagnose Krebs aus allen Wolken reißt.Operation am 19.08.2011. Totalentfernung der Prostata. Er begegnete Leidensgenossen, erst im Krankenhaus, dann in der Rehaklinik Quellental, für die alle eingesammelt wurden, deren Quelle für alle Zeiten versiegt war. Es sind tragisch komische, absurde, witzige Begegnungen und Erlebnisse, die sein Tagebuch füllen. Diese große Wunde, dieses Loch in ihm. Die Amputation hatte einem Teil von ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Er hatte den Halt verloren und segelte im freien Fall, in Zeitlupe, durch sein bisheriges Leben.Er war entmannt.Zwei Männer begegnen ihm auf dem Weg Walter, Jahrgang 24, dessen Stationen als Marinefunker im besetzten Frankreich, erst in der Bretagne, dann am Mittelmeer fast auf den Ort genau dieselben sind, in denen er Jahrzehnte später im selben Alter zuhause war. Jugenderinnerungen aus dem Krieg verweben sich mit den seinen, bis hin zu den Wegen zurück nach Deutschland. Er im Renault Quattre, unbeschwerte Jugend, make love not war. In der Rehabilitation Kurt, Jahrgang 1944 der mit seiner Mutter in Masuren geblieben war, als Ostpreußen von der Roten Armee überrannt wurde. Im Sommer 1981 saß er fast täglich am frühen Morgen mit seiner Angel im Boot mitten auf dem Mamrysee. Womöglich sind sie, ohne voneinander zu wissen, an diesem 25. Juli 1981 an einander vorbeigefahren.Der Ministerpräsident, General Jaruzelski drohte der Solidarnosc mit dem Kriegsrecht. In einem Kino nahe der russischen Grenze war Hollywood zu Gast. Mit anderen Wehrpflichtigen aus seinem Dorf sah Kurt: "Die glorreichen Sieben". Sie haben noch am selben Abend das Gesetz in ihre Hand genommen und in der Grenzstadt aufgeräumt, bis die Miliz anrückte. Er ging seinem früheren Leben nicht aus dem Weg, voller Selbstmitleid, schwelgend in Erinnerungen, jeunesse doree, verfolgt von den Träumen, die ihn nachts heimsuchten und in den Tag hinein begleiteten.
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Seitenzahl: 367
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Kristof Lindenau
Windelträger - Roman einer Reise
Was Frauen über Männer schon immer wissen wollten und sich nie zu fragen trauten
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Windelträger
Hannover, Ende der 60ziger Jahre
Von Mann zu Mann
Fortsetzung: Donnerstag der 21. Juli
Die 70ziger Jahre
Immer noch Donnerstag, 21. Juli 2011 - Krankenhaus
Eine Woche später - Donnerstag, 28 Juli 2011
Samstag, 30. Juli 2011
Donnerstag, 4. August 2011
Donnerstag, 11 August 2011 – Der Regenbogen
Montag, 15. August 2011 - Sinfoniekonzert
Donnerstag, 18. August.2011
Privatpatienten
Intimrasur
Freitag, 19. August 2011 - Seid fruchtbar und mehret Euch!
Istanbul
Visite
Der Traum in der Nacht von Freitag 19. auf Samstag 20. August 2011
Samstag 20.08.2011 bis Donnerstag 25.08.2011
Der Mann ohne Eigenschaften
Eine schwere Geburt
Donnerstag, 25. August 2011
Der Turnwart
Tim und Struppi
Freitag, 26. August 2011 – Walter, Jahrgang 1924
Fez Noz Bretagne
Tagträume
Perestroika
Das Boot
Hinauf auf die Berge
Ausflug
Kriegsgericht
Route 559
3.760 Schuss
Marlene Dietrich
Ende der Gefangenschaft
Haus des Rundfunks
Freitag, den 26. August 2011 – Abschied von Walter
Samstag, den 27. August 2011
Sonntag, den 28. August 2011
Ein neuer Patient
Montag, den 29. August 2011 - Robert
Dienstag, den 30.August 2011
Mittwoch, den 31.August 2011
Dichtigkeitsprüfung
Robert
Donnerstag, den 01.September 2011
Entlassung
Die Frau mit den sonnengelben High Heels
Klinik Quellental
Traumschiff
Freitag, den 02. September 2011
Am Vierertisch Im Speisesaal
Montag, den 05. September 2011 - Windeltest
Outdoor Training
Mittwoch, den 07. September 2011 - Wannenbad
Auf Wanderschaft
Mittwoch, den 07. September auf Donnerstag 08. September 2011
Donnerstag, den 08. September 2011 - Erektionshilfen
Samstag, den 10. September 2011 - Kartoffelfest
Sonntag, den 11. September 2011
Montag, den 12. September 2011 - Wachablösung
Kurt aus Masuren
Wolfram von Eschenbach
Mittwoch, den 14. September 2011 - La maja desnuda
Freitag, den 16. September 2011- Masuren 1981
Dienstag, den 14. Juli 1981 – die Domburg in Frauenburg
Solidarnosc
element antysocjalistyczny
Elbing
Freitag, den 16. September 2011 (Fortsetzung)
Freitag, den 16. September auf Samstag 17. September 2011
Mittwoch, den 15. Juli 1981 - Allenstein
Mittwoch, den 21. September 2011 – das zweite Gesicht
Mittwoch, den 21. September auf Donnerstag, den 22. September 2011
Verbote Früchte!
Le petit mort
Belle de jour
Kopfkino
Kurschatten
Die goldenen Jahre
„Schall und Rauch!“
Donnerstag, den 22. September 2011
Ein Freund, ein guter Freund…
Freitag, den 23. September 2011 - Deutschland ist Papst.
Samstag, den 24. Juli, Sonntag, den 25. Juli 1981
Wildgänse rauschen durch die Nacht
„Banditen der kommunistischen Partei Polens!“
Das Füchschen
Der Dicke
Wimmelbilderbücher
Geheimcode
Hydrojet
Elizabetha und das zweite Gesicht
Jerzy und das zweite Gesicht
Nachtmahre von Freitag, den 23. auf Samstag, den 24. September 2011
Samstag den 24. September 2011 – Mensch und Masse
Sonntag, den 25. September 2011
Die glorreichen Sieben
Donnerstag, den 30. Juli 1981
Montag, den 26. September 2011 - Almoprala
Donnerstag, den 29. September 2011 - Entlassung
Das Tier mit den zwei Köpfen
Freitag, den 30. September 2011
Samstag, den 05. November 2011 - Shopping
Donnerstag den 10. auf Freitag, den 11. November 2011 - Mord
Song Dong:
Hinkemann
Donnerstag, den 11. November 2011
Dienstag, den 06. Dezember 2011
Sonntag, den 06. Mai 2012
Die Löwin
Ostermontag, den 09. April 2012
Donnerstag, den 21. Juni 2012 – David ohne Eier
Impressum neobooks
Sein ganzes Leben lang bekam er Schweißausbrüche, Panikattacken allein nur bei der Vorstellung man würde durch seinen Penis einen Katheter einführen. Purer Horror! Schon immer hatte er eine Ahnung gehabt, genau das würde einmal auf ihn zukommen, aber doch nicht jetzt!
