Wir, am Tiefsee - Nina Jos - E-Book

Wir, am Tiefsee E-Book

Nina Jos

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Beschreibung

Wer auf dem Tiefsee die eigene Spiegelung erblickt, wird leiden. Mit diesem Wissen sind die Bewohner eines nahegelegenen Bergdorfs aufgewachsen und meiden das uralte Gewässer. Alle außer Ilvie. Ilvie wohnt am Ufer des Tiefsees und sorgt mit dessen Hilfe dafür, dass die Menschen jegliche Sorgen und Ängste vergessen - und zahlt jeden Tag einen hohen Preis dafür. Als dann noch die geheimnisvolle Nine im Dorf auftaucht und an Erinnerungen rüttelt, die auf keinen Fall geweckt werden dürfen, gerät das kleine Paradies endgültig ins Wanken.

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Inhaltsverzeichnis

1: Nine

2: Ilvie

3: Nine

4: Ilvie

5: Nine

6: Ilvie

7: Nine

8: Ilvie

9: Nine

10: Ilvie

11: Nine

12: Ilvie

13: Nine

14: Vor fünfzehn Jahren

Margarethe

Sylvia

Margarethe

15: Ilvie

16: Nine

17: Ilvie

18: Nine

Danke!

1

Nine

Es klingelt zwei Mal, dann wird mein Anruf abgelehnt. Gut. Sehr gut. Ich habe eh keine Zeit, zu telefonieren. Trotzdem drücke ich die Wahlwiederholung.

Mailbox. Natürlich.

Ich lasse das Handy sinken, atme die träge Hitze des Flures tief ein und bereue es sofort. Wenn die Kombination aus Geruch, Temperatur und Luftfeuchtigkeit um mich herum eine Farbe hätte, dann wäre es das Graubraun des Teppichs zu meinen Füßen. Der Farbton des abgewetzten Bodenbelags genießt wahrscheinlich Markenrechte und trägt die Bezeichnung „Postamt, Großstadt, dreißig Jahre gereift“.

Was sagt es über mich aus, dass ich genau diesen Farbton liebe? Diesen Geruch? Diesen Flur? Die niedrigen Decken? Die flackernden Neonröhren? Das gesamte Gebäude? Meinen Job?

Meinen noch-Job.

Und was sagt es über mich aus, dass ich mich am liebsten mit ausgebreiteten Armen und dem Gesicht nach unten auf die muffigen Synthetikfasern legen würde, als könnte ich mich dadurch an all dem festklammern?

Mit einem Ruck richte ich mich auf, drücke meine Schultern nach hinten und klopfe an die Tür, vor der ich seit fünfzehn Minuten stehe. Vielleicht habe ich gehofft, dass sie sich auflöst, wenn ich sie lange genug anstarre. Und wenn schon nicht die Tür, dann wenigstens die Probleme, die dahinter auf mich warten.

„Herein!“, ertönt es dumpf. Und genervt.

Schwungvoll trete ich ein und bleibe fast am Plastik der Klinke kleben. In einer verstohlenen Bewegung wische ich die Finger an der Hose ab und drücke die Tür hinter mir ins Schloss. Der Stoff meiner Diensthose klebt sowieso, er ist für diesen schwülen Hochsommer viel zu dick, viel zu eng und viel zu schwarz.

Obwohl ich wusste, was mich erwartet – ich werde deutlich öfter herbestellt als allen Beteiligten lieb ist –, trifft mich die Eiseskälte im Büro meines noch-Chefs wie eine Wand. Es fühlt sich an, als hätte jemand in der Arktis dick isolierte Päckchen aus Luft gepackt, hergeschickt und alle auf einmal geöffnet. Plötzlich wünschte ich, meine Hose wäre noch dicker.

„Frau Teichert. Setzen Sie sich.“

Mein noch-Chef, Herr Lärch, der zu den wenigen Dingen gehört, die ich an meinem Job nicht liebe, deutet resigniert in Richtung des Stuhls auf der anderen Seite seines Schreibtischs. Ich setze mich, vermeide aber den Blick auf das, was zwischen uns auf dem Tisch liegt. Stattdessen sehe ich mich um.

Das Büro von Herrn Lärch bildet durch seine moderne Einrichtung einen scharfen Kontrast zum restlichen Gebäude. Die Wände sind mit kunstvoll angeordneten Briefen bedeckt und die Regale sehen aus wie eine edle Variante der Fächerwände, in die wir Postboten jeden Tag hunderte Briefe für unsere jeweiligen Laufrouten einsortieren. Im Gegensatz zu unseren Fächerwänden bestehen die Regale hier allerdings nicht aus wackeligem Metall, sondern aus Holz. Und es reihen sich darin Bücher aneinander. Allesamt über das Postwesen und über Briefe.

Bücher über Briefe. Wer will so etwas lesen? Briefe muss man anfassen. Sie in den Händen halten. Muss über ihre wattierten Kanten streichen, sie stapeln, sie bündeln. Sich fragen, wohin sie unterwegs sind, woher sie kommen, welche Strecke sie zurückgelegt haben. Ob sie aufgerissen oder behutsam geöffnet werden, ob ihr Inhalt ein breites Lächeln, Schrecken oder Tränen auslöst.

Bücher über Briefe. Fast schüttle ich meinen Kopf, reiße mich aber gerade noch rechtzeitig zusammen.

Der Lärch selbst sieht aus, als wäre er gemeinsam mit dem Rest der Einrichtung im Katalog bestellt worden. Stilvoll, gepflegt und glattrasiert möchte man ihm, wenn man ihm draußen auf dem Gang begegnet, reflexartig den Weg zum schick verglasten Hochhaus am anderen Ende der Straße erklären.

Natürlich dürfen in seinem Büro auch Briefmarken nicht fehlen. Drei sehr wertvolle hängen gerahmt neben mir an der Wand. Bei ihrem Anblick muss ich daran denken, wie der Lärch einmal bei einer Grillfeier verkündet hat, die in seinem Büro seien nur Kopien, die Originale lägen bei ihm zu Hause in einem Safe. Ich würde ihm aber zutrauen, ein doppeltes Verwirrspiel zu spielen. Dass es ihm lieber wäre, die Leute brächen bei ihm zu Hause ein als in sein heiliges Büro.

Ich ertappe mich dabei, dass ich das nachvollziehen kann, denn ich liebe Briefe. Und ich wäre wirklich gerne aus allen erdenklichen Gründen hier, nur nicht wegen des Chaos in der Mitte des Schreibtisches. Briefe liegen dort zu einem so hohen Berg aufgetürmt, dass ich mich unwillkürlich frage, ob der Mensch extra Zeitungspapier darunter zusammengeknüllt hat, nur damit der Haufen noch eindrucksvoller erscheint. Die Unordnung sticht aus dem Rest des Büros hervor wie vier Wochen alter Biomüll.

Mein noch-Chef wirkt, als würde ihm der bloße Anblick der Briefe Schmerzen bereiten und seine Augen wandern weiter, bis sie an meinen Armen hängen bleiben. „Das da werden ja auch immer mehr“, sagt er und wedelt in Richtung meines gesamten Körpers.

Ok. Gut. Es geht doch nichts über ein paar gewohnte Gesprächsthemen, zum Einstieg sozusagen. Eins davon ist die Tinte unter meiner Haut, die ihn natürlich einen absoluten Scheißdreck angeht. Ich habe aufgehört zu zählen, wie viele einzelne Tattoos meinen Körper bedecken. Wenn ich die filigranen, schwarzen Bilder sehe, kann ich Hanis Hände wieder auf mir spüren und ihre perfekten Nadelstiche kribbeln bis in meinen Magen. Nie fragt sie nach dem Ursprung der Motive, egal welche ich anschleppe. Stattdessen verwandelt sie jedes einzelne in Kunst und verewigt es so auf mir, dass es nie wieder verschwindet, nie wieder vergessen werden kann.

Stifte auf einem zerfledderten Notizbuch. Ein Pfad, der sich an einem Schuppen entlang ins Nichts schlängelt. Ein Glas auf einem Gartentisch. Berge hinter markanten Tannen. Ein geblümter Teller mit Gebäck. Schraubenzieher, Nägel und unterschiedlich große Sägen, aufgereiht an einer Wand.

Nur wenig davon ist auf meinen Armen zu sehen und wenn ich wollte, könnte ich die Tattoos dort verdecken. Will ich aber nicht. Ich bin nicht hier, um meinem noch-Chef oder sonst irgendwem zu gefallen. Aber was soll’s. Er und ich sind dadurch wenigstens auf bekanntem Terrain.

„Bin ich deshalb hier?“, frage ich freundlich. „Wegen meiner Tattoos?“

Wenn ich die Diskussion führen will, spreche ich mit meinen Eltern. Scherz. Meine Eltern drücken mich weg, sobald ich versuche, sie anzurufen. Und das versuche ich oft. Sehr oft.

