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Ein Buch, das Mut macht Die Menschheit befindet sich in einem gewaltigen Transformationsprozess. Die Menge dessen, was anzupacken, zu reparieren und neu auszurichten ist, scheint übergroß. Wie finden wir Kompass, Kreativität und Courage, um diese Herausforderungen weniger zu bekämpfen als viel mehr zu gestalten? Und: wer ist eigentlich wir und warum ist das so wichtig? Die Art, wie wir leben, wird sich fundamental verändern. Bisherige Selbstverständlichkeiten in Umwelt, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Technologie zerbröseln. Doch dieses Buch macht Mut: Auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse verdeutlicht Maja Göpel, wie wir solche komplexen Entwicklungen verstehen und dieses Wissen für eine bessere Welt nutzen können. Denn in der Geschichte hat es immer wieder Große Transformationen gegeben. Sie wurden von uns Menschen ausgelöst – also können wir sie auch gestalten. Unser Fenster zur Zukunft steht offen wie nie. Mit dieser Haltung ist Strukturwandel keine Zumutung, sondern eine Chance. Es ist Zeit, dass wir – jeder Einzelne von uns, aber auch die Gesellschaft als Ganzes – uns erlauben, neu zu denken, zu träumen und eine radikale Frage stellen: Wer wollen wir sein?
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Wir können auch anders
Prof. Dr. Maja Göpel, geboren 1976, arbeitet seit 25 Jahren als Politökonomin und Nachhaltigkeitswissenschaftlerin an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Die gefragte Rednerin wurde 2019 zur Honorarprofessorin der Leuphana Universität Lüneburg berufen und war bis Ende 2020 Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Maja Göpel ist Mitglied im Club of Rome, dem World Future Council, der Balaton Group, diverser Beiräte und Aufsichtsräte und Mit-Initiatorin der Initiative »Scientists for Future«. Nachdem ihr Buch Unsere Welt neu denken zum Nr.-1-Bestseller wurde, hat sie sich voll der Wissenschaftskommunikation verschrieben.
Unser Fenster zur Zukunft steht weit offen.
Die Menschheit befindet sich in einem gewaltigen Transformationsprozess. Unser Umgang mit Umwelt, Wirtschaft, Politik und Technologie muss von Grund auf neu gestaltet werden. Die Menge dessen, was anzupacken, zu reparieren und neu auszurichten ist, scheint übergroß. Wie finden wir Kompass, Kreativität und Courage, um diese Herausforderungen konstruktiv zu bewältigen? Und: Wer ist eigentlich wir?
In der Geschichte hat es mehrere große Transformationen gegeben. Dieses Buch zeigt, wie wir daraus lernen können. Es ist Zeit, dass jeder Einzelne, aber auch die Gesellschaft als Ganzes groß denkt – und dass wir eine radikale Frage stellen: Wer wollen wir sein?
Maja Göpel
Aufbruch in die Welt von morgen
Ullstein
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Lektorat und redaktionelle Mitarbeit:bookTRade U. G., Berlin, Tanja Ruzicska
ISBN: 978-3-8437-2625-2
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: © Büro Jorge Schmidt, MünchenUmschlagmotiv: © Anja WeberAutorinnenfoto: © Anja Weber/anjaweber.comWenn nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen der englischsprachigen Zitate von der Autorin.Alle Rechte vorbehalten
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Titelei
Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Das größte Abenteuer der Menschheit
UNSER BETRIEBSSYSTEM
Die Geschichte von Tanaland
Vernetztheit – Alles ist verbunden
Dynamik – Wie kleine Dinge groß werden
Bestimmung – Worum es eigentlich geht
WIE WIR DEN BETRIEB ÄNDERN
Was uns Monopoly über Spielregeln lehrt
Verantworten – Anders lernen
Vermögen – Anders wachsen
Vermitteln – Anders Technik einsetzen
Verhalten – Anders organisieren
Verständigen – Anders miteinander umgehen
WER IST EIGENTLICH WIR?
Köpfe zusammenstecken
Held:innen
Du bist wichtig
Anhang
Dank
Literatur
Über die Autorin
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
»Hoffnung gründet auf der Annahme, dass wir nicht wissen, was geschehen wird, und dass in der Weite der Ungewissheit Raum zum Handeln ist. Wenn Sie die Ungewissheit anerkennen, erkennen Sie, dass Sie in der Lage sein könnten, die Ergebnisse zu beeinflussen – Sie allein oder Sie in Zusammenarbeit mit ein paar Dutzend oder mehreren Millionen anderen. Hoffnung ist eine Umarmung des Unbekannten und des Unwissbaren, eine Alternative zur Gewissheit der Optimisten und Pessimisten.«
1
Rebecca Solnit, Schriftstellerin
Die Welt verändert sich, das tut sie immer. Wir alle wissen das. Manche dieser Veränderungen können wir leicht akzeptieren, andere bedauern wir oder sperren uns dagegen. Manche können wir kaum erwarten und arbeiten mit aller Kraft daran, dass sie eintreten. Andere erschüttern und verunsichern uns zutiefst. Aber egal, um welche Veränderungen es geht, wir meinen, wir hätten ein Gefühl dafür, mit welcher Geschwindigkeit und in welchem Ausmaß sie üblicherweise eintreten. Wir sind daran gewöhnt, dass sich nach einer gewissen Zeit das Bekannte wieder weitgehend herstellen lässt. Wir sind nicht gewohnt, dass wir morgens das Handy einschalten, und die Welt, wie wir sie kennen, ist über Nacht ins Rutschen gekommen. Doch genau das scheint seit einiger Zeit immer häufiger zu passieren.
Auf einmal bedroht die Pleite einer US-amerikanischen Bank die Weltwirtschaft und zeigt die Verletzlichkeit des internationalen Finanzsystems. Flutet ein Tsunami das Kernkraftwerk im japanischen Fukushima und wirft die Frage nach zukunftsfähigen Energiesystemen neu auf. Verlassen die Briten die Europäische Union und stellen die politische Integrationsgeschichte des ganzen Kontinents infrage. Brennen in Brasilien, Australien, Russland ganze Regionen, reißen unkontrollierbare Fluten in Deutschland, Belgien und den Niederlanden Hunderte Menschen in den Tod. Stürmen Anhänger von Donald Trump das Kapitol, um seine Abwahl mit Gewalt zu verhindern. Legt ein Virus, das in China offenbar von einer Fledermaus auf den Menschen übergesprungen ist, die Welt lahm. Überfällt Russland die Ukraine und bringt den Krieg als Mittel der Politik nach Europa zurück.
