Winteraustern - Alexander Oetker - E-Book
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Winteraustern E-Book

Alexander Oetker

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Beschreibung

Ziehen Sie sich warm an für Luc Verlains kältesten Fall! Winterzeit am Bassin d'Arcachon, das bedeutet für die Austernzüchter Hochkonjunktur. Allerdings auch für die Austerndiebe, denen man mit immer drastischeren Methoden begegnet. Und so mündet das, was eine besinnliche Bootsfahrt werden sollte, für Luc Verlain in einen Mordfall, der es in sich hat. Zusammen mit seinem Vater, einem ehemaligen Austernzüchter, hatte Luc eigentlich nur noch einmal dessen einstige Wirkungsstätte befahren wollen, als sie plötzlich auf die übel zugerichteten Leichen zweier junger Männer stoßen. Handelt es sich um Austernzüchter, die den Austernmogul der Region um einen Teil seines Festtags-Umsatzes bringen wollten? Oder wollte ein anderer Austerndieb von seinem Treiben ablenken? Die Ermittlungen von Luc und seiner Partnerin Anouk führen tief hinein in eine von Profitgier und Konkurrenzdenken korrumpierte Branche. Dies ist der dritte Band der beliebten Krimireihe im französischen Aquitaine. Commissaire Luc Verlain ermittelte bereits in diesen Fällen: Band 1 - Retour Band 2 - Château Mort

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Alexander Oetker

Winteraustern

Luc Verlains dritter Fall

Roman

Hoffmann und Campe

Pour Maman

* 1953 – † 2019

PrologMiniatures

Galeries Lafayette, Boulevard Haussmann, Paris 9e Le samedi 28 novembre, 16:48

Sie war einfach unglaublich. Diese Kuppel.

Jetzt zur blauen Stunde leuchtete sie lila. Die Glasfenster schienen förmlich zu glühen. Und die grauen Streben teilten diesen unwirklich schönen Anblick in fassbare Abschnitte.

Julie sah entzückt hinauf, wie jedes Mal, wenn sie das Erdgeschoss des Kaufhauses betrat und erst einmal innehielt, um sich überwältigen zu lassen.

Um sie herum liefen schick angezogene Kundinnen kreuz und quer, die Arme tütenbehangen.

Doch Julie stand da wie angewurzelt und beobachtete, wie das Licht die Emporen und Balkone der oberen Etagen in einen ganz besonderen Glanz tauchte.

Endlich besann sie sich auf ihren eigentlichen Plan: Nur hier durchhuschen, schließlich wollte sie ins Nachbargebäude. Sie durfte nicht in Versuchung geraten, noch ein Kleid für das Weihnachtsfest zu erstehen oder ein neues Parfum. All das kostete viel Geld, das sie nicht hatte. Das sie brauchte, um ihre kleine, völlig überteuerte Wohnung in Saint-Germain zu bezahlen.

Sie hatte sich ans Prioritätensetzen gewöhnen müssen. Ihr Vater hatte gesagt: »Natürlich kannst du in Paris studieren. Wir zahlen dir das schon. Aber nicht mit allem Schnickschnack.« Studieren und Miete und neue Klamotten, das würde nicht gehen. Und ihr Großvater hatte immer gesagt: Lehrjahre sind keine Herrenjahre.

Doch einen Luxus gönnte sie sich immer noch – und das war der Luxus, auf den sie jetzt zusteuerte.

Schließlich war morgen der erste Advent. Und den würde sie mit ihren Freunden angemessen begehen, in ihrer kleinen Wohnung im zweiten Stock der Rue de Buci Nr. 54. Die Freunde hatten versprochen, den Champagner mitzubringen. So weit musste das Geld reichen.

Dafür war es an ihr, der Tochter des Austernzüchters, für das leibliche Wohl zu sorgen. Sie lief die Rolltreppe hinab, immer tiefer den feinen Düften entgegen.

Unten war Glitzerzeit, Weihnachtszeit, Hochzeit der Genüsse. Die schwarzen Trüffel aus dem Périgord waren auf einem eigenen Tisch ganz am Anfang der Gourmetabteilung ausgelegt. Knapp dahinter hatte die Champagnermarke Taittinger einen Werbestand aufgebaut.

Ein Vertreter der Gänsestopfleberproduzenten aus der südlichen Gascogne strich seine ausgesuchte Ware auf krosse Baguettescheiben, zum Probieren für die Pariser Kunden – die Tierschützer hatten in Frankreich einen schweren Stand.

Doch Julie ließ sich nicht beirren, sie wusste, wonach sie suchte, und ihr Gang war zielstrebig: zur Kühltheke, hinter der zwei Männer mit weißen Fischverkäuferschürzen warteten. Der eine, ein dicker, gemütlicher, lächelte sie freundlich an.

»Mademoiselle, was darf ich Ihnen Gutes tun?«

Sie betrachtete die Kisten mit einem Lächeln, weil sie diese Zeremonie des Suchens und Aussuchens so liebte.

»Alors«, fuhr der Verkäufer fort, »wir haben die Belon-Austern aus der Südbretagne, außerdem ganz frisch heute Morgen reingekommen die platten Austern aus Cancale, die werden Sie lieb…«

Er brach ab, als er sah, wie sie den Kopf schüttelte und auf die Kiste neben ihm zeigte.

Les Huîtres d’Arcachon stand in gelben Lettern auf schwarzem Grund auf deren oberem Rand. Da lagen sie, fein säuberlich übereinandergeschichtet. An manchen klebte noch ein wenig Seegras, einige hatten im Meer bizarre Formen angenommen.

Der Geruch von Salzwasser war plötzlich so intensiv, dass sie sich für einen Moment nach Hause versetzt fühlte, obwohl der Ozean doch weit weg war. Julie überlegte, dass sie denjenigen, der die Felsenaustern aus den poches, den Austernsäcken, geholt hatte, sicherlich kannte, wahrscheinlich von Kindesbeinen an.

»Aus welchem Betrieb stammen die?«, fragte sie, und die beiden Verkäufer tauschten einen raschen Blick.

»Chevalier, aus Arcachon«, sagte der Dicke, ohne zu zögern.

Julie nickte. Chevalier. Der Platzhirsch. Der bedeutendste Austernzüchter am Bassin. Zehnmal so viele Tonnen Produktion wie ihre eigene Familie. Vielleicht sogar zwölfmal so viele. Letztes Jahr hatte er schon wieder einen Betrieb aufgekauft. Ihn sich einverleibt, wie die Leute am Bassin raunten.