Der Lärch schüttelt den Kopf und macht eine Mine, als wüsste ich genau, was er von mir will. So eine komplexe Mimik der Mann. Wahnsinn.

Natürlich bin ich nicht wegen meines Aussehens hier, auch wenn ich weiß, dass er sich persönlich davon angegriffen fühlt. Nicht nur von meinen Tattoos, auch von meinen Haaren. Dabei ist es nicht deren tiefbraune Farbe oder die kunstvoll eingezogenen hellen Strähnen, die auf so wenig Gegenliebe stoßen. Es ist nicht einmal die auf wenige Millimeter gestutzte linke Seite. Die rechte Hälfte meines Kopfes ist das, was stört.

An dieser rechten Seite kann man nämlich durch meinen kinnlangen Bob sehr gut erkennen, wie voll und dick und naturgelockt meine Haare sind. Meine wunderschönen Haare, die sogar von wildfremden Menschen auf der Straße bemitleidet werden. Warum? Weil sie sich nicht zu der Mähne entwickeln dürfen, die sie sein könnten, ja, müssten, würde ich mich endlich dazu entscheiden so auszusehen, wie andere es gerne hätten.

Mit einem Seufzer reißt mein Gegenüber mich aus meinen Gedanken und richtet seinen Blick jetzt doch auf den Schreibtisch. Auch ich würde am liebsten nicht hinsehen, doch ich zwinge mich dazu, denn mit Wegsehen fängt es an. Mit Verstecken. Mit—

Nicht jetzt!

Ich sehe also hin. Und es sieht wirklich nicht gut aus.

Tja. Und so sitzen wir beide hier, unsere Blicke auf einen Haufen Umschläge gerichtet. Oder besser gesagt auf die Bilder, Muster und schwarzen Linien, die sie kreuz und quer bedecken.

Ich tue so unbeeindruckt wie möglich. Vor allem, um den Lärch zu provozieren. An seiner krebsroten Gesichtsfarbe und den immer fleckiger werdenden Wangen erkenne ich, wie gut mir das gelingt. Zum Glück sieht und ahnt er nicht, wie heftig mein Herz in meinen Ohren hämmert.

„Frau Teichert. Bei dem, was wir beide vor uns sehen, handelt es sich ausschließlich um die Briefe, die reklamiert und zurückgeschickt worden sind“, rückt er endlich mit der Sprache heraus. „Haben Sie mich verstanden? Der Berg beläuft sich ausschließlich auf die Exemplare, die zurückgeschickt worden sind. Viele Empfänger waren jetzt schon mehrmals von Ihren Schmierereien betroffen. Mehrmals!“

Ich frage mich, ob er seinen Vortrag vorher ausformuliert und aufgeschrieben hat. Ich sehe den Text vor mir, die Hälfte der Worte ist kursiv und mehrmals dick unterstrichen.

„Und können Sie nicht wenigstens schlau sein und jede Adresse nur einmal vollkritzeln?“

„Vollkritzeln.“ Arschloch.

Nie fiel es mir schwerer, zu schweigen. Ein betroffenes Gesicht aufzusetzen. Ab und an zu nicken, bedrückt mit den Schultern zu zucken. Schon aus Prinzip bin ich immer offen, immer ehrlich, verdecke nichts, verstelle nichts, verdränge nichts. Das hier ist eine Ausnahme. Eine sehr schmerzhafte. Aber wahrscheinlich ist es besser so, denn meine Stimme würde sicher beben und zittern und brechen, müsste ich jetzt einen vollständigen Satz herausbringen.

Nicht vor Wut über den Lärch und seinen herablassenden Ton, sondern weil ich, auch wenn es anders aussehen mag, meinen Job nicht nur liebe, sondern auch brauche. Weil ich nicht freiwillig hier sitze, vor einem Berg „vollgeschmierter“ Briefe, sondern weil ich nicht anders kann. Weil ich Briefe vollkritzeln muss. Und wo käme ich sonst so leicht an so viele von ihnen, wenn nicht bei der Post?

Auch nur einen einzigen dieser Punkte erklären zu wollen, wäre jedoch verschwendete Atemluft. Im Gegensatz zu mir scheint der Lärch sich leider keinerlei Sorgen um Atemluft zu machen, denn er hört überhaupt nicht mehr auf zu reden. Die wenigsten seiner Worte sind es wert, gehört zu werden.

Er redet immer weiter und ich schweige immer weiter. Weise ihn nicht darauf hin, dass dem Inhalt der Briefe nicht das Geringste passiert, dass kein Briefgeheimnis verletzt worden ist. Dass die Umschläge richtig gut aussehen. Nach Kunst. Dass nur die wenigsten Menschen sich beschweren. Dass ich so unglaublich viel mehr Briefe bemalt habe als vor uns liegen.

Und dann, endlich, fehlt nur noch die letzte Zeile seines Vortrags. Ich richte mich auf, balle eine Hand im Schoß zur Faust. Ich sehne mich danach, das kleine rote Plastikteil aus meiner Hosentasche zu fummeln, das ich immer mit mir herumtrage. An dem ich hänge, obwohl es nichts weiter ist als ein Stück Kunststoff, das ich irgendwann einmal gefunden haben muss. Als würde es irgendetwas ändern, die vertraute Form in meine Handfläche zu pressen.

„Noch eine einzige Beschwerde, dann fristlos.“

Nicht sofort dringt die Bedeutung des Satzes zu mir durch. Ich höre nur „fristlos“ und ein Bild taucht in meinen Gedanken auf. Ein kleiner, heller Funken, der in Zeitlupe in die Mitte der Briefe fällt. Dort, wo er landet, wird das Papier dunkler und dunkler, dann schwarz, dann hell und immer heller, bis der gesamte Schreibtisch, der gesamte Raum in flackerndes Orange getaucht wird. Bis alles knackt und knistert. Die Vorstellung verursacht ein angenehm warmes Gefühl in meinem Magen.

„Noch eine einzige Beschwerde, dann fristlos.“

Ich blinzle. Endlich kommt bei mir an, was der Lärch gesagt hat. Und was das bedeutet. Dass ich noch ein bisschen mehr Zeit habe. Und weiterhin Zugang zu Briefen.

Offensichtlich ist es sehr praktisch in einem Beruf zu arbeiten, den nicht viele Menschen machen wollen. Schnell murmle ich ein Dankeschön, stehe auf und drücke die Klinke zwischen Arktis und Tropen diesmal nur mit zwei Fingern herunter. Unnötig, denn natürlich klebt der Griff von innen kein bisschen.

Endlich in der Umkleide und endlich allein, lehne ich mich gegen die Tür. Mein Kopf macht ein dumpfes Geräusch, als ich ihn viel zu schnell nach hinten fallen lasse und der Schmerz sorgt für ein buntes Feuerwerk hinter meinen geschlossenen Augenlidern.

„Noch eine einzige Beschwerde.“ Ha!

Stöhnend reibe ich meinen Hinterkopf und setze mich auf die langgezogene Bank zwischen den Spinden. Gerade will ich ausrechnen, wie viele Briefe ich bis zur endgültigen Kündigung noch schaffen könnte, als mein Handy vibriert. Ich hebe es ans Ohr und weil ich die Nummer erkenne, sie heute schon mehrmals gewählt habe, genau wie gestern, und vorgestern, und vorvorgestern, antworte ich mit „NINE?“

Es ist, als müssten meine Eltern sich erstmal ein paar Minuten sammeln, wappnen und sich dann feinsäuberlich ihren Text zurechtlegen, bevor sie mich zurückrufen. Falls sie mich zurückrufen. Komisch eigentlich, denn sie sagen jedes Mal dasselbe.

„Margarethe!“, springt mir die Stimme meiner Mutter direkt in den Kopf. Sie weigert sich standhaft, mich bei der Abkürzung meines zweiten Vornamens zu nennen.

Wozu haben sie mich dann überhaupt Janine genannt? Um deutlich zu machen, welcher Name zu mir passen könnte? Wenn man mich so nennen würde?

Margarethe. Jeder Name würde besser zu jedem Menschen passen als Margarethe.

„Margarethe!“, ruft sie nochmal, als wäre das erste Mal nicht laut genug gewesen. „Meine Güte! Lass es endlich gut sein! Es ist doch jetzt schon so lange her! Fünfzehn Jahre! Lass uns endlich damit in Ruhe! Bitte! Meld‘ dich erst wieder bei uns, wenn du das alles ruhen lassen kannst! Mensch! Kind! Du bist Neun! Und! Zwanzig! Jahre! Alt! Du musst doch endlich mal nach vorne—“

Ich lege auf, bevor es das letzte Ausrufezeichen auch noch durch die Leitung schafft.