Aber auch: Schafft es ein unbekanntes Mädchen aus Schweden auf einmal, dass Millionen von Menschen überall auf der Welt für Klimaschutz auf die Straße gehen. Rücken Bewegungen wie Black Lives Matter oder MeToo all das ins Licht, was über Jahre und Jahrzehnte unterdrückt, verschwiegen oder hingenommen wurde. Produzieren Wind und Sonne zum ersten Mal mehr Strom als Kohle und Gas. Werden Verbrennermotoren als schädliche Produkte verboten. Verpflichtet das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung zu mehr Klimaschutz mit der Begründung, dass die Freiheit kommender Generationen nicht weniger zählen darf als unsere Freiheit heute. Wird bei den Vereinten Nationen und internationalen Gerichtshöfen eingefordert, einen Ökozid als Verbrechen anklagen zu können. Nimmt die europäische Bevölkerung Millionen Geflüchtete aus Kriegs- und Krisengebieten auf.
Zwar geschehen Dinge dieser Tragweite nicht jeden Tag und in einigen Regionen der Welt häufiger als in anderen. Wir halten es aber inzwischen nicht mehr für ausgeschlossen, dass Dinge dieser Tragweite jeden Tag geschehen können. Wir sehen in ihnen keine Ausnahme mehr, die wir als Einzelfall ablegen, und ab morgen läuft das Leben wie gewohnt weiter. Unser Glaube daran, dass das, was übermorgen sein wird, sich als kleine Modifikation dessen darstellt, was heute ist, trägt nicht mehr. An manchen Tagen überfordert uns das. Wir wollen so schnell wie möglich zu einer Normalität zurückkehren. Doch das Gefühl dafür, was diese Normalität überhaupt war oder sein soll, kippelt.
Sind nicht all diese Krisen, die sich heute zeigen, Ausdruck davon, dass schon vorher etwas nicht mehr normal gewesen sein kann?
Wachen wir nach solchen Ereignissen tatsächlich in einer anderen Welt auf? Oder doch nur in unserer Welt, deren schleichende Veränderungen wir bisher nur nicht sehen wollten oder ausreichend berücksichtigt haben?
In unserer Welt heute spüren wir fast täglich, dass der Druck für Veränderungen auf viele Bereiche unseres Lebens so zugenommen hat, dass weitermachen wie bisher keine Option mehr ist. Schauen wir ehrlich hin, wirken viele unserer bisherigen Überzeugungen, Routinen und Selbstverständlichkeiten wie aus der Zeit gefallen. Und wir sehen, dass Krisen auch die Chance eröffnen, lange beobachtete Risiken und viel diskutierte Probleme tatsächlich anzugehen. Ein Energiesystem austauschen zum Beispiel, Mobilität neu organisieren, Landwirtschaft anders gestalten, soziale Lasten anders verteilen. Fortschritt nicht mehr mit Wirtschaftswachstum verwechseln. Und eine Weltordnung anstreben, die dem Ziel der gerechten Entwicklung, das allen internationalen Deklarationen und Chartas voransteht, auch gerecht werden könnte. Dass der Status quo ins Wanken geraten ist, darin sehen viele nicht nur eine Bedrohung, sondern auch das Signal für einen Aufbruch. Doch in welche Normalität genau der Aufbruch führt, ist in weltweit vernetzten Gesellschaften schwer zu prognostizieren. Zur Frage, welcher Weg dorthin der beste sei, stehen verschiedene Positionen im Raum: Technologie werde es lösen oder der Konsumverzicht, die Märkte oder der Staat. Oft treten sie gegeneinander an, aber nicht miteinander ins Gespräch.
Wenn die Zukunft so unklar und so weit offen erscheint, ist auch der eigene Platz darin schwer vorauszusehen. Das kann Unsicherheiten und Ängste wecken, manchmal Wut. Ein gängiger Weg, mit diesen Gefühlen umzugehen, ist es, Schuldige dafür zu finden und sich von ihnen abzugrenzen. Von jenen, die sich am System bereichern und sich in den bestehenden Strukturen maximal gewinnbringend eingerichtet haben. Aber auch von jenen, die im Angesicht der sich abzeichnenden Gefahren Strukturen verändern wollen und dabei Privilegien und Bequemlichkeiten infrage stellen. Oder von jenen, die etwas ganz anderes für richtig halten oder vielleicht noch nicht einmal die Sicht darauf teilen, was die drängendsten Probleme sind.
Einerseits leben heute große Teile der Menschheit mit mehr Dingen, mehr Möglichkeiten, mehr Freiheiten als je eine Generation vor uns. Andererseits beuten wir den Planeten schneller aus, als er sich erholen kann. Und gleichzeitig nehmen die gut dokumentierten Ungerechtigkeiten zwischen Arm und Reich, Nord und Süd, Schwarz und Weiß, Mann und Frau nicht ab, sie werden zum Teil sogar wieder größer. Je mehr sich die Sorge Bahn bricht, dass wirklich Grenzen des Wachstums erreicht werden könnten, desto schwerer scheint das Teilen zu werden. Stattdessen wächst die Produktion noch mehr, und es bleibt keine Zeit für Regeneration, weder für Mensch noch Umwelt. Die sozialen Unwuchten, die unsere Lebensweise produziert, wirken wie das Spiegelbild der ökologischen Schäden, die sie hinterlässt. Wir kommen nicht ins Gleichgewicht. Wir sind Gefangene eines Systems, von dem wir uns Freiheit versprochen haben und aus dem wir jetzt den Ausgang nicht mehr finden.