Krebsvorsorge, rektale Untersuchung mit dem Finger, der Arzt, Marke: netter älterer Herr, schiebt ihm seinen Kondomgeschützten Zeigefinger in den Hintern, dazu musste er sich hingebungsvoll auf die Seite mit dem Rücken zum Arzt auf die Liege legen, das Knie des oben liegenden Beines angezogen, um den Zugang zu erleichtern: Bitte entspannen! Sehr witzig! So lag er da, schaute auf die nackte Wand, harrte auf das unvermeidlich kommende. Entspannen! Locker lassen! Jetzt war es keine Bitte mehr.
Er war damals noch keine zwanzig, noch nicht volljährig. Um es für den Leser zeitlich einzunorden, damals gab es noch den § 175, war gleichgeschlechtliche Liebe strafbar, wurden Homosexuelle eingesperrt und seine Zimmerwirtin in der Universitätsstadt verbot jeglichen Damenbesuch nach 19.00 Uhr um sich nicht der Kuppelei strafbar zu machen, das sorgte für tagsüber zugezogene Vorhänge und einem genauen Ausspionieren, wann und wie lange die Vermieterin außer Haus war, denn das, was für sie nur nachts in völliger Dunkelheit möglich war, ging natürlich auch tagsüber.
Sein Liebhaber hat ihm später immer erzählt, er sei ganz überraschend, aus freien Stücken, zu ihm ins Bett gekommen. Er war jung, noch immer von knabenhafter Gestalt und, auf diesem Gebiet, in vollkommener Unschuld. Kann so gewesen sein. Der Mann war älter, er hätte beinahe sein Sohn sein können, Assistenzarzt. Es hatte ihn stimuliert, erregt, dass er Einfluss hatte auf diesen Mann, der sich aus der Welt des gefürchteten Vaters gerade ihm zuwandte. Dieser Mann gehörte zum Establishment, zum anständigen Bürgertum, Hüter von Sitte und Anstand, verheiratet, kleine Kinder. Er hatte ihn aus dieser Fassadenwelt entführt. Das erzieherische Leitbild: „Mehr Sein, als Schein!“ wurde mit jeder Handbewegung lustvoll zerfetzt, bis die Wahrheit sichtbar wurde, das anders Sein als Schein!
Er hatte Gewalt über diesen Mann, er war ihm zu willen. Geliebt werden, angenommen werden, Zuwendung empfangen, dass war dieser große, schier unstillbare Hunger seiner Jugend. Endlich getröstet werden, jemand, aus welchen Gründen auch immer, der ihm zuhörte, ihn zu verstehen schien. Er wurde liebevoll in den Arm genommen und hat sich mit ebensolcher, dankbarer, unschuldig, mädchenhafter Zärtlichkeit bedankt, erspürt was dieser Körper von ihm wollte. Es war dieser köstliche Schwebezustand der Sinne in der Phase des Entdeckens.
Zeiten erotischer Libertinage: Make love not war, Woodstock 1969. Überall in der westlichen Welt, stürmte die Antivietnamkriegsbewegung gegen bürgerliche Moral und Wertvorstellungen an, schleifte sie geradezu. Das Bürgertum, das verhasste Establishment schaute verschreckt, eingeschüchtert auf ein Sodom und Gomorrha und brauchte ordentlich Zeit sich aus dieser Schockstarre zu lösen, um alles wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
Da hatte der kalte Krieg eine domestizierende Wirkung, zähmte die Umstürzler, die die Systemfrage gestellt hatten: Geht doch rüber in euren Arbeiter und Bauerstaat! Hoppla, dahin wollten nun wirklich die wenigsten. Kuba, Südamerika, ging ja noch, da schien die Sonne, Folklore, Revolutionsromantik.
Die sexuelle Revolution, Antibabypille, Kinderläden, Reformpädagogik, da konnte man sich austoben ohne Schaden zu verursachen, ohne diese lästige Systemfrage wirklich ernsthaft anzugehen, würde doch nur Unannehmlichkeiten mit sich bringen würde. Es ging damals allen gut in diesem Schweinesystem, also machten sie sich auf den Marsch durch die Institutionen.
Odenwaldschule schoss ihm durch den Kopf, heute, das war wirklich ein Schweinesystem. Jahrelang, Jahrzehnte gedeckt, von den unantastbaren Gralsrittern der Reformpädagogik.
Feigling, du hast das Theater, die Kunst vergessen, dahin bist du abgehauen, konntest wunderbar bürgerliche Bequemlichkeiten mit umstürzlerischem Elan auf der Bühne verbinden. Enfant terrible, Paradiesvogel, wohliges Gruseln bei den Damen der besseren Gesellschaft verbreiten, ein geheimnisvoller Botschafter aus gefährlichen Lebensbezirken, der Appetit auf Abenteuer machte, mit Rückfahrkarte. Heftiges Knutschen, sich aneinander drängende, reibende Körper zwischen Tür und Angel im Halbschatten. Er hatte gute Manieren, wusste sich zu Benehmen, amüsierte mit Grenzverletzungen, heißen Themen, kleinen Tabubrüchen, überschritt nie gewisse Grenzen wurde drum gerne wieder eingeladen, als Hofnarr, als Garant für immer folgenlose Kurzweil.
Du warst ein unerträglicher Gutmensch dachte er, bist es womöglich noch. Ihm wurde kalt, er spürte, die Kälte, die von unten herauf durch die, mit schwarzem Plastik bezogene, dünne Schaumstoffschicht der Liege, durch das dünne Papierbetttuch ungehindert in seinen Köper zog. Kein flauschig weiches, die Haut liebkosendes Papier, festes, wie diese Papierbahnen, die über die Tische von Bierzeltgarnituren gezogen und fest getackert wurden. Eine Gänsehaut zog über Beine und Arme.
Salonbolschewisten. Verzweifelt, einsam, ausgehungert nach Liebe nach Zuwendung war er damals, irgendwo gibt es noch ein Gedicht aus dieser Zeit: Muss ich mal raussuchen. Existenzialistisch, Sartre, Camus, Godard, Truffaut, la nouvelle vague, das neue französische Kino: „Außer Atem“. Immer am Rande des Limits, Rächer der Enterbten, mit zornigem Gesicht. Anfang zwanzig schon vom Lebensüberdruss gezeichnet, unter Bierdunst, Zigarettenqualm, Rot Händle, Gauloise, klar, ohne Filter, am Kneipentisch mal eben ein Gedicht hingefetzt, für die dunklen Frauenaugen gegenüber, die ihn keines Blickes würdigen. Gleich ans Feuilleton einer großen, überregionalen Zeitung geschickt, drunter ging´s nicht, kam postwendend zurück, abgelehnt, mit den üblichen Floskeln: Danke für die Zusendung, nur weiter so, gerne können sie uns wieder etwas schicken. Das übliche höflich, verbindliche bla bla von Leuten, denen es lästig ist, sich mit dem Geschreibsel irgendwelcher nobodys zu beschäftigen, die sicherheitshalber die Form wahren, man weiß ja nie, nachher übersehen wir ein verkanntes Genie kurz vor seinem kometenhaftes Aufstieg und dann ist das Genie sauer auf uns, schlecht fürs Geschäft.
