Wir sind dieser Staub - Elizabeth Wetmore - E-Book

Wir sind dieser Staub E-Book

Elizabeth Wetmore

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Beschreibung

Texas, 1976: Odessa steht kurz vor dem nächsten Ölboom. Während die Männer der Stadt den kommenden Wohlstand feiern, kennen und fürchten ihre Frauen die Gewalt, die immer zu folgen scheint.

Als die vierzehnjährige Gloria Ramírez mehr tot als lebendig auf der Veranda von Mary Whiteheads Ranch gefunden wird, wissen Mary und die anderen Frauen von Odessa, was jetzt passieren wird. Aber sie wissen auch, dass sie dieses Mal zusammenhalten werden.

Eine eindringliche Erkundung der Schnittstellen von Gewalt, Herkunft und Klasse.

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Seitenzahl: 440

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungMottoGloriaMary RoseCorrineDebra AnnGinnyMary RoseGlorySuzanneCorrineDebra AnnMary RoseDebra AnnCorrineKarlaGloryDanksagung

Über das Buch

Texas, 1976: Odessa steht kurz vor dem nächsten Ölboom. Während die Männer der Stadt den kommenden Wohlstand feiern, kennen und fürchten ihre Frauen die Gewalt, die immer zu folgen scheint.

Als die vierzehnjährige Gloria Ramírez mehr tot als lebendig auf der Veranda von Mary Whiteheads Ranch gefunden wird, wissen Mary und die anderen Frauen von Odessa, was jetzt passieren wird. Aber sie wissen auch, dass sie dieses Mal zusammenhalten werden.

Eine eindringliche Erkundung der Schnittstellen von Gewalt, Herkunft und Klasse.

Über die Autorin

Elizabeth Wetmore ist im westlichen Texas aufgewachsen und lebt heute in Chicago. Sie arbeitete unter anderem als Bartenderin und Taxifahrerin und lebte eine Zeitlang als Einsiedlerin in den Wäldern von Arizona. Dann begann sie zu schreiben.

Elizabeth Wetmore

Wir sind dieser Staub

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Eva Bonné

EICHBORN

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Titel der Originalausgabe:

»Valentine«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by Elizabeth Wetmore

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021/2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Hanne Reinhardt, Berlin

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung eines Designs von Joanne O’Neil

Einband-/Umschlagmotiv: © john finney photography/Getty Images; Sergey Ryumin/Getty Images

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0954-5

eichborn.de

luebbe.de

lesejury.de

 

Für Jorge

 

Oft habe ich gesagt: Ich bin dieser Staub, oder: Ich bin dieser Wind.

Ich war jung und nahm es hin. Die Wahrheit ist, es stimmte nie.

Inzwischen habe ich genug Staub & Wind gesehen & weiß:

Ich bin ein kleiner Atemhauch, der genau so lange durchhält,

Wie die Sehnsucht es verlangt, & selbst das wird nicht reichen.

Larry Levis

Gloria

Sonntagmorgen draußen auf dem Ölfeld, kurz vor der Dämmerung. Ein junger Bohrarbeiter liegt unbequem in seinem Pick-up ausgestreckt und schläft. Er hat die Schulter von innen gegen die Fahrertür gestemmt, die Stiefel aufs Armaturenbrett gelegt und sich den Cowboyhut so tief ins Gesicht gezogen, dass das Mädchen draußen im Staub nur sein bleiches Kinn erkennen kann. Seine sommersprossigen Wangen sind fast unbehaart. Er wird sie nie täglich rasieren müssen, egal wie alt er wird. Sie hofft, dass er jung stirbt.

Gloria Ramírez hält vollkommen still. Sie ist ein von einem Mesquitebaum herabgefallener Ast, ein halb im Erdboden vergrabener Stein. Sie stellt sich vor, wie er bäuchlings im Staub liegt; der Sand hat ihm Lippen und Wangen zerkratzt, und nur das Blut in seinem Mund stillt seinen Durst. Als er im Schlaf zusammenzuckt und gegen die Fahrertür stößt, hält sie den Atem an und beobachtet, wie seine mahlenden Kiefermuskeln Knochen gegen Knochen drücken. Sein Anblick ist eine Qual, und wieder wünscht sie sich, der Tod würde ihn holen, ein grausiger, einsamer Tod, und danach soll niemand um ihn trauern.