»Wollen Sie probieren, Mademoiselle?«

»Non, merci«, gab sie zurück, »haben Sie noch Austern von anderen Betrieben aus der Gegend?«

Der Verkäufer schüttelte den Kopf.

»Die kommen erst kurz vor Weihnachten. Im Moment haben wir aus der Aquitaine nur diese.«

Sie zog eine Augenbraue hoch.

»D’accord. Dann geben Sie mir sechs Dutzend creuses aus der Bretagne, s’il vous plaît.«

Der Verkäufer wechselte wieder einen raschen Blick mit seinem Kollegen, dann griff er nach der Holzkiste mit den flachen Austern aus Cancale und begann, sie vorsichtig übereinanderzulegen.

Julie Labadie verehrte die Austern aus Arcachon, sie zog sie allen anderen vor und hielt die bretonischen Meeresfrüchte für gnadenlos überschätzt. Und dennoch würde sie sich eher mit dem Austernmesser die Hand aufschlitzen – was ansatzweise ohnehin schon oft genug passiert war –, als Bertrand Chevalier auch nur einen Euro hinterherzuwerfen.

Hochhaussiedlung Les Canibouts, Nanterre, westlich von Paris Le samedi 28 novembre, 17:35

Diffus fiel das spärliche Licht des trüben Winterabends durch das kleine Wohnzimmerfenster, das mit einem Laken verhängt war, weil es so zog.

Karim trat durch die Balkontür hinaus und zündete sich den Joint an, den er eben geradezu ehrfurchtsvoll gerollt hatte. Ein langer Zug, noch einer, ganz tief saugte er den würzigen Qualm in seine Lunge. In der Hoffnung, dass seine Stimmung gleich, wenn das Licht gänzlich verschwunden war, endlich besser würde. Wobei der Blick nach unten keinerlei Anlass für gute Stimmung gab. Die Funzeln dort auf der Rue de l’Agriculture waren immer noch nicht eingeschaltet. Die verdammten Wichser in der Stadtverwaltung sorgten sich stets darum, dass die Innenstadt von Nanterre glitzerte wie ein Weihnachtsbaum, aber hier in der Banlieue durften sie ruhig im Düstern in die kleinwagengroßen Schlaglöcher stolpern.

Die Hochhäuser jenseits der Straße waren wie ein Spiegelbild zu seinem eigenen, auf dessen baufälligem Balkon in der elften Etage er stand. Grauer Beton mit schmalen Sehschlitzen, die woanders Fenster wären. An allen Balkonen riesige Satellitenschüsseln, die nach Nordafrika wiesen. Wäsche trocknete in der feuchtkalten Luft, eine einsame Trikolore hing im zweiten Stock gegenüber wie Hohn.

Eine ganze Weile ließ Karim dieses Beinahe-Stillleben auf sich wirken: die Flagge, die sich im leichten Wind immer mal wieder aufblähte, die Neonleuchten in den Wohnungen gegenüber, die eine nach der anderen angingen und der Dunkelheit trotzten, der ausgebrannte Renault Clio die Straße runter, das übliche Ergebnis einer Freitagnacht. Seine kleine Welt.

Er hatte lange gebraucht, um zu erkennen, wie klein diese Welt war.

Als Kind – denn natürlich hatte er schon immer hier gewohnt, quasi von Geburt an, nachdem ihn seine Eltern mit seinen gerade mal zwei Lebenstagen aus dem Hôpital Max Fourestier in ihre winzige Wohnung gebracht hatten –, als Kind jedenfalls hatte er diese Welt für riesig und unüberschaubar gehalten. Die hohen Häuser, die verwinkelten Straßen, der Blick nach drüben, dorthin, wo in der Ferne der hellrote Lichtschein der Hauptstadt zu erkennen war, wie eine Verheißung.

Wie wohl fast jedes Kind liebte er Orte wie den staubigen Bolzplatz die Straße runter, den Treppenaufgang mit den Dutzenden anderen Kindern, die alle irgendwie so aussahen wie er selbst. Und auch damals fand sich nach beinahe jedem Wochenende ein frisch abgefackeltes Autowrack im Viertel. Damals konnten seine Freunde und er das wenigstens noch als rußigen Abenteuerspielplatz gebrauchen.

Vor fünf oder sechs Jahren kam ihm erstmals die Idee, dass hier etwas nicht stimmte. Und vor zwei Jahren wurde diese Idee zur Gewissheit. Dass man ihn hier vergraben hatte. Dass man wollte, dass er hier war. Damit er nirgendwo anders sein konnte. Und dass das – wenn er nicht bald einen radikalen Entschluss fasste – für sein Lebtag so bleiben sollte. Wer war »man«, hatte sich Karim lange gefragt: seine Lehrerin in der école primaire, die nicht mal versucht hatte, ihn und die anderen beurs als ambitionierte Schüler wahrzunehmen? Die flics der CRS, die ihn filzten, wann immer er und sein Roller ihren Weg kreuzten – am liebsten am Boden liegend, die Hände auf dem Rücken, um dann seine Taschen mit harter Hand zu durchsuchen und wieder nichts zu finden als zwei Gramm Gras? Oder war »man« einfach die société fermée, die geschlossene französische Gesellschaft, die für Typen wie ihn schlicht keinen Platz hatte – zumindest keinen Platz an den Futtertrögen?

Eine Zeit lang hatte er versucht, zu akzeptieren, dass es so war. Hatte hier ein bisschen gedealt und dort ein wenig gehehlt, war auch mal mitgefahren zu einem kleinen Bruch im 16. Arrondissement. Aber drei Wochen im Gefängnis von Porcheville hatten ihn gelehrt, dass es nichts brachte, bei den kleinen Fischen mitzuspielen. Denn die kleinen Fische rutschten in Frankreich nicht durchs Netz. Nein, sie wurden als Einzige gefischt und, um im Bild zu bleiben, nie wieder vom Haken gelassen. Im Knast hatten sie ihm von allen Seiten zugesetzt: Die Justizangestellten hassten die beurs, dabei waren sie oft selber welche. Dann gab es selbst im Jugendknast schon Intensivverbrecher, denen man ansah, wie viel Spaß es ihnen bereitete, hier drinnen Angst und Schrecken zu verbreiten. Und es gab die Dschihadisten, die scheinbar freundlich eine Lösung anboten: den Weg zu Allah, dem einzigen Freund, der einem Kid aus der Banlieue blieb. Doch Karim war nicht doof, er wollte nicht gehirngewaschen und mit einer Sprengstoffweste bekleidet irgendwo auf einem Marktplatz enden. Auch keine Alternative.