Markante Züge, lockige schwarze feste Haare, mit einem metallischen Glanz, dichten Bartwuchs, einen Dreitagebart, ebenmäßigen Teint, bitte keine Pickel, schon gar nicht auf der Nase, keine hektischen Hautrötungen, kein Herpes! Leichte mediterrane Bräune, stahlblaue Augen, durchtrainiert, breite Schultern, so wollte er damals gerne aussehen. Mal eben hier den Laden aufmischen und alle hätten sie Schiss, ihm in die Quere zu kommen. Keine Chance, Kinderlähmung, nur ein gesunder Arm, da half nur eine große Klappe, Größenwahn und schnelle Beine.
Früher verlor er sich gerne in Träumen. Schneidiger französischer Gardekürassier, Offizier natürlich, russischer Husar, goldene Litzen, das Jäckchen kokett über die Schulter geworfen, 1812 in der Schlacht von Borodino, schlag nach bei Tolstoi: Krieg und Frieden, aber natürlich mit Überlebensgarantie und als Held: “Attacke!“ mit geschwungenem, vorwärts zeigendem Säbel und alle hinter ihm drein, im Schweinsgalopp, bedingungslos. Träume, die je unterbrochen, angehalten wurden; mitten im Getümmel meldete sich der Verstand: Von den 600.000 der Grande Armée sind nur 60.000 zurückgekehrt, verdammt hohe Ausfallquote, auch bei den Offizieren, ganz großes Kino, was du gerade veranstaltest. „Vier Federn“, toller Film. Schadlos durch ein Meer von Gefahren, unrasiert, von unzähligen Feinden verfolgt, mit wehenden Haaren, verschwitzt, Blut bespritzt, mit leichten Blessuren, eine gutes Bild abgeben, das wär´s!
Was nervöse Entspannungsbemühungen alles bewirken. Bilder flogen durch seinen Kopf, als hätte er sie aufgewirbelt. Er griff nach ihnen, wie nach Haltegriffen in der U-Bahn, wollte sie sich genauer anschauen, wumms, weg waren sie und er griff, halt suchend, nach den nächsten bunten Erinnerungsfetzen. „Revolutionen sind der Griff des Menschengeschlechts nach der Notbremse- ein Griff, der die Sturzfahrt der Geschichte in die Katastrophe aufhalten soll“ fiel ihm noch ein, Walter Benjamin.
Der Finger des Arztes bewirkte einen heftigen Harndrang, fast hätte er einfach so auf das Papier der Liege gepisst, wie peinlich. Da war der Weißkittel Gott sei Dank fertig, zog den Finger raus, den Gummihandschuh, war gar kein Fingerkondom, zack auf links, runter von der Hand, Fußtritt, klack, Mülleimer auf, weg damit. Er konnte sich wieder anziehen und ging mit einer Überweisung ins Krankenhaus, für eine Biopsie: „Da werden nur Proben entnommen, mit Ultraschall, zusätzlich kommen aus einer Stange dünne Nadeln geschossen und stanzen in einem am Bildschirm festgelegten Raster Proben aus der Prostata. Total harmlos, danach können sie eigentlich gleich wieder nach Hause.“ Na denn!
Er sammelte die Bilder auf, die ihm durch den Sinn geweht waren, versuchte sie zu ordnen. Damals, diese dauernde Dringlichkeit, dieser schier rastlose Tatendrang, diese übersteigerte, fast hysterische Sensibilität, zerstörerisch, sich gleichzeitig zerreißen und verzweifelt nach Halt suchen, im Suff, in der Suche nach körperlicher Nähe, sich austoben im Fleisch.
Dieser Mann lag nackt neben ihm, reagierte genussvoll auf seine Berührungen, wandte sich ihm zu. Er wurde in den Arm genommen, spürte, dass er akzeptiert wurde als Freund, Partner, Geliebter, ohne Bedingungen, regellos. Vielleicht hatte er sich das damals auch nur eingebildet, wollte das nur genau so empfinden und nicht anders sehen. Er hatte Einfluss auf diesen fremden Körper, Macht, wurde nicht weg gestoßen, im Gegenteil dieser Mann war wie Wachs in seinen Händen und das ganze war für ihn ein ganz unschuldig erscheinendes Liebesspiel. Es kostete ihn keine Überwindung das fremde Glied in den Mund zu nehmen. Er spürte die wachsende Begierde. Dieser gestandene Mann, an dessen Schulter er sich eigentlich nur anlehnen wollte, er war ihm ausgeliefert, gab sich in seine Hände. Erst viel später, wurden die immer selteneren Begegnungen fordernder, wuchs der Drang des Mannes in ihn einzudringen, da hatte er versagt.
Es war einfach nicht gegangen, obschon er wollte, es ihn auch erregte und jetzt sagt dir dein Arzt, dass das da hinten auch alles sehr, sehr eng sei. Gut zu wissen! Er wollte es, weil er nicht enttäuschen wollte? Auch das, nur ein Teil der Wahrheit, in ihm war eine ganz weibliche Sehnsucht, ein tiefes Bedürfnis, etwas in sich eindringen zu lassen. Es ging nicht, da halfen keine lokal betäubenden Salben, die schreckten noch mehr ab: Du hast ihn dann befriedigt und er? Er mühte sich regelrecht an dir ab. Du hattest schon einen Ständer, aber es kam dir nicht, ihm schon, dir nie. Am Ende warst du nur noch erleichtert, dass es vorbei, er müde erschöpft neben dir zur Ruhe kam. Er konnte anstellen, was er wollte, da war nix zu machen, eindeutig Hetero.
In Erinnerung behalten, hatte er diese Zärtlichkeit, dieses Kribbeln, fremde Augen, die einem nachschauten, einscannten, Blickkontakt suchten, dieses erhebende Gefühl begehrt zu werden, in das er hinein glitt, wie in eine mit angenehm warmen Duftwasser gefüllte Badewanne. Da war jemand, der ihn erobern wollte und so war es dann doch eine Niederlage und Bestätigung.
In den siebziger Jahren hatte er an allen Theatern, an denen er arbeitete, mindestens einen Verehrer, der ihm nachstellte. Er hatte sich zu Eigen gemacht, auf diese Signale zu reagieren, nicht eindeutig, immer so, dass der Werbende sich nicht zurückgestoßen fühlte, sich noch Hoffnungen machen konnte. Er ließ mit sich Anlass flirten. Es war deutlich bei welchem Geschlecht seine Präferenzen lagen, dazu hatte er viel zu viele, auch öffentlich bemerkbare Affären, aber er ließ dem anderen Ufer die Hoffung, ihn zu sich hinüber ziehen zu können. „Schwul sein ist schön, bi ist eine Gnade Gottes!“ lärmte die Rampensau der Landesbühne an der Theke und zwinkerte ihm zu. Es war maßlose Eitelkeit, noch mehr Unsicherheit. Er wollte es sich mit keinem verderben, hielt alles in der Schwebe, kokettierte, genoss es umworben zu sein, entwickelte einen sicheren Instinkt sich nicht in zu eindeutige Situationen zu begeben.
Einmal wäre es beinahe zu spät gewesen. Er stand plötzlich unvermittelt, nur mit einem Tigerslip bekleidet vor ihm, forderte ein, was er in seinen Blicken gelesen hatte. Massiv: Er solle aufhören mit dieser Ziererei! Mit diesem Tanz auf allen Hochzeiten! Du bist doch schwul! Nee, war er nicht!. Es lief die Nationalhymne der Schwulen:
Es ist ja ganz gleich,
wen wir lieben,
und wer uns das Herz einmal bricht.
