Wir alle sind Widerlinge - Santiago Lorenzo - E-Book

Wir alle sind Widerlinge E-Book

Santiago Lorenzo

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Beschreibung

Die literarische Sensation aus Spanien - über 250.000 verkaufte Exemplare

Premio Cálamo 2019

Preis der unabhängigen Verlage 2019

Navarre-Verlagspreis 2019

Das beste Buch des Jahres 2018 (El Periódico)

Das beste Buch des Jahres 2018 (El País)

26 Wochen auf der Bestsellerliste der „La Vanguardia“

23 Wochen auf der Bestsellerliste der „El Periódico“

17 Wochen auf der Bestsellerliste der „ABC“

14 Wochen auf der Bestsellerliste der „El Mundo“

Aus Notwehr verletzt Manuel einen Polizisten und taucht in einem verlassenen Dorf in der Nähe von Madrid unter. Dort lebt er zurückgezogen und gibt sich mit dem Wenigsten zufrieden. Handwerklich begabt und voller Ideen richtet er sich in seinem Zufluchtsort ein. Genügsamkeit und Zeit sind sein Kapital, Einsamkeit und Kargheit werden seine Gefährten. Manuel findet das Glück. Bis Menschen aus der Stadt das Haus nebenan beziehen. Die Ruhe ist dahin. Es wird gelärmt und gefeiert, und Manuel beschließt, seine Freiheit zu verteidigen. Sprachlich elegant, ausdrucksstark und genau - ein kurzweiliger Roman, der nachdenklich stimmt und lange nachhallt.

  • »Santiago Lorenzo ist ein Solitär. Kurt Vonnegut hätte großen Gefallen an ihm gefunden.« (El País, Carlos Zanón)

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Seitenzahl: 309

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ZUMBUCH

Wir alle sind Widerlinge ist ein gleichermaßen politischer wie poetischer Roman. In einer ganz eigenen Sprache beschreibt das Buch die Vertreter einer neuen Gesellschaftsschicht: Die Vulgst, die ausschließlich Klischees von sich geben, ihr letztes Geld in Dinge stecken, die niemand braucht und jedem Gerücht, das ihnen zu Ohren kommt, Glauben schenken.

Dieser Roman ist so gut, weil er von uns handelt. Eine witzige und gleichzeitig schonungslose Satire auf eine Welt, die jeden unter sich begräbt, der sich nicht an ihre bedeutungslosen Regeln halten will. Ein Roman über einen Mann, der nur überleben kann, indem er alles hinter sich lässt.

»Urkomisch, selbstbewusst und frei von literarischen Klischees. Ich bin ein großer Fan.«    Fernando Aramburu

»Das beste Buch des Jahres.«    El Mundo

ZUMAUTOR

Santiago Lorenzo wurde 1964 im Baskenland geboren. Er führte Regie bei mehreren Kurz- und Kultfilmen und gewann einen Goya. Doch dann hatte er genug von der lauten Welt des Films, verließ Madrid und ließ sich in einem Dorf mit nur sieben Einwohnern nieder. Dort ereilte ihn nicht nur die Erkenntnis, dass er immer weniger braucht, je weniger er hat, sondern auch, dass er seine Geschichten erzählen will. »Wir alle sind Widerlinge« erklomm in Spanien kurz nach Erscheinen alle Bestsellerlisten. Doch der Erfolg hat Santiago Lorenzos Leben nicht verändert. Er sammelt weiter Feuerholz, baut Modelle und Möbel und macht sich seinen Kaffee weiterhin mit einer klapprigen italienischen Maschine. Doch hauptsächlich schreibt er – kurz gesagt: Er tut, was er will.

Santiago Lorenzo

Wir alle sind Widerlinge

Aus dem Spanischen von Daniel Müller

und Karolin Viseneber

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Los Asquerosos

bei Blackie Books, Barcelona

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Die Übersetzung dieses Romans wurde finanziell von Acción

Cultural Española, AC/E unterstützt.

Copyright © 2018 by Santiago Lorenzo

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Lektorat: Kirsten Naegele

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung einer Illustration von Simeon Elson Illustration & Design

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27255-5V001

KAPITEL 1

Er kam 1991 in Madrid zur Welt. Sein Vater war einer von jenen, die allen anderen egal sind. Bei seiner Mutter, der Schwester meiner Ex-Frau, die ich schon wer weiß wie lange nicht mehr gesehen habe, war es genauso. Ich war sein einziger Onkel.

Es war beeindruckend, wie er schon mit elf Jahren im Internet nach Arbeit suchte. Zwar hätte ihm niemand eine gegeben, und er hätte wegen seines Alters auch nicht darum gebeten. Doch schon von klein auf wollte Manuel herausfinden, wie es dort draußen in der Welt wohl für ihn sein würde.

Manuel ist nicht sein richtiger Name. Den darf ich nicht verraten.

Heutzutage würde man ihn ein Schlüsselkind nennen. Seine Eltern waren, wegen der Arbeit oder anderer Verpflichtungen, nie zu Hause. Manuel trug den Wohnungsschlüssel an einem Band um den Hals, da sich nach der Schule niemand um ihn kümmerte. Eine wahrlich unbefriedigende und traurige Situation, könnte man meinen. Diese mangelnde Fürsorge würde viele mit der Zeit in autoaggressives Verhalten, ungesunde Rollenspiele, Magersucht, selbst verursachte Motorradunfälle oder übersteigerte Liebessehnsucht treiben.

Nicht so Manuel. Er erstellte eine Liste der Vor- und Nachteile dieser ihn betreffenden Vernachlässigungen und analysierte sie. Die fehlende Aufmerksamkeit erwies sich für ihn eindeutig als Glücksfall. Er war äußerst dankbar für das elterliche Nicht-in-Erscheinung-Treten, da er auf diese Weise von allerlei Albernheiten verschont blieb. Die leere Wohnung war der Ort, an dem er schalten und walten konnte, ein Gut mit ihm als Verwalter, und das schon von klein auf.

Die schlüssellosen Kinder taten ihm leid. Im Austausch für einen gedeckten Tisch wurden sie der Gelegenheit beraubt, sich mit ihren eigenen Belangen zu beschäftigen, und so verweigerte man ihnen die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten selbst zu entdecken. Er hingegen, in dieser ihm willkommenen Unabhängigkeit, lernte schon bald, Omeletts zuzubereiten, Bücher in Geschenkpapier einzuschlagen und Fettflecken auf der Kleidung mit ein wenig Mehl zu Leibe zu rücken.