Das Angebot seines Freundes – war Islah sein Freund? – war ihm wie ein Wunder erschienen. Islah hatte einen Auftraggeber, einen Franzosen. Ein richtig dicker Fisch, der in so vielen Teichen obenauf mitschwamm: Bau, Import, Export, Sicherheit. Und dieser Franzose baute gerade eine Truppe auf. Ein Spezialauftrag. Für einen sehr reichen Mann, ebenfalls Franzose. Eine alte, angesehene Familie, irgendwo am Meer. Karim war noch nie am Meer gewesen. Merkwürdig, wo das Meer gerade einmal zwei Stunden von hier entfernt war.

Er hatte nicht lange gezögert. Hatte Islah zugesagt. Und der hatte ihm aufgetragen, sich bereit zu machen für einen richtigen Job. Keinen Scheiß mehr zu bauen, sich von allen Bullen fernzuhalten, regelmäßig zu trainieren, um seine ohnehin ansehnlichen Muskeln zu vervollkommnen. Und so ging Karim jetzt jeden Tag in das schäbige Fitnessstudio im Zentrum von Nanterre und pumpte, was das Zeug hielt. Nur vom Gras konnte er nicht die Finger lassen, aber irgendwie musste man ja klarkommen.

In zwei Wochen sollte es losgehen. Wie lange hatte er darauf gewartet. Auf diesen Moment. Maman hatte er von alledem noch nichts erzählt. Er wollte einfach abhauen, mit seinem Rucksack voller Klamotten. Um dort unten großen Erfolg zu haben. Und in ein paar Wochen einen Scheck zu schicken, zusammen mit einem Brief, der erklärte, wo er war und was er tat – und mit Zugtickets, die auch seiner Mutter und seinen zwei kleinen Schwestern erlauben würden, das Meer zu besuchen.

Er schmiss den Joint vom Balkon, griff zu seiner kunstledernen Geldbörse und entnahm ihr das zusammengefaltete Billett, das er hütete wie einen Schatz. Er entfaltete es und las, was er ohnehin auswendig konnte:

13 décembre

6:52 Abfahrt am Gare Paris Montparnasse

8:56 Ankunft in Bordeaux Saint Jean, Umstieg

9:58 Ankunft am Bahnhof von Arcachon

Karim faltete das Ticket wieder zusammen. Bald würde sie beginnen, seine Zukunft. Endlich. Finalement.

Gendarmerieboot »Pherousa« im Hafen von Arcachon Le samedi 28 novembre, 22:03

Vor sieben Minuten hatte sie die Yamaha-Motoren angeworfen, vor vier Minuten hatte Oberbootsmann Diallo die Leinen losgemacht, woraufhin Lieutenante Giroudin das Boot gewendet und vom Liegeplatz in Richtung Hafenausfahrt gesteuert hatte.

Sie liebte Pünktlichkeit. Wenn sie jetzt den Blick wendete, sah sie die Stege im Hafen von Arcachon nur noch schemenhaft. Die weißen Boote dagegen leuchteten durch die Dunkelheit, genau wie die Lichter im Santa Maria, dem einzigen Restaurant am Hafen, das so spät im Jahr noch geöffnet hatte. Die Lichter auf der Mole blinkten grün und rot, und sie waren Giroudin so vertraut wie die automatische Beleuchtung, die anging, wenn sie ihr blaues Gendarmerie-Motorrad auf ihr geliebtes Grundstück steuerte, so wie es nachher sein würde, in neun Stunden, wenn der Morgen langsam graute.

Doch nun war erst mal Dienstbeginn. Siebeneinhalb Stunden auf dem Bassin. Sie hatten eine Aufgabe. Sie und ihre Jungs. Da war Oberbootsmann Diallo, ein kräftiger Schwarzer, dessen Eltern aus dem Senegal stammten. Er selbst war aber in Bordeaux geboren und aufgewachsen. Ein sehr erfahrener Marinemann, der schon während der Einsätze in Mali und am Horn von Afrika für Frankreich zur See gefahren war. Neben ihm am Heck stand Bootsmann Arnoult. Er war in Dieppe aufgewachsen, im Norden Frankreichs. Ein junger Gendarm mit dunklen kurzen Haaren, der viel schwieg und noch mehr anpackte. Es war seine erste Station bei der Gendarmerie. Das war wirklich besonders an der französischen Armeeeinheit: Ihre Mitglieder kamen aus allen Ecken des Landes.

Giroudin würde Arnoult ohne zu zögern ihr Boot anvertrauen. Genau wie Diallo. Doch ihr Arbeitsplatz war nicht mehr so gefährlich wie einst, als sie während ihres Einsatzes in Libyen auf einem Flugzeugträger nahe der Küste diente und nie so recht wusste, welcher Stamm gerade die Oberhand hatte und sie als Nächstes beschießen würde. Statt Krieg zu führen, tat sie nun etwas ungleich Wichtigeres – obwohl ihr klar war, dass Menschen im Ausland sie wohl nicht verstehen, geschweige denn diesen Dienst als etwas Wichtiges begreifen würden.

Aber das war er. Sie bewachte ein französisches Kulturgut. Hier draußen auf dem Bassin d’Arcachon. Nein, keine Kunstwerke. Oder altertümliche Statuen. Sondern ganz lebendiges Kulturgut. Die Austern des Bassins. Die zu Weihnachten bei Millionen von Franzosen auf dem Tisch erwartet wurden. Als traditionellster Bestandteil des Menüs.

Früher war die Zeit der Austern von September bis April gewesen, im Sommer gab es wegen der Kühlprobleme keine Meeresfrüchte. Doch auch wenn die Regel, wonach Austern nur in Monaten mit R im Namen gegessen werden dürfen, längst überholt war – immer noch war die Zeit rund um Weihnachten die unangefochtene Austern-Hochzeit. Und es oblag Lieutenante Giroudin und ihren zwei Männern, dass das so bleiben konnte. Es war keine Übertreibung, dass sie die Last dieser Aufgabe auf ihren Schultern spürte. Vorherige Kriegseinsätze hin oder her.