Wir werden vom Schicksal getrieben
und das Ende ist immer Verzicht.
Nur nicht aus Liebe weinen,
es gibt auf Erden nicht nur den einen.
es gibt so viele auf dieser Welt
ich liebe jeden, der mir gefällt
Und darum will ich heut' Dir gehören,
Du sollst mir Treue und Liebe schwören,
wenn ich auch fühle, es muss ja Lüge sein,
ich lüg auch und bin Dein.
(Zarah Leander)
Er hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass sich alle anderen Gäste verabschiedet hatten, auch in der Küche am Büffet, kein Mensch, nur die Katze. Die schweren Vorhänge waren zugezogen. Auf dem schwarzen Flügel ein schwerer silberner, vielarmiger Leuchter mit fast herunter gebrannten Kerzen. Eine Wolke schweres Parfüm. Er konnte gerade noch aus der Tür entwischen, die Wohnungstür hinter sich zu, die Treppe hinunter hasten.
Einmal noch hatte er diese Grenze überschritten, bei dem Intendanten, der ihm seine erste Inszenierung versprochen hatte, die Einhaltung dieses Versprechens immer weiter hinaus zog, er den Eindruck bekam, dass es vielleicht hilfreich wäre, sich von diesem kleinen, charmanten, französisch sprechenden Belgier auf die Besetzungscouch ziehen zu lassen. Bei dem vom Publikum umschwärmten jugendlichen Liebhaber des Ensembles hatte das funktioniert, der hatte seine Karriere auf diesem Wege befördert und war nun die graue, eher farbenfrohe, Eminenz im Theater auf die jedes Jahr der Spielplan zugeschneidert wurde. In der kleinen Großstadt südlich von Hannover, war es damals, Mitte der siebziger Jahre, Tuschelthema Numero eins, shocking, dass Intendant und Geliebter am Morgen nach der letzten Vorstellung vor den Theaterferien, gemeinsam, sozusagen unter den Augen der Öffentlichkeit, ihre Koffer in das stadtbekannte Cabriolet des Intendanten hievten, um endlich in südliche Gefilde mit viel Sonnenschein davon zu brausen.
Seine Anstrengungen brachten ihm damals nur den drängenden Wunsch nach Wiederholungen ein, aber eben nicht die versprochene Inszenierung ein, die bekam er, wenig später, anderen Ortes, auf natürlichem Wege.
Krankenhaus, ihm wird die Biopsie erklärt: „Ein Ultraschallgerät mit einem Fühler, Finger, wie ein dünner lang gezogener Vibrator, wird Ihnen rektal eingeführt. Aus der Fingerkuppe schießen dann diese Nadeln heraus, die die Proben rausstanzen.“ Er konnte dieses: „Alles harmlos, kleine Piekser, das war´s“ nicht mehr hören: „Wenn sie wollen, kriegen sie auch eine leichte Betäubung“ und ob er wollte, Weichei hin oder her.
Stationäre Aufnahme. Er bekommt ein Bett zugewiesen, Schrank. Dreibettzimmer. Er unter wildfremden Menschen. Er wird gleich geduzt, so ist es halt, geht wohl nicht anders, jetzt bloß nicht arrogant wirken. Er reißt sich zusammen ist nett, sehr nett, überaus freundlich zu allen Seiten. Auf keinen Fall bleibt er hier eingesperrt: „Alles ganz harmlos! Danach können sie sofort wieder aufstehen.“ Na also, dann kann er heute wieder nach Haue.
„Haben Sie schon abgeführt?“ Vergessen, er musste noch diesen kleinen Becher mit dieser Flüssigkeit austrinken. Der Krankenhausbetrieb streckte seine Tentakel nach seinem Körper aus, bemächtigte sich seiner, verfügte über ihn. Sich frei machen, auf das Bett haben sie ihm ein Nachthemd gelegt, hinten offen, mit einem Bändchen am Hals zu schließen. Er hängt seinen Mantel in den Schrank, zieht sich oben herum aus, packt die Sachen weg, zeiht das Hemdchen an: „Können sie…“ er stolpert über das sie, schwenkt ein: „Kannst du mir mal helfen. Ich komme da hinten mit meinem kaputten Arm nicht dran.“ Er ist auf Hilfe angewiesen. Männer unter sich, zusammengewürfelt, alle so ziemlich ein Alter. Jetzt ist er dankbar für das „du“, es baut Schranken und Hemmungen ab. Die Hose, den Rest noch, er zieht sich mit dem Rücken zum Schrank aus, langt immer unter sein Klinikhemd, möchte sich keine Blöße geben, verpackt alles in die Fächer, hält mit der einen Hand das Nachthemd hinten geschickt zu und geht zu seinem Bett.
Sie haben alle das gleiche an. Er hatte sich nicht nur umgezogen, er war für diesen Betrieb eingekleidet, in seine Abläufe integriert worden, wie ein weiteres Rädchen in einer Maschine, die nun über ihn bestimmte. Sie waren eine Schicksalsgemeinschaft, die einen hatten schon alles hinter sich, schauten entspannt, gelassen, freundlich von oben herab auf die anderen, die um Haltung und Coolness bemüht, noch alles vor sich hatten. Austausch von Krankengeschichten. Beutel mit Urin und Blut am Bett, die ihm den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Er ist allein, sucht Halt bei diesen Wildfremden, froh, dass sie da waren.
Rums Tür auf, von jetzt auf gleich wurde er abgeholt. Keine Widerworte! Er musste sich, ob er wollte oder nicht ins Bett legen, wurde zugedeckt, bekam die Krankenakte unter die Decke geschoben, jetzt hatten sie ihn im wahrsten Sine des Wortes in der Hand. Er war ihr Gefangener, da konnten sie noch so nett sein. Sie rollten ihn in seinem Bett einfach aus dem Zimmer, raus in den Flur und gaben Gummi. Alle an denen sie vorbeikamen schauten neugierig von oben auf ihn herab, halbwegs, gerade noch diskret, so aus den Augenwinkeln heraus, wenn es Besucher, andere Patienten waren, ganz direkt, voll ins Gesicht, die Schwestern, die den Neuen in Augenschein nahmen. Er lächelte, hilflos von unten zurück, bemüht sich ein halbwegs entspanntes, souveränes Lächeln ins Gesicht zu zaubern.
Vollbremsung vor dem Fahrstuhl, von der fünften Etage ins Kellergeschoss. Die Zieh- und Schiebekräfte unterhielten sich über seinen Kopf hinweg über alles Mögliche, Windsurfen am Niederrhein, was weiß ich, für sie war das Routine, ihre Schicht fast rum. Sie hielten im Keller vor einer großen Schiebetür, matt gebürstetes Aluminium, den Begriff kannte er von Möbeldesignern gehobener Küchenausstattungen. Auf Knopfdruck fährt das Höllentor auf, wartet nicht. Er ist im Vorraum, dicht an ihm vorbei wird ein Bett rausgerollt. Ein weißer, voller Haarschopf, der sich bedankt. Offensichtlich kommt man hier lebend wieder raus, das sollte ihn doch beruhigen, tut es aber nicht.