Eines Tages brachte er die Kontakte eines Lampensteckers in Ordnung. Diese Reparatur behielt er jedoch für sich, da er wusste, dass ihn Mamá und Papá nur dafür tadeln würden, an den elektrischen Geräten herumgefingert zu haben. Zu Hause hieß es dann, die Sache mit der Lampe habe sich von selbst behoben, und wer wisse schon genau, was mit diesen Dingern manchmal los sei. So begann er zu verschweigen, wenn ihm etwas gut gelang. Sein Interesse für Apparate aller Art war geweckt. Der Schraubenzieher, den er für die Reparatur verwendet hatte, wurde sein Talisman, nicht magisch zwar, aber dafür nützlich, und Glück brachte er auch. Er war von mittlerer Größe mit einem gelben semitransparenten Griff, der unwiderstehlich glitzerte. Manuel hatte schon als Junge ein goldenes Händchen.

Wenn er doch mal auf seine Eltern traf, kam er ihnen entgegen, versuchte, Wohlwollen für ihre Peinlichkeiten und Patzer aufzubringen, sah über ihre kleinen Einfältigkeiten hinweg. Erlebte er sie mutlos, baute er sie auf, versuchte, sie zu trösten, wenn sie nach Hause kamen, aber ging ihnen aus dem Weg, wenn sie vollkommen niedergeschlagen wirkten. Zusammenfassend und im Klartext: Seine Eltern taten ihm leid. Allen anderen, machen wir uns nichts vor, eigentlich auch.

Er blieb klein, genau wie ich. Bei einhundertsiebenundfünfzig Zentimetern hielt für ihn der Aufzug an.

Er war schlau. Ein Test durch einen Psychiater hätte ihm gewiss einen prächtigen IQ bescheinigt. Aber dazu kam es nie. Manuel bewies seine überlegene Intelligenz, indem er sich weigerte, an derartigen Vermessungen teilzunehmen. Warum sollte er auch etwas evaluieren lassen, das er so oder so zu benutzen gedachte? Wenn er überhaupt von seinem IQ sprach, erfand er einen, beschnitt ihn vorsätzlich, um sich dumm zu stellen, was ihm einmal sehr zugutekam.

Er war in der Lage, ohne ausgefeilte Hilfsmittel zu lernen, und setzte stattdessen auf gewöhnliche Techniken und seine Beobachtungsgabe. Er lernte Englisch durchs Radiohören, ganz ohne Kurse oder Sprachschulen. Autofahren brachte er sich durchs Busfahrerbeobachten bei. Die Funktionsweise technischer Geräte erfasste er durchs Zerlegen derer, die er aus den Müllcontainern rettete.

Begierig, mehr Dinge kennenzulernen und auszuprobieren, machte er sich mit wachem Auge und reger Hand daran, Mechanismen zu untersuchen, Bücher durchzublättern, aus dem Fenster zu schauen und Derartiges mehr. Es ging darum, Kopf und Finger in Rotation zu halten. Ich weiß noch, wie wir einmal die wohlbekannte Frage diskutierten, was sich ein jeder wünschen würde, wenn ihm der Geist aus der Flasche erschiene. Ich, der ich nie besonders originell gewesen bin, wünschte mir, fliegen zu können oder unsichtbar zu sein.

Manuel sagte darauf, dass ihn nichts dergleichen interessiere. Fliegen sei ja bereits möglich – mit Google Maps. Und unsichtbar sei er sowieso schon, da er sich als unbeachtet erachte. Sein Wunsch sei vielmehr, nicht mehr schlafen zu müssen. Denn es fuchse ihn immer wieder aufs Neue, wenn er, gerade mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, im besten Moment bemerke, wie ihm die Augen zufielen, ohne etwas gegen die Müdigkeit tun zu können. Er ziehe es vor, sich aus dieser Sklaverei zu befreien und das Leben im Wachzustand zu verbringen, allein seinen Leidenschaften zugewandt.

Er trug eine unbändige Neugier in sich. In dem hypothetischen Fall, dass ein unredliches Gericht ihn zum Tod durch Erschießen verurteilen sollte, hätte das bei Manuel natürlich, und das will ich gar nicht bestreiten, für entsprechenden Missmut gesorgt. Andererseits hätte die Möglichkeit, sich einer derart unbestreitbar neuartigen Erfahrung auszusetzen, zumal man gewiss nur selten in den Genuss einer solchen kam, einen Vertebraten wie ihn sicherlich gereizt.

In seiner akribischen Art war er der einzige Kauz in meinem Umfeld, der sich bei einem Filmzitat in einer E-Mail die Mühe machte, den Titel des Streifens kursiv zu setzen. Und das war erst der Anfang in Sachen Akkuratesse.

Es dürstete ihn danach, sich mit Menschen zu umgeben. Er beharrte darauf, sich niemals in einer Stadt niederlassen zu können, in der er nicht in der Lage sei, jedes einzelne der von ihm gelesenen und gehörten Wörter bis zur Perfektion zu verstehen, damit ihm bloß nichts entgehe. Aus ebendiesem Grund könne er auch keine kleinere als die Hauptstadt Madrid selbst bewohnen, die vollgestopfteste überhaupt. Wenn er eines Tages umziehen müsse, so sagte er, sehe er keine andere Möglichkeit, als sich in Buenos Aires oder Mexiko-Stadt anzusiedeln.

Allerdings widerfuhr ihm etwas äußerst Dramatisches und zutiefst Bedauernswertes. Es war hart, dass ein Kerl mit einem derartigen Hang, sich auf der Straße zu zeigen und den Anwohnern mit den besten Absichten zu begegnen, solche Schwierigkeiten hatte, Freunde zu finden. Bezogen auf diesen Aspekt der Synchronisierung mit seinen Nächsten war Manuel ein hoffnungsloser Fall.

