Winterträume in der kleinen Schokoladenmanufaktur - Veronika Gamsreiter - E-Book

Winterträume in der kleinen Schokoladenmanufaktur E-Book

Veronika Gamsreiter

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Beschreibung

Der süße Duft von Glück

Rosies größte Leidenschaft ist Schokolade. Die 26-jährige Londonerin weiß alles über die verführerische Köstlichkeit, denn in ihrer Kindheit war sie oft in der Chocolaterie ihrer geliebten Grandma. Rosies größter Wunsch ist es, ebendiesen kleinen Schokoladenladen in der alten Heimat wiederzubeleben. Doch wie soll das funktionieren? Schließlich arbeitet sie in London und kommt mit ihrem Lohn gerade so hin.

Und ihr attraktiver Boss macht alles noch komplizierter: Jack ist fasziniert von Rosies Leidenschaft und ihrem Wissen über Schokolade, weshalb sie bei der Entwicklung eines neuen Schoko-Powerriegels mithelfen soll. Bei der gemeinsamen Arbeit kommen sich die beiden immer näher. Aber wo soll das nur hinführen, träumt Rosie doch davon, in ihre Heimatstadt Bedford zurückzukehren, und auf Jack wartet sein Leben in New York ...

Ein stimmungsvoller und romantischer Wohlfühlroman rund um die süßeste Versuchung der Welt.

Alle Romane dieser Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Wir haben die Geschichten sorgsam für dich ausgewählt, damit sie dir an kalten Wintertagen das Herz erwärmen und dich beim Lesen in Weihnachtsstimmung versetzen.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Rosies größte Leidenschaft ist Schokolade. Die 26-jährige Londonerin weiß alles über die verführerische Köstlichkeit, denn in ihrer Kindheit war sie oft in der Chocolaterie ihrer geliebten Grandma. Rosies größter Wunsch ist es, ebendiesen kleinen Schokoladenladen in der alten Heimat wiederzubeleben. Doch wie soll das funktionieren? Schließlich arbeitet sie in London und kommt mit ihrem Lohn gerade so hin.

Und ihr attraktiver Boss macht alles noch komplizierter: Jack ist fasziniert von Rosies Leidenschaft und ihrem Wissen über Schokolade, weshalb sie bei der Entwicklung eines neuen Schoko-Powerriegels mithelfen soll. Bei der gemeinsamen Arbeit kommen sich die beiden immer näher. Aber wo soll das nur hinführen, träumt Rosie doch davon, in ihre Heimatstadt Bedford zurückzukehren, und auf Jack wartet sein Leben in New York ...

Veronika Gamsreiter

Winterträume in der kleinen Schokoladenmanufaktur

Für Andreas, mit dem ich meine ganz eigene Liebesgeschichte schreibe.

Kapitel 1

»Wenn Sie sich die Inhaltsstoffe des Choc-Energizers einmal genauer ansehen wollen, Mr. Walker – die Hauptkomponenten, mit denen wir primär in die Vermarktung gehen, sind Hafermilch und gepuffte Quinoa«, sagte Felicity, die Produktentwicklerin.

Rosies Augen folgten dem roten Punkt von Felicitys Laserpointer, der wild blinkend wie ein Glühwürmchen auf Ecstasy durch den modernen Konferenzraum huschte. Felicitys Miene war stoisch gelassen, ihre zuckenden Nasenflügel verrieten aber, wie unangenehm ihr die technischen Probleme sein mussten.

»Der Riegel ...« Sie tackerte mit beiden Daumen auf den Laiserpointer ein. »... wird mit einer hauchdünnen Schicht aus Diät-Schokolade umhüllt. Das spiegelt genau den Zeitgeist wider. Denken Sie nur an die aktuellen Sport- und Food-Influencer.« Endlich kam der Punkt auf dem Bildschirm zur Ruhe. »Die Mischung ergibt einen trendigen Fitnessriegel für moderne Sportliebhaber.«

Rosie saß auf dem Stuhl ganz hinten im Konferenzraum und wippte ungeduldig mit dem Kugelschreiber. Verantwortlich für die neue Schoko-Sportriegel-Linie der Ostrich Corporation und keinen Schimmer, was gute Schokolade ausmacht, dachte sie. Felicity hält eine Ganache wahrscheinlich für einen indischen Ashram oder eine neue Yoga-Art.

Rosie hätte schon gewusst, was sie der Geschäftsleitung präsentieren würde, hätte man sie gefragt. Sicher kein freudloses Superfood, sondern zart schmelzenden Mandelnougat mit karamellisiertem Vanillezucker und einer Prise Himalaya-Salz. Nicht in Form eines Fitnessriegels, sondern einer feinen drei Zentimeter großen Praline. Allein bei der Vorstellung lief Rosie schon das Wasser im Mund zusammen.

Nur dass das natürlich nicht zu Ostrich passt, dachte sie dann und begann, Kringel in ihr Notizbuch zu malen.

Zwei Jahre war sie schon in der Firma. Leider nicht im kreativen Entwickler-Team, sondern im Marketing. Schon während des Studiums hatte sie hier als Praktikantin des Marketing-Genies Patrick Kingsley gearbeitet, der Ostrich in kürzester Zeit auch in Europa zur führenden Marke für Mahlzeitenersatzprodukte gemacht hatte. Mittlerweile war Rosie fest angestellt und eine vollwertige Marketing-Kraft, aber das hatte ihren Chef Patrick an diesem Morgen genauso wenig interessiert wie sonst auch. »Sei doch so lieb, Darling, und vertrete mich in dem Meeting heute. Meine frisch renovierte Gesichtshaut verträgt noch keinen Stress. Zweihundertfünfzig Pfund hat mich das Micro-Needling in der Gloucester Road gestern gekostet«, hatte er ihr am Morgen in einer Sprachnachricht mitgeteilt. »Und bitte Protokoll führen.«

Während Felicity sich weiter durch ihre Präsentation arbeitete, betrachtete Rosie die Gesichter der Anwesenden. Anstatt wie sonst mit müder Miene und Kaffeebecher in der Hand saßen heute alle Kollegen hellwach und mit fast schon militärisch strammer Haltung am Konferenztisch.

Pete, einer der ITler, der rechts neben ihr saß, hatte sogar seine oftmals albernen Shirts mit den peinlichen Sprüchen gegen ein einfarbiges Hemd mit Kragen und Manschetten getauscht. Lydia aus der Buchhaltung trug sogar eine Hochsteckfrisur.

Auch Rosie hatte sich heute bei ihrer morgendlichen Outfit-Wahl mehr Mühe gegeben als sonst. Sie trug eine schwarze Culotte, die ihre schmale Taille betonte, dazu eine weiße Schluppenbluse aus Seide und ihre heißgeliebten weißen Wildlederstiefeletten, die sie stets sorgsam in dem dazu gehörigen Staubbeutel aufbewahrte und nur für besondere Anlässe hervorholte.

Grund dafür war an diesem Tag Jack Walker, einer der Firmengründer der Ostrich Corporation, der sich für einige Zeit in der Londoner Niederlassung darum kümmern würde, den europäischen Markt weiter auszubauen.

Walker war eine Woche zuvor aus New York angereist. Alle hatten ihre Schreibtische aufgeräumt und waren hektisch durch die Gänge geschwirrt, als stünde ein royaler Besuch bevor. Auch Rosie hatte sich von der Aufregung anstecken lassen, aber außer einem formellen Händeschütteln war bisher nichts gewesen.

Und jetzt saß ihr oberster Boss hier mit ihr am Konferenztisch. Er sah wirklich gut aus. Unverschämt gut ...

»Wir haben uns für den günstigeren Schoko-Überzug entschieden«, sagte Felicity gerade, »bei dem wir einiges an Kosten einsparen. Mit dem richtigen Marketing checkt der Kunde ohnehin nicht, welche Qualität die Schokolade wirklich hat. Ich meine, auch wenn wir für den europäischen Markt die Schokohülle testen, sollte der Fokus ja immer noch auf dem Inhalt des Riegels liegen.«

Rosie stöhnte unwillkürlich auf. Schokolade war doch nicht einfach nur ein zweckmäßiger Überzug, der einen Sport-Riegel zusammenhielt, wie ein Stück Alufolie einen Burrito! Schokolade war eine verführerische Köstlichkeit, eine Vielfalt an erlesenen Aromen, ein Vergnügen für die Sinne; sie war Wärme und Heimat. Und vor allem war Schokolade für Rosie ein Versprechen!