Er hört fröhliche Stimmen, einer kommt aus der Mittagspause, auf eine andere wird noch gewartet. Die Zeit verrinnt, vor ihm eine Glaswand, unten Milchglas mit einem bereiten Durchgang, links und recht geht es in die Operationsräume und dann kommen sie, beachten ihn nicht: „Wen bringt ihr?“ Aha, man kennt sich, er hört seinen Namen: „…das Essen ist heute wirklich gut, indonesisch mit Putenfleisch. Haben sie schon gegessen?“ Das strahlende Lächeln galt ihm, gesunde weiße Zähne, geballte gute Laune. Tattoo am Unterarm, braun gebrannt, war sicher auch Windsurfen an der Xantener Nordsee: „Ach sie durften ja nichts essen, bekommen sie bestimmt nachher.“
Grüne Wesen in blauen Gummiclocks mit Haarschutz ziehen sein Bett hinter sich her. Sie alle hatten am Crashkurs: „Das Leben auf der Erde“ teilgenommen, stellten sich überaus freundlich mit Namen und Funktion vor. Er wurde nicht hinüber auf den Operationstisch gebettet, sondern aufgefordert sich selber, aus eigener Kraft, dort zu platzieren, als würde er mit dieser letzten, eigenen, körperlichen Aktivität auch noch sein Einverständnis zu ihrem Tun geben. Lachen, um ihn herum gute Laune der Folterknechte, ein herzhafter Händedruck des Arztes: „Dann wollen wir mal“, konnte es einen größeren Gegensatz zur seinem Innenleben geben. Die Kanüle, die routiniert in den linken Handrücken gesetzt wurde, „Wir stellen sie jetzt ein bisschen ruhig, wollten sie doch?“ „Oh ja, Danke.“ Er musste seine Beine weit auseinanderspreizen, die Unterschenkel in dafür vorgesehene Schalen legen, dort werden sie fixiert, alles lag nun offen, frei zugänglich vor ihnen.
Oh Gott, eine Frau ist auch dabei, steht vor ihm, zwischen seinen gespreizten Beinen und schaut sich alles genau an. Er dachte an seine Frau, die sich auf ihre Termine beim Gynäkologen immer so penibel vorbereitet, badet, die Beine rasiert, auch die Bikinizone, sich sorgfältig schminkt, Parfüm aufgelegt, als sei der Frauenarzt ihr Liebhaber. Er hatte diese Gynäkologenstühle nur bei den Schwangerschaften zu Gesicht bekommen, damals stand er dahinter und bekam die ersten Ultraschallbilder seiner Kinder in die Hand gedrückt. Nun lag er selbst drauf, schämte sich der dicken, rissigen Hornhaut an seinen Fersen. Hätte er das gewusst, hätte er sie wenigstens abgehobelt, die Füße eingecremt, alles etwas appetitlicher gestaltet.
Es hat doch weh getan, war aber zack, vorbei, schon war er wieder in seinem Bett. Auch er bedankte sich überschwänglich, hätte allen am liebsten persönlich die Hand geschüttelt, einen Orden angeheftet, als habe er etwas gut zu machen und war so schnell zurück auf der Station, wie er gekommen war. Er schämte sich so ein Waschlappen gewesen zu sein.
Kaum war er wieder auf Station, zeigte er allen, wer hier das Sagen hatte, entließ sich auf eigene Verantwortung und ging mit wehendem Mantel nach Hause. Die nächsten Tage hatte er blutigen Urin und, das war eine Überraschung, das hatte ihm keiner erzählt, bei der Ejakulation schoss dunkelroter, fast schwarzer Saft heraus und versaute alles, im wahrsten Sinne, die ganze Stimmung.
Eigentlich sollte das Ergebnis tags darauf in der Klinik, einen Tag später bei seinem Arzt vorliegen, lag es aber nicht. Am Wochenanfang hat er in der Klinik angerufen. Kein Rückruf, dann beim Spaziergang, in der Mittagspause, im Sonnenschein, mit seinem Hund, klingelte sein Handy, informierte ihn der Assistenzarzt. Die Nachricht hat ihn nicht wirklich überrascht, die Verzögerung der letzten Tage, der schon lange bestehende Verdacht, er hatte sich mit dieser möglichen und nun feststehenden Diagnose schon länger beschäftig: Krebs. Da hatte sich etwas unbemerkt in sein Leben eingeschlichen, sich eingenistet, ohne Vorwarnung, ohne eigenes Verschulden, rauchen gleich Lungenkrebs, na klar, selber Schuld, aber zuviel vögeln gleich Prostatakrebs, sozusagen als Strafe des Himmels für zuviel irdische Wollust, davon hatte er noch nicht gehört.
Der Krebs ergriff von ihm Besitz, bestimmte von heute an weitestgehend sein Denken. Für die Operation hatte die Klinik den 19. August festgesetzt. Entfernung der Prostata, total, wenn möglich einseitig Nerven erhaltend, aller Vorsaussicht nach, ohne Entfernung der Lymphknoten. Er hatte noch Zeit, alles notwendige in Ruhe zu ordnen, besprach sich mit seiner Frau, den Kindern, informierte die wenigen wirklichen Freunde, berufliche Kontakte, mit denen er regelmäßig kommunizierte, die sich wundern würden, verschwände er plötzlich kommentarlos von der Bildfläche. Den meisten schrieb er eine Email, sorgfältig austarierte, nüchterne Formulierungen, die die Diagnose nicht beschönigten, deutlich hervorhoben, dass der Krebs frühzeitig entdeckt wurde, die Chancen auf vollständige Heilung sehr gut sind. Er war gespannt auf die Reaktionen. In ihm tat sich ganz widersprüchliches. Keinesfalls stürzte die Krankheit ihn in eine tiefe, ihn lähmende Depression. Die Beachtung, Zuwendung, Anteilnahme, die er durch sie erfuhr, belebte, beflügelte ihn geradezu.
Ohne es einzufordern, wurde er in Watte gepackt, abgeschirmt, beschützt. Genau dadurch fiel es ihm leicht, sich gerade zuhalten, seinen Alltagspflichten wie gewohnt nachzugehen, als könne ihn das alles nicht erschüttern. Es war, als ob die Nächsten um ihn, ihm seine Ängste abnahmen, für ihn durchlebten, die er ganz tief in sich spürte, als wäre dort ein Brunnenschacht, so tief, das der Aufprall des Steines nicht zu hören war, der hinein geworfen wurde.
Alles um ihn herum unterzog er einer Neubewertung, vieles, berufliches, Kontakte, vorher wichtig, wurden nebensächlich, verschwanden gänzlich, ohne dass er darüber weitere Gedanken verschwendete. Es war, als ob sich für ihn Spreu und Weizen trennte, mehr noch, als ob er sonst immer Spreu und Weizen hoch in die Luft geworfen hätte, ohne die dadurch bewirkte Trennung weiter groß zu beachten, nun lag das Wesentliche geradezu beleuchtet vor ihm. Er hatte keine Mühe sich ihm zuzuwenden, verhedderte sich nicht mehr im alltäglichen Einerlei und gerne angenommenen Ablenkungen. Er warf Ballast ab, als ginge er auf eine Reise, zöge er in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang.