„Nach vorne gucken.“ Das sagt ausgerechnet die, wegen der ich genau das nicht kann. Die mich höchstpersönlich daran hindert, zusammen mit meinem Vater. Wie genau soll ich bitte nach vorne gucken, wenn ich keinen Schimmer habe, was hinter mir liegt? Hinter mir lauert? Und da lauert einiges, da bin ich mir sicher – obwohl, oder weil, ich mich an meine Kindheit und Jugend so gut wie gar nicht erinnern kann.

Dabei sind meine Erinnerungen nicht nur verwaschen wie ein schlechter Ausdruck auf billigem Papier. Nein. Meine Erinnerungen sind weg. Wie gelöscht. Rausgeschnitten mit einer stumpfen Schere. Und zwar so, dass ich die ausgefransten Schnittkanten kaum noch ertragen kann.

„Meld‘ dich erst wieder bei uns, wenn du das alles ruhen lassen kannst.“

Nie also.

Ich hebe den Saum meines sattgelben T-Shirts, mache ein Foto des neuesten Tattoos, direkt neben meinem Bauchnabel, und schicke das Bild an meine Mutter. Sie wird es eh nicht öffnen. Sie wird es mit zusammengekniffenen Augen löschen, damit sie bloß nichts darauf erkennt. Genau wie mein Vater.

Weil sie beide Angst vor dem haben, was schwarz auf Haut vor ihnen auftauchen könnte. Weil sie nicht wissen wollen, an was ich mich diesmal erinnert habe.

Schnell tippe ich „Tattoos kann man nicht löschen!! Die verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert!! Es werden nur immer mehr, je länger ihr nicht mit mir redet!!!“

Ausrufezeichen kann ich auch.

Bevor ich die Nachricht abschicke, lösche ich aber noch den letzten Satz. Er klingt viel zu sehr, als würde ich mir die Bilder nur wegen meiner Eltern stechen lassen. Tue ich nicht. Ich tue das für mich.

„Hey Nine, wann kommst du heute Abend?“, tönt es plötzlich vor mir. Ich schaffe es gerade noch, mein T-Shirt nicht hektisch fallen zu lassen, als wäre ich bei irgendetwas Peinlichem ertappt worden. Karsten steht vor mir. Mein Kollege. Falls er geklopft hat, habe ich es nicht gehört. Ich muss so verwirrt aussehen, wie ich mich fühle, denn er blickt mich entrüstet an.

„Waaas? Sag nicht, du hast es vergessen!“, ruft er. „Gartenparty beim Chef?“

„Ich glaub‘ nicht, dass ich eingeladen bin.“ Ich ziehe meine Schuhe aus und stopfe sie in meinen Spind. Meine Socken hinterlassen feuchte Abdrücke auf dem PVC Boden in Noppenoptik. „Umkleidendunkelbraun, unkaputtbar, fünfzig Jahre gereift“.

„Oh Scheiße. Rausgeflogen?“

„Allerletzte Abmahnung.“ Ich ziehe mein T-Shirt aus. Das Trägertop darunter klebt an meinem Rücken, nasse, dunkle Streifen ziehen sich quer über meinen Bauch.

„Aber warum—“, Karsten hebt beide Hände und lässt sie dann wieder sinken. Er spricht nicht zu Ende, aber ich kenne die Fragen längst.

Warum lässt du es nicht einfach? Warum lässt du die Briefe nicht in Ruhe? Warum machst du nicht einfach deinen Job? Warum machst du weiter, obwohl du genau weißt, dass es sofort auf dich zurückfällt, wenn wieder Beschwerden kommen?

Ich mag meine Kollegen. Das gesamte Team. Ich bin immer wieder verblüfft darüber, wie es trotz dieses Chefs so eng zusammenwachsen konnte. Und trotzdem gibt es Dinge, die ich mit niemandem teilen kann.

Wenn ich die Briefe bemale, dann erinnere ich mich. Manchmal. Ich weiß nicht warum. Und die, die es wissen, weigern sich, darüber zu sprechen.

„Ok. Scheiße“, sagt Karsten so mitfühlend, dass ich ihn am liebsten umarmen würde. „Die anderen werden voll traurig sein, dass du nicht kommst. Ich auch!“ Ich rechne es Karsten hoch an, dass er nicht so tut, als könnte ich meine Kündigung noch abwenden. Sobald der Lärch jemanden gefunden hat, der meinen Job übernimmt, bin ich raus. Wahrscheinlich sogar früher.

„Trinken wir vorher noch was zusammen? Kaffee oder so?“

Nichts wäre mir lieber, als irgendwo in einem Cappuccino zu rühren und zu reden und zu lachen. „Voll gern“, sage ich. „Aber ich muss heute dringend noch was machen. Nächste Woche?“

Genau. Wenn ich mich nächste Woche verabrede, als wäre alles mit mir in Ordnung, dann hört das Zittern meiner Finger bestimmt auf. Wenn ich mich nächste Woche verabrede, als wäre alles mit mir in Ordnung, dann denke ich bestimmt nicht mehr daran, dass das Vergessen über mir hängt, hinter mir steht, neben mir sitzt und auf mir liegt. Dass ich durchdrehe, wenn ich nichts unternehme. Wenn ich nicht zeichne.

„Oder wir gucken doch eher spontan, okay?“, schiebe ich deshalb nach, als wäre das besser.

Drei Jahre geht das alles jetzt so und wird mit jedem Tag schlimmer. Natürlich fehlten meine Erinnerungen auch davor schon, aber ich wusste schlichtweg nicht, was ich alles nicht weiß. Ich hatte ein normales Leben. Habe nichts gesucht und nichts vermisst. Meine Eltern sind zwar nie meine besten Freunde gewesen, waren schon immer schmallippig, langweilig und verschlossen, aber ansonsten okay. Und dann fing es an. Einfach so.

Plötzlich war mir klar, dass etwas fehlt. Etwas von mir. Plötzlich habe ich gemerkt, dass ich keine Ahnung habe, wie das Dorf heißt, in dem ich aufgewachsen bin. Dass ich mich an keine Freunde erinnern kann. Weder an Namen, noch an Gesichter. Aber so richtig schlimm wurde es erst an dem Tag, an dem ich meine Eltern darauf angesprochen habe.

Ich kann sie wieder vor mir sehen. Wie sie nebeneinander auf dem Sofa gesessen haben. Es war Herbst und ungemütlich, draußen hat es geregnet. Ich höre wieder das Prasseln dicker Tropfen gegen Fensterscheiben, sehe wieder, wie die Schlieren auf dem Glas das Backsteinhaus gegenüber verwischen.

„Wie heißt nochmal das Dorf, in dem wir früher gewohnt haben?“

Das ist meine Frage gewesen. Mit genau dieser Formulierung. Harmlos und kurz und leicht zu beantworten.

Aber meine Eltern haben nicht geantwortet. Sie haben überhaupt nichts mehr gesagt. Oder auf mich reagiert. Als wären sie auf ihrem durchgesessenen Polster eingefroren. Als wäre der Regen draußen schlagartig zu Eis geworden, die Temperatur im Zimmer auf minus zweihundert Grad gefallen, und ich die Einzige, die das nicht mitbekommen hat. Vielleicht haben sie gehofft, ich würde meine Frage wieder vergessen, wenn sie so tun, als wäre die Zeit stehengeblieben.

Hätten sie damals irgendeinen beliebigen Namen gesagt oder halbwegs normal reagiert, ich hätte mir vielleicht überhaupt keine Gedanken mehr gemacht. Viele Menschen haben Lücken in ihren Erinnerungen, oder nicht?

Aber meine Eltern waren offensichtlich so geschockt, dass keiner der beiden etwas parat hatte, das sich zum Überspielen ihres Schreckens geeignet hätte. Zum Ablenken. Zum Verstecken. Zum Verdrängen von etwas Schlimmem. Etwas, bei dem ich dabei gewesen sein muss. Oder an dem ich schuld war.

„Okay, dann gerne spontan“, reißt Karsten mich aus meinen Gedanken. „Alles gut bei dir? Kommst du mit raus? Nicht doch `n kurzer Kaffee? Sicher?“

„Nee, ich muss noch kurz—“, ich wedle in Richtung der Toiletten.

„Okay“, sagt er nochmal. „Aber ruf mich an, wenn etwas ist, ja? Dann bis morgen.“

„Bis morgen.“

Ich folge ihm noch ein paar angetäuschte Schritte in den Flur. Sobald Karsten außer Sichtweite ist, zieht es mich zurück zu meinem Spind.

Ein paar Sekunden lang lehne ich meine Stirn an das verkratzte Metall, dann gebe ich mir einen Ruck und öffne die Tür. Vorsichtig schiebe ich die graue Pappe beiseite, die ich vor der Rückwand aufgestellt habe. Die Spinde sind so tief, dass man hineinklettern müsste, um ganz hinten etwas herauszuholen.