Dabei haben wir Ideen, wie wir anders leben, wirtschaften, konsumieren und kooperieren könnten. In meinem letzten Buch habe ich dazu eingeladen, sich diese Ideen genauer anzugucken und dafür ein paar alte Überzeugungen zu verabschieden, die unsere Gesellschaften bis heute prägen. Als diese Überzeugungen vor rund 250 Jahren entstanden, mögen sie zur damaligen Wirklichkeit und ihren Herausforderungen gepasst haben. In unserer heutigen Welt mit fast acht Milliarden Menschen und einem rapide angestiegenen Ressourcenverbrauch verursachen sie viele der Krisen, die wir überall sehen. Deshalb war mir daran gelegen, aufzuzeigen, wie wir unsere Welt neu denken sollten. In diesem Buch geht es mir um das Handeln, das aus diesem neuen Denken folgen kann – und meiner Meinung nach auch muss. Ich möchte den Blick vom Rückspiegel auf den Horizont lenken, die Hoffnung in den Mittelpunkt stellen und den Forscher:innengeist in uns auf Hochtouren bringen, damit wir gemeinsam über uns hinauswachsen. Denn ich habe das Gefühl, dass uns für den Aufbruch in die Welt von morgen weniger die Ideen fehlen als vielmehr die Überzeugung, dass wir sie auch umsetzen können. Womöglich fehlen das Vertrauen, die ersten Schritte zu wagen, und die Zuversicht, dass viele bereit sind, sie mitzugehen. Oder der Mut, an den tiefen Strukturen und großen politischen Rahmenbedingungen unserer gesellschaftlichen Entwicklung zu drehen. Wir unterschätzen uns selbst. Und übersehen, dass die Dinge längst begonnen haben, sich zu drehen, und wir uns einmischen sollten.
Unsere Gesellschaften stehen inmitten von Veränderungen, wie sie in der Geschichte der Menschheit bisher wohl nur die Erfindung des Ackerbaus oder die Entstehung von Feudalismus, Industrialisierung und Kapitalismus mit sich brachten. Umbrüche dieser Dimensionen werden als Große Transformationen bezeichnet. Sie stehen im Fokus einer Forschungsrichtung, bei der Kolleg:innen aus den unterschiedlichsten Disziplinen Erkenntnisse über frühere Umbrüche dieser Größenordnung zusammentragen, um strategisch versierter auf die heutigen einzuwirken. Ihre Erkenntnisse können uns dabei helfen, dass wir uns von der wachsenden Komplexität nicht erschlagen fühlen und Veränderungen nur reaktiv erdulden, sondern sie besser antizipieren und navigieren lernen. Dass wir weniger nach Wegen suchen, ausgediente Strukturen noch einmal zu flicken, sondern die Kraft für Lösungen aufbringen, die zwar kurzfristig anstrengende Umbauten mit sich bringen, dafür in Zukunft aber besser tragen können.
»Das wahre Kriterium der Reform«, schrieb der Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm, »ist ihr Realismus, ihr echter ›Radikalismus‹. Es geht darum, ob sie an die Wurzeln geht und die Ursachen zu ändern versucht – oder ob sie an der Oberfläche bleibt und sich nur mit den Symptomen befasst.«2
Ich habe mich für den radikalen Weg entschieden. Das Buch, das dabei entstanden ist, hat drei Teile, die vom großen Ganzen zum Individuellen führen. Sie sind entlang dreier Leitfragen aufgebaut.
Wie können wir in der komplexen Welt, in der wir heute leben, Dinge wenden? Und wie kann uns die Forschung dabei helfen, Lösungen für das 21. Jahrhundert zu entwickeln?
Wo müssen wir ansetzen, um die Strukturen unserer Gegenwart so zu verändern, dass sie der Erreichung unserer Ziele besser dienen, statt ihnen im Weg zu stehen?
Wer kann diese Veränderungen anschieben? Die Politik? Die Wirtschaft? Die sogenannten Eliten? Wer ist mit diesem Wir gemeint, von dem alle reden, wenn es darum geht, etwas zu verändern?
Eine Große Transformation zu einer besseren Welt für alle ist das größte Abenteuer der Menschheit. Sie wird aus lauter kleinen Schritten bestehen – aber ohne eine klare Orientierung und die unermüdliche Begeisterung für das Mögliche wird sie nicht gelingen. Das habe ich auch aus den vielen Zuschriften, Anregungen und Hinweisen aus allen Bereichen der Gesellschaft gelernt, die ich auf mein vorangegangenes Buch und auf meine Arbeit für die Initiative Scientists4Future erhalten habe. Sie haben mir gezeigt, was real schon alles möglich und wer alles im Aufbruch ist. Dieses Buch ist auch ein Produkt des Austausches mit vielen, vielen Menschen, die ich auf diesem Weg kennenlernen durfte. Keine:r von ihnen behauptet, dass unsere heutige Zeit eine einfache sei oder der gesellschaftliche Wandel leicht. Aber sie haben alle die Überzeugung, dass es Zeitpunkte gibt, an denen man etwas verabschieden muss, damit Raum für Neues entstehen kann. Wir müssen ein paar Dinge anders machen. Wir können das aber auch.
»Alles, was wir tun oder auch nicht tun, hat Auswirkungen auf das Ganze. Denn wir alle sind Mitschöpfer. Wir können natürlich die Welt nicht beliebig ändern, aber wir tragen mit unseren Entscheidungen immer zum Gesamten bei. Aus dieser Erfahrung der Teilhabe erwächst uns die unverbrüchliche Verantwortung für die Bewahrung dieser Welt.«
Hans-Peter Dürr, Physiker
4
Tanaland ist ein Landstrich irgendwo in Ostafrika. Mitten durch das Gebiet fließt ein Fluss, der in einen See mündet. Es gibt Wald, eine größere Steppe, Zebras, Leoparden, Affen und außerdem zwei Dörfer, in denen Menschen leben – die Tupis und die Moros. Die Tupis sind Bauern. Ihr Dorf liegt am Ufer des Sees, umgeben von Gärten und Obstbäumen. Die Moros dagegen sind Hirten. Sie sind in der Steppe zu finden, wo sie mit ihren Rinder- und Schafherden von Wasserstelle zu Wasserstelle ziehen. Außerdem gehen sie zur Jagd. Das Leben in Tanaland ist hart, aber es ist möglich.