Er dachte an seine Kindheit. Er hatte sich trotz der vielen Geschwister immer sehr allein gelassen gefühlt. Es war ein sehr kühles, protestantisch, preußisches Elternhaus, in dem es kein, in den Arm genommen werden gab, die Liebe war in diesem Haus irgendwo versteckt, vergraben. In der Rückschau war sie vielleicht sichtbar in der Sorgfalt, mit der das Aufwachsen der Kinder organisiert wurde. Es fehlte ihnen an nichts, schaute man darauf was den Kindern ermöglicht, für sie bereitgestellt wurde, es fehlte ihnen alles, schaute er noch einmal aus seinen Kinderaugen in diese Welt.
Damals wollte er tot sein, stellte sich vor, alle stehen am Grab, weinen bitterlich und im letzten Moment, wenn erste Erdklumpen auf den weißen Kindersarg poltern, würde er den Deckel lüpfen, beiseite schieben, auferstehen und die Arme zum Himmel recken. Seine Mutter würde ihn im Totenhemd aus der Grube heben, ihn in die Arme nehmen und an sich drücken. Er würde von allen geherzt, gedrückt, über die Haare gestreichelt werden: „So ein Schelm aber auch…!“ „Wie er das nur wieder angestellt hat?“ Keine Schläge, kein Einsperren, keiner wäre böse, alle nur froh, erleichtert, ihn wieder zu haben. Warum nicht gleich so!
Der Krebs verschaffte ihm diese Art der Zuwendung, die sonst besonderen Erschütterungen vorbehalten bleibt, die auch ihm Regungen erlauben, die er sonst als hinderliche Schwäche, Gefühlsduselei beiseite geschoben, belächelt hätte. Er spürte welchen Wert er für seine Frau, seine Kinder, die ihm Nahestehenden hatte, empfand das Leben stark, intensiv, als hätte dieses Ereignis, seine ganzen Empfindungen vom Staub des Alltags gereinigt. Er sah alles mit anderen Augen und wurde ebenso angesehen. Der Krebs bekam etwas von einer Auszeichnung, die ihn von anderen abhob, als sei er etwas besonderes, ein Auserwählter.
Krebs. Er versetzt die Menschen in Furcht und Schrecken, wie Pest und Cholera, dabei hatte diese Krankheit nicht annähernd die furchtbare Bedeutung, wie die alten, in unseren Breiten längst besiegten Geiseln der Menschheit: Pest und Cholera. Der Cholera 1831/32 in Berlin, fiel unter anderem der Philosoph Hegel zum Opfer, Hamburg 1892, da war der Tod in den Städten allgegenwärtig, ging in den Häusern ein und aus, wurden vor den Stadtmauern Massengräber ausgehoben. Diese Krankheiten wirkten grob gestrickt, simpel, primitiv, auf eine breite durchschlagende Wirkung angelegt. Man kam den Verursachern doch recht bald auf die Schliche, fand wirksame Gegenmittel.
Der Krebs kam ihm dagegen wie ein Kobold vor, wie ein Schauspieler, der fortwährend in andere Kostüme schlüpft, als ob der Tod sich gelangweilt hätte, mit der Sense durchs Land zu ziehen und die Menschen einfach so in Massen nieder zu mähen, als ob er Freude am Katze und Maus Spiel gefunden hätte. Einem Menschen einen gründlichen Schreck einjagen, ihn seiner Sicherheit berauben, doch noch einmal ziehen, davon kommen lassen, einem Anderen gleichzeitig eine schier unerträgliche Leidensgeschichte aufbürden, grundlos, willkürlich. Ein Schabernack! Dann lässt der Tod die ärztliche Kunst auf die Bühne, virtuos zieht sie alle Register, holt sich den verdienten Applaus ab, als beherrsche sie die Bühne. Dabei schaut der Tod von oben lächelnd auf die Bühne herab, als halte er ein kleines Puppenhaustheater in den Händen, das er jetzt ein wenig neigt, sich diebisch freut, dass nun alles ins Rutschen, auf die schiefe Bahn gerät, haltlos ins Leere fällt.
Ein Scharlatan, der ohne ersichtlichen Grund, mal den einen mal den anderen packt, immer in einem anderen Gewand, wohl ähnliche, nie absolut identische Krankheitsverläufe. Ein Gegner der nicht zu packen, nicht zu besiegen ist, unvermittelt auftaucht, ohne sich groß anzukündigen, Lebensplanungen, wie Papier zusammen knüllt, in die Tonne haut. Da können sich die Menschen noch so viel Mühe geben, alle möglichen Gefahren mit ordnender Hand auszugrenzen, bis hin zur Selbsttäuschung, es gäbe sie gar nicht mehr und dann schlägt das Schicksal zu, macht alles zunichte. Da hilft nichts, keine Versicherung, auch nicht dieser alberne Schutzengel in der Werbung mit seinen angeklebten gelben Flügeln.
Pest und Cholera kamen wie die ägyptischen Plagen über das Land. Die Menschen waren in ihrer Not nicht alleine, standen sie gemeinsam durch, sahen in ihnen eine Strafe, eine Züchtigung des Herren, suchten Zuflucht im Glauben, fanden Halt im Gebet. Auch außerhalb dieser Plagen war der Umgang mit dem Tod kein verdrängter, ins Dunkle abgeschobener Vorgang, sondern ein gesellschaftliches Ereignis. Die Uhren wurden angehalten, die Spiegel verhängt, die Vorhänge zugezogen, der Tote von den Frauen gewaschen, hergerichtet und für fünf Tage in seinen eigenen vier Wänden aufgebahrt. Es wurde Abschied genommen. Der Duft von brennenden Kerzen, Blumen, Kränzen aus frisch geschnittenem Immergrün überlagerten den Geruch beginnender Verwesung. Dann wurde der Leichnam eingesargt mit den Kränzen belegt und je nach Stellung und Rang in einem mehr oder minder prächtigen und langen Trauerzug durch die Stadt zum Gottesacker geführt, unter Anteilnahme der Bevölkerung, die auf den Bürgersteigen verharrte, den Zylinder abnahm und den Zug vorbeiziehen ließ. Mit jeder Minute, schließlich mit jedem Schritt, der die Trauernden von der nun bereits fünf Tage zurückliegenden Erschütterung entfernte, wurde aus der ersten Verzweiflung, dem erst kaum auszuhaltenden Verlust, ein unausweichlicher, ein erträglicher, schließlich sogar ein normaler, zum Leben dazu gehörender, selbst bei Menschen, die vor der Zeit abberufen wurden, bei Kindern, die meist viele Geschwister hatten, sozusagen auf Vorrat, weil die Eltern wussten, dass nicht alle die Kindheit überstehen würden.
In unserer glaubensfernen Zeit weigern wir uns vor der Zeit, vor dem Zeitpunkt, den wir für richtig halten, geholt zu werden, alles was uns daran erinnern könnte, Krankheiten, körperlicher Verfall, das Sterben schieben wir an den Rand, aus unserem Blickfeld, damit die Hauptverkehrsstraßen unseres Lebens davon frei beleiben, den Eindruck immer währender Jugend und Vitalität vermitteln. Dieses lästige Andere darf einem nur wohldosiert unter die Augen kommt, gut aus dem Alltag rausorganisiert, damit es uns nicht belästigt.