Er hatte große Lust dazu, mit anderen auszugehen, durch Madrid zu laufen und sich zu amüsieren, Teil einer sympathischen Clique zu sein, die Vormittage mit Gesprächen, die Nachmittage mit Flanieren und die Abende mit gemeinsamen Trinkgelagen zu verbringen. Aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, und das quälte ihn. Genauso, wie es Menschen gibt, die wie besessen versuchen, Geld anzuhäufen, dabei allerdings straucheln und vom Weg abkommen, nur einen Teil ihrer Ziele erreichen oder gar vollständig versagen, blieb Manuel in Freundschaftsdingen arm wie eine Kirchenmaus.

Er fand nicht leicht Anschluss, möglicherweise wegen der überwältigenden Sehnsucht danach, Anschluss zu finden. Er schämte sich dafür, dass man ihm diesen Wunsch nach Kameradschaft anmerken könnte, und ihn belasteten die Ängste, die von diesem ständigen »Soll ich mich annähern oder besser zurückziehen?« ausgingen. Die anderen spürten dieses übermäßige Verlangen, ein allseits bekanntes Antidot, und nicht wenige Kameradenkandidaten traten diskret die Flucht an. Diejenigen, die ihn nicht kannten, hielten Manuel für eine Nervensäge. Keiner der neuen Bekannten, auch wenn die Formulierung es zumindest implizit nahelegt, kannte ihn richtig. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich ging an mehreren Freitagabenden mit ihm aus (was für eine Combo, der eine dreißig Jahre älter als der andere) und beobachtete, wie er voller Bewunderung und Neid die Grüppchen beäugte, wie sie parlierten, tanzten, sich amüsierten. Sosehr er auch angelte, er fing wenig. Sein Köder taugte nichts.

Überflüssig zu erwähnen, dass die Annäherungsversuche noch schlechtere Ergebnisse zeitigten, wenn Frauen das Ziel seiner Bemühungen waren. Seine hierbei wie zu erwarten noch häufigeren und um einiges lächerlicheren Patzer stehen auf einem anderen Blatt. Manchmal wirkte er regelrecht imbezil. Ab und an hatte er wohl mal eine Freundin, Abenteuer von kurzer Dauer, die für gewöhnlich nicht von ihm beendet wurden und ihn in wochenlanges Elend stürzten. Eine Katastrophe.

KAPITEL 2

Sein Faible für Kabel, Zahnräder und Schalter mündete in einer Berufsausbildung und einem Ingenieurstudium. 2013 machte er seinen Abschluss. Zu diesem Zeitpunkt suchte Manuel schon seit drei Jahren nach Arbeit. Dieses Mal ernsthaft und als Erwachsener. Er verspürte das dringende Bedürfnis, sein Elternhaus mitsamt den dazugehörigen Bewohnern zu verlassen.

Aber von dem Moment an, als er Ausschau zu halten begann, mit offiziellen Abschlüssen oder auch ohne, fand sich Manuel in einem mit erdrückender Arbeitslosigkeit geschlagenen Ödland wieder. Die ausgedehnte und zähe Wirtschaftskrise mit ihren schwindelerregenden Erwerbslosenzahlen machte ihm das Leben schwer. Diese fraglos widrigen Umstände glichen schon fast einem Scherz mit der versteckten Kamera, bei dem das gesamte Produktionsteam während der Aufnahmen verstorben war, wodurch niemand mehr das Ganze abbrechen oder aufdecken konnte, dass alles nur ein Spaß gewesen war und ein jeder nun sein normales Leben zurückbekam. So verselbstständigte sich der Spaß, lief einfach weiter, verstrickte sich immer mehr in Missverständnisse, die von Mal zu Mal untragbarer wurden.

Tatsächlich bekam er seine erste Arbeit (als Wachmann in einem Gartencenter) erst, nachdem er sein Studium beendet hatte. Ein Sommer, und dann war Schluss. Bei seiner nächsten Stelle (als Verkäufer in einem Schreibwarenladen) heuerte man ihn gerade einmal für die Zeit des Weihnachtsgeschäfts an. Und so ging es weiter, wobei die längste Anstellung die als Aushilfsarbeiter in Vertretung (der zu Vertretende ward nie gesehen) in einem Trockenobstlager in dem Madrider Vorort Leganés war.

So stolperte er durch die nächsten zwei Jahre. Nahm alles Mögliche an, um Leerlauf zwischen den Beschäftigungsverhältnissen tunlichst zu vermeiden, und führte dabei stets Tätigkeiten aus, die mit geradezu schwindsüchtigem Erlös einhergingen und nichts mit seinen beruflichen Vorstellungen zu tun hatten. Dafür aber immer bei Unternehmen mit dezimierter Belegschaft, wodurch sich die Arbeit von selbst akkumulierte.

Kurz und gut: Manuels Situation in dieser Phase, in der Heerscharen von Männern und Frauen ihre Toilettengänge in aller Eile verrichteten, um nur nicht den Anruf eines potenziellen Arbeitgebers zu verpassen, war nichts Besonderes.

Er arbeitete viel – so viel, als hätte er einen Baum zu Hause, an dem Stunden wuchsen. Während dieses Bienniums konnte er an kaum etwas anderes denken als die ihm von Vorarbeitern, Vorgesetzten und Abteilungsverantwortlichen erteilten Aufträge. Das verschlang seine gesamte körperliche und geistige Energie, weshalb er seine Lektüre, das Englischlernen aus dem Radio, die Auseinandersetzung mit technischen Fragen sowie die hundert anderen Dinge, mit denen er sich tagtäglich beschäftigte und die nichts mit seinen kurzzeitigen Arbeitsverhältnissen zu tun hatten, in die Zeitfenster der U-Bahn- und Busfahrten verdrängte.

Er musste ihnen entsagen. Mit großem Schaden für sein Gemüt, da Manuel von Natur aus aktiv war. Nicht so sehr freilich, wenn es hieß, Ware X aus Keller zwei ins Erdgeschoss Flügel B zu transportieren. Derartiges kostete ihn übermäßig große Anstrengung. Seine Begabungen, Interessen, Leidenschaften und Momente der Selbstversunkenheit musste er aufgeben oder in geradezu verträumte, dem Schlaf abgeknapste Zeitzonen verbannen, bis ihm der Geist aus der Lampe hoffentlich irgendwann Erlösung schenkte.