Es war still geworden im Meeting-Raum.

Rosie blickte von ihrem Notizbuch auf und stellte fest, dass sie jetzt alle anstarrten. Wie peinlich!

Sie spürte, wie ihr Blut pulsierte und ihr Gesicht rot anlief wie der Cherry-red-Lippenstift, den sie kurz vor dem Meeting noch einmal nachgezogen hatte.

»Miss Benett, möchten Sie etwas sagen?«, fragte Jack Walker und lehnte sich lässig auf seinen Stuhl zurück.

»Ich, äh ...« Rosie sank ebenfalls in ihren Stuhl, nur dass es bei ihr vermutlich eher nach einem ungeschickten Versuch aussah, sich hinter dem Tisch zu verstecken. »Nein, ich meine nur, dass es sehr wohl einen Unterschied macht ... Also, dass der Kunde merken wird, ob die Schokolade hochwertig ist.«

»Und das weißt du so genau, weil?«, fragte Felicity in schnippischem Ton. Der Laserpunkt huschte nervös von links nach rechts durch den Raum.

»Na ja, ich kenne mich mit Kakao ganz gut aus«, antwortete Rosie nun schon etwas selbstbewusster. Sie dachte einen kurzen Moment an ihre Grandma Millie, an die Chocolaterie und an die köstlichsten Pralinen von ganz England. »Ich bin überzeugt, dass der Kunde die Qualität der Schokolade bemerkt. Billige Schokolade mit vielen Inhaltsstoffen fühlt sich sandig oder körnig an und befriedigt das Lustzentrum im Gehirn weniger. Gute Schokolade hingegen schmeckt bittersüß nach Kakao. Das Aroma ist intensiv. Es bleibt lange auf der Zunge. Der Körper will einfach mehr davon.«

Rosie sah in die fragend dreinschauende Runde und blieb an Mr. Walkers durchdringendem Blick hängen. »Der Kunde wird nicht widerstehen können. Er wird mehr von dem Riegel haben wollen und weitere kaufen.« Sie konnte nicht anders, als ihn ebenfalls anzustarren.

»Guter Einwand«, sagte Edward aus der PR-Abteilung, wurde aber von einem Klopfen an der Glastür unterbrochen.

Gretchen Miller, Mr. Walkers Persönliche Assistentin, streckte den Kopf zur Tür herein und wies ihn darauf hin, dass sein Zehn-Uhr-Termin bereits auf ihn wartete.

Ganz langsam wandte er den Blick von Rosie ab. »Ja, richtig.« Er schnappte sich sein Smartphone, das vor ihm auf dem Tisch lag, und sah noch einmal kurz in die Runde. »Merken Sie sich Ihre Ideen! Wir werden das weiter ausführen.«

Damit war das Meeting beendet.

Mit einem hörbaren Seufzer ließ sich Rosie auf den kleinen Hocker neben Perpetua sinken und reichte ihr einen Becher dampfenden Kaffee.

»Danke, Kleines. Na, einen schlechten Start in den Tag gehabt?« Mit ihren langen künstlichen Nägeln tippte die Empfangsdame weiter auf der Tastatur herum und sah nicht einmal auf. »Gibt es jemanden, den ich verhauen oder aus dem Gebäude entfernen lassen soll?«

Rosie lachte. Perpetua traute sie alles zu. Mit ihrem divenhaften Auftreten, dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein und dem exzentrischen Erscheinungsbild hatte die Afroamerikanerin schon den ein oder anderen ungebetenen Gast aus dem Bürogebäude verscheucht. Sie kommandierte gestandene Kurierboten herum, wies Besucher in ihre Schranken, und von ihrem Empfangspult aus koordinierte sie die Ostrich-Welt. Vor Perpetua hatten alle Respekt. Rosie war die Einzige, mit der die übergewichtige, etwas verrückte Mittdreißigerin warmgeworden war.

»Nein, danke, vielleicht komme ich ein andermal auf dein Angebot zurück«, sagte Rosie lächelnd. »Felicity, die Produktentwicklerin, hat einfach nur keine Ahnung von Schokolade. Bei dem Meeting gerade konnte ich nicht anders, als mit den Fakten aufzuräumen. Ich schätze, das hat ihr nicht gefallen.«

»Ach, Süße, du vergeudest wirklich deine Zeit hier bei Ostrich. Eine Schande um jeden Tag, an dem du nicht deine köstlichen kleinen Schokodinger an den Mann bringst. Apropos, ich bräuchte Nachschub von diesen unglaublichen Schnaps-Bällchen. Wie heißen die noch gleich?«

»Du meinst die Amarula-Sahne-Trüffel?« Rosie kramte in ihrer Handtasche. »Bekommst du. Aber erst musst du noch meine neueste Kreation probieren.« Sie förderte ein Schächtelchen zutage und öffnete es. So gerne sie ihre Kreationen selbst aß, war ihre Motivation für das Entwickeln und Herstellen neuer Pralinen doch das Feedback, das sie dafür bekam. Jedes Mal, wenn sie eine neue Sorte ausprobierte und selbst für perfekt befand, ließ sie ihre Freunde kosten. »Ich habe sie ›Madagaskar-Kaffee‹ getauft.«

Perpetua beugte sich neugierig über die kleine Schachtel, die Rosie ihr mit beiden Händen hinstreckte, als präsentierte sie einen Schatz. Darin lagen zwei dunkelbraune Kugeln mit einer kreisförmigen Riffelung, in der sich das Licht der grellen Bürodeckenlampe matt spiegelte. Sie verströmten jetzt ihren Duft von Kaffee und dunkler Schokolade, der in der Schachtel eingeschlossen gewesen war.

Vorsichtig nahm Perpetua sich eine Praline heraus und biss eine Hälfte davon ab. »Hmmmm.« Sie blickte auf die zweite Hälfte, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.

»Das in der Mitte ist eine Mokkabohne, die in einer Kaffee-Ganache mit echter Vanille aus Madagaskar eingehüllt liegt. Außen herum habe ich eine Zartbitterkuvertüre mit siebzigprozentigem Kakaoanteil gewählt. Die Bohnen stammen aus einem kleinen Anbaugebiet auf Kuba, an die man nicht so leicht herankommt.«

Rosie wartete gespannt auf eine Regung in Perpetuas Gesicht. Sie war ihre anspruchsvollste Testerin und so gnadenlos wie ein Michelin-Kritiker.

»Rosie, du hast dich mal wieder selbst übertroffen. Dieser feine Hauch Vanille ... ein Traum«, nuschelte Perpetua und schleckte sich die Fingerspitzen ab. Dann sah sie Rosie an mit ihren dunklen Augen, denen nichts entging. »Du konntest gestern Nacht wieder nicht schlafen und hast deswegen neue Pralinen ausprobiert, stimmt's?«

»Stimmt.« Rosie senkte den Blick.

»Süße, du musst endlich aufhören, dich zu geißeln. Dann ist es eben nicht der Laden deiner Grandma. Dann machst du eben irgendwann mal einen in London auf. Die Leute hier würden dir die Pralinen aus der Hand reißen. Oder du eröffnest einen Online-Shop, oder du ...«

»Du verstehst das nicht.«

Perpetua seufzte. »Aber deine Grandma hätte bestimmt nicht gewollt, dass du unglücklich bist.«

»Ich bin nicht unglücklich. Ich muss mich einfach nur noch mehr anstrengen. Heute Mittag habe ich einen Termin bei einer weiteren Bank, vielleicht klappt es ja dort mit dem Kredit.«

»Hat dir der aktuelle Besitzer der Chocolaterie eigentlich eine Deadline gesetzt?«

»Nein, zum Glück nicht, doch allzu lange wird er nicht warten«, antwortete Rosie und warf einen Blick auf die Uhrzeit auf Perpetuas Bildschirm.

»Oh, verdammt, es ist schon so spät!« Sie sprang auf und steckte die Schachtel mit der zweiten Praline wieder ein.

»Viel Glück bei der Bank, Rosie!«, rief Perpetua ihr noch hinterher.