Sie stand in der kleinen Kabine und steuerte das Boot so schnurstracks und wendig, als wäre es draußen taghell – und nicht stockfinster. Denn sie kannte diese 155 Quadratkilometer sozusagen wie ihre Badewanne, wusste, wo die Untiefen waren und die Priele, wo die Vogelschutzinsel lag und wo sich die Zuchtbecken für die Austern befanden. Und genau dorthin steuerte sie jetzt. Wie es schien, war das Bassin menschenleer, bis auf ihr kleines weißes Boot mit der blauen Aufschrift Gendarmerie.

Flughafen Bordeaux-Mérignac, Rollfeld Le dimanche 29 novembre, 8:42

Als er die Gangway herunterkam, erlöste ihn die Wintersonne. In Paris war er unter einem wolkenverhangenen Himmel gestartet, einem Himmel, der ausgesehen hatte, als würde er die Hauptstadt gleich verschlingen wollen.

Der Regen hatte auf der Fensterscheibe dicke Schlieren hinterlassen. Von Orly aus hatte der Airbus einen Bogen über Paris gemacht, die prachtvollen Boulevards der Haussmann-Ära hatten trüb und eintönig dagelegen.

Nun spürte Luc die Sonne im Gesicht, sie wärmte seine Haut, und er schloss die Augen, als er vor der Air-France-Maschine stand. Kurz nur, dann ging er rasch die paar Meter bis zum Terminal des Aéroport Bordeaux-Mérignac. So überstürzt wie die Abreise gewesen war, hatte er keinen Koffer dabei, nur die große braune Ledertasche, die er früher immer für Wochenendreisen mit Delphine benutzt hatte. Aufs Gepäck warten entfiel also.

Noch wenige Meter, eine Rolltreppe nach oben und dann immer in Richtung Sortie, die Schiebetür öffnete sich – und da stand sie. Er beschleunigte seinen Schritt, und schon fiel sie ihm um den Hals, er ließ die Tasche zu Boden fallen, hob Anouk leicht an, sodass ihre Fußspitzen nur noch knapp den Boden berührten. Dann spürte er ihre Lippen auf seinen – der Rest war pure Freude. Endlich die Wärme, die er so herbeigesehnt hatte.

Es waren schreckliche Wochen gewesen. Sie hatten ihn noch am Freitagabend angerufen. Als die Explosionen vor dem Stade de France zu hören waren, dort und in allen Wohnzimmern und Kneipen, in die das Fußballspiel übertragen worden war, das bis dahin weit entfernt von Anouk und Luc stattgefunden hatte. Sie hatten längst auf Anouks Bett in der kleinen Wohnung am Place Canteloup gelegen.

Als der Anruf kam, war noch nicht klar, wie schlimm die Nacht ausgehen würde. Der Einsatzleiter am Quai des Orfèvres hatte offenbar eine Vorahnung. Er ließ die höchste Terrorwarnstufe ausrufen und trommelte seine besten Leute zusammen. Auch die, die in alle Winde verstreut waren. Luc war ans Telefon gegangen – und was er hörte, war keine Bitte: In dreißig Minuten würde eine kleine Maschine der Flugbereitschaft der Armée de l’Air, der französischen Luftwaffe, in Mérignac warten. Und zwar nur auf ihn.

Luc hatte nichts erklären müssen, sie stand schon an der Tür, um ihn zu verabschieden, weil sie während seines Telefonats die Nachrichten gecheckt hatte. Er war im Taxi zum Flughafen gerast, und als er in Mérignac ankam, war klar, dass auch im Musikclub Bataclan irgendetwas vor sich ging. »Geiselnahme« hieß es beim Radiosender France Inter, mehr sollte er erst in Paris erfahren. Eine Stunde und fünfzehn Minuten später landete Luc in Orly, da waren bereits fünfzehn Tote bekannt. Und dann begannen drei Wochen im Ausnahmezustand. Mit der unmittelbaren Tatortarbeit und mit aufreibenden Ermittlungen in Paris und bis hinauf nach Belgien. All die Toten, all die Verletzten, dieser entsetzliche Terror.

Und nun umarmte ihn Anouk, hielt ihn ganz fest. Natürlich war sie zum Flughafen gekommen, um ihn abzuholen. Nach diesem langen Monat des Vermissens und des Begehrens.

TGV nach Bordeaux, kurz hinter Poitiers Le dimanche 13 décembre

Worauf sie sich am meisten freute? Auf den Meeresgeruch. Diesen ersten Schritt hinaus an die frische Luft, aus dem miefigen TER-Vorortzug. Und dann diese Brise aus Norden, die ihre Freunde in Paris – die keine Ahnung hatten, weil sie aus Nizza, Lille oder eben Paris kamen – immer fischig nannten.

Fischig. Als würden die Austernzüchter der Aquitaine ihre Straßen mit verdorbenen Fischabfällen pflastern. Julie konnte da nur lachen. Auch wenn sie nun schon drei Jahre zum Studieren in Paris war, konnte sie sich die Elemente dieses Geruchs mit einem Schnipp herbeizaubern: Da war der grüne frische Grasgeruch der Algen, die sich an die Austern gelegt hatten wie Beilagensalat. Da war selbst an warmen Tagen diese gewisse Kühle in der Luft, die der Atlantik von irgendwo aus der Ferne mit sich brachte, dieser abenteuerlich große Ozean. Da war das Salz, das nur als Hauch durch die Luft wehte, aber sich nach einem langen Tag am Strand auf die Lippen legte und auf Julies Haut, dass sie es gar nicht abduschen wollte, so wie früher als Kind. All diese Gerüche sammelten sich in der Luft – und in unendlich größerer Intensität auch in den Meeresfrüchten, auf die sie sich so freute. Die Biester aus Cancale, die sie und ihre Freunde gestern Abend für den Abschied vor dem Feste zuhauf gegessen hatten, waren nicht halb so gut gewesen wie die ihrer Eltern. Und ihres Bruders. Und nicht einmal ein Viertel so gut wie die Austern von Fred Pujol und seinem Sohn.