Die Beschäftigungen auf Zeit hielten ihn, zu seinem eigenen Unglück, in Beschlag. Er tröstete sich mit dem gezahlten Lohn, rührte ihn jedoch kaum an, um die nötige Unterstützung anzusammeln, mit deren Hilfe er sich von seinem Elternhaus loszusagen gedachte. Er gab die Suche nicht auf, hoffte auf Besserung in Sachen Vergütung und Arbeitszeiten sowie größere Übereinstimmungen mit den erlernten Disziplinen.

Mir kam es allerdings so vor, als interessierte Manuel sich bei den unterschiedlichen Arbeitsstätten weniger für Lohn und sonstige Bedingungen als für die Angestellten der betreffenden Unternehmen. Männer und Frauen, mit denen er zusammenarbeiten und verkehren würde, mit denen er Pläne schmieden und nach getaner Arbeit ausgehen könnte. Bei den Stellen, die er antrat, hatte er jedoch weder mit dem einen noch mit dem anderen Glück.

So vagierte er durch die Welt, bis er im Juni 2015 in ein Gefüge eintrat, in dem es zumindest ein wenig Personal gab. Mit viel Wohlwollen und dem Manuel angeborenen Optimismus war für ihn sogar eine Überschneidung mit seiner Ingenieurausbildung zu erkennen. Es handelte sich um ein kleines Dienstleistungsunternehmen, das Anhängsel eines großen Telefonanbieters. Dort arbeiteten ein Koordinator und zweiundzwanzig Telefonagenten (von Ingenieurwesen keine Spur), deren Aufgabe es war, Kundenreklamationen zu Mobiltelefonen und Internetanschlüssen entgegenzunehmen. Anfänglich sah die Sache ganz gut aus.

Nach zwei Wochen jedoch begann Manuel zu seinem großen Unbehagen zu erahnen, womit sie sich tatsächlich beschäftigten. Die Anrufbeantworter, also auch er selbst, nahmen Kundenbeschwerden entgegen, bei denen es ausschließlich um finanzielle Fragen, genauer gesagt Forderungen zugunsten der Muttergesellschaft ging: ungerechtfertigte Doppelbuchungen, willkürliche Kontobelastungen, vertragswidrige Tarifierungen, Inrechnungstellung nicht in Anspruch genommener Leistungen, Berechnung ausgedachter Steuern.

Die Angestellten waren angewiesen, die Anrufe zur Lösung des Problems an eine übergeordnete Stelle weiterzuleiten. Manuel fiel auf, dass viele Kunden am nächsten Tag erneut anriefen und am darauffolgenden noch einmal, weil ihr Problem nicht gelöst worden war. Er ahnte, dass die Reklamationen vorsätzlich ignoriert wurden, und zwar so lange, bis der Kläger der Sache müde war. Bei einem Großteil der Beschwerden war das ziemlich schnell der Fall. Viele Kunden bemerkten die Gaunereien auch gar nicht, weil sie ihre Kontoauszüge nicht regelmäßig prüften (womit auch die Beschwerde ausblieb). Andere ließen es einfach auf sich beruhen, aus Schüchternheit oder weil es sie überforderte, Ansprüche zu stellen. Weil sie lieber auf das Geld verzichteten, als ihre Zeit mit Reklamationen zu verbringen, oder weil diese Sachen nun mal so liefen, wie sie liefen. Und genau damit war Gewinn zu machen. Die ungerechtfertigten Abbuchungen wurden nur denjenigen zurückerstattet, die x-mal darauf insistiert hatten. Zudem arbeiteten die Angestellten mit defekten Telefonen, sodass selbst den Ausdauerndsten durch die ständigen Unterbrechungen irgendwann der Geduldsfaden riss.

Der Koordinator ließ sich nichts anmerken. Wohingegen die Fußtruppen einen Anruf nach dem anderen weiterleiteten und die Kunden mit Erklärungen abspeisten, die sie selbst nicht verstanden. Unter diesen Voraussetzungen war das zwischenmenschliche Klima jämmerlich. Eines Tages machte das Gerücht die Runde, einer der Angestellten solle entlassen werden. Irgendwann wussten alle Bescheid, alle außer dem Betroffenen selbst. Er hatte Geburtstag. Die Telefonagenten und ihr Vorgesetzter, allesamt Widerlinge, sangen ihm ein Geburtstagsständchen – »Wie schön, dass du geboren bist, hier wirst du schon recht bald vermisst« – und lachten hinter vorgehaltener Hand. Dann wurde er gefeuert. (Zwei andere auch, zwei von den singlustigen Kollegen. Man stelle sich die Gesichter der beiden vor.) So eine Atmosphäre herrschte dort also. Gerade richtig, um dauerhafte Freundschaften zu knüpfen.

Entlohnt wurde mit einem lila Schein pro Monat, einem einzigen. Jeder, der ein paar Cent mehr verlangte, landete wie das Geburtstagskind auf der Straße. Das Gehalt war in der Tat kümmerlich.

Aber Manuel hielt sein Geld zusammen. Nach zwei Jahren, in denen er praktisch sämtliche Lohnzahlungen beiseitegelegt hatte, besaß er viertausend Euro. Und dazu einen Arbeitsplatz, an dem er trotz des dort prävalierenden Klimas auszuharren entschlossen war. Er kaufte sich einen Computer und ein Auto aus fünfter Hand, was sein Vermögen um ein Viertel schmälerte, und wagte im Juli 2015 den Schritt in die Unabhängigkeit.

Angezogen von den schwer greifbaren Verheißungen der Metropole und deren neuralgischem Kern, ließ er sich im heruntergekommenen Centro nieder, einem der am dichtesten besiedelten Stadtbezirke Madrids. Eine passende Gegend, um ständig, Tag und Nacht, unter Menschen zu sein.

Dort mietete er eine Wohnung, so nannte er sie zumindest in seinem kämpferischen Optimismus. Es war eine Kabine mit Fenster zum Hof in einem alten Bürogebäude, das ohne großartige Renovierungsarbeiten und sehr wahrscheinlich auch ohne die nötigen Genehmigungen zu einem Mietshaus mit winzigen Wohneinheiten in der Größe der ehemaligen Schreibstuben umgebaut worden war. Manuel konnte sich sogar eine mit WC und Waschbecken leisten. Weder von außen noch von innen unterschied sich das Gebäude großartig von dem, in dem er arbeitete. Noch heute steht es mitten auf der Calle Montera, einem Straßenzug mit einem gewissen Konfliktpotenzial, das seit jeher für erschwingliche Mieten sorgt.