Als Rosie außer Atem vor dem Gebäude der Golden Central Bank ankam, spürte sie, wie die Regentropfen ihre Stirn hinabliefen und sich in ihren Augenbrauen sammelten. Ihre braun gesträhnten langen Haare hingen schlaff herunter, und wie das Make-up aussah, mochte sie sich gar nicht vorstellen. Sie war entlang der Ladengeschäfte von Markise zu Markise gehüpft, um dem strömenden Regen und den Pfützen auszuweichen, damit ihre heiß geliebten Wildleder-Stiefeletten und die Bankunterlagen, die sie unter dem Wollmantel schützte, trocken blieben. Um alles andere hatte sie sich nicht kümmern können.

Sie sah auf ihr Handy, drei Minuten nach zwölf. So sehr sie sich auch bemüht hatte, dieses Mal pünktlich loszukommen, hatte sie sich doch wieder von dem netten Brötchenverkäufer vor dem Büro in ein Gespräch verwickeln lassen.

Als sie nun die schwere Drehtür der Bank vor sich herschob, erkannte sie in der gläsernen Spiegelung, dass ihre Mascara eine Etage tiefer gewandert war. Schnell kramte sie ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche, beseitigte das verschmierte Make-up und tupfte sich das Gesicht ab.

Beim Betreten der Empfangshalle schwappte ihr eine Welle aus warmer, trockener Heizungsluft entgegen, wie sie sie schon von den Terminen bei den anderen Banken kannte, bei denen sie vorgesprochen hatte. Am Empfangsschalter wartete ein Mann im strengen Anzug – das musste der Kreditberater sein. Als er sie sah, warf er einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und streckte Rosie dann die Hand hin. »Sie müssen Ms. Benett sein. Ich dachte schon, Sie hätten den Termin vergessen. Mein Name ist Holmes.«

Seine seltsam nasal klingende Stimme war zum Schreien. Da Rosie einen guten Eindruck machen wollte und mit einem seriösen Make-up und einer ordentlichen Frisur nicht mehr punkten konnte, unterdrückte sie ein Kichern und lächelte stattdessen freundlich. »Hallo, Mr. Holmes, es tut mir leid, der Regen hat mich überrascht.«

»Nun ja, nicht so schlimm. Folgen Sie mir bitte in mein Büro.«

Rosie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, während Mr. Holmes ihre Unterlagen durchsah und die Daten in seinen Computer eintippte. Dieses Mal musste es einfach klappen! Sie hoffte, dass er keiner dieser dauergelangweilten Bankangestellten war, die ihren Frust an den Kunden ausließen. Wobei: Er hatte da so eine Falte zwischen den Augenbrauen, die nach sehr viel Frust aussah.

Rosie formte ihren Mund zu dem sympathischen, seriösen Lächeln einer Person, die garantiert einen Kredit zurückbezahlen würde. Aber Mr. Holmes sah nicht einmal auf.

Die Deckenlampe summte, und aus einem vergilbten Lautsprecher, der in der Ecke über einer trostlosen Zimmerpflanze hing, tönte leise Fahrstuhlmusik. Rosie betrachtete den Wandkalender, der einen weißen Sandstrand mit Palmen zeigte, und wippte mit dem Fuß zum Takt der Musik. Ob das Teil des Gesamtkonzepts der Bank war? »Entspannen Sie sich, während wir alles prüfen und über ihr zukünftiges Leben entscheiden.«

Rosie stöhnte leise.

»Wie bitte?« Mr. Holmes sah sie mit einer gehobenen Augenbraue an.

»Nichts, tut mir leid, ich ...« Ihr Blick fiel auf eine bunte Plastikverpackung auf seinem Schreibtisch. »Ich gehe gerade im Geiste meine Einkaufsliste durch, ich brauche noch Knalltüten ... Diese Gummibärchen, Sie wissen schon.«

»Sie meinen Knallfrösche? Die esse ich auch gerne.«

»Ja, genau, köstlich. Aber bitte lassen Sie sich nicht von mir stören.«

»Nun ja, ich bin eigentlich fertig«, näselte er und streckte die gefalteten Hände mit einem hörbaren Knacksen nach vorne durch. »Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, Ms. Benett. Ihre Bonität ist nicht gerade die beste. Vor allem, weil Ihr Einkommen aus der Festanstellung ja aller Voraussicht nach wegfällt, sobald Sie die Chocolaterie eröffnen. Ist das richtig?«

»Ja, wenn ich den Laden eröffne, muss ich voll bei der Sache sein. Die Leute sind es ja auch gewohnt, dass das Geschäft an sechs Tagen die Woche geöffnet hat.«

»Auch wenn es schon einen Kundenstamm des aktuellen Geschäfts geben mag, ist das Risiko gerade am Anfang zu hoch, dass Sie den Kredit nicht bedienen könnten. Nach meinem Ermessen sieht es nicht sehr gut mit einer Kreditvergabe aus.«

»Ich verstehe«, antwortete Rosie und seufzte innerlich. Wieder hatte sie eine komplette Mittagspause für nichts und wieder nichts geopfert.

»Eine Möglichkeit gäbe es aber noch, Ms. Benett.«

Rosie wusste, was jetzt kommen würde.

»Haben Sie schon einmal über eine Bürgschaft nachgedacht? Nahestehende Verwandte, Ihre Eltern vielleicht. Oder gibt es eine Immobilie in der Familie, auf die eine Grundschuld aufgenommen werden kann?«

Rosie hatte schon zigmal darüber nachgedacht. Als Ergebnis konnte sie einige schlaflose Nächte und mindestens acht neue Pralinen-Kreationen verzeichnen. »Ja, die Option kenne ich«, sagte sie knapp.

»Mit einer Grundschuld oder einer Bürgschaft könnten wir Ihnen vermutlich weiterhelfen. Überlegen Sie es sich. Wenn Sie möchten, lasse ich den Kreditantrag noch offen, und Sie bringen mir die entsprechenden Unterlagen, falls Sie sich dafür entscheiden sollten.«

Rosie stand auf. »Danke, Mr. Holmes, ich werde es mir überlegen und mich gegebenenfalls noch einmal melden.«

Der Bankangestellte stand ebenfalls auf, richtete seine Krawatte und streckte Rosie die Hand hin. »Melden Sie sich gerne. Und ich würde Ihnen die roten empfehlen. Die roten Knallfrösche sind die sauersten.«

Rosie saß wieder an ihrem Schreibtisch und fasste die Meeting-Inhalte vom Morgen für Patrick in einem Bericht zusammen, als das Telefon klingelte. Erstaunt las sie auf dem Display den Namen Gretchen Miller und hob ab.

»Ms. Benett, entschuldigen Sie die Störung«, tönte es aus dem Hörer.

Rosie mochte Gretchen irgendwie. Die betagte Dame war erst vor einer Woche zusammen mit Jack Walker aus New York hier angekommen, hatte stets ein Lächeln auf dem Gesicht und grüßte freundlich, wenn man sie im Aufzug traf. »Sie stören nicht, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mr. Walker möchte Sie gerne in seinem Büro sprechen. Haben Sie gerade Zeit?«

Rosie erstarrte. »Ähm, ja klar. Ich komme.« Sie legte den Hörer auf und atmete tief durch. Jetzt nur keine Panik, dachte sie und ging im Geiste schnell das Meeting am Morgen durch. Sie hatte doch lediglich ihre Meinung gesagt. Na gut, sie hatte auch Felicity unterbrochen. Und vielleicht auch ihre Autorität untergraben.

Hatte Felicity sich über sie beschwert? Sie durfte auf gar keinen Fall ihren Job verlieren! Ohne Arbeit würde sie in einer Stadt wie London sofort auf der Straße stehen. All ihr Erspartes war doch gerade erst für die Anzahlung der Chocolaterie draufgegangen.

Rosie zog ihre Schreibtischschublade auf, kramte einen kleinen Handspiegel heraus und kontrollierte den Lippenstift. Sitzt, dachte sie und erhob sich mit leicht wackeligen Knien vom Stuhl.

Sie fuhr mit dem Aufzug nach oben und lief mit klackernden Absätzen den Gang entlang zu Gretchen Millers Vorzimmer-Schreibtisch und entspannte sich ein wenig, als sie ihr freundliches Gesicht sah.

»Gehen Sie ruhig schon einmal rein. Mr. Walker müsste jede Sekunde da sein.«

Rosie trat in das helle Eckbüro, so vorsichtig, als würde sie das Gehege einer seltenen Spezies betreten. Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und betrachtete den Raum.