Als der deutsche Psychologe Dietrich Dörner Mitte der 1970er-Jahre zwölf Student:innen die Chance gab, als Entwicklungshelfer:innen die Situation in Tanaland zu verbessern, gingen sie mit großem Handlungsspielraum ans Werk. Sie durften Wald roden, Brunnen bohren, Staudämme bauen, Traktoren kaufen, Kunstdünger und Insektenvernichtungsmittel einsetzen, Ärzt:innen anwerben oder die ganze Gegend elektrifizieren, wenn sie meinten, dass das helfe. Unter den Student:innen waren Agrarwissenschaftler:innen und Biolog:innen, aber auch Psycholog:innen und Jurist:innen – und obwohl die fachlichen Hintergründe derart unterschiedlich waren, hatten alle mit dem, was sie anpackten, zunächst Erfolg.5
Bessere medizinische Versorgung senkte die Kindersterblichkeit, und die Bevölkerungszahl wuchs. Dünger steigerte die Erträge in der Landwirtschaft, es gab mehr Essen für alle, und seitdem die Leoparden streng bejagt wurden, gediehen auch die Schafherden. Nach kurzer Zeit sah es für die frischgebackenen Entwicklungshelfer:innen so aus, als hätten sie die Lage im Griff und die drängendsten Probleme gelöst. Umso überraschter waren sie, als sich bald verheerende Hungersnöte einstellten und die Bevölkerungszahl schrumpfte. Nach einer Weile ging es den Tupis und den Moros schlechter als vor dem Eingriff der Studierenden. Und am Ende hatten fast alle Student:innen Tanaland gründlicher heruntergewirtschaftet, als das jede kolonialistische Ausbeutung geschafft hätte, wie schon der Spiegel 1975 bemerkte.6 Dabei hatten sie genau das Gegenteil vorgehabt.
Sie haben noch nie von diesem Tanaland gehört?
Das können Sie auch nicht. Tanaland ist nur eine Computersimulation, mit der Dörner untersuchen wollte, wie gut Menschen darin sind, komplexe Probleme zu lösen, und woran es liegt, wenn sie – wie zu sehen war – nicht besonders gut darin sind. Denn vor allem das war das große Rätsel dieses Experiments.
Warum funktioniert etwas, das gerade noch großartige Erfolge zeigte, plötzlich nicht mehr? Warum macht jeder Versuch, ein Problem auf dieselbe Art zu lösen, es ab irgendeinem Punkt nur schlimmer?
Wir alle kennen Beispiele für diese »Logik des Misslingens«, wie Dörner sie nannte. Schaffen es frisch verliebte Paare oftmals, jede Meinungsverschiedenheit mit Verständnis und Zuneigung entweder zu klären oder aber nicht so wichtig zu nehmen, gelingt das vielen Paaren mit der Zeit immer schlechter. Oder kürzer: Was uns zunächst sehr an unseren Partner:innen reizte, reizt uns nun womöglich zu sehr. Und während viele Menschen beim Berufseinstieg die Erfahrung machen, dass sie schnell aufsteigen, solange sie bereit sind, sich rund um die Uhr einzusetzen, merken sie ein paar Jahre später, dass sie mit derselben Methode eher einem Burn-out näher kommen als dem nächsten Karriereschritt. Die Faustregel »Viel hilft viel« hilft eben nur bedingt. Schauen wir beispielsweise auf die fossilen Brennstoffe: Klar haben wir in den zweihundert Jahren, seitdem wir Energie aus Kohle und Erdöl gewinnen, unfassbaren Wohlstand erzeugt – zugleich steuern wir aber mit dieser Art der Energiegewinnung immer schneller auf fundamentale Krisen zu. Erst Boom, dann Kollaps.
Woran liegt das?
Die Student:innen, denen es nicht gelang, Tanaland in eine stabile Zukunft zu führen, scheiterten nicht, weil sie dafür spezielle Fähigkeiten gebraucht hätten, über die sie nicht verfügten. In der Computersimulation ging es vielmehr darum, den »›gesunden Menschenverstand‹ auf die Umstände der jeweiligen Situation einzustellen«, wie Dörner es ausdrückte. Nicht anders, als wir es bei vielen Alltagsproblemen eben auch tun müssen.7
Als die Student:innen erkannten, dass die Lebensmittelversorgung in Tanaland auch deshalb so schlecht war, weil Affen und Mäuse einen Teil der Ernte fraßen, bekämpften sie diese mit Gift. Daraufhin machten sich die heimischen Leoparden, die bisher Affen und Mäuse gejagt hatten, über die Schafe her. Als die Student:innen sodann die Leoparden töteten und deren Felle verkauften, um mit dem Erlös mehr Rinder anzuschaffen, führten die anwachsenden Herden zur Überweidung der Steppe. Außerdem explodierte nun die Zahl der Mäuse und Affen wieder. Als die Student:innen Brunnen bohrten, um Felder zu bewässern, stiegen die Ernteerträge, und die Bevölkerung wuchs, woraufhin sie noch mehr Brunnen bohrten. In der Folge sank der Grundwasserspiegel, die Brunnen versiegten, die Felder verdorrten, und die Menschen verhungerten.
Wie die Student:innen in diesem Experiment handeln die meisten Menschen überall auf der Welt immer wieder nach erlernten Routinen, die ihnen naheliegend erscheinen. Und immer wieder sind sie überrascht, dass aus der Lösung von heute das Problem von morgen wird.
Das klingt nach einem Teufelskreis?
Wäre es ein Teufelskreis, würde das bedeuten, dass wir keine Möglichkeit hätten, daraus auszubrechen. Es würde bedeuten, dass wir nicht anders könnten, als zu scheitern. Aber so etwas wie einen unveränderbaren Teufelskreis gibt es nicht. Stattdessen gibt es komplexe oder sogar hochkomplexe Probleme – und oft muss es erst richtig scheppern, bis wir lernen, sie auch als solche zu betrachten und anders mit ihnen umzugehen. Als Teufelskreis erleben wir sie erst, wenn wir genau das nicht tun. Scheitern wir nämlich daran, ein komplexes Problem zu lösen, reicht es oft nicht aus, die gleiche Strategie nur noch effizienter zu verfolgen. Vielmehr geht es dann darum, die Strategie selbst auf den Prüfstand zu stellen. Und, vielleicht noch wichtiger, unser Verständnis des Problems.