Der Vermieter war Eigentümer der gesamten Immobilie. Obwohl ich ihn nie persönlich kennengelernt habe, halte ich ihn aufgrund von Manuels Schilderungen für einen dieser eigenartigen Typen, bei denen der eine Fuß zu stinken scheint, der andere jedoch nicht. Zuallererst war er aber ein Spitzbube und ein Schmarotzer. Ein pathologischer Knauser. Es heißt, er habe einmal ein Märzwochenende in einem Hotel verbracht und wegen der Stunde, die er durch die Zeitumstellung am frühen Sonntagmorgen einbüßte, einen Rabatt auf die Rechnung verlangt. Er war einer dieser Menschen, die man gemeinhin als Kanaille bezeichnet, als Geizkragen und als Knicker. Als Widerling. Ihn um die Reparatur eines Heizkörpers oder den Austausch eines Wasserhahns zu bitten, war sinnlos.

Das Verhalten des Vermieters gab einigen Anlass zu der Vermutung, seine Geschäfte seien nicht ganz koscher. So zeigte er keinerlei Interesse daran, Schriftstücke zu unterzeichnen, und verwehrte sich gegen Daueraufträge. Alles wurde in klingender Münze bezahlt, und zwar immer im Voraus. Manuel wollte ihm eine Kopie seines Personalausweises zukommen lassen – einerseits, um zumindest den Anschein von Seriosität zu wahren, andererseits wegen des ihm eigenen Strebens danach, alles richtig zu machen. Er musste ihm die Kopie geradezu aufdrängen. Aber schließlich nahm der Vermieter sie an.

Der Wohnungsmarkt im Spanien des Jahres 2015 hatte, was die Einhaltung geltender Regularien anging, keinen Vorzeigecharakter. In dieser Zeit der Verwüstung glich die Lage aus verhaltensökonomischer Sicht einer Partie Monopoly, die man mit Blankowürfeln, verschiedenen Währungseinheiten und Straßen in nur einer einzigen Farbe spielen musste. Und ausgerechnet in diesem Klima kam Manuel, verärgert über die Irregularitäten und im Bemühen um eine Spur Statthaftigkeit, aus reiner Redlichkeit auf die Idee, dem Vermieter eine Kopie seines Personalausweises anzubieten.

Mir selbst ist es in Sachen Arbeit und Geld immer eher mittelprächtig ergangen. Nach einem Abschluss in Psychologie, Schwerpunkt Wirtschaftspsychologie, habe ich mich mehr schlecht als recht dem Thema Humankapital gewidmet. Die Erkenntnis, dass mein eigenes nicht ausreichte, um ein einigermaßen würdevolles Auskommen zu sichern, sorgte bei mir in diesen Zeiten regelmäßig für verbitterte Lachkrämpfe. Die gedrückte Stimmung auf dem Arbeitsmarkt betraf auch mich. Immer wieder durchlebte ich Phasen der Erwerbslosigkeit, die Trennung von meiner Frau sowie der Unterhalt für meine beiden Kinder hatten mich ausgelaugt. (Gut investiertes Geld, das muss ich sagen. So schaffte ich mir die drei vom Hals.)

Trotz dieser Engpässe wollte ich helfen. Manuel lehnte meine Scherflein zur Aufbesserung seiner Bezüge und Verbesserung seiner Wohnsituation jedoch ab. (Zum Glück. Keine Ahnung, warum zum Henker ich anbiete, was ich nicht habe.) Dies tat er weder aus Tapferkeit noch aus Trägheit, sondern weil es ihm unumgänglich erschien, seine eigenen Nöte selbst zu lindern. Er arrangierte sich mit seiner Arbeit und seinem Unterschlupf, da er seinen eigentlichen Wert noch nicht einzuschätzen wusste. Er hatte verstanden, dass er so lange durchhalten musste, wie das gesellschaftliche Gewebe einem Sofa glich, aus dem überall die Federn hervorstachen. Es war der Moment eines alles erfassenden Zerfalls, der für allumfassenden Optimismus keinesfalls Anlass bot. Doch Manuel verzagte nicht und beobachtete stattdessen die Gitter, um mitzubekommen, welches sich als Erstes öffnete.

Er richtete sich mit seinem spärlichen Hab und Gut in dem Loch auf der Calle Montera ein. Die Nachbarschaft war ungesellig. Denkbar, dass die Enge der Kammern die Seelen ihrer Mieter verkümmern ließ. Nach zwei Wochen hatte er immer noch mit keiner Menschenseele gesprochen. Die Korridore mit den vielen Türen waren unwirtliche Wege, die nicht gerade zu weiteren Vertraulichkeiten einluden. Schon gar nicht bei einem zurückhaltenden Menschen wie ihm, sosehr er sich diese Beziehungen auch wünschen mochte.

KAPITEL 3

Es geschah an einem Freitag, seinem zweiten als mündiger Bürger. Manuel machte sich bereit, um seinen Wohnkarton zu verlassen. Er war schon eine Weile auf der Suche nach einem Geschäft, in dem er sich eine traditionelle Churros-Presse mit sternförmiger Spritzdüse, Kolben und Griffen an beiden Seiten kaufen konnte. Endlich hatte er auf dem Paseo de Delicias eine Eisenwarenhandlung gefunden, die das gesuchte Utensil anbot. Dort wollte er hin.

Es sah nach Niederschlag aus, und sommerliche Wolkenbrüche in Madrid waren selten sanft. Er griff nach seinem Drei-Euro-Regenschirm, um nicht weitere drei ausgeben zu müssen, wenn es schließlich platzregnete. Dann verließ er sein Kabuff. Er lief, wie er es gewöhnlich tat, die Treppe hinunter und kam in die Eingangshalle.

Draußen war es lauter als üblich, angespannter. Er öffnete die Holztür einen Spaltbreit, um herauszufinden, was sich dort zusammenbraute, und sah hastende Massen, die wie um die Wette in Richtung Sol rannten. Die Überreste einer Demonstration, die sich in einer Phase der Auflösung durch die Polizeikräfte auseinanderdehnte und zusammenzog. Der Protest verlängerte sich durch Störungen der öffentlichen Ordnung – wie immer eigentlich, seitdem man sich auf Behördenseite vorgenommen hatte, Ordnung in diese Art von Zusammenkünften zu bringen.