Er war kühl und farblos, die Einrichtung elegant, aber minimalistisch. Alles verschmolz mit dem tristen Londoner Dezember-Grau, das durch die bodentiefen Fenster zu sehen war. An der einen Fensterseite befand sich eine cleane Sitzecke mit zwei einander gegenüberstehenden niedrigen Sofas auf einem großen schwarzen Teppich. Dazwischen stand ein rechteckiger Glastisch mit einer Wasserkaraffe und einem benutzten Glas darauf. Die andere Fensterfront nahm der riesige Schreibtisch mit einem Bürostuhl und zwei Sesseln gegenüber ein.

Noch nie hatte Rosie verstanden, warum die Leute in den oberen Etagen mit dem Rücken zum Fenster saßen. So verpasste man ja die Aussicht auf die Stadt. Und die war wirklich spektakulär von hier oben.

Ihr Blick fiel auf ein dunkelblaues Sakko, das über der Schreibtischstuhllehne hing. Es schien das einzige Persönliche in diesem Raum zu sein. Sie fragte sich, ob das daran lag, dass Jack Walker erst seit einer Woche in diesem Büro arbeitete oder ob das Unpersönliche doch sein eigener Stil war.

»Gefällt es Ihnen?«, kam es von hinten, und Rosie zuckte zusammen. Mr. Walker schloss die Tür und sah sie eindringlich an, während er zu seinem Schreibtisch ging und sich setzte.

»Ja ... dieser cleane Stil ist ... schön.«

»Na, das klingt aber nicht sehr überzeugend«, bemerkte er und zwinkerte Rosie zu. »Setzen Sie sich doch, ich muss nur noch schnell eine E-Mail abschicken.«

Rosie nahm auf einem der kantigen Ledersessel Platz und beobachtete den Mann vor sich. Mit ernster Miene tippte er auf seinen Laptop ein und kniff die mandelförmigen braunen Augen dabei zusammen. Hin und wieder hielt er inne und kratzte seinen dunklen Dreitagebart, der seine kantigen Gesichtszüge betonte. Das dunkelbraune Haar wirkte leicht zerzaust, aber nicht auf diese Ist-mir-doch-egal-Weise, sondern eher perfekt kalkuliert.

Ihr Blick wanderte hinunter zu seinem Oberkörper. Er trug ein strahlend weißes Hemd, die dunklen Knöpfe spannten etwas über seiner Brust. Die Ärmel waren bis zu den kräftigen Oberarmen hochgekrempelt, als hätte er vor, eine körperliche Arbeit zu verrichten. Aus der Nähe betrachtet sah er noch viel besser aus.

»Ich wollte Sie noch einmal wegen des Choc-Energizers sprechen. Mir hat Ihr Einsatz für den hochwertigeren Schokoladen-Überzug gefallen«, sagte Mr. Walker und klappte dabei seinen Laptop zu. »Erzählen Sie mir mehr über die befriedigende Wirkung von Schokolade.«

»Ach so, ja klar«, erwiderte Rosie überrascht. Über Schokolade konnte sie immer reden, auch wenn sie etwas anderes befürchtet hatte. »Also, mit Schokolade ist es fast so wie mit einer Droge. Vereinfacht ausgedrückt wird beim Essen von Schokolade das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert, Endorphine werden freigesetzt, die körpereigene Opiate sind. Auf diese Weise trägt die Schokolade zur guten Laune bei. Billige Schokolade ist aber meist mit zu viel Zucker, Emulgatoren, Milchpulver und so weiter gestreckt. Gute Schokolade hat zwei, maximal drei Zutaten. Das ist einfach nicht das Gleiche.«

»Woher wissen Sie das alles?« Er sah sie aufmerksam an.

Rosie hielt seinem Blick stand und lächelte. »Ich bin mit Schokolade groß geworden. Meine Grandma besaß eine kleine Chocolaterie und hat mir alles darüber beigebracht, als ich klein war. Wenn ich wütend war, hat sie Kakao mit Milch für mich gekocht. Wenn mich etwas bedrückte, hat eine Praline alles ein Stück besser gemacht.«

Sie spürte, wie sich ihr beim Gedanken daran der Hals zuschnürte. Sie räusperte sich. »Wissen Sie, es war falsch von mir, mich heute Morgen einzumischen. Felicity ist eine hervorragende Entwicklerin, Mr. Walker, und ich ...«

»Nein, es war überhaupt nicht falsch«, unterbrach er sie. »Auch wenn es nur um einen Fitnessriegel geht, darf der Genuss dabei nicht zu kurz kommen. Ich glaube nicht, dass gepuffte Quinoa und Hafermilch alleine unsere Kunden befriedigen.« Er zwinkerte wieder. »Und wenn gute Schokolade dabei helfen kann, das zu tun, dann ist das doch einen Versuch wert. Danke für Ihre Inspiration.« Schon wieder hatte er diesen klaren Blick, und wieder konnte Rosie nicht anders, als ihn zu erwidern.

»Gerne.« Mehr brachte sie nicht heraus.

Noch einen kurzen Moment sahen sie sich an, dann löste Mr. Walker seine Augen von ihren und stand auf. »Wie wäre es, wenn Sie beim nächsten Entwickler-Meeting dabei sind? Wir könnten Ihre Expertise gebrauchen. Natürlich nur, wenn Ihr Vorgesetzter einverstanden ist. Wer ist das gleich?«

Rosie sah ihn überrascht an. »Patrick Kingsley. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich etwas beitragen könnte, Mr. Walker.« In Sachen Schokolade und Pralinen konnte ihr zwar niemand etwas vormachen, aber die Ansprüche und Entwicklung eines Power-Riegels waren doch etwas anderes.

»Finden wir es heraus. Und nennen Sie mich bitte Jack. Gretchen wird Ihnen eine Einladung zum nächsten Meeting schicken, und ich kläre das mit Mr. Kingsley«, sagte er und ging zur Tür.

Rosie folgte Mr. Walker. Als sie an ihm vorbeiging, drang sein herbes Parfum in ihre Nase. Sie sog den Duft ein bis hinunter zu ihrem Herzen. Für ein paar Takte schlug es schneller.

Auf dem Weg zurück zu ihrem Büro machte Rosie einen Abstecher zum Empfangsbereich. Als sich die Aufzugstür öffnete, hörte sie schon Perpetuas Stimme: »Noch ein Stück, noch ein Stück. Stopp. Und jetzt langsam im Kreis drehen. Süßer Hintern, Kleiner.«

Der Paketzusteller, der gerade einen Stapel Kopierpapier auf einer Sackkarre hinter den Empfangstresen rangierte, schaute Rosie mit aufgerissenen Augen an.

Rosie lachte. »Perpetua, hör auf damit! Lass den armen Mann einfach seine Arbeit machen.«

»Ich wollte nur helfen«, sagte Perpetua. Sie nahm dem Zusteller unaufgefordert das Formular aus der Hand und unterschrieb. Als der Mann sich kopfschüttelnd verabschiedet hatte, setzte Rosie sich auf den kleinen Hocker, auf dem sie immer saß, wenn sie hier unten vorbeischaute.

»Und, hattest du Erfolg bei der Bank?«, wollte Perpetua wissen.

»Nicht wirklich. Das gleiche Problem wie bei den anderen Banken auch. Aber Themawechsel: Du glaubst nicht, was gerade passiert ist!«

»Was denn, hast du dir von dem Putzmann wieder ein Kaffeedate aufdrängen lassen?« Perpetua lachte, und ihr Körper wackelte dabei wie eine Waschmaschine im Schleudergang.

»Haha! Ich bin nun mal nicht gut darin, Leute zurückzuweisen. Nein, ich war gerade bei Jack ... also Mr. Walker. Er hat mich in sein Büro gebeten und gefragt, ob ich mit meiner Schokoladen-Expertise bei der Entwicklung des neuen Power-Riegels mithelfen könnte.«

»Nein!«

»Doch! Er meinte sogar, dass ihm mein Einsatz bei dem Meeting heute Morgen gefallen hat.«

»Bähm! Nimm dies, dürre Felicity.«

»O Gott, an Felicity habe ich noch gar nicht gedacht!«, murmelte Rosie und biss sich auf die Unterlippe. »Sie wird mich hassen, wenn ich ihr dazwischenpfusche.«

»Da mach dir mal keine Gedanken, Süße. Wenn sie nur gekeimten Buchweizen und Goji-Beeren kann, ist sie selber schuld«, sagte Perpetua und schüttelte sich. »Allein beim Gedanken an den letzten Riegel von ihr vergeht mir sofort wieder der Appetit.«

»Dieses Mal sind es gepuffte Quinoa und Hafermilch. Patrick wird einen Anfall kriegen, wenn er erfährt, was wir da wieder vermarkten sollen.«

»Apropos, dein Boss ist gerade mit dem anderen Fahrstuhl nach oben gefahren, bevor du runtergekommen bist«, erwiderte Perpetua.