Ein dickes Bündel Briefe fällt mir aus der doppelten Rückwand entgegen und allein das Gewicht der weichen Umschläge beruhigt mich. Ich drücke den Stapel zwischen meinen Fingern zusammen und sehe dabei zu, wie er beim Loslassen wieder in die Höhe wächst.

„Noch eine einzige Beschwerde, dann fristlos.“

Ich sollte in Würde gehen.

Ich sollte kündigen.

Ich sollte mir woanders einen Job suchen.

Aber das mit der Würde ist so eine Sache. Ich hätte keinen Schimmer, wie ich die Zeit aushalten sollte, bis ich etwas anderes gefunden hätte. Außerdem habe ich einen kleinen Funken Hoffnung, der seit ein paar Wochen immer größer und heller wird. Mit jeder neuen Einzelheit, die mir einfällt. Mit jedem neuen Tattoo. Hoffnung, dass ich bald etwas finden werde, das mich weiterbringt.

Ich schiebe meine Finger in die Hosentasche und ziehe das rote Plastikteil heraus. Drehe es vor meinen Augen hin und her. Es beruhigt mich, es zu halten. Es ist abgewetzt und alt, das Rot des Kunststoffs ausgeblichen und abgegriffen. Unten hat es eine Art Metallkappe, mit einem kleinen Rädchen daran.

Ich habe keine Ahnung, was das genau ist, was man damit macht, wo ich es gefunden habe. Oder wann. Aber ich weiß, dass es zu mir gehört. Zu dem Teil meines Lebens, den ich vergessen habe. Den ich vergessen sollte. Oder soll. Ich stecke den Stapel Briefe in meine Tasche und verlasse das Gebäude.

2

Ilvie

Eine Handbreit vor meinem Gesicht öffnet und schließt sich das Maul von Frau Grätchen, der Rhythmus der Bewegung passt zu dem dumpfen Gluckern des Wassers in meinen Ohren. Seit ich den Karpfen kenne, sitzt sein Unterkiefer leicht schief, so dass er mit einem Ausdruck ständiger Fassungslosigkeit durch den Tiefsee schwimmt. Und wer weiß? Vielleicht ist Frau Grätchen ja tatsächlich jedes Mal fassungslos, wenn sie mich sieht. Oder meinen Kopf, um genauer zu sein.

Dabei sollte Frau Grätchen sich längst an meinen Anblick gewöhnt haben. An die Art, wie ich mit Hilfe meiner Uferliege kopfüber bis zum Hals in den See eintauche. Die Liege ist eine Spezialanfertigung, von mir für mich. Wie ein Steg ragt sie über das Ufer des Sees hinaus ins Wasser. Alle Bretter habe ich exakt so gesägt, gefeilt und zusammengeschraubt, dass ich darauf problemlos und ganz ohne Druckstellen auf dem Bauch liegen kann. Zwei kleine Aussparungen geben meinen Füßen Halt und verhindern, dass ich durch die Neigung der Liege in den See rutsche – und Frau Grätchen mehr von mir zu sehen bekommt als uns beiden lieb ist.

Ja, Frau Grätchen sollte sich wirklich an mich gewöhnt haben. An meine Schwimmbrille und an meinen Schnorchel. An meine Badehaube mit den aufgeklebten Gänseblümchen aus Plastik, an denen sie Tag für Tag zupft, wenn sie nicht vor meinem Gesicht im Wasser schwebt.

So wie jetzt gerade.

Ich bin der festen Überzeugung, dass Frau Grätchen mir mit dem Gezupfe ihre Zuneigung ausdrücken möchte. Zumindest kann sie nach all den Jahren unmöglich noch immer hoffen, etwas Essbares an mir zu finden. Ich habe sie noch nie gefüttert. Nicht ein einziges Mal. Deshalb bin ich auch sehr stolz darauf, dass sie jeden Morgen angeschwommen kommt, sobald ich meinen Kopf in das kühle Nass des Tiefsees tauche.

Trotz der niedrigen Wassertemperatur – selbst nach diesem heißen und trockenen Juli ist der Tiefsee eisig – breitet sich ein warmes Gefühl in mir aus. Allein durch die Vorstellung, dass Frau Grätchen meine Gesellschaft ebenso sehr schätzt wie ich ihre. Dass sie mich mit dem Menschen in Verbindung bringt, der sie vor vielen Jahren in den See gesetzt hat. Dass sie mich in Wahrheit nicht fassungslos, sondern fragend ansieht. Dass sie, genau wie ich, darauf hofft, dass der Kopf dieses Menschen jeden Moment neben meinem erscheint. Genau wie ich hofft sie darauf vergeblich. Seit fast drei Jahren schon.

Eine ihrer Flossen streift meine Nase. Ja, mir tut das auch leid, kleine Gräte. Du kannst dir nicht vorstellen wie sehr.

Um ihre gute Meinung von Opa Albert nicht zu trüben, verschweige ich besser, dass er den kleinen Karpfen damals nur meinetwegen im Tiefsee ausgesetzt hat. Nicht, um dem Fisch einen Gefallen zu tun, sondern um mir die Angst vor der spiegelnden Oberfläche des Sees zu nehmen. Um mich dazu zu bringen, mich zuerst zittrig und ängstlich, dann immer mutiger über das Wasser zu beugen. Er hat genau gewusst, dass ich dem Anblick des Karpfens nicht würde widerstehen können. Vor allem, wenn er jedes Mal treu herbeigeschossen käme.

Inzwischen ist mir natürlich klar, dass Opa Albert Frau Grätchen jahrelang mit Futter angelockt hat. Hinter meinem Rücken, ein ganz billiger Trick. Trotzdem bin ich dankbar dafür. Dankbar für ihre Gesellschaft. Auch wenn ich bis heute nicht vergessen habe, wie entsetzt mein neunjähriges Ich gewesen ist, als Opa Albert mit dem Fisch in einer Wanne vor mir stand. Wie er verkündet hat, den kleinen Karpfen mit meiner Hilfe im Tiefsee freilassen zu wollen.

„Glaubst du, ich würde zulassen, dass dem kleinen Fisch etwas zustößt?“, hat er mich gefragt, während Sturzbäche aus Tränen zusammen mit einer Menge Rotz an meinem Kinn heruntergetropft sind. „Ich möchte doch nur, dass du mir glaubst. Dass du es mit deinen eigenen Augen siehst.“ Er hat sich hingehockt und sich verschwörerisch nach vorne gelehnt. „Das, was alle über den Tiefsee sagen, das stimmt nicht. Solange du nur eine einzige Sache nicht vergisst.“

An dieser Stelle hat er mich erwartungsvoll angesehen und mit seiner ungeteilten Aufmerksamkeit an meinen Lippen gehangen. An meinen Worten. Mir das Gefühl gegeben, dass das, was ich gleich sagen würde, das einzig Wichtige für ihn ist. Das einzig Wichtige für unser Dorf. Für Tiefensee.

„Solange ich nicht vergesse, dass das nur für dich und nur für mich gilt“, habe ich schniefend und hicksend aufgesagt, was er mir beigebracht hatte. „Nur für uns ist der Tiefsee nicht gefährlich.“

Ich habe Opa Albert vergöttert. Trotzdem konnte ich all die Warnungen nur schwer hinter mir lassen, mit denen ich aufgewachsen war.

„Für wen sonst ist der Tiefsee ungefährlich?“, hat er mich gefragt.

„Für niemanden sonst. Nur für dich und nur für mich. Und das ist unser Geheimnis.“ Bei den Worten unser Geheimnis bin ich jedes Mal mindestens zehn Zentimeter in die Höhe gewachsen.

„Ganz genau, kleiner Hüpfer“, hat er gesagt und seine Hand auf meine Schulter gelegt. Warm und schwer. „Ganz genau. Unser Geheimnis. Niemand sonst darf in den See hineinblicken. Nur du und ich.“

Nur du und ich. Seit knapp drei Jahren bin nur noch ich davon übrig. Und Frau Grätchen.

Ganz sicher wäre Frau Grätchen schockiert, wenn sie wüsste, dass sie sich meiner damaligen Meinung nach beim ersten Kontakt mit dem Wasser in ein zitterndes Häufchen Elend hätte verwandeln müssen. Dass mein Weltbild kurz zusammengebrochen ist, als ich dachte, mein geliebter Opa Albert wolle einen wehrlosen Fisch diesem Schicksal aussetzen.

Mein Opa, mit dem ich mehr Zeit verbracht habe als mit sonst jemandem. Mein Opa, dem das Wohl der Menschen von Tiefensee über alles ging. Dessen Aufgabe es war, ihnen ein Leben in unmittelbarer Nähe des Tiefsees zu ermöglichen. Denn wer das Wasser des Tiefsees berührt oder seiner Spiegelung darin in die Augen blickt, der ist verloren. So sagte man damals. So sagt man noch heute.