Genau das zeigt uns das Tanaland-Experiment.
Am Anfang nahmen sich die Student:innen noch Zeit, bevor sie eine Entscheidung trafen. Sie stellten Fragen, versuchten, sich zu orientieren, die Zusammenhänge zu verstehen, und hatten Erfolg. Je länger sie aber die Simulation bespielten, umso weniger fragten und dachten sie nach, dafür trafen sie immer mehr Entscheidungen und wurden darin immer schneller. Ab einem gewissen Punkt wichen sie nicht mehr von ihrem einmal gefassten Plan ab, ganz egal, welche Nachrichten sie über die Situation der Menschen in Tanaland erhielten.
Ein Teilnehmer hatte zum Beispiel beschlossen, die Steppe zu bewässern, um Anbaufläche zu gewinnen. Zu diesem Zweck entschied er, einen langen Kanal zu verlegen, in den er Flusswasser einspeisen wollte. Dabei stieß er auf unzählige Hindernisse, mal fehlte Material, mal lief die Koordination schief. Als schließlich eine Hungersnot ausbrach, hatte der Mann so viel in seine Idee investiert, dass er den Hunger, den er eigentlich hätte verhindern sollen, ignorierte. Denn jetzt hatte er andere Probleme: Er wollte den Kanal fertig bekommen. Überhaupt nahmen viele Student:innen die immer wiederkehrenden Nachrichten über Hungersnöte, die sie durch ihre Entscheidungen ausgelöst hatten, zunehmend gleichgültig oder sogar zynisch auf. Am Ende glaubten einige von ihnen, die Tupis und die Moros seien selbst schuld, dass sie hungerten. Andere vermuteten, ihr Professor habe die Simulation absichtlich so programmiert, dass die Aufgabe unlösbar war. Jedenfalls hatten sie nicht mehr das Gefühl, dass die Lösung für das Problem noch in ihrer Hand liege.
Zuerst Aktionismus, dann Konfusion und Ärger, weil es nicht läuft. Am Ende Projektemacherei, Schuldzuweisungen, Dienst nach Vorschrift oder Flucht in Verschwörungstheorien. Ein Blick in unsere Gesellschaft, und wir sehen: Überall ist Tanaland.
Wo ist denn dann bitte der Weg aus dem sogenannten Teufelskreis?
Wenn wir es mit einem komplexen Problem zu tun haben, sind wir es gewohnt, analytisch zu verfahren: Wir zerlegen das Problem in seine Teile, untersuchen jedes für sich und finden die Schwachstelle. Danach tauschen wir aus, was nicht mehr funktioniert, bauen alles wieder zusammen und erwarten, dass der Fehler behoben ist. Nach dieser Methode erklären wir uns auch gerne die Welt. Wir zerlegen sie in ihre Bausteine und glauben, wenn wir alle Einzelteile gut verstanden haben oder »heile« machen, wird sich das große Ganze wie die Summe der Teile verhalten – und deshalb auch berechenbar sein. Nur geht die Rechnung leider nicht auf.
Eine Partei tauscht einen Vorsitzenden nach dem anderen aus, aber egal mit wem, sie gewinnt einfach keine Wahlen mehr. Eine neue Straße wird gebaut, um andere Strecken zu entlasten, aber schon bald ist auch sie verstopft, ohne dass der Stau woanders abgenommen hätte. Ein Manager kuriert seinen Burn-out in einer Klinik und fühlt sich bereits am ersten Tag im Büro wieder urlaubsreif, wenn er auf seinen vollen Terminkalender sieht.
Bei all diesen Beispielen steckt der Fehler nicht in einem der Teile, weshalb man ihn auch nicht durch eine detailorientierte Analyse zu packen bekommt, die den Ursprung der problemhaften Entwicklung auf ein fehlerhaftes oder fehlendes Teil reduzieren will. Denn es ist die Beziehung der Teile zueinander, ihr Zusammenwirken, das eine bestimmte Dynamik und eine Entwicklung vorantreibt, die unerwünschte Ergebnisse oder Fehler hervorbringen. Will man das ändern, muss man zuerst dieses Zusammenwirken verstehen. Sonst sieht man nur Bäume, aber keinen Wald.8 Nur Autos, aber keinen Verkehr. Nur Menschen, aber keine Gesellschaft. Einzelne Elemente, aber nicht das Zusammenspiel. Es ist aber dieses Zusammenspiel, in dem die Qualität der Elemente entsteht und ihr Verhalten eine Richtung bekommt. Natürlich sind Individuen und Teile wichtig. Aber Entwicklung entsteht in Beziehung. Und eine Gruppe ineinandergreifender Beziehungen ergibt – ein System.
Ein System, schreibt Donella Meadows, eine Pionierin des Verständnisses komplexer Systeme, ist »ein Satz von zusammenhängend organisierten Elementen oder Einzelteilen, die in einem Muster oder einer Struktur so miteinander verbunden sind, dass ein charakteristischer Satz von Verhaltensweisen entsteht, der oft als ›Funktion‹ oder ›Zweck‹ des Systems bezeichnet wird«.9 Ihr Grundlagenwerk – der Originaltitel lautet Thinking in Systems – wird in diesem Buch immer wieder Referenz sein.10
Komplexe Systeme begegnen uns im Alltag überall. Oft fallen sie uns erst dann auf, wenn sie nicht mehr funktionieren. Wir sagen Wirtschaftssystem, Finanzsystem, Ökosystem, Gesundheitssystem oder Herz-Kreislauf-System. Aber es ist erst die Fehlfunktion – die Rezession, der Absturz an der Börse, das Bienensterben, die Triage, der Herzinfarkt –, die uns klarmacht, dass unsere Existenz von etwas gehalten und getragen wird, das wie selbstverständlich im Hintergrund funktioniert. Beim Auto ist es die Panne, in der Beziehung der Streit, in der Demokratie die Radikalisierung, in der Weltanschauung der Zweifel – wenn wir ihn denn zulassen.