Julie legte ihren Kopf an die kühle Scheibe des TGV, unter sich die futuristisch anmutende Lampe, wie sie jeden Tisch im Zug beleuchtete. Diese zwei Geheimnisse, die sie seit ihrer Jugend hatte. Und die sie ihren Eltern niemals verraten würde. Erstens: Ihr schmeckten die Austern, die ihre Familie produzierte, phantastisch. Ohne Frage. Aber irgendwas machten dieser Fred und sein Sohn Vincent noch einen Hauch besser. Sie hatte keine Ahnung, was es war. Vielleicht lag es daran, dass der Betrieb der Pujols einer der kleinsten am Bassin war und sie deshalb noch mehr per Hand machten, sich noch mehr Zeit ließen, und vielleicht auch mit noch mehr Liebe arbeiteten. Auch wenn es sie immer wieder an den Rand des Ruins führte. Weil immer kleiner in diesen Zeiten eben auch immer weniger Umsatz bedeutete.

Zweitens: Vincent. Der Name, der für sie klang wie eine Verheißung. I have a crush on him, summte sie das abgewandelte alte Lied und musste lächeln. Ja, das war es. Sie war absolut verschossen in diesen großen, schlanken Burschen mit dem feingliedrigen, fast schlaksigen Körper. Die dunklen Haare, die immer irgendwie wild im Wind hin und her geworfen wurden. Seit sie ein Kind war, hatte sie sich ihn immer wieder ansehen müssen, schon als sie noch zusammen im Sandkasten saßen. Später hatten sie, ihr Bruder François und Vincent zusammen Indianerspiele gespielt. Dann waren sie zusammen in die Bars gegangen, eine große Clique aus dem Ort. Immer hatte sie versucht, sich ihm zu nähern, aber für ihn war es wohl, als schleiche seine Schwester sich an. Unvorstellbar. So war es immer gewesen. Bis sie es aufgegeben hatte, seine Nähe einfach nur genoss, aber nicht mehr suchte. Dabei war sie schön, sagten die, die es besser beurteilen konnten als sie selbst.

Vincent. Vor einem Jahr hatte sie ihn zuletzt gesehen, an den Weihnachtstagen, bei einem gemeinsamen Essen ihrer Familien. Fred und sein Sohn hatten geklagt, ginge das Geschäft so weiter wie bisher, würden sie bald verkaufen müssen. An Chevalier womöglich. Julie schluckte. Vincent hatte hinreißend ausgesehen, wie er da neben seinem Vater saß. Die Augen so ernst wie das Thema. Irgendwann im Sommer hatte François gesagt, Vincent überlege, nach Paris zu gehen. Das würde das Ende der Austernzucht Pujol bedeuten. Nicht auszudenken.Wenn sie nachher aus dem Zug stieg, in Bordeaux, würde niemand auf sie warten. Im Sommer, ja, da hätte ihr Vater sie sicher abgeholt. Oder ihr Bruder François. In seinem kleinen Peugeot Cabriolet. Aber nicht jetzt, so kurz vor Weihnachten. Da war zu viel zu tun. Sie hatten keine Zeit, nicht mal für die einstündige Fahrt nach Bordeaux. Also würde Julie sich im Relay mit Zeitungen eindecken, dazu einen Cappuccino gegenüber im Bahnhofscafé holen. Eine halbe Stunde später würde die Fahrt weitergehen, mit der Bummelbahn immer am Bassin entlang, bis nach Gujan-Mestras. Von dem kleinen Bahnhof aus wären es nur noch einige Hundert Meter bis zu ihrem Haus mit Blick aufs Wasser. Doch Julie würde bloß ihren Koffer über den Zaun in den Vorgarten hieven und dann direkt weitergehen, bis zur kleinen Holzhütte direkt am Hafen. Wo bereits die Boote lagen, die voll beladen waren mit Säcken voller Austern, die ihr Vater und ihr Bruder nun einen nach dem anderen in die Cabane brachten. Zum Sortieren, Waschen und Verpacken.

Irgendetwas in ihrer Umgebung forderte ihre Aufmerksamkeit, machte, dass es ihr kalt den Rücken hinunterlief, doch sie schaffte es erst nicht, sich von der vorbeifliegenden Landschaft zu lösen, den flachen Sandsteinhäusern und dem Buchenwald, den sie eben hinter sich ließen. Dann aber gab sie sich einen Ruck und wandte den Kopf dem jungen Mann mit den dunklen Haaren zu, dessen eine Hand fest auf der Reisetasche lag, die er auf den Sitz neben sich gestellt hatte. Er war massig und muskulös und daraus, wie er sie ansah, schloss sie, dass es kein beiläufiger Blick war. Er hatte sie wohl schon seit geraumer Zeit angestarrt.

Le samedi 19 décembre – Samstag, der 19. DezemberKaltes Erwachen

Kapitel 1

»Ist dir etwa kalt, Junge?«

Alain Verlains Stimme hatte diesen unverwechselbaren Klang, vordergründig war da nur Ironie, aber bei genauerem Hinhören schwang doch etwas Sorge mit – Luc kannte diesen Ton seit Kindertagen.

Sein alter Herr hatte natürlich beobachtet, wie er die Jacke ganz eng zugeschnürt und den dicken Schal noch mal neu gebunden hatte, als hätte er auch nur irgendeine Chance gegen die beißende Kälte, die über das Bassin wehte, gerade als das Boot den Hafen von Arcachon verließ. Vor einer halben Stunde, als Luc seinen Jaguar XJ6 unten auf dem großen Parkplatz abgestellt hatte, war es noch gänzlich dunkel gewesen. Nun aber machte sich hinten am Horizont, dort, wo das Bassin sich zum Ozean hin öffnete, eine Ahnung von Licht bemerkbar. In anderthalb, vielleicht zwei Stunden würde der Wintertag beginnen, und er sollte sonnig werden. Der klare Himmel machte die Luft noch beißender. Schneeluft. Eigentlich unmöglich, dachte Luc, so weit im Süden.

»Alles bestens. Wollte nur Weihnachten nicht mit einer fetten Erkältung im Bett liegen«, gab er zurück und sah, wie sein Vater scherzhaft mit den Augen rollte. Alain griff in seine Jackentasche und entnahm ihr das flache silberne Metallgefäß, das Luc so gut kannte.