Wobei, nein. So sagt man nicht nur. Man weiß es und verhält sich entsprechend und spricht nicht darüber. Wozu auch? Jeder kennt den See. Jeder kennt die Regeln.

Sicher könnte man darüber schmunzeln oder den Kopf schütteln oder beides. Behaupten, dass heutzutage doch niemand mehr an so etwas glaubt. Dass zumindest Jugendliche doch sicher trotzdem in dem See schwimmen oder ihn wenigstens als Mutprobe benutzen.

Falls es jemals solche Jugendlichen in Tiefensee gegeben hat, hat man nie wieder etwas von ihnen gehört. Nicht einmal Touristen verlaufen sich hierher. In diesen hochgelegenen Kessel, umgeben von schroffen Bergflanken und karg bewachsenen Steilhängen, von Wiesen und Weiden und Feldern und Ruhe und sonst nicht viel. Ja, in Tiefensee gibt es wenig, aber das, was da ist, ist wunderschön. Ein Paradies mit einem kleinen, türkisfarbenen Haken.

Als Ausgleich, sozusagen.

Die wenigen Menschen, die sich doch hierher verirren, werden von so ekligen wie fantasievollen Warnschildern davon abgebracht, dem See zu nahe zu kommen. Die Bilder auf den Schildern sind wirklich übel. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe sie selbst gemalt. Wer sie gesehen hat, möchte sie wieder vergessen. Inklusive Tiefensee. Und mit Vergessen kann ich dienen. Dafür bin ich da.

„Niemand sonst darf in den See hineinsehen.“

„Nur du und ich.“

Nein, niemand berührt freiwillig das Wasser des Tiefsees. Niemand sieht freiwillig hinein. Und niemand wohnt am Tiefsee. Außer Opa Albert, früher. Außer mir, jetzt.

Ich atme durch die Nase aus und die Luftblasen steigen an meinem Kinn entlang nach oben. Es ist schon spät, in einer Stunde wird die Sonne über die Berggipfel geklettert sein. Ich muss los.

Wie jeden Morgen, wenn ich meinen Kopf so lange in das Wasser des Tiefsees gehalten habe, bis die Gedanken darin so träge und ruhig geworden sind wie Frau Grätchens Bewegungen, drücke ich das Mundstück des Schnorchels heraus und lächle ihr zum Abschied zu. Unter ihrem unverändert fassungslosen Blick stemme ich mich hoch, bis das Wasser des Tiefsees über mein Gesicht nach unten tropft, auf das Holz meiner geliebten Uferliege.

Ich bin sehr stolz auf diese Liege. Und weil niemand mich jemals dafür loben wird, weil niemand dem See und dem Haus und damit auch mir jemals näher kommen wird als nötig, lobe ich mich eben selbst. „Toll gemacht“, sage ich und streiche mit den Fingern über die feine Maserung des Holzes. „Sehr schön gearbeitet, Ilvie.“

Ich stehe auf und warte, bis die schwarzen Punkte vor meinen Augen zu tanzen aufhören. Dann ziehe ich die Badehaube vom Kopf und begutachte meine Spiegelung in der gläsernen Terrassentür. Das Wasser des Tiefsees hinterlässt ein angenehm kühles Gefühl auf meiner Haut, färbt aber meine Aknenarben dunkel.

Früher hat es mich gestört, wie stark sich die vielen roten Punkte von meiner sonst so blassen Haut abheben. Mein gesamtes Gesicht hat mich gestört und ich wollte es überall hinhalten, nur nicht in das Blickfeld anderer Menschen.

Heute wünschte ich, dass mich irgendjemand überhaupt ansehen würde. Wirklich ansehen. Dafür würde ich sogar die Blicke wieder in Kauf nehmen. Die unauffälligen, wenn die Menschen so tun, als würden sie die Narben nicht bemerken, obwohl ihre Augen immer wieder nach rechts und nach links zucken. Als könnten sie sich nur mit Mühe davon abhalten, meine Narben mit den Fingern wegzuwischen. Wie Marmeladenflecken.

Und meine Frisur. Eigentlich bräuchte ich die Badehaube gar nicht. Meine rotblonden Haare sind so dünn und so fein, dass sie nicht nur im Sommer, sondern auch bei zehn Grad und Nieselregen schnell trocknen. Ich trage sie eng am Kopf geflochten, sodass es nicht einmal besonders auffiele, wenn sie nass wären.

Aber ich möchte nichts riskieren. Schon in einer halben Stunde muss ich meinen Laden öffnen und meine feuchten Haare würden die Menschen aus Tiefensee daran erinnern, wo sie sind. Wo sie gerade sitzen. Was sie kaufen. Was unter ihren Füßen hin und her schwappt. Woher die tanzenden Lichtreflexe an der Wand gegenüber der Fenster kommen, die auf den See hinausgehen.

Manchmal muss ich über diese Ängste schmunzeln, auch wenn ich dabei sofort Opas mahnende Worte in den Ohren habe. Dass ich die Sorgen der Menschen nicht auf die leichte Schulter nehmen darf, selbst wenn ich sie nicht teile. Weil ich sie nicht teile.

Ich habe ihm nie gestanden, dass ich die Angst vor dem Tiefsee sehr gerne wieder mit den anderen teilen würde. Dass ich mich sehr gerne wieder so fühlen würde wie sie. Mit ihnen zusammen. Dass mir die Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin und die ich liebe, manchmal so unendlich weit weg erscheinen. Selbst wenn sie direkt neben mir sitzen.

Nichts davon habe ich jemals ausgesprochen. Vielleicht hatte ich Angst, Opa Albert zu enttäuschen. Oder mir ist die Einsamkeit meiner Aufgabe erst dann bewusst geworden, als er tot und ich alleine war. Alleine mit dem, was er angefangen hat. Er fehlt mir. Und er fehlt hier, in Tiefensee.

Wie lange wird es dauern, bis allen klar wird, wie sehr?

Meine Stoffschuhe knirschen auf dem Kiesweg, der am Ufer des Sees entlang zu meinem Laden führt. Das Geräusch vermischt sich mit dem frühen Gesang der Vögel, doch nur wenige von ihnen lassen sich blicken. Einzig ein paar Felsenschwalben sehe ich hoch über mir am wolkenlosen Himmel in der Sonne jagen.

Wieder wird es heiß. Wieder bleibt es trocken. Viel zu trocken.

Auf dem kleinen Parkplatz am Ufer bleibe ich stehen und lausche auf das vertraute Motorengeräusch eines der wenigen Autos von Tiefensee. Vier Stück gibt es, und die werden miteinander geteilt. Man ist schneller an das andere Ende des Dorfes gelaufen als man Autoschlüssel finden und ausparken könnte. Der kleine Hügel, der zwischen Dorf und Tiefsee liegt und den Menschen – was für ein Glück! – die Sicht auf den See versperrt, wird meistens mit dem Fahrrad oder zu Fuß bewältigt.

Außer morgens, von genau einer Person.

Doch heute höre ich noch nichts. Bis auf das Vogelgezwitscher ist es vollkommen still. Deshalb laufe ich schon einmal über den Steg zu meinem Laden, der wie eine kleine Insel aus Holz auf dem Wasser des Tiefsees ruht, zehn oder fünfzehn Meter vom Ufer entfernt. Ganz Tiefensee ist aus Holz, die Menschen und das leicht schiefe Rathaus aus Stein sind die wenigen Ausnahmen.

Der Steg knarzt unter meinen Füßen, das Wasser darunter gluckert leise und meine Gedanken werden ganz weich und warm. Ich freue mich schon auf die Menschen aus Tiefensee. Auf ihre Gesichter. Auf ihre Geschichten.

Opa Albert wäre stolz auf mich. Ja, heute wäre er ausnahmsweise stolz auf mich und ich lächle, während ich den Holzriegel der Eingangstür beiseite ziehe und die Klinke am Geländer des Stegs festbinde. Nicht ganz so stolz wäre Opa Albert dagegen auf das „P“ des Schriftzugs „Zur Spiegelnden Tiefsee“, das schon seit Wochen schräg zwischen den restlichen Buchstaben über der Tür hängt.

Oder er würde darüber lachen. Oder es nicht bemerken. Oder es reparieren. Ich weiß es nicht mehr genau. Die Erinnerungen an Opa Albert verblassen, rutschen aus meinem Kopf wie ein Stück Seife aus meiner Hand.

Was würde er denken? Was würde er tun? An meiner Stelle, wenn er wüsste, was ich—

Ich schüttle meinen Kopf und öffne die großen Fenster, um die abgestandene Luft zu vertreiben. Wünschte, ich könnte dasselbe auch mit meinen Gedanken tun.

Mein Laden ist nicht besonders groß und wenn ich abends aufräume und die fünf zusammengewürfelten Tische abwische, bin ich sehr froh darüber. Außerdem müsste ich sonst noch viel häufiger gutgemeinte Hilfsangebote ablehnen. Müsste noch häufiger betonen, wie gern ich das alles alleine mache.