Plötzlich kam ihm die Tür entgegen und traf ihn an der Augenbraue. Ein massiger Typ um die dreißig hatte von draußen dagegen geschlagen. Und sie dann kräftig mit der Schulter aufgedrückt. Er stürzte in die Eingangshalle und riss dabei den Mieter mit sich. Der Mann war in Zivil, trug einen ausziehbaren Schlagstock in der rechten Hand und um seinen Hals eine Kette mit einer Marke der Bereitschaftspolizei. Falls er seinen Dienst in geheimer Mission angetreten hatte, war ihm seine Tarnung mittlerweile egal.

In der Eingangshalle wurden keine Forderungen gestellt, das war nie der Fall. Dort musste nichts zerstreut werden. Trotzdem schloss der Polizist hinter sich die Tür. Er ging ganz selbstverständlich davon aus, dass Manuel – der nie herausfand, wogegen sich der Protest dort draußen eigentlich richtete – ein Demonstrant war, der sich verstecken wollte. »Klappe halten, du Knilch«, zischte er mit unverhohlener Wut, eine herablassende und einschüchternde Anspielung auf Manuels zwergenhafte Statur.

Die Abgeschiedenheit der Eingangshalle förderte die Appetenz des Polizisten zutage. Er schleuderte Manuel gegen die Wand mit den Briefkästen, holte mit dem Schlagstock aus und peilte mit dem bewaffneten Arm die Schulter des Drangsalierten an. Er würde ihn schlagen – einfach, weil er es konnte. Oder weil er ihn an irgendjemanden erinnerte, aus moralischer Überzeugung oder beruflichem Eifer. Warum auch immer. Der Kerl hatte die Visage eines dieser Gemeingefährlichen, die nicht in der Lage sind, ein Formular am Schalter korrekt auszufüllen.

Manuel, der in jähen Situationen nicht selten von komplexem Vokabular heimgesucht wurde, stellte sich geschraubte Fragen. »Um wessen Willen dringt er hier ein?« Oder: »Mit welchem Recht bedrängt er mich?« Ein Camouflierter war im Begriff, ihn zweizuteilen, weil er ihn in flagranti dabei ertappt hatte, die Eingangshalle seines Wohnhauses verlassen zu wollen, um eine Churros-Presse zu erstehen.

Er ahnte, wie diese Episode enden würde, wenn er nicht unverzüglich handelte. Nicht mit einem Knüppelschlag, sondern der teerschwarzen Gewissheit, dass der Rechtsstaat den Eifer der Entrechtung über ihn legte. Er bezweifelte, dass er, wenn er den Schlag zuließ und später, als wäre nichts geschehen, in die Eisenwarenhandlung auf dem Paseo de Delicias ging, die Last tragen könnte, diesem bodenlosen Fass an Ungereimtheiten nichts entgegengesetzt zu haben. Wie es aussah, wollte ein Staatsdiener ihm einen Raum streitig machen, für dessen Verteidigung er monatlich vergütet wurde.

Aufgrund der Unterschiede in der Körpermasse hätte der Polizist ihn zermalmen können. Aber sich mit dem Kürzeren anzulegen, war ein fataler Irrtum des Staatssoldaten. Manuel würde sich gegen den willkürlichen Angriff eines Gegners verteidigen, der sich seiner Vorteile zu sicher geglaubt hatte.

In der Tasche umklammerte er seinen Schraubenziehertalisman. Seit dem Tag der reparierten Lampe trug er ihn immer bei sich. Spannkräftig zog er ihn hervor und stieß die Spitze des Werkzeugs in den nackten Hals des dräuenden Angreifers. Getroffen. Der Polizist ließ den Knüppel fallen und fasste sich an den Nacken.

Ruckartig richtete Manuel sich auf und durchquerte die Eingangshalle, ohne die Tragweite des Einstichs ermessen zu können. Er wusste nicht, ob die von ihm zugefügte Wunde schwer oder leicht war, oberflächlich oder zwingend letal. An dem Schraubenzieher klebte Blut, das ja. Er hatte ins Rote getroffen, konnte jedoch ansonsten nichts über die Auswirkungen der stählernen Spitze auf die Gesundheit des anderen sagen.

Im Juli 2015 war ein veränderter Rechtsrahmen in Kraft getreten, der die Beziehung zwischen Bürgern und Sicherheitskräften neu regelte. Auf dem Papier klang es wie Musik, aber das neue Gesetz verhieß drakonische Strafen und verlängerte Gefängnisaufenthalte schon um eines einzelnen Wortes willen, bei nichtssagenden Fotografien, abweichenden Meinungen oder dem Hauch eines Körperkontakts.

In der Praxis machte die Novelle aus Polizisten bewaffnete Richter, deren bloße Zeugenaussage den Status eines Beweismittels genoss. Das erhob sie beinahe in den Rang der Unangreifbaren, als wollte die verkündende Regierung den Ordnungshütern auf diese Art schmeicheln und sie so zu ihrer Prätorianergarde machen. Tatsächlich gab es 2015 mehr Gründe, die Polizei zu meiden, als die Quinquis der Siebzigerjahre, die ich aufgrund meines Alters noch persönlich kennenlernen durfte. Die Klimpergeld klauenden Messerhelden von damals erleichterten einem schließlich nur das Portemonnaie, erschwerten einem jedoch nicht das Leben durch Haftbefehle oder übermäßig aufgeblähte Geldstrafen.

Das Ereignis in der Eingangshalle würde als Angriff auf einen Vertreter der Staatsgewalt gewertet werden. Wenn schon ein Wort, eine Geste oder eine Berührung des Arms ausreichte, um das Konto gepfändet zu bekommen und ohne großes Federlesen ins Gefängnis gesteckt zu werden, was geschah dann erst bei einer Bluttat, so gut die Gründe für selbige auch gewesen sein mochten? Abhängig von der Schwere der verursachten Läsion und kraft der neuen Verordnung könnten zwischen fünfzehn und zwanzig Jahre fällig werden. Als Geldbuße würde man Manuel die gesammelten Minuzien der letzten zwei Jahre wegnehmen, den Gebrauchtwagen und jeden einzelnen Duro, den er bis ans Ende seines Lebens verdienen würde. Nur weil er sich verteidigt hatte.