»Was ist drin?«

»Calva…«

Bevor sein Vater das Wort beenden konnte, schraubte Luc schon die Flasche auf. Er nahm einen großen Schluck und spürte das brennende Gefühl, das der Apfelschnaps auf seiner Zunge hinterließ und das sich rasch im ganzen Körper ausbreitete. Feuer schlug Kälte. So ging das.

Der Calvados aus der Normandie war über zwanzig Jahre alt, sein Vater bekam ihn regelmäßig von einer alten Apfelbäuerin zugesandt, mit der er sich vor Jahrzehnten angefreundet hatte. Der Schnaps war ein Gedicht. Doch auch ohne ihn hätte Alain Verlain nicht gefroren. Niemals. Dafür war er zu oft hier draußen gewesen. Bei Nacht und Nebel. Sommers wie vor allem winters. Wenn hier draußen Hauptsaison war.

Wann immer Luc im frühesten Morgengrauen mit rausgefahren war – und er hatte das so oft wie möglich getan –, hatte er sich zusammenreißen müssen, um sich die Müdigkeit und das Frösteln nicht anmerken zu lassen. Selbst die drei Paar Socken, die er sich heimlich übereinander angezogen hatte, hatten nie geholfen. Bis Alain ihm dann im Alter von vierzehn Jahren zum ersten Mal den Flachmann weitergereicht und ihm die Jacke geschenkt hatte, die schon Lucs Großvater getragen hatte und die aus irgendeinem besonderen Material war, das unermüdlich Wind und Kälte abwies. Danach hatte er immer darauf hingefiebert, endlich wieder mit hinausfahren zu dürfen. Mithelfen, den Lebensunterhalt der Familie einzuholen.

Heute Morgen war es Alain gewesen, der der Abfahrt entgegengefiebert hatte. Schon ganz früh, zwei Stunden vor der vereinbarten Zeit, hatte sein Vater draußen vor der Holzhütte gesessen und geraucht, neben sich eine Tasse seines unnachahmlich starken Kaffees. So hatte er minutenlang in die Dunkelheit geschaut. Luc hatte ihn durchs Fenster beobachtet und vor Rührung lächeln müssen.

Es war sein Versprechen an seinen Vater gewesen. Noch einmal gemeinsam hinauszufahren auf das Bassin und dort den Sonnenaufgang mitzuerleben. Im Winter, in der Vorweihnachtszeit, der Zeit, die Alain immer die liebste war. Keine Touristen, viel Arbeit. Das Bassin ganz leer, keine Segler, keine Motorboote, nur die Austernzüchter bei der Arbeit. Das hatte Alain noch einmal sehen wollen. Und derzeit ging es ihm so gut, dass es möglich war.

Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Ärzte gaben ihm noch ein halbes Jahr. Vielleicht neun Monate. Zuletzt war er zu einer zweimonatigen Kur gewesen, bis spät in den Oktober, oben in La Baule. Und nun standen sie hier draußen auf der Barkasse, die immer weiter hinaussteuerte auf das Bassin.

Alain klopfte von außen an die Kabine und zeigte fragend auf seinen Flachmann. Die anklappbare Scheibe wurde geöffnet, und ein heiteres Lachen erklang.

»Merci, Monsieur Verlain, aber das ist mir definitiv zu früh. Wenn Sie mögen, hier gibt es Kaffee.«

»Merci, Lieutenante«, sagte Alain, »wir kommen gleich hinein.« Dann wandte er sich wieder der Backbordseite zu, sein Fernglas fest in den Händen.

Luc war Lieutenante Giroudin unendlich dankbar. Es war beileibe keine Selbstverständlichkeit, dass die Gendarmerie den Kollegen von der Police Nationale einen Gefallen tat. Sie aber hatte sofort zugesagt, Alain und ihn mit hinauszunehmen, extra noch mal in den Hafen zu fahren, morgens um halb fünf, um sie an Bord zu nehmen, für die letzten drei Stunden ihrer Schicht. Klar, Alain, sein Vater, war hier draußen eine Legende. Sie waren eine der alteingesessenen Familien in der Austernzucht gewesen. Wobei die Firma nur noch aus Alain bestanden hatte, bis er sie vor vier Jahren an Bertrand Chevalier verkauft hatte.

Die Menschen hier entlang des Bassins kannten Alain Verlain. Sie mochten ihn. Luc liebte ihn. Er zog sich die Handschuhe aus, zündete sich eine Zigarette an und rieb sich die kalten Hände, während er den Rauch ausblies. Noch gab es nur die Fahrrinnen, durch die Lieutenante Giroudin ihr Boot steuern musste, aber die Flut begann langsam, das Wasser drückte zurück in das Bassin, flutete den Sand.

Die Patrouille der Gendarmerie war nur dann unterwegs, wenn Ebbe war – denn dann lagen die Austern in ihren poches, den schwarzen Säcken, frei zugänglich im Schlick. In zwei, drei Stunden aber würden sie vom Hochwasser bedeckt sein, was einen Diebstahl unmöglich machte, denn dafür hätte es schon einen Kran gebraucht, und der erregte in den Austernbänken zu viel Aufsehen.

Lieutenante Giroudin rief aus der Kabine: »Wir nehmen Kurs hinüber nach Andernos, wenn Ihnen das recht ist, Commissaire.«

Luc nickte. Sie steuerten nordwärts, dorthin, wo sich viele Austernbänke befanden. Die Plätze, wo die Austern wuchsen, waren auf die ganze Fläche des Bassins verteilt, überall dort, wo es viele und hohe Sandbänke gab, damit die Züchter bei Ebbe ungestört und trockenen Fußes an ihren Austern arbeiten konnten.

Luc gesellte sich wieder zu seinem Vater, der ganz vorne an der Spitze des Bootes stand und den Ausblick genoss. »Und, Papa?«

»Wunderschön«, sagte er und nahm ein Taschentuch, um sich zu schnäuzen. Der Commissaire legte einen Arm um die schmalen Schultern seines Vaters und hielt ihn. So standen sie da, minutenlang, während das Boot durch das tiefer werdende Wasser pflügte und am Horizont die ersten Sonnenstrahlen zu sehen waren.