Er spielte mit seiner Angst, mit den Ängsten der anderen um ihn, wusste er doch, dass er geheilt werden wird. Sie haben ihm doch gesagt, versichert, der Krebs würde restlos, für immer beseitigt werden und doch gerade diese „Gewissheit“ machte ihm Angst, als stünde dahinter im Dunklen ein dunkler Schatten, der über so viel „Gewissheit“ still in sich hinein lächelt, nicht zynisch, nicht böse, voller Nachsicht. Er ging bei aller Gewissheit ins Ungewisse, hatte den Eindruck, dass die Zukunft, wie er sie sich vorher so schön und bunt zurecht gemalt hatte, nichts anderes war als eine Filmkulisse, die ein jäher Windstoße mal eben aus der Verankerung riss, hoch in den Himmel hob und in der Luft zerfetzte.
Nun schämte er sich seiner Eitelkeit, sich über den Krebs Zuwendungen ergaunert zu haben, die ihm in dieser Tiefe nicht zugestanden hätten, weil sie von einer Angst um ihn genährt wurde, die doch grundlos sein sollte und bekam es nun selbst mit der Angst zu tun. Was ist, wenn gerade das, das Schicksal herausfordern würde, ihm sein falsches Spiel heim zu zahlen? Wie bei einem Glückspieler, der seinen Jubel über einen unverhofften, sehnsüchtig erwarteten Gewinn im Keim erstickt, um keinen Neid, keine Missgunst, kein Aufsehen zu erregen, stockte auch ihm der Atem.
Gestern traf er den Tod bei Lidl. Er stand an der Kasse und hatte nur ein Teil in der Hand, Cocktailtomaten für eine italienische Sauce, da schob sich ihm von hinten ein Rollator schmerzhaft in die Kienkehle. „Würden sie mich vorlassen, ich habe nur ein Teil“. Er hatte auch nur ein Teil, aber er ließ der Dame, im Sinne der alten Pfadfinderregel: „Jeden Tag eine gute Tat“, den Vortritt. „ Ach, sie haben ja auch nur ein Teil.“ Als ob die Alte das nicht schon vorher gesehen hätte, was soll´s: „Ist schon in Ordnung“ hörte er sich sagen, als er sie näher in Augenschein nahm. Sie war sicher weit über 70, die Haare schlohweiß, die Haut spannte sich über die Gesichtsknochen, die zu ebenmäßigen unverbraucht jugendlichen Zahnreihen, sicher Kukident gereinigt, sprangen einen geradezu an und auch an den Händen, die den Körper am Rollator aufrecht hielten, zeigten sich Fingerknochen, die deutlich unter der pergamentener Haut hervorschienen. „Ihr Dialekt, wo kommen sie her, aus dem Osten“ „Ja, dass sie das erkannt haben, aus Oberschlesien, zwischen Oppeln und Neiße“.
Sie erwartete ihn draußen, stand dort hager hinter ihrem Rollator. Er drehte sein Fahrrad in Fahrrichtung und wollte sich davon machen. Sie fing an zu erzählen, er blieb, aus Höflichkeit: „Kennen sie Oberschlesien, mein Sohn ist dort, jedes Jahr, geht dort auf Pilgerschaft zur schwarzen Madonna nach Tschenstochau. Ich war mit meinem Mann dort bei einer großen Hochzeit. War das ein Fest. Nicht wie hier, die Kirche war voll und dann ging es hoch her auf dem Platz, im großen Festsaal. Es wurde gefeiert, gelacht, getrunken. Mein Mann hat sich einen Schnaps einschenken lassen, mir zugeprostet. Ich hab ihm mit dem Finger gedroht, er solle sich ja in Acht nehmen. Ich glaub er hat gar nicht darauf geachtet, bei dem Trubel.“
Sie schaute ihn eindringlich an, hielt ihn mit ihren blauen Augen fest, als schaue sie durch ihn hindurch in die Vergangenheit. Das Gesicht war gespannt, konzentriert, der Körper hielt sich kerzengerade. Nichts war zu spüren von altersbedingter Nachlässigkeit und Müdigkeit, in der die Muskeln erschlaffen, das Gewicht der Knochen, die Schultern nach vorne sinken lässt, der Körper sich leicht gebeugt, als ob man sein Leben auf seinen Schultern mit sich herum trüge. War es der Rollator, der dieser Frau eine aufrechte Haltung gab, die an einen Zinnsoldaten, an eine Marionette erinnert, an langen Fäden aufgehängt, die hoch in den Himmel führen.
Ihre Stimme hat einen männlichen baritonalen Klang, angenehm das gutturale R, dieser leichte Akzent, diese Schwere in der Sprache des Ostens, die immer den Berg herabrollt. Eigentlich wollte er weg und hörte doch weiter zu:
„Mein Mann hat sich einen Weg durch die Menge gebahnt: lass uns tanzen. Es genierte mich, von meinem Mann vor aller Augen auf das Tanzparkett gezogen zu werden, das wollte ich nicht, wir waren doch nicht das Brautpaar. Er ließ nicht locker, zog mich auf den Tanzboden und schon drehten wir uns zur Musik des kleinen Orchesters, drehten und drehten uns im Kreise. Die Lichter im Saal schwangen mit. Mein Mann hielt mich. Er schwitzte, der Geruch mischte sich mit Bierdunst und dem Duft seines Rasierwassers. Es war mir nicht unangenehm, ich ließ mich in seine Arme sinken und führen. Ich hörte die Gäste klatschen, sah das sich ihre Gesichter zu uns herumgedreht hatten, dass man um uns einen Kreis gebildet hatte, lachende verzerrte Münder, rote Lippen, flogen an mir vorbei, eine Polka. Eine Atempause, kurz, Auftakt, die Tanzkapelle setzte neu ein, energisch zieht mein Man mich zurück auf das Parkett, andere folgen, wir drehen uns schneller und schneller, nicht endend wollend.
Ich spürte seine Kraft, eine wilde Lebensgier durchströmte diesen Körper, wie einen Jungbrunnen, er drehte mich im Kreis, um sich herum, flog mit mir zurück in die Zeit, als wir jung waren, unser Hochzeitstanz. Dann ein schnellerer Takt, die Musik hebt an zum Galopp. Bunte Kopftücher, geschminkten Gesichter, dunklen Sakkos der Männer, leuchtenden Farben der Blusen, ein grelles vielschichtiges Farbband flog an meinen Augen vorbei.
Plötzlich kommt mein Mann kommt aus dem Takt. Seine Schritte werden unbeholfen, fallen aus der Musik . Er klammerte sich an mich, sucht Halt. Ich halte seinen Kopf, meine Lippen berühren seine Wangen: „Ich kann dich doch nicht halten: dummer Kerl.“ Er fällt wie ein Klotz und reißt mich mit. Ich hörte das Aufatmen nicht, das durch den Saal ging. Ich rappel mich auf, streiche den Rock glatt, wende mich um zu meinem Mann: „Er lag da, tot, hatte einfach aufgehört zu atmen.“
Schnell, fast unhöflich hastig, verabschiedete er sich von der alten Dame, sie rief ihm nach: „Wo wohnen sie eigentlich?“ Er machte eine vage Bewegung nach links zum Ortsausgang: „Da hinten, in der Vogelsiedlung.“ „Ich werd sie schon finden!“ lachte sie und winkte ihm zum Abschied nach.