Sicher, Notwehr konnte er geltend machen, eine Rechtsfigur, die immer wieder in Filmen vorkommt. In der Welt des Zelluloids hatte man sich jedoch einen ganz eigenen juristischen Kosmos aufgebaut. Es gab keinerlei Gewissheit, dass dieser auch im Hier und Jetzt Gültigkeit besaß.

Der Bereitschaftspolizist blieb an den Postkästen zurück, jammerte, als erwarte er vergeblich einen langersehnten Brief.

Manuel erreichte in wenigen Sätzen den Ausgang. Bevor er den Türgriff fassen konnte, bemerkte er etwas, das ihm bisher noch nie aufgefallen war. Er nahm es aus einem Winkel seines Auges wahr, einer Kalotte des Augapfels, die das Gerät streifte, als er sich gerade entfernen wollte. Es war eine Überwachungskamera, die ihn von einer Ecke der Eingangshalle aus verhöhnte. Dort oben saß sie, an der Wand montiert, im Fünfundvierzig-Grad-Winkel geneigt, um den gesamten Raum erfassen zu können und nicht die winzigste Kleinigkeit zu übersehen.

Das Objektiv war auf ihn gerichtet wie auf ein Insekt in einem Dokumentarfilm. Aber kurz bevor er über die Türschwelle trat, brachte ihn sein Selbsterhaltungstrieb dazu, sich vor den anderen Kameras zu schützen – denen auf der Straße, die sich die Polizei in einer halben Stunde vornehmen würde. Einer Eingebung folgend, öffnete er den Regenschirm, bevor er aus der Eingangshalle trat. Schon war er draußen. Den Kopf verdeckte er mit dem geöffneten Parapluie, den er so weit nach unten zog, bis sein Schädel das Gestänge berührte.

Auf der Straße herrschte noch immer hastiges Treiben, das Antiregenrequisit bot ihm doppelt Schutz: Zum einen, weil es sein Gesicht verbarg, zum anderen, weil es ihm den Anstrich eines gewöhnlichen Passanten verlieh, der zufällig in das Getümmel geraten war (niemand läuft mit geöffnetem Regenschirm vor Schlagstöcken davon), und ihn damit immun gegen die Aufmerksamkeit der Polizei machte.

Mit gezügeltem Tempo ging er gen Norden, wie ein Passant unter Passanten. Er tauchte in die Menschenmenge ein, die Körper würden sicher etwas vor den Kameraobjektiven verbergen. Wie sie so kühn in die eine Richtung oder vorsichtig in die andere liefen, je nach Standort der Uniformierten, wurden die Demonstrierenden zu einer beweglichen Wand für ihn. Auch seine grüne Jacke versuchte er, mit dem Nylon des Regenschirms zu bedecken, was ihm jedoch nur mäßig gelang. Die Beine bereiteten ihm keine Sorgen, trug er doch, wie alle anderen auch, blaue Jeans. Den Blick auf den Boden gerichtet, verbarg er sein Gesicht hinter der freien Hand – ganz so, als schmerzten ihn die Backenzähne oder missfielen ihm die Unruhen.

Er lief im Schutz der Menschenmassen bis zur Gran Vía weiter. Dort nahm er an einer auffallend chaotisch anmutenden Stelle, an der es besonders schwer schien, den Weg eines Fahrzeugs im Auge zu behalten, ein Taxi und fuhr zu mir. Anstatt dem Fahrer die genaue Adresse zu verraten, ließ er sich fünfhundert Meter von meinem Domizil entfernt absetzen (ich wohne nahe der U-Bahn-Station Las Musas, er nannte Torre Arias).

Am Ziel angekommen gab er vor, seine Jacke verdreht zu haben, und zog sie andersherum an, das graue Futter nach außen, um einen weiteren Aspekt zu verändern. Es wirkte nicht ungewöhnlich bei dem, was man heutzutage so alles an Kleidung sieht. Er bezahlte. Auch dieses Mal schickte er sich an, den Regenschirm bereits drinnen zu öffnen. Was keineswegs abwegig war, da es bereits schüttete. Er stieg aus. Zu Fuß legte er den halben Kilometer bis zu meiner Wohnung zurück.

In meiner Gegend gibt es so gut wie keine Kameras auf den Straßen. Aber zur Sicherheit hielt er den Kopf unter dem Schirmgewölbe versteckt, wie das Gelbe vom Ei unter seiner Schale. Unterwegs entfernte Manuel aus Vorsicht vor verräterischen Geolokalisierungen die SIM-Karte aus seinem Mobiltelefon und warf sie in einen Gully. Danach versenkte er auch das Gerät selbst in einem Abfalleimer, um jede nur denkbare Verbindung zwischen seinem Telefon und seiner Spur auszulöschen. Sehnsüchtig wünschte er sich, dass der Müllwagen bald vorbeikommen und das Gerät schon in wenigen Stunden in der städtischen Müllverbrennungsanlage qualmen möge.

Der Gedanke, all diese Vorkehrungen könnten umsonst sein, quälte ihn, hatte er doch schließlich die Hauptrolle in dem Film gespielt, der von der Kamera in der Eingangshalle aufgezeichnet worden war. Der Eingangshalle des Durcheinanders, das sich darin organisiert hatte.

Ohne Telefon, um sich ankündigen zu können, klingelte Manuel an meiner Gegensprechanlage. Zuerst öffnete ich nicht, ich öffne nie. Also setzte er dem Klingelknopf immer weiter zu, da er meine Gewohnheiten kannte. Irgendwann verstand ich, dass etwas passiert sein musste. Er sah verdammt übel aus. Selbst sein Schatten war kreidebleich.

KAPITEL 4

Wortlos griff er nach meinem Ärmel und schob mich in das abgelegenste Zimmer meiner Geschiedenenwohnung. Vor einem Stapel frisch gebügelter Wäsche erzählte er mir, was geschehen war.

Am schlimmsten war die Sache mit der Überwachungskamera, ein Apparat so bedrohlich wie eine ihn anvisierende und alles registrierende Strahlenpistole.