»Oh, Mist, danke. Wir sehen uns später!«

Rosie beeilte sich und hörte schon auf dem Flur zur Marketing-Abteilung, dass Patricks Laune alles andere als gut war.

»Gepuffte Quinoa? Wie zur Hölle sollen wir den Leuten denn gepuffte Quinoa schmackhaft machen?«

Rosie stand in der Tür und sah ihn wild vor einem der Praktikanten herumfuchteln, der aussah, als würde er gleich anfangen zu weinen.

»Rosie, wo hast du gesteckt?«, rief Patrick, als er sie entdeckte. »Auf ein Wort, in meinem Büro.«

Wie sie ihn kannte, erwartete er darauf keine Antwort, und sie folgte ihm wortlos.

»Ich werde wieder Stresspusteln bekommen, das spüre ich ganz genau. Wieso tun die uns das immer wieder an, Rosie?« Er ließ sich mit theatralischer Geste auf seinem Bürostuhl nieder.

Wenn Rosie eins in den letzten zwei Jahren gelernt hatte, dann, dass es das Beste war, Patrick zuzustimmen, wenn er in dieser Stimmung war. »Das Gleiche habe ich auch gedacht, Patrick. Möchtest du vielleicht meine neue Pralinen-Kreation probieren?« Sie bot ihm die Schachtel mit der Madagaskar-Kaffee-Kreation an.

»Ach, Rosie, du und ich, wir sind die Einzigen in diesem Laden, die noch guten Geschmack haben.« Er schob sich die Praline in den Mund. »Hmmm, köstlich. Was mich auch direkt zum Punkt bringt: Jack Walker hat mich vorhin angerufen, Rosie. Er möchte, dass du ihm und dem Entwickler-Team mit deinem Schoko-Know-how zur Seite stehst. Ich habe natürlich zugesagt, was soll man dem mächtigen, gut aussehenden Mann auch abschlagen? Vorausgesetzt, du schaffst deine Arbeit hier trotzdem. Ist das in Ordnung für dich?«

»Ja, das ist kein Problem. Du wirst gar nicht merken, dass ich für ein paar Stunden weg war.«

»Gut«, sagte er und beugte sich über den Tisch. »Dann sorg aber auch dafür, dass dieses Mal ein vermarktbares Produkt dabei rauskommt. Ich setze auf dich.«

Kapitel 2  

Rosie saß auf dem Fenstersims in ihrem Apartment und starrte auf die Lichter in den Wohnungen gegenüber. Es hatte zu schneien begonnen, und die Flocken dämpften den Auto-Lärm in Rosies Straße. Die Ärmel des Kuschelpullis über die Hände gezogen, schlürfte sie eine dampfende Tasse Kakao.

Tagsüber hatte sie genug Ablenkung, aber abends holten Rosie ihre Gedanken ein. Nachdenklich betrachtete sie den weiß-braunen Milchschaum in ihrer Tasse und dachte an ihren zehnten Geburtstag zurück.

Ihre Grandma hatte damals für sie und alle ihre Freundinnen eine Party in der Chocolaterie veranstaltet. Sie hatten den ganzen Nachmittag probieren dürfen, was sie wollten. Pralinen, Tafelschokolade, Kakao-Bonbons, alles. Außerdem hatte es heißen Kakao gegeben. Im Schokoladenrausch waren die Mädchen kreuz und quer durch den ganzen Laden gehüpft. Es war der schönste Geburtstag gewesen, den Rosie je gehabt hatte.

Nur auf den Ärger, den es abends gegeben hatte, als alle Kinder abgeholt waren, hätte sie verzichten können. Sie erinnerte sich, wie sie sich hinter dem Verkaufstresen versteckt und dem Streit zwischen ihrer Großmutter und ihrer Mutter gelauscht hatte.

»Wie kannst du die Kinder nur mit so viel Schokolade vollstopfen?«, hatte ihre Mutter geschimpft. »Was meinst du, welchen Ärger wir jetzt mit den anderen Eltern bekommen? Und überhaupt, hast du denn gar nicht an die Kosten gedacht? Kein Wunder, dass der Laden in den Miesen steht, wenn du ständig alles verschenkst.«

»Das bisschen Schokolade wird die Kinder schon nicht umbringen, Virginia. Und misch dich nicht wieder in meine Angelegenheiten. Ich wollte Rosie einen schönen Geburtstag bereiten, und ich denke, das habe ich geschafft, so viel Spaß, wie das Kind heute hatte.«

»Dir geht es immer nur um Spaß, Mum. Ich will nicht, dass Rosie denkt, dass sich das ganze Leben nur um Schokolade und Spaß dreht.«

»Von dir lernt sie ja nur das Gegenteil. Nie hast du Zeit für sie.«

»Ach ja? Na, das erinnert mich ja an meine eigene Kindheit, Mum.« Damit war Rosies Mutter abgerauscht und hatte die Ladentür mit einem lauten Knall hinter sich zugeworfen.

Rosie spürte wieder das drückende Gefühl in Hals und Brust, als sie an die traurigen Augen ihrer Grandma dachte. Und daran, wie ihr Vater sanft Rosies Schulter gedrückt und ihr damit zu verstehen gegeben hatte, dass es jetzt Zeit war zu gehen.

Das schrille Geräusch ihrer Klingel riss Rosie aus den Gedanken. Überrascht presste sie die Stirn dicht an das eiskalte Fenster, konnte aber niemanden unten vor dem Haus sehen. Sie lief zur Wohnungstür und drückte den Knopf der Sprechanlage. »Hallo?«

Im gleichen Moment klopfte es schon an der Wohnungstür. Rosie öffnete zögerlich, und jemand streckte ihr eine Flasche Prosecco entgegen. Es war Reese, Rosies älteste Freundin, mit der sie in Bedford zur Schule gegangen war.

Reese riss die Augen auf. »O nein, ist das dein Pyjama? Hast du schon geschlafen?«

»Hi! Nein, alles gut. Ich habe es mir nur etwas bequem gemacht.«

Reese grinste. »Super, denn ich wollte dich zu einem kleinen Mädelsabend überraschen.«

Ehe Rosie sagen konnte, dass es ihr heute nicht so gut passte, trat Reese schon ein, zog die Schuhe aus und ging direkt in die Küche.

»Am Wochenende warst du so nachdenklich. Was hältst du davon, wenn wir uns einen antrinken und du mir erzählst, was du auf dem Herzen hast?« Reese fing bereits an, das Metall vom Flaschenhals des Proseccos abzupulen.

Die Fürsorge ihrer Freundin rührte Rosie, doch sie wollte nicht über ihre Sorgen reden. Gar nicht. »Das ist lieb von dir, Reese. Aber ich habe nur ein bisschen Stress bei der Kredit-Suche. Nicht der Rede wert.«

»Nicht der Rede wert? Seit ein paar Wochen hast du keine Lust mehr auszugehen und hängst Abend für Abend alleine hier rum. Gehst du überhaupt noch regelmäßig zur Arbeit? Ich habe in der Cosmopolitan gelesen, dass häufige Fehlzeiten im Job ein erstes Anzeichen für Depressionen sein können.«

»Ich habe keine Depressionen«, entgegnete Rosie. »Also gut, wenn du es unbedingt wissen möchtest, dann mach erst mal die Flasche auf. Ich hole zwei Gläser.«

»Na, siehst du, geht doch«, hörte sie Reese murmeln.

»Wow, ich bin wirklich beeindruckt, dass du für deinen Traum sogar einen Haufen Schulden aufnehmen würdest«, sagte Reese, nachdem Rosie ihr alles über Banken und Bürgschaften erzählt hatte. »Ich weiß zwar, wie das Verhältnis zu deiner Mutter ist, aber kannst du dir denn gar nicht vorstellen, deine Eltern um Hilfe zu bitten?«

»Mein Dad würde bestimmt für mich bürgen, doch solange meine Mutter dagegen ist, bringt mir das nichts«, antwortete Rosie und nahm einen großen Schluck aus ihrem kristallenen Sektkelch. Die Gläser hatte sie ein paar Wochen nach Grandma Millies Tod aus einer der Kisten gerettet, die das Entrümpelungsunternehmen abholen sollte. Auch wenn sie damals erst zwölf gewesen war, hatte sie versucht, so viele Gegenstände wie möglich an sich zu nehmen, die die Erinnerung an Millie aufrechterhalten würden.