Der OP-Termin steht, am 19. August wird er entmannt. Heute: Vorbesprechung Natürlich sagt ihm sein Verstand, dass es ein Leben danach gibt, das es mit 60 noch anderes gibt als Sex, Sex, Sex. Sicher es ist nicht so, dass er das Gefühl hat, etwas verpasst zu haben. Er sieht immer noch passabel aus, natürlich in einem Alter, in dem er darauf achtet seine alternde Haut luftig zu bedecken. Waschbrettbauch, breite Schultern, hatte er sowieso nie gehabt, schon wegen der Kinderlähmung, an der linken Schulter, linker Oberarm nichts, keine Muskeln, alles futsch.
Südfrankreich, erst Austauschschüler, dann Student, braungebrannt, nur ohne Tattoo, immer Hemden mit langem Arm, die er aufkrempelte, der nicht vorhandene Bizeps verschwand dann unter einem dicken Stoffwulst, entzog sich dem ungeübten oder unaufmerksamen Betrachter. Schlank, fast einmeterundachtzig, deutlich größer als die Einheimischen. Junge, glatte Haut, Virilität, die man selbstverständlich ausströmte, die zu einem gehörte wie der Duft eines Parfüm. Man spürte Begehren, genoss es, verliebt in die eigene Erscheinung. Jung, ungebunden, eine kurze Lebensphase, die einem schier endlos vorkam. Sobald der Winter vorbei war, die Sonne schien, verschwanden Pullover, Winterkleidung, nackte Beine, Schultern, Busen wurden sichtbar, ganz bewusst ohne BH zur Schau getragen, jede Erregung zeichnet sich wie ein Signal deutlich ab: Klingelknöpfe. Junge Körper, die sich ihrer natürlichen Eleganz, ihrer Schönheit bewusst waren, sie wie selbstverständlich zur Schau stellten, als sei sie ihr Verdienst.
Es war die Zeit, in der jugendliche Schönheit, Nacktheit auf Plakatwänden, Titelblättern noch eine Sensation waren, erst begannen sich im öffentlichen Raum auszubreiten. Die alles erschlagenden, langweilige Uniformität entblößter Körper in allen Formaten von heute war noch weit weg. Die 68ziger waren bunte Farbtupfer, Schmetterlinge, auf die eher amüsiert, neidisch, kopfschüttelnd geschaut wurde: Welche Benimmformeln, welche Grundfesten staatlicher Ordnung werden nun wieder in Frage gestellt? Latente Aufsässigkeit! Er war mitten drin, den verkrüppelten Arm machte er durch Charme und Eloquenz wett, sportliche Defizite, durch die Fähigkeit zuhören zu können, gescheites von sich zu geben. Es waren immer andere da, die ihm den Rang abliefen, aber alles in allem hatte er keine schlechten Karten und mehr Witz.
Junge Menschen riechen anders, eigentlich immer gut, selbst beim Sport, bei körperlichen Anstrengungen. Südfrankreich, Palavas, Grau du Rois, eine Clique junger Studenten. Das ganze Leben betrachteten sie aus einer sorglosen, komfortablen Position, erkundeten die Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse, wie früher das Leben seltener Tiere im Zoo. Einmal war er in einer Hafenkneipe in Marseille, ein düsteres Viertel. Spannend, es roch anregend nach Abenteuer, ein Bistro voller Männer, die aus der ehemaligen französischen Kolonie Algerien hierher gekommen waren. Einem, der ihm am Eingang im Weg stand, reichte er zur Begrüßung die Hand, weil er ihm die seine entgegenstreckte. Blitzschnell griff er sich seinen Daumen, drückte ihn nach hinten, ließ keinen Zweifel daran, dass er ihn mir nichts dir nichts, mir einem kleinen Ruck brechen könnte, mal eben so. Er ist winselnd auf die Knie gegangen vor Schmerz, Schweißperlen auf der Stirn, hat sich entschuldigt, wofür auch immer, um Gnade gefleht und wurde in der Hocke, wie eine Ente watschelnd durchs Lokal geführt, wie ein Hund, der von unten herauf seinen Peiniger flehend anschaut. Die haben nicht den jungen hübschen Mann gesehen, nur den Schnösel, nur den, der sich für etwas besseres hält, der sich nicht die Hände schmutzig machen muss, nie machen wird, nie schuften, täglich, überall. Jede Arbeit annehmen, egal welche, für das täglich Brot, für ein Dach über dem Kopf. Er war für sie einen von denen, die immer oben sitzen, in irgendeinem Büro, mit Einfamilienhaus, Garten, Auto, eine hübsche Frau, süße Kindern. Das Geburtslotto hatte ihm einen Hauptgewinn verschafft!
Er trug weiße Jeans, hatte das Hemd aufgeköpft, damit auf seiner Brust das dunkle leicht gekräuselte Haar zu sehen war, darauf war er stolz, galt damals als männlich: Burt Reynolds nackt auf einem Bärenfell als ausklappbarer Playmen. Ein Mann ohne Haare auf der Brust ist wie ein Hahn ohne Federn! Das Geschlecht, der Trieb war immer in Bereitschaft, lag auf der Lauer. Am Strand drehte er sich rasch auf den Bauch, drückte seinen Schwanz in den warmen Sand. Eine Erektion, offensichtliche, unübersehbare Geilheit hatte ihn überraschte, war nicht mehr zu unterdrücken, unübersehbar, wohlig unangenehm. Ein ebenso wohliger Schauer, gepaart mit Genugtuung, bei denen die diese Reaktion ausgelöst, den Blick von dieser drängende Fülle nicht lassen konnten. Bisweilen machte er sich den Spaß, sich eine Karotte in die Hose zu stecken, so wie die Balletttänzer die berühmte, sagenumwobene Hasenpfote, nur um sich dann, wenn auf seine Pracht gestarrt wurde, lüstern in die Hose zu greifen: Oh Gott! Was macht er da! weit aufgerissene Augen, Fingerspitzen am Mund, dann kam die Möhre zum Vorschein und er biss genüsslich ein Stück von ihr ab. Das Spiel stand im Vordergrund. Räume sich ungestört zurückziehen zu können, waren rar, die Neugierde viel größer, als die Bereitschaft sich auf wirkliche Abenteuer einzulassen.
Na ja, ehrlich gesagt, wir hätten schon jede Chance genutzt, es waren die Mädchen, die sich zurück hielten, die immer im Pulk auftraten, abseits von den Jungen, an ihnen hin und her vorbei flanieren, als hätten sie keinen Blick für sie übrig. Sie spielten sich eine Libertinage vor, die dem Spiel vorbehalten blieb. Verhütungsmittel waren nicht so selbstverständlich, so leicht zu bekommen. „Erna. Was kosten die Kondome!“ Discounter gab es auch noch nicht. Der gute Ruf eines Mädchens verband sich noch mit dem einen und einzigen für den sie sich aufsparte. Wir junge Männer tauschten Adressen der Verruchten, der Nymphomaninnen, die bereitwillig die Beine spreizten. Erfahrungen, seine Hörner abstoßen, macht man woanders. Selbstverständlich war man immer potent, immer bereit, wie die jungen Pioniere in der DDR die damals SBZ, Sowjetische Besatzungszone, genannt wurde: Seid bereit! – Immer bereit!
Ende der sechziger Jahr, zur Schau getragene Sinnlichkeit. Tempotaschentücher in BHs, einer war dabei, an dem er hinten hilflos herum fingerte, den Verschluss suchte. Sie half ihm, mit einem Griff zwischen ihre Brüste: Klack! auf und weg damit..