»Es ist doch unglaublich, dass hier unter und neben uns all diese Schätze lagern, oder?«, fragte Alain. »Und wir sind nicht die Einzigen, die danach greifen wollen …«

Er machte sein verschwörerisches Gesicht, und Luc wusste, dass er nun ganz still sein musste, denn gleich würde sein Vater zum Austernzüchterlatein greifen und die spannendsten Geschichten aus der Zucht erzählen: von den Seesternen, die mit ihren Armen die Austern aufknacken und sie aussaugen, von den Schnecken, die Austernbohrer heißen – und von den Dieben, die es auf dem Bassin gab und die der Grund waren, warum sie hier heute Streife fuhren. Doch bevor Alain ansetzen konnte, hörte Luc instinktiv das piepende Funkgerät. Er wandte sich um, doch das Fenster zur Kabine war geschlossen, so sah er nur, wie sich Giroudins Mund bewegte.

Plötzlich legte sich das Boot auf die Seite, und Alain schaffte es gerade noch geistesgegenwärtig, Luc mit einem beherzten Griff festzuhalten, sonst wäre der Commissaire über Bord gegangen. Giroudin wendete und beschleunigte, die Bugwelle schlug nun hoch auf, und Luc und sein Vater stolperten in die Kabine.

»Was ist denn los?«, fragte Luc.

»Vielleicht ist es Schicksal, dass Sie hier sind. Es gibt einen Einsatz.«

»Wohin fahren wir?«

»Moment …«, sie griff nach dem Funkgerät und gab ihre Position durch, dann sagte sie: »Wir brauchen acht, neun Minuten bis da draußen. Melde mich dann. Wir haben einen Commissaire der Police Nationale an Bord, ihr braucht also niemanden zu schicken.«

»Wieso ist denn ein Commissaire an Bord?«, fragte die männliche Stimme, die durch das Funkgerät merkwürdig verzerrt war.

»Zufall. Erzähl ich dir später.«

Sie hängte ein, dann sah sie Luc ernst an.

»Ein Austernzüchter. Er hat einen Notruf abgesetzt. Er wurde überfallen. Liegt auf der Banc d’Arguin.«

»Überfallen? Im Wasser?«

»Ich habe nur diese Information. Er war offensichtlich verwirrt, als er die Kollegen an Land anrief.«

Sie blickte wieder hinaus, konzentrierte sich auf die schmale Fahrrinne, die gleich breiter werden würde, je näher sie der Ausfahrt aus dem Bassin kamen, wo es hinausging auf den offenen Atlantik.

Luc betrachtete seinen Vater, der nun ganz verändert aus dem Fenster sah, ernsthaft, professionell. In Alains Miene erkannte Luc sich selbst wieder.

»Haben Sie einen Namen?«, fragte sein Vater die Lieutenante.

»Nein, leider nicht. Er hat nur seine Position durchgegeben und gerufen: ›Überfall, Überfall!‹ Dann hat er aufgelegt.«

Sie drückte den Gashebel nun ganz durch, das Boot machte einen Satz nach vorn.

Zur Rechten kam weiß mit roter Spitze der Leuchtturm des Cap Ferret in Sicht, dessen Lichtkegel immer noch nervös durch die Bucht glitt. Und dann, als sie an der Spitze des Caps vorbeifuhren, schlugen auf einmal die Wellen von rechts ans Boot, der weite, endlose Atlantik lag offen vor ihnen, und zu ihrer Linken erhob sich gleichermaßen unendlich die Düne von Pilat, dieser weiße Berg aus Sand, auf dem Luc seinen ersten Fall in der Aquitaine aufgeklärt hatte.

110 Meter hoch und mehrere Kilometer lang, ein Monument aus Sand, vom Wind umtost, auch heute Morgen. Fast meinte Luc zu spüren, wie ihm die Körnchen ins Gesicht wehten.

Sie waren der Düne so nah, ein herrlicher Anblick, doch er gab sich einen Ruck und konzentrierte sich wieder auf die Banc d’Arguin, eine Sandbank, die nur bei Ebbe sichtbar war und die genau zwischen der Düne und dem offenen Meer lag. Hier draußen war ein Vogelschutzgebiet, normale Boote durften nicht ankern. Doch die Austernzüchter hatten auf der Banc einige Parks angelegt, auch sein Vater hatte einen Teil seiner Austernzucht hier draußen auf dem offenen Meer gehabt. Luc hatte es geliebt, die Brandseeschwalben zu beobachten, die hier ihren Winter verbrachten, oder im Herbst die Zugvögel anzuschauen, die auf der Sandbank Rast machten auf ihrer langen Reise in den Süden. Nur ein einziges Boot lag ein Stück von der Sandbank entfernt im tieferen Wasser. Ein Austernboot, kein Zweifel. Der schmale Aufbau mit der Kabine, der lange Rumpf, auf dem normalerweise die Austernsäcke lagerten, der dünne Boden mit minimalem Tiefgang, damit die Züchter auch bei Niedrigwasser vorwärtskamen.

Lieutenante Giroudin steuerte so dicht wie möglich am Boot vorbei.

»Niemand zu sehen«, sagte Luc.

Alain blickte durchs Fernglas, bewegte es suchend hin und her. Dann rief er: »Dort, dort auf der Bank, da sitzt einer.«

Die Gendarmin ließ sich das Fernglas geben, sah ebenfalls zu der Stelle und nickte. »Wir legen an«, rief sie nach hinten, und sogleich machte sich Oberbootsmann Diallo am Anker zu schaffen.

Giroudin wendete und fuhr das Boot rückwärts an die Bank, gerade so weit, dass sie noch etwas Wasser unterm Kiel hatten und dennoch trockenen Fußes auf die Bank kämen.

»Bootsmann Arnoult, Sie bleiben an Bord. Wenn das Wasser weiter aufläuft, halten Sie das Boot nahe an der Sandbank. Ich möchte hier keine nassen Füße kriegen, falls wir länger brauchen und die Springflut uns erwischt.«

»Jawohl, Lieutenante«, sagte er.

»Kommen Sie«, sagte sie, dann trat sie aus der Kabine, um mit ihren schweren schwarzen Stiefeln über die Reling in den noch nassen Sand zu springen.

Luc sprang hinter ihr her und half seinem Vater über die Kante, dann hob er ihn auf den Sand. Er war für einen Moment bestürzt darüber, wie leicht sein Vater geworden war. Früher war er ein Bär von einem Mann gewesen. Heute war er ein Leichtgewicht.

Oberbootsmann Diallo folgte ihnen. Sie gingen schnellen Schrittes Richtung Süden, dorthin, wo sie durch das Fernglas einen Mann gesehen hatten. Von hier aus und ohne Fernglas war er nur ein kleiner schwarzer Punkt, dem sie sich aber rasch näherten.