Schon spürte sie wieder den alt bekannten Kloß im Hals.

»Das hört sich nicht einfach an. Am besten wäre es, du würdest selbst zu Geld kommen. Angel dir doch einen reichen, gut aussehenden Mann«, scherzte Reese.

Rosie kam unfreiwillig Jack Walker in den Sinn, und ihre Stimmung erhellte sich. »Da hätte ich schon einen guten Kandidaten«, sagte sie schmunzelnd und wackelte mit den Augenbrauen. »Einer der Firmenchefs von Ostrich ist derzeit in London. Er sieht verdammt gut aus.«

»Perfekt! Erzähl mir von ihm.«

»Nein, das war nur ein Scherz. Ich würde nie einen Mann um Geld bitten, um meinen eigenen Traum zu verwirklichen.« Rosie schüttelte den Kopf. »Aber der Typ ist wirklich unglaublich attraktiv. Er ist muskulös und hat so einen Blick ...«

»Was für einen Blick und wie sieht der Traummann genau aus?« Reeses Augen funkelten.

Rosie schmunzelte. »Na, so ein Blick, du weißt schon. Als würde er einem direkt in den Kopf schauen. Er ist groß, braune Augen, Dreitagebart. Ich war heute bei ihm im Büro, und er meinte, ich solle ihn Jack nennen.«

»Uhhh, Jack!« Reese klatschte in die Hände und zog ihr Handy aus der Hosentasche. »Wie heißt er noch mal weiter? Ich muss ihn sofort googeln.«

»Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Gib Jack Walker ein.« Rosie ließ sich von der Euphorie ihrer Freundin anstecken und wartete gespannt auf Reeses Urteil.

»Mal sehen ... Hm, Jack Walkers gibt's eine Menge. Aber hier haben wir ihn. Wow, der sieht ja wirklich umwerfend aus! Ich mag sein schiefes Lächeln.«

»Was meinst du mit schiefem Lächeln? Zeig mal her!« Rosie streifte Reeses blonde Haare nach hinten und lehnte sich an ihre Schulter. Beim Anblick ihres Big Bosses spürte sie, wie ihre Wangen ein klein wenig heiß wurden. »Er hat kein schiefes Lächeln, sein Lächeln ist perfekt.«

Reese scrollte durch die Google-Ergebnisliste und las einige laut vor: »Ostrich Corporation expandiert weltweit; Innovations-Award: Ostrich Corporation gewinnt in der Kategorie Lebensmittel; Firmengründer des Jahres ...« Dann sah sie enttäuscht auf. »Hier steht ja gar nichts Persönliches über ihn.«

Rosie blieb an einer Überschrift hängen. »Moment, das ist interessant: Jungunternehmer spendet fünfzigtausend Dollar an Brustkrebsforschung.«

»Ach herrje, ein gutes Herz hat er auch noch! Dieser Jack ist ja ein richtiger Jack-Pot.«

Daraufhin brachen die Freundinnen in lautes Gelächter aus.

Als die Flasche Prosecco geleert und Reese wieder gegangen war, ließ Rosie sich leicht beschwipst ein heißes Bad ein. Vorsichtig stieg sie mit dem letzten Gläschen Schaumwein in die Wanne und spürte, wie sich langsam eine wohlige Wärme in ihrem Körper breitmachte. Der sanfte Lavendelduft, der Alkohol ... Seit Langem hatte sie sich nicht mehr so gelöst gefühlt. Sie nahm ihr Handy zur Hand, um die Tiefenentspannung mit einer angenehmen Musik zu krönen, und entdeckte eine rote Eins auf dem Postfachsymbol ihrer Firmen-Mail-Adresse.

Ihr Blick wanderte auf die Uhrzeit-Angabe. 21.00 Uhr. Das konnte nur Patrick sein. Es war nicht so, als hätte sie nicht die Wahl gehabt, aber das Gefühl einer ungelesenen Mail hatte Rosie noch nie leiden können. Sie seufzte und öffnete das Postfach.

Eingegangen um 20.46 Uhr. Im Betreff stand: Entwickler-Meeting nächste Woche.

Die Mail war nicht von Patrick. Sie war von Jack Walker.

Rosie kniff die Augen zusammen und starrte aufs Display. Die Einladung zu dem Meeting hatte doch seine Assistentin schon geschickt. Mit leichtem Herzklopfen klickte sie die Mail an.

Hi, Rosie, ich wollte nur sichergehen, dass ich Sie mit der Mitarbeit am Choc-Energizer nicht überrumpelt habe. Ihr Vorgesetzter meinte zwar, dass Sie sehr gerne dafür Überstunden in Kauf nehmen, aber dennoch habe ich ein schlechtes Gewissen. Bitte geben Sie mir Bescheid, wenn es Ihnen zu viel wird.

LG, Jack.

Typisch Patrick, dachte sie. Dann las sie die Nachricht noch einmal. Und noch einmal. Sie trank den letzten Schluck Prosecco, stellte das Glas auf den Badewannenrand und begann zu tippen:

Kein Problem, das mache ich wirklich gerne. Vielen Dank, dass Sie mir die Möglichkeit geben.

LG, Rosie.

Rosie legte das Handy weg, gab einen kurzen Freudenschrei von sich und tauchte mit dem Kopf unter Wasser. Sie stellte sich Jack vor, wie er jetzt gerade in seinem hochgekrempelten Hemd an dem großen, glänzenden Schreibtisch saß. Ganz alleine im dunklen Büro. Die Lichter Londons in seinem Rücken. Dieses Lächeln. Dieser Blick.

»Piep-Piep.«

Rosie sprang förmlich auf. Eine Welle Badewasser schwappte über den Rand und bahnte sich den Weg über die Fliesen. Schnell griff sie nach dem Handtuch, das sie auf den Stuhl neben der Badewanne gelegt hatte, und streifte dabei den Sektkelch ihrer Grandma. Mit einem lauten Klirren fiel er auf den Boden. Rosie starrte die zerbrochenen Einzelteile an, die in einer Pfütze aus Schaum lagen. O nein!, dachte sie bedauernd und rang für einen Moment mit dem schlechten Gewissen. Dann trocknete sie sich aber die Hände ab und klickte auf die neue E-Mail in ihrem Handy.

Heute auch schon Überstunden? Jetzt habe ich wirklich ein schlechtes Gewissen.

Rosies Grinsen verbreiterte sich zum Maximum.

Nur kurz Mails checken in der Badewanne. Werde ich meinem Überstunden-Konto nicht anrechnen ;), tippte sie.

War das vielleicht zu privat? Sie hielt einen Moment inne. Schließlich klickte sie auf Senden.

Eine gefühlte Ewigkeit starrte sie ihr Handy an, bis das Wasser nur noch lauwarm war und der Schaum sich längst aufgelöst hatte.

Doch zu privat. Er war schließlich ihr Boss.

Mit weichen Knien und einem großen Kaffeebecher in der Hand drückte Rosie den Rufknopf des Aufzugs, der in die oberste Etage des Firmengebäudes führte. Seit ihrer Badewannen-Nachricht am Abend zuvor freute sie sich nicht mehr auf das Mitwirken am Choc-Energizer. Gar nicht. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war, mit Jack Walker in einem Raum zu sein.

Nur kurz Mails checken in der Badewanne. In der BADEWANNE!

Im Stillen verfluchte sie sich und den Prosecco. Er hatte sie nicht nur in eine peinliche Situation gebracht, sondern verursachte auch jetzt dröhnende Kopfschmerzen. Sie schrien förmlich nach einer Tablette. In ihrer Schreibtischschublade lag sicher noch eine Aspirin, aber ob sie es vor dem Meeting noch an ihren Schreibtisch schaffen würde?

Rosie drückte ein paarmal mehr auf den grün blinkenden Knopf als nötig; ein helles »Pling« ertönte, und die Aufzugtüre ging auf. Rosie blieb fast das Herz stehen.

Jack Walker stand im Aufzug. Er sah wieder unverschämt gut aus und lächelte sie an. »Guten Morgen«, sagte er.