Manchmal, wenn ich etwas Aufmunterung nötig habe, stelle ich mir vor, eins der Angebote annehmen zu können.

Ja, ich könnte tatsächlich sehr gut zusätzliche Hände gebrauchen, vielen Dank. Sofort sehe ich die geweiteten Augen vor mir. Höre die atemlose Erklärung, dass das mit der Hilfe gar nicht so richtig wörtlich gemeint war. Dass ich doch sonst auch immer ablehne.

Trotzdem muss ich schmunzeln, während ich mich zu der Wand hinter dem Tresen drehe. Sie wird von einem massiven Regal bedeckt, dessen Holz alt und weich und abgegriffen ist und das seit Jahren eine Unmenge kleiner Gläser trägt. Liebevoll drehe ich eins von ihnen zwei Millimeter nach links, so dass der Schraubdeckel richtig ausgerichtet ist. Wie ein Kind, das seine Nase an einer Schaufensterschreibe platt drückt, verkaufe ich etwas, das ich selbst nicht haben kann.

Eine Person muss einen klaren Kopf bewahren. Den Überblick behalten. Und diese Person bin ich.

Ein paar der Gläser schimmern golden, die sirupartige Flüssigkeit in ihnen streut den ersten Sonnenstrahl, der sich über die Tannenwipfel am anderen Ende des Sees schiebt. Die Flüssigkeit sieht aus wie Honig. Verhält sich wie Honig. Schmeckt wie Honig. Die Gläser sehen aus wie Honiggläser.

Aber es ist kein Honig.

Nirgendwo in meinem Laden ist eine einzige Biene zu sehen. Nicht eine einzige Wabe. Nicht auf der großen Holztafel, auf der mit weißer Farbe die Preise gepinselt stehen, und nicht auf den breiten Banderolen der Gläser, die ich selbst mit tiefschwarzer Tinte und feinen, gestempelten Bildern verziere. Nirgends steht etwas von Honig.

Ich lüge nicht. Aber ich korrigiere auch niemanden, der etwas bestellt, das es nicht gibt. Der Inhalt der Gläser spielt sowieso keine Rolle, der vermeintliche Honig ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass das Glas beim Essen die ganze Zeit in der Hand gehalten und mir danach leer zurückgebracht wird. Und noch wichtiger ist, dass ich das Glas danach ganz schnell—

Ein Knirschen aus Richtung Parkplatz schreckt mich aus meinen Gedanken und mein Magen weiß sofort, wer gerade angekommen ist. Er knurrt laut und deutlich.

„Ooohhh, schnell, schnell, schnell!“, weht die Stimme meiner Mutter über den Steg und ich laufe ihr entgegen. Meine Mutter ist ein Morgenmensch und sicher schon seit fünf Stunden wach. Und fleißig. „Kleines! Guten Morgen!“, ruft sie in einer Lautstärke, als müsste sie mich erst noch aus dem Tiefschlaf holen. Zwischen ihren schnellen Schritten und dem Schlagen von Autotüren und Kofferraum schafft sie es, mir ein Backblech entgegenzuhalten. „Komm Kleines, hilf mir mal tragen.“

„Guten Morgen, Mama.“ Ich strecke meine Hände nach dem Blech aus, das schwerer ist als für Tiefensee gut sein kann. Es ist beladen mit Plunderschnecken, Puddingbrezeln und Quarktaschen, so saftig, dass sich die Ecken nach unten biegen, wenn man die Teilchen in der Mitte hochhebt.

„Du kannst es dir übrigens nicht vorstellen“, sagt sie, während sie schon mit einem zweiten Blech über den Steg stapft. Ihr Blick ist dabei stur geradeaus gerichtet, nicht ein einziges Mal rutscht er nach unten. „Ich glaub die Ute Hindrichs hat mich grad eben beim Vorbeifahren beobachtet. Stand gleich hinter ihren Gardinen. Die ganze Zeit. Merkwürdig, oder nicht?“

Schweigend folge ich ihr. Und lächle. Spreche nicht aus, dass die Frau des Bäcker Hindrichs meine Mutter garantiert beobachtet hat. Weil sie das jeden Morgen tut. Was jeder in Tiefensee weiß. Einschließlich meiner Mutter. Genauso wie jeder, einschließlich Ute Hindrichs, weiß, dass meine Mutter für mich und meinen Laden backt. Manchmal vergisst sie sogar, ihre Schürze auszuziehen, läuft mit dem halben Gesicht voller Mehl durch das Dorf, doch alle tun so, als wäre es ein unlösbares Rätsel, woher meine unfassbar leckeren Teilchen kommen. Und das alles, damit der alte Bäcker Hindrichs sich nicht schlecht fühlt. Dabei sollte selbst er inzwischen bemerkt haben, dass seine Croissants schmecken wie zwei Tage alte Brötchen und blättrig sind wie ein Stein. Ganz Tiefensee kauft seine Backwaren trotzdem.

Und ich? Ich mache so schlechten Kaffee, dass es mir in der Seele weh tut, nur, damit Bäcker Hindrichs wenigstens darin besser ist.

Ja, in Tiefensee gibt es Regeln. Das ganze Dorf ist voll von ihnen. Sie sind starr und unumstößlich. Und einige von ihnen sind sehr wichtig für mich. So fragt zum Beispiel niemand, warum mein Laden ausgerechnet hier steht, im Tiefsee. Warum man über einen Steg laufen muss, um ihn zu erreichen. Warum ich meinen Honig nicht woanders verkaufe, in sicherer Entfernung zum See.

Niemand möchte die Antworten hören. Niemand möchte wissen, wie das alles funktioniert.

„Die Nähe zum See ist wichtig, kleiner Hüpfer. Der Gedanke, dass dieser Preis bezahlt werden muss, steigert die Wirkung.“ Ich höre Opa Alberts Stimme so klar und deutlich, dass sogar sein schwerer Husten in ihr mitklingt. Seine Kurzatmigkeit.

„Aber ist das nicht gelogen?“, habe ich gefragt.

Ich sehe ihn vor mir. Wie er seinen Kopf hin und her neigt. Wie er Luft holt, dann aber doch wieder ausatmet. Als würde er kurz überlegen, mir etwas zu verraten und sich dann dagegen entscheiden.

Aber das ist nicht möglich. Das habe ich sicher falsch in Erinnerung. Zwischen uns gab es keine Lügen, keine Geheimnisse. Das war ihm immer extrem wichtig.

„Gelogen wäre es, wenn sie uns etwas fragen und unsere Antwort darauf nicht der Wahrheit entspricht.“

„Aber sie fragen nicht.“

„Genau. Sie fragen nicht.“ Er hat genickt und vor sich hin gepfiffen und dieses Lächeln gelächelt, in das ich mich hätte reinlegen können. Dann hat er gehustet. Und gehustet. Und irgendwann nicht mehr wieder aufgehört. An manchen Tagen entgleitet mir die Erinnerung an seine Stimme komplett und ich höre nur noch sein gequältes Husten.

Mein Herz zieht sich zusammen und ich gebe mir einen Ruck, greife heimlich nach einer der glänzenden Puddingschnecken.

„Finger weg, die Teile sind abgezählt!“ Die Frau sieht aber auch alles. Wenn sie möchte.

Auf einmal bleibt meine Mutter so abrupt auf der Schwelle meines Ladens stehen, dass ich ihr fast mein Blech mit Teilchen an den Rücken klebe. Vorsichtig neige ich meinen Kopf zur Seite und blicke an ihr vorbei.

Auf dem Boden vor ihren Füßen, direkt auf den abgelaufenen Holzdielen, glänzt eine kleine Pfütze.

„Auf dem bisschen Spülwasser rutscht du schon nicht aus“, sage ich lachend und manövriere mich samt der Teilchen um meine erstarrte Mutter herum. Als wäre das am Boden tatsächlich nur Spülwasser. Als wäre es nicht das Wasser des Tiefsees, das aus meinen Haaren getropft sein muss. Ich werde unvorsichtig.

Ich werde wirklich unvorsichtig.

Schnell schiebe ich die Gedanken an das beiseite, was ich sonst noch alles hätte erledigen müssen.

Muss. Dringend.

Bevor meine Mutter sieht, dass der Spüllappen so trocken ist wie eine Scheibe fünf Tage altes Graubrot, halte ich ihn unter den Wasserhahn und wische mit gespielter Sorgfalt über den Boden.

Es ist sehr wichtig, dass alle weiterhin glauben, was sie immer geglaubt haben. Es ist sehr wichtig, dass ich weiterhin tue, was ich immer getan habe.

Dann bleiben alle glücklich.

Dann bleibt alles gut.