Die Polizei musste einfach annehmen, dass der Haudegen im Gebäude wohnte. Sie würde als Erstes den Vermieter zu dem Typen mit dem Schraubenzieher auf den Aufnahmen der Überwachungskamera befragen. Und dieser würde antworten, der Gesuchte gehöre zur Bewohnerschaft. Es hatte Manuel einige Mühe gekostet, den Vermieter zu überzeugen, eine Kopie seines Ausweises zu akzeptieren, um dem Mietverhältnis auf diese Weise eine dokumentenbasierte Verbindlichkeit zu verleihen. Ein grober Fehler. Denn nun beunruhigte uns besonders die Vorstellung, dass der Vermieter bei einer Befragung durch die ermittelnde Reserve diese Ausweiskopie aus seinen Unterlagen hervorziehen könnte. Manuels Gesicht hatten sie im Speicher der Kamera. Mit minimalem Aufwand gelangten sie so auch an seinen Namen. Jedwede Aktivität, bei der er sich ausweisen müsste, würde Manuel auf direktem Weg in den Abgrund stürzen.

Sein Konterfei hing vermutlich schon in den Revieren aus, sodass er sein Gesicht ab sofort bedeckt halten musste. Elementar war nun, dass er niemanden traf und von niemandem angetroffen wurde, eine wesentliche und alles entscheidende Vorsichtsmaßnahme. Kein Sterbenswort zu Bekannten oder Unbekannten, nicht ein einziges Lebewesen im Besitz einer Geburtsurkunde durfte ihn sehen oder hören. Sonst hieße es unweigerlich, in die Tiefen einer Katastrophe hineinzuschlittern und niemals mehr herauszufinden.

Vermutlich erwogen wir beide die Möglichkeit, dass Manuel sich stellen könnte. Angesichts der widrigen Ausgangslage, die von Beginn an das Spiel bestimmte, tat ich es ganz gewiss. Aber weder er noch ich brachten das Thema zur Sprache. In einer Zeit, in der rechtsstaatliche Garantien verhandelbar, launenhaft und an Partikularinteressen ausgerichtet waren, wäre der Gang vor den Richter, um die Wahrheit zu sagen, ein Akt unverantwortlicher Torheit gewesen. Es brauchte andere Wege.

Wir kannten niemanden, an den wir uns wenden konnten. Namen von Personen, die wir um Hilfe hätten bitten können, fielen mir nicht ein, ich hatte schließlich nie viele Beziehungen unterhalten. In dieser Hinsicht glichen sich Onkel und Neffe sehr. Selbst wenn wir eine umfassende Liste an gütig gesinnten Freunden gehabt hätten, das wurde uns bald klar, wären wir nicht auf die Idee gekommen, sie zu bemühen. Wir konnten niemanden zum Eingeweihten einer Angelegenheit machen, deren Geheimhaltung uns ein dringendes Anliegen war.

Unter derart düsteren Prämissen begannen wir, Pläne zu schmieden, wobei unsere Romanlektüren mehr Licht ins Dunkel brachten als andere Quellen der Erleuchtung. Einige unserer Sicherheitsvorkehrungen ergaben nicht sonderlich viel Sinn. Und doch erschienen sie uns in ihrer Gesamtheit immer noch zu gering, unbedingt notwendig und unstrittig.

Am wenigsten inopportun war es, so schnell wie irgend möglich aus der Stadt zu verschwinden. Land zu gewinnen, bis sich die Lage klärte, und dabei auf die oft wiederholte Mär zu vertrauen, dass sich die Dinge manchmal von selbst erledigen. Manuel musste die Metropole verlassen, in der mittlerweile sicher schon nach ihm gefahndet wurde, musste flüchten – ganz gleich, wohin –, um sich ein Versteck zu suchen und sich dort einzuigeln. Er musste noch in dieser Nacht echappieren, am besten sofort. Zum einen, um Zeit zu gewinnen, zum anderen, weil das fehlende Licht von Vorteil war, um Kennzeichen zu verbergen, sowohl die seinen als auch das des Autos.

Wir erstellten ein Verzeichnis unserer Ressourcen (wirtschaftlicher, logistischer, vehikulorischer Art), um die spärlichen Katastrophenhilfsmittel aufzulisten, die uns zur Verfügung standen.

Manuel hatte dreiundzwanzig Euro bei sich, außerdem Personalausweis und Führerschein, Krankenversicherten- und EC-Karte, ein paar Taschentücher und seinen Schraubenzieher. Letzteren reinigten wir mit Wasser und Alkohol, da die Spitze braun war.

Was das Finanzielle anging, war bei mir, wie bereits erwähnt, nicht viel zu holen. Aber etwas würde ich ihm geben können. Wenig nur, sicherlich. Beschämende Beträge.

Manuel seinerseits hatte noch all das in der Hinterhand, was er für den Sprung in die just abgebrochene Unabhängigkeit zurückgelegt hatte. Dieses Geld befand sich auf einem Girokonto, das er 2013 im Zuge seiner ersten Anstellung eröffnet hatte. Als Adresse hatte er damals die Anschrift seiner Eltern angegeben. Zu jener Zeit erschien es ihm noch unvorstellbar, eines Tages woanders zu wohnen. Für uns hieß das, eine Fährte weniger. Das vom Mund abgesparte Kleingeld musste von der Bank geholt werden, da es sicher bald vonnöten wäre. Das Abheben wollte ich übernehmen. Wie genau ich Manuel seine Ersparnisse zukommen ließe, musste ich mir noch überlegen. Bargeld war keine Option, denn Manuel durfte einen Laden nicht einmal betreten, also kamen nur Konsumgüter infrage. Er überließ mir seine EC-Karte und die zugehörige PIN. Der am Automaten auszahlbare Höchstbetrag lag bei vierhundert Euro. Mit sieben Abhebevorgängen, sorgfältig über einen längeren Zeitraum verteilt, ließ sich der Saldo auf null reduzieren. Reich war er nicht, mein Neffe Manuel.

Unabdingbar war auch, das Konto aufzulösen, um so jegliche Spuren Manuels in der Welt zu tilgen. Da seine Bank auf Grundlage der PIN, die er mir notiert hatte, eine Kontokündigung auf telefonischem Wege gestattete, konnte ich die Sache von zu Hause aus erledigen.