Wenn man einmal weiß, worauf man achten muss, dann entdeckt man um sich herum überall Systeme – und sich selbst als Teil davon.11
Wo kommen das Wasser, die Nahrungsmittel, der Sauerstoff her, durch die unser Körper sich am Laufen hält? Wie werden aus den Substanzen, die Menschen wiederum ausscheiden, erneut sauberes Wasser, gesunde Nahrungsmittel und Sauerstoff? Sicher nicht ohne die Systeme, die wir gerne Umwelt nennen und deren Verschmutzung und Zerstörung wir systematisch vorantreiben. »Mitwelt« scheint der deutlich passendere Begriff, um den Bumerangeffekt zu verdeutlichen, dem wir uns damit aussetzen.
Obwohl die Existenz von Systemen etwas so Offensichtliches ist, haben wir unser Wissen darum mit der Zeit aus den Augen verloren. Stattdessen hat sich eine reduktive Herangehensweise durchgesetzt, die die Welt immer spezialisierter auseinandernimmt. Die eher ganzheitliche Sicht, die vor dem Zeitalter der Aufklärung und der Moderne gängig war, verlor sich und gewann erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als es immer leistungsfähigere Computer gab, wieder zunehmenden Anklang in der westlichen Wissenschaft.12
Der Computer machte es möglich, auch komplexe Systeme modellhaft nachzubauen, sie mit riesigen Datenmengen zu füttern und durchzuspielen, wie sie auf Eingriffe reagieren. Die Welt als Ansammlung von Systemen zu sehen heißt allerdings für Wissenschaftler:innen und Gesellschaften, die es gewohnt sind, reduktiv zu denken, einen erweiterten Blick auf die Welt einzunehmen und die Muster, mit denen wir unser Zusammenleben interpretieren und organisieren, zu ergänzen. Und in einigen Fällen eben auch, sie radikal auf den Prüfstand zu stellen. Diese Prüfung vollzieht sich – wie jeder grundlegende Wandel oder Paradigmenwechsel – nicht von heute auf morgen und fühlt sich viel mühsamer an, als weiterhin kurzfristig funktionierende Lösungen für ein vermeintlich gut verstandenes Problem zu finden. Dafür ist der Lohn für diese Mühe umso größer: Sie zeigt uns den Weg aus dem Teufelskreis.
In vielen wissenschaftlichen Disziplinen – von der Medizin bis zur Soziologie, von der Umweltwissenschaft bis zur Pandemiebekämpfung und Digitalisierung – ist es mittlerweile gang und gäbe, die jeweiligen Probleme oder Fehler im Kontext der Systeme zu untersuchen, in die sie eingebettet sind. Nur auf der gesellschaftlichen Ebene fällt uns das noch sehr schwer. Da zerlegen wir das Große und Ganze immer noch in einzelne Aspekte, die wir in vermeintlich universell gültige Schablonen pressen: Markt oder Staat. Wachstum oder kein Wachstum. Ökologische Ziele versus soziale Ziele. Globaler Norden versus globaler Süden. Auf diese Weise läuft die Antwort auf viele Konflikte auf ein Entweder-oder hinaus, ein Nullsummenspiel des Lagerdenkens.
Was ich in diesem Buch zeigen möchte, ist, dass es sich lohnt, auch in unseren Alltagsdiskussionen und gesellschaftlichen Strukturen eine systemische Sicht und Organisationsweise zu stärken. Systemisch denken heißt übrigens auch, über Grenzen und Grenzziehungen nachzudenken – mit der Aussage »Alles hängt nun mal mit allem zusammen« kommen wir ja nicht weit, wenn wir strategisch handeln wollen. Aber die systemische Sicht ist eine evolutionäre, das heißt, sie bedenkt grundsätzlich, dass die Zukunft sich dynamisch in viele Richtungen verändern kann und dass jeder gelebte Moment nur einer von vielen ebenso möglichen Momenten ist. Deshalb sind Begrenzungen auch nicht hermetisch geschlossen, sondern veränderbar. Wir leiten sie aus einer Beschreibung des jeweiligen Problems ab und suchen – wie wir sehen werden – sogar bewusst nach ihnen. Systemisch wird also weder so getan, als gäbe es keine Grenzen für bestimmte Entwicklungen, da alles sich irgendwie ersetzen lässt, noch werden eindeutig quantifizierte, langfristige, lineare Ergebnisprognosen aufgestellt. Vielmehr geht es den evolutionären Systemwissenschaften darum, mögliche Entwicklungsmuster zu verstehen und zu beeinflussen.
Mit einer systemischen Herangehensweise verwandelt sich also auch unsere Perspektive darauf, an welcher Stelle wir eingreifen möchten, wenn wir komplexe Probleme und ihre Ursprünge verändern wollen. Und mit der neuen Perspektive ändert sich auch unsere Vorstellung davon, wie das möglich ist. Wir weiten das Spektrum der möglichen Strategien und Lösungen. Und das mir vielleicht Wichtigste: Wir fangen an, unsere Aufmerksamkeit auf die Strukturen zu lenken, mit denen wir unser Zusammenwirken organisieren und das Verhalten einzelner Teile oder Elemente beeinflussen. So gelingt es uns, weniger Schuld bei einzelnen Teilen zu suchen und vielmehr sogenannte system traps, Strukturfallen, zu finden, die uns einen Teufelskreis vorspiegeln.