3

Nine

Ich muss mich beeilen. Die Innenstadt ist voller Menschen und obwohl es schon halb elf ist, färbt der späte Sonnenuntergang den Himmel noch immer bläulich. Überall tauchen Kerzen die Tische, Gehwege und Gesichter in flackerndes Licht, Gläser und Flaschen klirren aneinander. Das Kondenswasser eiskalter Getränke tropft auf Flipflops und läuft nackte Unterarme entlang. Ich möchte mir das Gelächter, das Gemurmel und alle Gerüche für später in eine Tupperdose packen.

Der kurze Regenguss am Nachmittag hat keine Abkühlung gebracht, sondern sich auf einen Schlag in Luft aufgelöst. Immerhin weht ein leichter Wind durch die Gassen.

Die stickige Brühe, die in der Post garantiert noch in den Fluren steht, hat nach meiner Abmahnung heute Nachmittag deutlich besser zu meiner Stimmung gepasst als die gelöste Atmosphäre um mich herum. In ihr liegt eine zufriedene Müdigkeit wie nach sechs Stunden Baggersee.

Aber ich muss mich wirklich beeilen. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Nicht mehr viele Briefe.

Ein und dasselbe für mich.

Alle sind mit irgendetwas oder mit irgendjemandem beschäftigt, ich falle kein bisschen auf. Perfekt. Nicht ein einziges Augenpaar wandert in meine Richtung, als ich im Schatten einer Hauswand nach dem Ende der Feuerleiter über mir greife. Mit etwas Mühe ziehe ich mich an den Sprossen hoch. Die Ranken eines riesigen Blauregens verdecken mich fast komplett und werden den Fluchtweg bald zugewuchert haben.

Ich klettere bis zu einem kleinen Korb aus Metall, auf dem nicht einmal ein Hocker steht. Keine Basilikumpflanze trocknet in einem Plastiktopf vor sich hin und auch kein überfüllter Aschenbecher ist zu sehen. Außer mir scheint niemand diesen Platz entdeckt zu haben. Sehr gut. Um nicht die nächsten Stunden mit dem Muster eines Metallgitters auf dem Hintern herumzulaufen, habe ich mir extra ein kleines Kissen mitgebracht. Ich lerne dazu.

Das Gewusel unter mir wird durch die Gitterstäbe meines Balkonkorbs in schmale, regelmäßige Streifen geschnitten. Kurz sitze ich in einer herrlichen Wolke aus Sommernachtsgeräuschen und der Wärme, die von der Hauswand hinter mir abstrahlt. Dann fällt mir ein, dass ich nicht freiwillig hier bin. Dass ich auch lieber da unten wäre. Dass ich auch lieber meine Hände um eine Flasche schließen würde, deren Etikett durchweicht vom Kondenswasser ohne Widerstand abrutscht.

Die großen Kopfhörer, die ich aus meiner Tasche krame, legen sich angenehm dumpf über Gelächter und Geklimper. Ich könnte das hier auch in meiner winzigen Wohnung machen. Auf dem Bett. Oder dem Fußboden. Ich müsste dafür nicht rausgehen. Müsste nicht extra herkommen. Aber ich mache es trotzdem jedes Mal. Weil ich die Welt ausblenden will. Und um sie auszublenden, muss ich mittendrin sein.

Ich muss hier alleine durch, aber in meinem kleinen Ausguck umfängt mich wenigstens die Anwesenheit all der Menschen da unten. Auch wenn niemand mich sieht.

Auf meinem Handy öffne ich die Playlist mit dem kreativen Namen „Feuerleiter“ und drücke auf Start. Der Rhythmus elektronischer Musik überträgt sich auf meinen Körper. Lässt meinen Kopf hin und her wippen. Der schwere Bass wandert von meinem Nacken aus nach unten, zieht in meinen Magen, in meine Füße und meine Zehen, und schließlich auch in meine Arme. In meine Hände. Meine Finger. Sie zittern nicht mehr, sondern haben wie von selbst einen Stift aus meiner Tasche geholt und drehen ihn locker hin und her.

Ich greife nach dem ersten Briefumschlag und das Gitter des Metallkorbs, die Blätter des Blauregens, der warme Wind, die Kerzen unter mir, all das verschwindet. Ich lasse meine Finger machen. Höre auf zu denken.

Zuerst fließen nur simple Linien aus der Mine meines Filzstiftes. Ich beachte sie kaum, sehe sie mir nicht genauer an. Es sind nur Übungen, abstrakte Muster zum Aufwärmen und Abtauchen. Ich summe, wippe im Rhythmus der Musik, male immer weiter und weiter und dann, nach elf Umschlägen, steigt endlich das warme Prickeln in mir auf, wegen dem ich hergekommen bin. Das ich brauche.

Ich zeichne schneller, heftiger, kratze mit dem Stift über das Papier. Ich schließe meine Augen, bin für einige Minuten nur der Bass auf meinen Ohren, der Umschlag zwischen meinen Fingern. Und dann, endlich, taucht ein Bild in mir auf. Ich halte die Luft an, um es nicht zu verwackeln. Um es nicht zu stören. Sehe dabei zu, wie es in meinem Kopf immer größer und schärfer und schließlich dreidimensional wird. Spüre, wie es durch meine Finger auf den Briefumschlag fließt.

Erst nach einigen Minuten traue ich mich, meine Augen wieder zu öffnen, den Umschlag vor mein Gesicht zu heben und das Bild darauf ins Licht zu drehen. Kindisch, ich weiß. Aber schwarz auf Papier ist es nicht länger nur ein Bild. Nicht länger nur ein Gedanke. Es ist eine Erinnerung. Meine Erinnerung.

Jedes Mal an dieser Stelle muss ich das rote Plastikteil aus meiner Hosentasche ziehen und umklammern, mich damit erden, mich daran festhalten. Als könnte ich sonst in den Umschlag hineingesaugt werden.

Zum Glück bleibe ich auch diesmal wo ich bin. Die Musik pulsiert weiter in meinen Ohren. Das Bild auf dem Umschlag vor meiner Nase ist sauber und klar und nicht verwischt. Und vor allem ist es viel zu gut gezeichnet für geschlossene Augen.

Der Dachgiebel eines Schuppens ist darauf zu sehen. Mit Moos bewachsene Balken bilden ein Dreieck über einem schwarzen Fenster und tauchen es in dunkle Schatten. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt, doch ich meine erkennen zu können, dass Nebel den Schuppen einhüllt. Hinter ihm aufsteigt. Sich vor seine Fenster schiebt. Matt und dunkel. Wie Rauch.

Plötzlich habe ich den Geruch nasser Blätter in der Nase. Feuchtes Holz. Erde. Moos. Algen? Und da ist noch etwas. Etwas, das ich—

Mit einem Klimpern rutscht mir das Plastikteil aus der Hand und ich kann es gerade noch davon abhalten, durch das Gitter zu fallen und auf den Pflastersteinen unter mir zu zerspringen.

„Sieh hin“, dränge ich mich selbst, doch der Moment ist vorbei. Die Gerüche verflogen.

Verdrängt.

Mit einer Erleichterung, die ich mir ungerne eingestehe, hole ich ein dünnes Blatt Papier aus meiner Tasche. Feinsäuberlich übertrage ich den Dachgiebel darauf. Ich darf den Brief nicht behalten, will nicht auch noch eine Anzeige riskieren. Ich traue mich nicht einmal, ein Foto davon zu machen. Vor allem, weil ich Hani da nicht mit reinziehen will, denn für sie ist das Blatt Papier gedacht. So kann sie mir das Bild am besten verfeinern und dann, endlich, unter die Haut stechen.

Ich habe keine Ahnung warum und wie genau das hier funktioniert. Warum ich mich ausschließlich durch das Zeichnen auf verfluchte Briefumschläge erinnern kann. Warum reicht nicht auch ein Blatt Papier?

Ich habe es schon versucht. Habe mir sogar selbst Briefe geschrieben. Habe Hani gebeten, mir Briefe zu schreiben. Nichts davon hat geklappt. Es müssen die Briefe fremder Menschen sein. Vielleicht brauche ich das komplette Paket an Möglichkeiten, das in ihnen steckt. Dazu muss ich mir die mühsam freigelegten Erinnerungen auch noch stechen lassen, um sie nicht nach kurzer Zeit wieder zu vergessen.

Ich liebe meine Tattoos. Jedes einzelne. Und trotzdem.

Ich schüttle meinen Kopf. Betrachte noch einmal das gezeichnete Bild des Daches, gehe ganz nah ran. „Wo stehst du?“, murmle ich. „Oder besser gesagt, wo standest du?“ Nach all den Jahren ist von dem Schuppen wahrscheinlich nicht mehr viel übrig.