Luc schlug sich den Schal enger um den Hals. Verdammt, es war wirklich wahnsinnig kalt. Er hielt sich dicht neben Alain. Der Weg war anstrengend, der Sand unter den Füßen weich, und er wollte nicht, dass es zu viel wurde für seinen Vater. Aber der hielt sich erstaunlich gut, kein schweres Atmen, kein Zeichen von Schwäche.

Drei Minuten später standen sie vor dem Mann, der am Boden saß, regelrecht kauerte und so stark zitterte, dass Luc sofort wusste, dass er einen Schock hatte. Er trug nur eine Latzhose und einen dünnen Pullover. Die Lieutenante holte aus ihrer Tasche eine Rettungsdecke, kniete sich neben den Mann und legte sie ihm um.

»Monsieur, wir sind da, die Gendarmerie von Arcachon. Sie haben uns angeruf…«

»Pierre«, unterbrach Alain sie, trat auf den Mann zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Der Mann betrachtete Lucs Vater, als sehe er einen Geist. Er war in den Fünfzigern, trug eine dicke Mütze, die Wangen waren rot, fast lila vor Kälte, er war schlank, beinahe dünn und trug einen graumelierten Oberlippenbart.

»Alain«, stöhnte er, »was machst du denn hier?«

»Zufall«, antwortete Alain, »purer Zufall. Aber Pierre …«

Als er merkte, wie Lieutenante Giroudin zwischen den beiden hin und her sah, sagte Alain erklärend: »Das ist Pierre Lascasse, Austernzüchter aus La-Teste-de-Buch, ein kleiner Betrieb mit vier Angestellten und Hausverkostung.« Und dann an Pierre gewandt: »Du hast die Gendarmerie gerufen, Pierre, erinnerst du dich? Aber Himmel, was ist denn passiert, du erfrierst ja hier draußen, komm, ich helf dir hoch.«

Bevor Luc es verhindern konnte, zog der dünne Alain Verlain den viel größeren Pierre Lascasse auf die Beine und legte ihm die Rettungsdecke enger um den Körper, weil er noch immer zitterte.

»Monsieur Lascasse«, stellte sich nun Luc vor, »ich bin Commissaire Luc Verlain von der Police Nationale in Bordeaux. Alain ist mein Vater. Wir waren zufällig auf dem Boot. Wollen Sie uns bitte sagen, was geschehen ist?«

Der Mann blickte beunruhigt zwischen ihnen hin und her, als überlege er, was er sagen könne, doch dann griff er sich an den Kopf und schob das wenige verbliebene Haar ein Stück zur Seite. Das Blut war bereits geronnen.

»Sie haben mich … sie sind …«, er stotterte, wirkte schwer verwirrt.

»Bitte, beruhige dich«, sagte Alain, »erzähl ganz langsam, Pierre.«

Der Mann nickte.

»Sie haben mich auf dem Boot überrascht. Von hinten, ein Schlag, mehr weiß ich nicht. Und dann habe ich mich hier am Strand wiedergefunden. Ich hatte solche Angst, weil die Flut kam. Ich bin nicht mehr zu meinem Boot gekommen.« Er zeigte zu seinem Austernboot, das nun schon weit entfernt vom Land im Wasser lag, die Flut drückte bereits mit Macht.

»Die wollten Sie ersaufen lassen?«, fragte Lieutenante Giroudin und sah Luc vielsagend an.

»Wer war es? Und wie viele?«, fragte Luc.

»Ich weiß nicht, es war ein sehr fester Schlag, ich kann es nicht sagen, ich habe vielleicht zwei oder drei Stimmen vernommen, aber …«

»Was haben die Männer gesagt?«

»Ich erinnere mich nicht«, antwortete Lascasse und begann zu schluchzen. »Herrgott, ich erinnere mich nicht. Ich will hier weg, weg von dieser Sandbank, bitte, ich will nicht ertrinken.« Er schrie nun beinahe.

»Kommen Sie«, sagte Luc und ergriff seinen Arm, zog Lascasse mit sich in Richtung Boot, »wir bringen Sie in Sicherheit. Ein Arzt muss sich die Wunde ansehen. Wir bringen Sie in den Hafen, dort wird ein Krankenwagen warten.«

Er ging ein paar Schritte, dann fragte er mit schärferer Stimme: »Monsieur Lascasse, warum waren Sie zu dieser frühen Stunde schon draußen? Das ist reichlich ungewöhnlich.«

Der Austernzüchter antwortete nicht. Er schien in Gedanken versunken.

»Monsieur. Sie sollten mir antworten.«

»Was?«, fuhr Lascasse auf.

»Warum Sie zu dieser frühen Stunde draußen waren, habe ich gefragt.«

»Ach so«, sagte Lascasse, »die Austern in unserem Außer-Haus-Verkauf waren fast alle, und es waren gute Tage im Verkauf. Ich wollte Nachschub holen, solange Ebbe ist, wir hätten nicht bis heute Nachmittag warten können.«

Luc nickte. Eine verständliche Erklärung.

»Und Sie haben wirklich nicht gemerkt, wie Männer auf Ihr Boot kamen? Sie hätten doch den Motor eines anderen Bootes gehört …«

»Mein Motor lief«, antwortete Lascasse, »und ich habe an den poches gearbeitet, den Kopf nach unten. Ich habe wirklich nichts bemerkt.«

Der Mann sprach, als habe er seinen Text auswendig ge lernt.

»Gut, wir sprechen später, wenn sich ein Arzt Ihre Wunde angesehen hat«, sagte Luc.

Bootsmann Arnoult wartete an Deck des Gendarmeriebootes und reichte Pierre Lascasse die Hand, um ihn heraufzuziehen. Luc folgte und half Lieutenante Giroudin und Alain an Deck. Dann gingen sie gemeinsam in die enge Kabine, wo sich Pierre direkt vor den kleinen Heizlüfter stellte, der unentwegt warme Luft herausblies.

Alain zog seine metallene Flasche aus der Tasche und reichte sie Pierre: »Hier, nimm, das wird dich zusätzlich aufwärmen«, sagte er. Pierre nahm mehrere große Schlucke, und langsam bekam seine Haut wieder eine natürliche Farbe.