»Guten Morgen.« Rosie zwang sich auch zu einem Lächeln. Nachdem sie eingestiegen war, wandte sie sich von ihm ab und fokussierte das Etagen-Display. Die Vierundzwanzig war bereits gedrückt. Dann also keine Schmerztablette.

»Na, haben Sie sich noch schön entspannt in der Badewanne?«

Rosie schloss die Augen und spürte, wie ihr die Hitze aus jeder Pore ihres Gesichts strömte. »Ja, danke, war herrlich. Ich liebe Badewannen. Und meinen Badezusatz mit Lavendel aus der Provence.«

»Wunderbar, dann sind Sie hoffentlich bereit für ein kreatives Brainstorming.«

»Pling.« Die Tür ging auf.

Jack gab ihr mit einer Geste den Vortritt aus dem Aufzug. Rosie stieg aus und machte ein paar Schritte. Als sie bemerkte, dass sie die falsche Richtung eingeschlagen hatte, wandte sie sich um und prallte frontal mit dem Gesicht gegen Walkers stahlharte Brust.

»Oh mein Gott, das tut mir leid«, stammelte sie taumelnd.

»Nichts passiert. Hier geht es zum Konferenzraum«, sagte er und deutete in den Gang auf der anderen Flurseite. »Gehen Sie doch schon mal vor. Ich bin gleich da.«

Sie bemühte sich um ein Lächeln und sah ihm nach, während er in Richtung seines Büros verschwand. Natürlich wusste sie, wo der Konferenzraum war. Schon wieder hätte sie sich verfluchen können. Was war an diesem Morgen nur los mit ihr? Rosie schnaufte einmal durch, zupfte ihr Oberteil zurecht und lief dann die große Glasfront des Meeting-Raums entlang.

Am Konferenztisch saßen schon Felicity, Brandon und zwei andere Frauen, die sie noch nicht kannte. Im Vorbeilaufen spürte Rosie, wie sie alle beobachteten. Gut, dass sie heute ihren Lieblingslippenstift trug, bei dem ihr Reese immer sagte, dass er sie ein paar Jahre älter und selbstbewusster erscheinen ließ.

Als sie die Tür erreichte, rieb sie die Lippen noch einmal kurz aneinander, klopfte an und trat ein. »Guten Morgen, ich bin Rosie Benett. Mr. Walker hat mich eingeladen, um etwas zum Schokoladen-Überzug des Riegels beizutragen.« Rosie stöhnte innerlich: Na super, sie redete gerne etwas zu viel, wenn sie nervös war.

»Ja, das haben wir gehört«, erwiderte Brandon und warf Felicity einen Blick zu, die mit verschränkten Armen dasaß und Rosie musterte.

Immerhin schienen die zwei anderen Frauen nett zu sein.

»Brittany, Food-Management«, sagte die Rothaarige und streckte Rosie die Hand entgegen. Ihr neonpinker Schal biss sich mit der Haarfarbe und ließ ihren Teint blasser erscheinen, als er war.

Agnes, eine zierliche kleine Person mit großer Hornbrille, stellte sich als Lebensmitteltechnologin vor.

Rosie setzte sich auf den freien Stuhl neben ihr. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, während sie auf den Boss warteten. Felicity und Brandon tuschelten. Brittany starrte abwesend in die Luft, und Agnes hackte mit beiden Zeigefingern auf die Tastatur ihres Laptops ein.

Endlich betrat Jack das Büro. »Sorry für die Verspätung. Durch die Zeitverschiebung bleiben über Nacht immer so viele Mails aus New York liegen.« Er stellte seinen Laptop auf den Tisch und legte sein Smartphone daneben. »Guten Morgen erst einmal. Wir wollen heute noch mal über den Choc-Energizer sprechen. Der erste Vorschlag war nicht schlecht, aber mir fehlte das gewisse Etwas an dem Riegel. Da es unser erstes Produkt mit Schokolade sein wird, habe ich Rosie Benett gebeten, diesbezüglich ein paar Impulse zu geben. Rosie ist Expertin auf dem Gebiet, hat aber noch nie im großen Stil entwickelt.« Er sah Rosie an, und sie meinte, ein kleines Lächeln in seinem Blick zu sehen. »Ich bin mir aber sicher, dass das kein Problem sein wird. Felicity, vielleicht wären Sie so nett und erklären Rosie nach dem Meeting die gewohnte Vorgehensweise?«

»Natürlich«, antwortete Felicity überfreundlich, und Rosie spürte, wie sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen breitmachte.

Expertin war ein großes Wort, doch er hatte recht: Sie wusste alles über Schokolade. Dafür fast nichts über Lebensmitteltechnik.

Um weiter darüber nachzudenken, ob sie hier richtig war, blieb Rosie keine Zeit. Sie wurden direkt in Arbeitsgruppen eingeteilt. Rosie, Felicity und Brittany bildeten das erste Team, Brandon und Agnes das zweite.

Jack zeichnete eine Tabelle auf ein Whiteboard und drehte sich zu ihnen um. »Finden Sie alle Aspekte zu folgender Frage: Was erwartet jemand, der im Begriff steht, in den Choc-Energizer zu beißen? Denken Sie dabei an die Zielgruppe. Und werden Sie konkret.«

Seine Augen funkelten beim Sprechen. Erst jetzt bemerkte Rosie, dass sie schokobraun waren. Ein ganz verführerisches Schokobraun.

Während sich die beiden Teams jeweils an die Enden des langen Konferenztisches zurückzogen, verteilte Jack die weißen Papierbogen, auf denen sie die Punkte festhalten sollten.

Brittany erklärte sich bereit mitzuschreiben.

Felicity legte sofort los. »Also, ich würde sagen: Er oder sie, Mitte dreißig, kurz nach dem Workout – es ist ja schließlich ein Proteinriegel, die sollten erst nach dem Sport verzehrt werden. Mal überlegen ... Also, er oder sie hat sich so richtig ausgepowert und fühlt sich dementsprechend platt. Die Energiereserven müssen wieder aufgefüllt werden. In erster Linie also Proteine für die Muskeln und natürlich Kohlenhydrate. Was erwartet er, sie noch? Hm ...«

Brittany bemühte sich, alles schnell mitzuschreiben. Felicitys Monolog schien sie so wenig zu stören wie die Tatsachen, dass weder sie noch Rosie eine Gelegenheit hatten, etwas zu sagen.

Eigentlich machte es Rosie nichts aus. Sie schloss die Augen, blendete das Geschnatter aus und versetzte sich in die betreffende Situation. Was erwartet jemand, der im Begriff steht, in den Choc-Energizer zu beißen? Was erwarte ich, wenn ich jetzt in den Choc-Energizer beiße?, dachte sie. Ich war gerade joggen. Mit Reese, im Park. Zwischendrin haben wir sogar Sit-ups und Squats gemacht. Gut, das ist eher unrealistisch. Aber nehmen wir an, wir haben tatsächlich noch ein paar Kraftübungen nach dem Laufen gemacht. Ich habe mich richtig verausgabt. Laufe zu Hause die Treppen hoch, komme zur Wohnungstür rein und nehme mir einen Choc-Energizer aus der Küche. Ich reiße ihn auf und ziehe das bunte Papier herunter.

»Belohnung!«, sagte Rosie laut und öffnete die Augen wieder. Felicity und Brittany starrten sie an. Außerdem spürte sie, dass noch ein Augenpaar auf sie gerichtet war. Jack lehnte schräg vor ihr mit verschränkten Armen an der gläsernen Wand des Meeting-Raums und beobachtete die Gruppe.

»Was meinst du denn mit ›Belohnung‹?«, fragte Felicity mit zusammengekniffenen Augen.

»Na ja«, antwortete Rosie und sah dabei Jack an. »Nach dem Sport erwarte ich eine Belohnung. Dafür, dass ich mich aufgerafft habe. Klar, wenn ich Muskeln aufbauen möchte, brauche ich auch Proteine und so. Aber die müssen auf jeden Fall in einer Belohnung verpackt sein. In meinem Fall ist das die Schokolade. Ich erwarte einen Riegel, der mit einer kräftigen, matt glänzenden Kakaohülle überzogen ist. Der Riegel gibt mir, was mein Körper nach dem Sport braucht. Die Schokolade belohnt meine Seele. Siebzigprozentiger Kakaoanteil, Criollo aus Venezuela wäre perfekt. Das ist ein Edelkakao.«

»Ich weiß, was Criollo ist. Ich habe mich für das Meeting eingelesen«, zischte Felicity. »Aber der ist teuer, und außerdem kommt man schlecht an ihn ran.«

»Nicht so schnell, nicht so schnell, ich muss mitschreiben«, unterbrach Brittany.