Solchen system traps, die sich durch alle Bereiche unseres Lebens ziehen, ist der zweite Teil dieses Buches gewidmet, während uns der dritte Teil wieder dorthin führt, wo Veränderung beginnt: zu uns selbst. Denn in meiner Sicht auf die Welt werden es nicht die künstliche Intelligenz und die Technologierevolution sein, die unsere Zukunft positiv gestalten. Auch sie sind ja nur Ausdrucksformen dessen, was Menschen sich vorstellen. Künstliche Intelligenz führt aus, wofür Menschen sie programmiert haben – und gelegentlich schalten Menschen sie auch mal wieder ab. Die Wurzel gesellschaftlicher Entwicklung liegt also in uns selbst. Sie zu verstehen ist auch eine viel spannendere Aufgabe, als unser Heil in Maschinen zu suchen. Voller Lebendigkeit. Und Lernen. Denn »wir können einem System nicht unseren Willen aufzwingen«, schreibt Donella Meadows, aber: »Wir können darauf hören, was das System uns wissen lässt, und dabei entdecken, wie seine Eigenschaften und unsere Wertvorstellungen im Zusammenspiel etwas viel Besseres hervorbringen können, als wir je allein mit unserem Willen schaffen könnten. Wir können Systeme weder beherrschen noch sie enträtseln. Aber wir können mit ihnen tanzen!«13
Das mag in Krisenzeiten ernüchternd sein, wo es doch gerade Steuerung und Kontrolle sind, nach denen wir uns sehnen, wenn Dinge aus dem Ruder laufen – ich denke da beispielsweise an die in der Pandemie so oft beschworene »Normalität«, zu der zurückzukehren sei. Ein systemischer Blick auf die Gegenwart zeigt aber, dass auch diese Normalität ein dynamisches Entwicklungsgefüge ist.
Ob das Ausmaß an sozialen und ökologischen Nebenwirkungen von etwas »normal« ist, ist eher eine politische Diskussion. Wissenschaftlich betrachtet ändert sich das, was heute ist, morgen sowieso. Eine vorübergehende Stabilität der Routinen und Abläufe sollte eben nicht mit dem Funktionieren einer Maschine verwechselt werden. Gesellschaften funktionieren nicht wie eine Maschine, auch nicht wie eine sehr komplizierte. Und komplexe Systeme sind mit ihrem gewissen Maß an Eigenleben nicht das Gleiche wie komplizierte Systeme.
Die systemische Perspektive lehrt uns, dass es »normal« ist, zu erwarten, dass die Lösungen von heute die Probleme von morgen sein werden. Dass es keine universellen Blaupausen gibt, keinen großen Plan, der, einmal gefasst, für immer trägt und gegen jede Veränderung zu verteidigen ist. Dass es sinnvoll ist, Strukturen schrittweise möglichst frühzeitig an das Ziel anzupassen, das wir letzten Endes erreichen wollen – und im Übrigen immer mal wieder zu hinterfragen, was genau das eigentlich ist. Sie zeigt uns auch die Grenzen von Prognose, Management und Kontrolle, insbesondere wenn wir zu lange zu wenig aufgepasst oder sich aufbauende Probleme übersehen haben und im gefühlten Teufelskreis stecken. So kommen wir vom Machbarkeitswahn zur Demut, vom Nullsummenspiel zur Koevolution, von der Abspaltung zur Verbundenheit. Aus den system traps ins Tanzen.
Schön und gut, sagen Sie, aber auch Tanzen braucht ein paar Angaben zu Rhythmus und Schrittfolgen. Gibt es denn gar keine Anhaltspunkte?
Es gibt sie. Wer mit einem komplexen System zu tun hat, sollte – legen wir die Definition von Donella Meadows zugrunde – vor allem drei Merkmale im Blick haben: erstens seine vernetzte Gestalt, zweitens seine zeitliche Dynamik und drittens seine sogenannte Bestimmung, sein Ziel oder seinen Zweck (im Englischen heißt dieses Merkmal purpose). Aus der Sicht der Komplexitätsforschung ist das sehr vereinfachend gesagt, aber um die wesentlichen Ideen zu verstehen, die hinter dem stecken, was als tiefgreifender Paradigmenwechsel, Zeitenwende, zweite Renaissance oder Große Transformation bezeichnet wird,14 erscheint mir dieses Merkmal-Trio als guter Startpunkt.
Es geht also um nichts Geringeres als um die Neukonfiguration unserer zentralen Lern- und Fortschrittsvorstellungen, unseres Einsatzes von Technologien und unseres Designs von Bürokratien. Im 20. Jahrhundert ist die Vision einer Weltbevölkerung mit kooperierenden Staaten entstanden. Heute sehen wir, wie diese Zielmarke durch die Krisen verrutscht. Daher können Kooperationsmuster, mit denen wir den Umbrüchen des 21. Jahrhunderts begegnen, nicht dieselben bleiben, mit denen wir diese Umbrüche oft erst herbeigeführt haben. Wenn wir das oben genannte Trio – in den folgenden drei Kapiteln schauen wir uns Merkmal für Merkmal genauer an – im Blick behalten, dann verstehen wir deutlich besser, wie ein System tickt, welchem Rhythmus es folgt und wohin es uns letzten Endes treibt. Und dann sehen wir auch klarer, welche Konfigurationen ein Update verdient haben.
»Ein komplexes System ist dynamisch, es bewegt und verändert sich, entwickelt sich weiter und ist in gewissem Sinne ›lebendig‹.«
Ugo Bardi, Chemiker
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Peter und Paul sind zwei unscheinbare Seen im Norden von Michigan. Wie ein Flügelpaar liegen sie rechts und links einer Schotterpiste, die durch ein fast menschenleeres Gebiet führt. Über Meilen hinweg gibt es hier kaum etwas anderes als Seen, Wald und Schotter. Selbst mit einer Karte dürfte man die beiden Seen in dieser Wildnis kaum finden, dafür sind sie zu klein, zwei Stecknadelköpfe im Nichts. Und trotzdem existieren nur wenige Orte auf der Welt, an denen eindrücklicher als an Peter und Paul Lake abzulesen ist, was es bedeutet, dass ein System grundsätzlich eine vernetzte Gestalt hat.16
Als der US-amerikanische Ökologe Stephen Carpenter die beiden Seen im Sommer 2008 für ein Experiment auswählt, sind sie typische Friedfischgewässer, bevölkert von kleineren Fischarten wie Elritzen und Goldbrassen, die von Wasserflöhen leben, die sich wiederum von Algen ernähren. Carpenter ist Süßwasserbiologe und beschäftigt sich mit dem ökologischen Gleichgewicht von Binnengewässern. Er untersucht, durch welche Prozesse ein solches Gleichgewicht in einem See entsteht.