Ich richte mich auf. Stoppe die Musik. Das Fehlen des Basses rauscht in meinen Ohren, bis das Gemurmel von der Straße mich wieder umfängt. Einen nach dem anderen lasse ich die Briefe in meiner Tasche verschwinden, den Umschlag mit dem Dachgiebel zum Schluss. Morgen werde ich sie alle in meine Fächer sortieren, bevor die anderen etwas bemerken. Ich habe schon Übung darin. Mal sehen, wie viele der Umschläge ich wiedersehen werde. Und vor allem wie schnell.

Irgendwann, hoffentlich schon morgen, bitte schon morgen, finde ich beim Zeichnen das, was ich wirklich suche. Was ich wirklich brauche. Um weiterzukommen. Um nicht durchzudrehen.

Den Namen des Ortes, in dem ich aufgewachsen bin.

Ich gleite aus dem Metallkorb und arbeite mich an einer Horde von Fahrrädern vorbei, die kreuz und quer unter der Feuerleiter aufgetaucht sind. In einigen der Körbe liegen Strandhandtücher. Würde ich meine Finger nach ihnen ausstrecken, sie wären sicher noch feucht vom Tag am See. An manchen kleben bestimmt auch plattgedrückte Blüten und zerdrückte Früchte, deren Flecken nie wieder ganz verschwinden werden.

Was für ein Glück. Erinnerungen, die man aus dem Schrank holen kann, wann immer man sie braucht.

Um kurz vor zwölf klopfe ich an Hanis Haustür. Es dauert keine dreißig Sekunden, bis dumpfe Schritte hinter dem dunkelgrün gestrichenen Holz verraten, dass sie noch wach ist. Ich kann ihren Gesichtsausdruck schon sehen, bevor die Tür nach innen schwingt. Die Augenbrauen hochgezogen, den Mund zu einer Linie gepresst.

Jedes Mal, wenn ich so spät wegen eines neuen Motivs bei ihr auftauche, gibt sie sich mehr Mühe mit ihrer genervten Mimik. Jedes Mal scheitert sie daran, sie glaubhaft rüberzubringen. Auch heute.

„Nine“, seufzt sie langgezogen und blinzelt verschlafen. „Hast du mal auf die Uhr geguckt? Das kostet richtig dick Nachtzuschlag. Sicher, dass du dir das leisten kannst?“

Das Schmunzeln, das sie mit zerknitterter Stirn von ihren Lippen zu halten versucht, schleicht sich unaufhaltsam auf ihr Gesicht. Ich freue mich schon auf den Moment, in dem ihr klar wird, dass sie mit ihrer genervten Nummer wieder gescheitert ist.

Und schon passiert es. Ihre Grübchen werden tiefer, ihr Schmunzeln wird zum Lächeln, dann zum Grinsen und noch breiter, bis ihr Gesicht nur noch aus der Lücke zwischen ihren Schneidezähnen besteht.

„Ich zahle alles, was du willst“, sage ich und lasse mich von ihrem Strahlen anstecken. Natürlich bin ich selbst erstaunt, dass ich mir meine Haut überhaupt leisten kann. Tattoos sind teuer und Hanis müssten unbezahlbar sein.

„Sicher? Alles?“, fragt sie und mustert mich langsam von oben bis unten, sodass mir heiß wird. Dabei zieht sie ihren unglaublich hässlichen Bademantel enger um sich, von dem sie behauptet, er sei ihre Muse. Ihre langen, pechschwarzen Haare sind zu einem riesigen Nest auf ihrem Kopf aufgetürmt, das verrät, dass das mit dem verschlafenen Blinzeln nur gespielt war.

Hani schläft ausnahmslos mit offenen Haaren, ganz egal wie lange es dauert, sie wieder zu entwirren. Ich habe die Haare schon unzählige Male offen gesehen und genauso häufig musste ich mir morgens Hanis Gefluche beim Kämmen anhören.

„Absolut alles“, spiele ich unser Spiel mit, auch wenn es mir heute schwerer fällt als sonst. Hani scheint es genauso zu gehen, denn sie tritt zwar zur Seite und winkt mich vorbei, aber mir ist nicht entgangen, wie sie einen Hauch tiefer Luft geholt hat. Wie sie den Atem angehalten und dann vorsichtig hat entweichen lassen, damit er bloß nicht zu einem Seufzer wird. Zum Glück fängt sie sich schnell wieder.

„Sag bitte nicht, dass du es nur so eilig hast, um deinen Chef noch weiter auf die Palme zu bringen“, fordert sie, während ich ihr in die Wohnküche folge. Der gemütliche Raum ist mehr Dschungel als Wohnzimmer oder Küche und ich ziehe den vertraut erdigen Geruch in meine Lungen. Irgendwo zwischen Blumentöpfen und Hängepflanzen finden wir die Küchenzeile, von der eine Ecke wie ein Tresen in den Raum ragt.

„Mein Chef ist schon längst ganz oben auf der Palme, da geht es nicht mehr weiter.“

Hani lacht und der Klang ist hell und gleichzeitig wuchtig, wie ein riesiges Orchester, das ich auswendig kenne. Aber heute klingt es anders. Als wäre eins der Instrumente nicht im Takt. Außerdem entgeht mir nicht, dass Hani einen Bogen um das Sofa macht, auf dem wir schon so oft zusammen gesessen haben. Und gelegen.

„Okay, zeig her“, sagt sie und lehnt sich so weit in meine Richtung, dass sie ihren Kopf an meinen legen könnte.

Ich falte das Blatt mit dem Dachgiebel auseinander und während sie es zwischen ihren Fingern hin und her dreht und nickt, kann ich sehen, wie erste Ideen in ihrem Kopf auftauchen. Sie greift nach einer leeren Cornflakes Packung und fängt an, mit einem Kugelschreiber darauf herumzumalen. Als hätte auch sie Angst, ihre Gedanken sonst wieder zu vergessen.

Vielleicht bin ich damit doch nicht ganz alleine.

Ich betrachte Hani von der Seite, hebe meine Hand und wickle die feinen Haare in ihrem Nacken um meinen Finger, die nie in dem aufgesteckten Berg auf ihrem Kopf bleiben wollen. Hani lehnt sich noch weiter zu mir, lässt mich machen, doch etwas an ihren Bewegungen ist anders als sonst. Verhaltener. Als würde sie sich wappnen. Als wüsste sie, dass die Motive meiner Tattoos sich wandeln. Dass irgendetwas näher kommt. Etwas, das mich verändern wird und damit auch das, was wir miteinander teilen. Und obwohl mich ihre Stimmung traurig machen sollte, jubelt etwas tief in mir drin. Als würde Hanis Zurückhaltung bestätigen, dass ich es wirklich bald finden werde.

Das letzte Motiv.

Ich beobachte Hanis Profil, wie sie wieder und wieder mit der Augenbraue zuckt, wie immer, wenn sie sich konzentriert. Ich lasse ihre Haare los und drücke meine Lippen kurz auf ihre Schulter, dann mache ich einen Schritt zur Seite und gebe ihr mehr Raum. Das hier fühlt sich plötzlich an wie ein Abschied.

Weil es einer ist. Schon lange.

Ein bitteres Gefühl steigt in mir auf und zuerst will ich es wegschieben, aber dann muss ich – ausgerechnet jetzt! – an meine Eltern denken. Was dieses Wegsehen mit ihnen gemacht hat. Und mit mir. Deshalb lasse ich das Gefühl zu.

Die Beziehung zwischen Hani und mir hat keine Zukunft, wenn man sie überhaupt Beziehung nennen kann. Und das vor allem deshalb, weil ich kaputt bin und bleibe, solange ich nicht alle Teile von mir und meiner Vergangenheit gefunden habe.

Tja. Und so genießen wir das zwischen uns mit immer mehr Abstand, immer mehr Seufzern und immer mehr Gewicht und wissen beide, dass es so nicht weitergehen kann. Für keine von uns.

Ich werde Hani unglaublich vermissen.

„Ich glaub‘ ich gehe jetzt besser.“

Hani blickt auf und sieht mich an und nickt. Schnell drehe ich mich weg, bevor das Gemisch aus Enttäuschung und Erleichterung auf ihren Zügen noch deutlicher werden kann.

„Okay“, sagt sie. „Morgen Nachmittag habe ich das hier fertig. Kommst du gegen fünf?“

Ich nicke und lächle und gehe.

***

Neue Woche, neues Glück, dieselben Probleme. Wieder einmal sitze ich dem Lärch in der Arktis gegenüber. Ist es wirklich schon eine Woche her, dass ich das letzte Mal hier gesessen und die „allerletzte Abmahnung“ überreicht bekommen habe? Die Tage dazwischen könnten genauso gut ein wilder Tagtraum gewesen sein, denn die Szenerie vor mir hat sich kein bisschen verändert.

Schickes Büro, roter Kopf, fleckige Wangen, ein Haufen Briefe zwischen uns, alle bemalt. Von mir natürlich, von wem sonst.