Rosie ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Ja ich weiß, ich sage ja nur, die Sorte wäre perfekt. Sie ist nicht so bitter. Für den großen Handel wäre Konsumkakao natürlich geeigneter, also Forastero. Oder man mischt die Sorten, so hat man weniger Säure, und es kommt etwas günstiger.«

Jack machte ein paar Schritte auf die Gruppe zu. »Brittany, kommen wir an Criollo ran?«

»Das muss ich recherchieren, Boss.« Sie machte sich direkt Notizen.

»Fragen Sie bitte auch gleich die Preise an.« Jack überlegte ein paar Sekunden. »Wir machen jetzt fünf Minuten Pause und besprechen dann, welche Aspekte Sie alle gefunden haben.« Er nahm sein Handy und ging aus dem Raum.

Als Rosie nach dem Meeting ins Marketing-Büro kam, war keiner der Kollegen da. Ein Post-it an ihrem Computer verriet, dass Patrick bei einem Business-Lunch war. So nannte er es zumindest. In Wirklichkeit war er bei einem verlängerten Mittagessen mit einem seiner Marketing-Freunde. Rosie wusste das so genau, weil sie ihn ab und zu begleiten durfte, wenn er besonders gute Laune hatte.

Wie eine erschöpfte Kriegerin ließ sich Rosie auf ihren Bürostuhl sinken und schaute auf die Uhr. Ganze drei Stunden hatte das Meeting gedauert. Sie durchwühlte ihre Schublade und fand eine halbe Schmerztablette, die sie direkt mit etwas Wasser runterspülte.

Das Brainstorming und auch die Besprechung danach waren wirklich gut gelaufen. Dennoch fühlte Rosie sich komplett ausgelaugt. Felicity hatte die ganze Zeit Argumente gegen alles gefunden, was sie, Rosie, gesagt hatte. Auch den anderen schien das aufgefallen zu sein, denn Brittany und Agnes versuchten, Rosies Aussagen immer wieder zu verteidigen. Aus Überzeugung, vielleicht aber auch aus Mitleid.

Rosie hatte alles gegeben, das war das Wichtigste. Jack schien auch zufrieden gewesen zu sein. Er hatte sie die ganze Zeit angesehen, als er sich nach dem Meeting bei der Gruppe für die gute Arbeit bedankt hatte.

Der nächste Termin zur Fortführung war für kommende Woche angesetzt worden. Rosie überlegte, wo sie gepuffte Quinoa herbekommen könnte, und nahm sich vor, am Abend ein bisschen zu experimentieren. Mit etwas karamellisiertem Kokosblütenzucker und einer Prise Salz könnte man den Riegel bestimmt noch schmackhafter machen. Oder vielleicht auch einer Handvoll frischer Kakaonibs?

»Pass mal auf!«

Rosie schreckte hoch und starrte Felicity an, die sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch stützte und wie eine dunkle Gewitterwolke über ihr hing.

»Falls du denkst, du kannst hier eine auf Wichtigtuerin machen, hast du dich gewaltig geschnitten, Rosie Benett. Ich bin die Chef-Entwicklerin und du ein einfaches Marketing-Mädchen. Auch wenn Jack Walker irgendein Talent in dir sehen mag, hast du hier nichts zu sagen.« Sie kam noch näher. »Und irgendwann wird er auch wieder in New York sein. Wenn du klug bist, dann sagst du ihm, dass du die Einweisung in die Prozesse bekommen hast. Aber von mir wirst du kein Wort erfahren!«

Als hätte sich die Wolke durch verbale Blitze und Donner entladen, löste sie sich genauso schnell auf, wie sie entstanden war. Nur die kleinen Speicheltropfen auf Rosies Tisch zeugten davon, dass das gerade wirklich passiert war.

Kapitel 3  

Grundlagen der Lebensmittelentwicklung mit Prof. Dr. Wilson-Namlid, las Rosie und klickte das YouTube-Video an. Mariah Careys kreischende Stimme versuchte sie auszublenden. Schon den ganzen Nachmittag schallte All I want for Christmas in Dauerschleife aus Patricks Büro. Er hatte bereits dreimal die Krawatte gewechselt. Mit einem knurrenden »Arghhh« flog nun auch Modell Nummer vier in hohem Bogen aus seiner Tür und landete auf Rosies Bildschirm.

Es schien, dass heute niemand so richtig arbeitete. Alle warteten darauf, um achtzehn Uhr in den obersten Stock hinaufzufahren, wo die alljährliche Weihnachtsfeier der Ostrich Corporation stattfand.

Rosie musste schon zum dritten Mal zurückspulen, um Prof. Dr. Wilson-Namlids Fachchinesisch zu folgen. Sie entschied, dass es für heute reichte. Nicht nur Mariah Carey lenkte sie ab, sondern auch der Duft von Glühwein und Lebkuchengewürz, der sich den Weg durch die Bürogänge gebahnt hatte. Es war sowieso schon Viertel vor sechs.

Rosie fuhr ihren Computer herunter und griff nach dem Kleidersack, in dem sich ihr rotes Cocktailkleid befand, das sie extra für diesen Anlass gekauft hatte. Sie zog den Reißverschluss auf und strich mit der flachen Hand über den samtweichen Stoff. Die Farbe erinnerte sie an die knallrote Verpackung der Schokoladen-Zimt-Sterne, die ihre Grandma in der Weihnachtszeit immer verkauft hatte. Es war ein intensiver Rotton und passte perfekt zu ihrem korallenfarbenen Lieblingslippenstift.

Dazu hatte sie eine schwarze Samt-Clutch und passende Pumps ausgesucht, die als Verzierung eine verschnörkelte goldene Schnalle auf der Spitze hatten. Mit dem kompletten Outfit lief sie zur Damentoilette und schloss sich in einer der Kabinen ein.

Auf einem Bein hüpfend schälte sie sich aus ihrer Jeans. Den Kleiderbügel balancierte sie in der Luft, um zu verhindern, dass ihr Kleid den klebrigen Boden berührte. Ein lang gezogenes metallisches Quietschen verriet, dass jemand den Waschraum betrat.

»Ganz ehrlich, wer sich Jack Walker krallt, der hat ausgesorgt«, sagte eine Frauenstimme. »Cindy aus der Buchhaltung meinte, dass er ein Privatflugzeug hat.«

»Ernsthaft?«

»Absolut! Ich meine, stell dir das mal vor. Da hast du nicht nur so einen heißen Typen an deiner Seite, sondern kannst auch noch seine Kohle verprassen. Was meinst du, soll ich die Dinger noch etwas höher puschen?«

»Dein Dekolleté sieht fabelhaft aus, vielleicht mehr Wimperntusche. Männer stehen auf dramatische Augen.«

»Du hast recht. Ich werde dich bedenken, wenn ich reich bin.«

Als Rosie den Reißverschluss ihres Kleides mit einem hörbaren Surren hochzog, verstummten die Stimmen. Sie wartete einen kurzen Moment, dann drehte sie das Verriegelungsrad des Schlosses zurück und trat aus der Toilettenkabine.

»Hey«, sagte sie bemüht beiläufig und ging mit ihren Sachen unter dem Arm zum Waschbecken.

»Du bist Rosie, richtig?«, fragte die Blonde.

Rosie war sich nicht ganz sicher, aber die zu schmal gezupften Augenbrauen kamen ihr bekannt vor. Sie glaubte, die Frau schon einmal zusammen mit Felicity in der Kantine gesehen zu haben.

»Ja.«

»Felicity hat mir erzählt, dass du dich ganz schön an den Big Boss heranmachst.«

Rosie blieb fast das Herz stehen. »Bitte was?«

»Glaub nicht, dass du die Einzige bist«, erwiderte Felicitys Freundin.

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, entgegnete Rosie und drängte sich an den beiden vorbei, um sich ein Papierhandtuch aus dem Spender zu nehmen. Wo kamen plötzlich all die Giftspritzen um sie herum her? Als sie sich wieder umdrehte, spürte sie, wie sie etwas von der rechten Brust bis zur linken Schulter streifte.