Für sein Experiment setzten Carpenter und sein Forscherteam zwölf Forellenbarsche in Peter Lake ein, Raubfische, die sich von anderen Fischen ernähren und bis zu einem Meter lang werden. Ein Jahr darauf wiederholte das Team die Aktion und setzte noch einmal dreißig Barsche ein. Drei Jahre lang dokumentieren die Wissenschaftler:innen den Fischbestand in Peter Lake. Jeden Tag leeren sie die Reusen, die sie am Ufer aufgestellt haben, zählen die Fische und werfen sie ins Wasser zurück. Am Ende der drei Jahre ist die Anzahl der Friedfische auf ein Fünftel ihrer einstigen Größe eingebrochen. Die Zahl der Raubfische dagegen hat sich verzwanzigfacht.17
Auch äußerlich hat sich das Bild von Peter Lake stark verändert. Schimmerte sein Wasser früher durch die darin verbreiteten Algen grünlich, dezimierten die Raubfische die Friedfische nun so stark, dass sich die Wasserflöhe ungehindert vermehren konnten. Der Wasserflohboom radierte innerhalb kurzer Zeit fast alle Algen im See aus und brach anschließend wegen Nahrungsmangels ebenso rasant wieder in sich zusammen. Das Wasser von Peter Lake ist nach dem Experiment klar und durchscheinend. Das Wasser des benachbarten und von den Forschern unangetasteten Paul Lake schimmert dagegen so grünlich wie immer.
Carpenter hatte – wie Meadows es ausdrücken würde – einen Satz zusammenhängender Elemente, die charakteristische Verhaltensweisen in Peter Lake hervorbrachten, transformiert: Er veränderte ihn so sehr, dass aus einem Friedfischgewässer etwas ganz anderes wurde: ein Raubfischgewässer.
Peter und Paul Lake zeigen eindrücklich, warum Systeme immer mehr sind als die Summe ihrer Teile. Sie sind als eine Einheit von Teilen oder Elementen so miteinander vernetzt, dass eine gemeinsame Entwicklungsdynamik entsteht. Daher ist auch keines dieser Teile einfach so austauschbar. Fügt man ein Element hinzu oder modifiziert man ein vorhandenes, verändern sich auch die Eigenschaften des Systems. Und damit über die Zeit auch die Eigenschaften der Teile. Das mag am Anfang gar nicht so sehr auffallen, aber je häufiger oder tiefer man eingreift, umso spürbarer reagieren die anderen Teile des Systems darauf, bis sich schließlich das Verhalten des ganzen Gefüges ändert.
Betrachten wir Systeme nur als eine Ansammlung von Einzelteilen, dann entgeht uns dieses evolutionäre Zusammenspiel, und wir sehen nur eine bestimmte Menge. Bei mehr oder weniger unbelebten Mengen mag das vielleicht auch ausreichen. Kleine Häufchen Sand kann ich zum Beispiel beliebig verschieben, ohne dass es den Sand verändert oder sein Umfeld großartig interessieren würde. Wenn sich aus diesem Sand aber eine Düne entwickelt mit Pflanzen und Tieren, mit Lenkungswirkung für die Winde und Wassermassen, dann wird aus einer Menge Sand ein System. Es ist das Leben, das auf dieser Düne entsteht, das den Unterschied macht.
In diesem Sinne bilden Menschen – ob als Familie, Unternehmen oder Gesellschaft – auch keine Mengen, sondern lebendige Systeme. In ihrem Zusammenwirken entsteht etwas über das hinaus, was jedes einzelne Mitglied ist oder kann. In der Familie zum Beispiel sehen wir, dass alles, was der oder die Einzelne in diesem Beziehungsgeflecht tut, stets auch Auswirkungen auf andere hat. Ist uns am Wohlergehen dieses Systems gelegen, bedenken wir die anderen mit. Nehmen wir es nicht so ernst damit, wird der Alltag zwischen Frühstückstisch, Dienstreise und Elternabend wahrscheinlich irgendwann wenig harmonisch.
Selbst wenn Sie sich in absolute Isolation in den Wald begäben, würden Sie bald merken, dass ein Verständnis für die dort lebenden Pflanzen und Wesen ziemlich wichtig ist, wenn sie länger überleben möchten. Der deutsche Physiker und Erkenntnistheoretiker Hans-Peter Dürr sagt deshalb, dass wir in lebendigen Systemen nicht von Teilen oder Elementen sprechen sollten, sondern mindestens von Teilnehmenden.18 Und in Systemen mit Menschen besser gleich von Wirks. Wir wirken aufeinander. Ob wir das wollen oder nicht. Unsere Aktion beeinflusst die nächste Reaktion im System, jede:r von uns nimmt mit seinem und ihrem Verhalten Einfluss auf seine und ihre Mitmenschen.
Probieren Sie es mal aus.
Reagieren Sie heute doch einfach mal auf alles interessiert und zugewandt, was an Sie herangetragen wird. Sogar auf Social Media. Machen Sie aus einem »Du spinnst doch!« ein »So habe ich es noch gar nicht gesehen, erzähl mal mehr darüber!«. Und dann beobachten Sie, was es heißt, ein Wirk zu sein. Selbst wenn Sie mit Ihrem Gegenüber nicht auf einen Nenner kommen, Ihre gemeinsame Erfahrung wird wahrscheinlich eine andere sein – und darüber hinaus womöglich Ihre weiteren Reaktionen und Erfahrungen an diesem Tag beeinflussen.
Anders gesagt: Gute Laune und ziviler Umgang sind genauso ansteckend wie schlechte Laune und Beschimpfungen. Gute Erfahrungen prägen das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, ebenso wie schlechte. Was nichts anderes heißt, als dass es unser Blick auf die Welt ist, der den Zustand der Welt mitbestimmt. Weil er die Art und Weise prägt, wie wir auf die Welt zugehen, wie wir sie verstehen und wie wir sie gestalten. In dieser Erkenntnis liegt eine enorme Chance. Sie beschreibt den Zugang zur Veränderung sozialer Systeme.