Im Osten färbt der Himmel sich lila, dann blauschwarz und zuletzt so stumpfgrau wie Blei oder Schiefer. In wenigen Minuten werden Orange und Rot aufflammen, dann könnte Gloria die straff aufgespannte Landschaft darunter sehen, das ans Blau getackerte Braun. Alles scheint wie immer. Wenn man nicht vergisst, ihn zu beachten, ist dieser endlose Himmel das Beste am westlichen Texas. Sie wird ihn vermissen, wenn sie nicht mehr hier ist. Bleiben kann sie nicht, jetzt nicht mehr.

Sie hält den Blick starr auf den Pick-up gerichtet und drückt ganz sanft die Finger in den Sand – eins, zwei, drei, vier. Ihre Hand versucht, sie von jähen Bewegungen abzuhalten, sie darf keinen Laut von sich geben, wenn sie auch nur einen Tag länger am Leben bleiben will. Gloria Ramírez weiß vielleicht nicht viel, doch an diesem Morgen des 15. Februar 1976 weiß sie das eine: Hätte er, statt das Bewusstsein zu verlieren, zum Gewehr gegriffen oder seine Hände um ihren Hals gelegt, wäre sie jetzt tot. Zweiundfünfzig, dreiundfünfzig, vierundfünfzig – sie wartet, beobachtet, hört ein kleines Tier im Mesquitelaub rascheln. Und dann, als hätte sie Erbarmen, schiebt die Sonne sich über die Erdkante und steht als brennende Scheibe am östlichen Himmel. Glorias Finger zählen lautlos weiter.

Das Tageslicht bringt meilenweit nichts als Ölpumpen und Bohrrückstände zum Vorschein, Präriehasen und Stacheldrahtzaun, Mesquitewäldchen und Büffelgras. Unter Haufen aus Sedimentgestein und ausrangierten Pipelines haben sich Rattenschlangen, Mokassinottern und Klapperschlangen zusammengerollt, atmen langsam und gleichmäßig, warten auf den Frühling. Als es hell geworden ist, erkennt Gloria eine Straße und ein Ranchhaus. Vielleicht ist es nah genug, um hinzulaufen, aber sie ist sich nicht sicher. Hier draußen sieht eine Meile manchmal aus wie zehn und zehn wie zwanzig. Sie weiß, dass dieser Körper – gestern hätte sie noch von ihrem Körper gesprochen – irgendwo auf einem Ölfeld im Sand sitzt, zu weit weg von zu Hause, um den Wassertank mit dem aufgemalten Ortsnamen zu sehen, Odessa, das Bankgebäude und die Kühltürme der Raffinerie, in der ihre Mutter arbeitet. Alma putzt dort Büros und Pausenräume. Bald wird sie von der Nachtschicht heimkehren, ihre Zweizimmerwohnung wird noch nach dem letzten Abendessen riechen, nach Maisgrütze, Schweinefleisch und Tíos Zigaretten, und wenn sie Glorias unberührtes Sofabett sieht, wird sie sich Sorgen machen, vielleicht sogar ein wenig Angst bekommen. Doch vor allem wird sie sich ärgern, weil ihre Tochter wieder mal nicht da ist, wo sie sein sollte: zu Hause.

Gloria verfolgt das Auf und Ab der Ölpumpen. Sie sehen aus wie riesige, gefräßige Heuschrecken aus Stahl. Hat er sie bis nach Penville verschleppt? Mentone? Loving County? Das Permian-Becken besteht aus achtzigtausend Quadratmeilen des Immerselben, sie könnte sich sonst wo befinden; wirklich real sind hier draußen nur ihr Durst und ihre Schmerzen, die gelegentlichen Seufzer des Bohrarbeiters, seine knirschenden Zähne und sein zuckender Körper, das Klacken und Surren einer nur wenige Schritte entfernten Ölpumpe.

Eine Wachtel ruft. Es klingt, als sänge sie ihren Namen, und das Geräusch hebelt ganz sanft den Tag auf. Gloria schaut noch einmal zu der Ranch. Die unbefestigte Straße zerteilt die Wüste in zwei Hälften und führt in gerader Linie darauf zu, und schon meint Gloria, eine Veranda zu erkennen. Vielleicht kann sie das Haus zu Fuß erreichen, vielleicht wird eine Frau die Tür öffnen.

Ihre zitternden Finger drücken die letzte Zahl in den Sand, Tausend, und er hat sich immer noch nicht bewegt. Gloria dreht langsam den Kopf hin und her, und weil sie weiß, dass es vor allem die Stille ist, die sie am Leben erhält, begutachtet sie ihren Körper stumm. Hier ist ein Arm, dort ein Fuß. Die Mittelfußknochen sind mit den Fersen verbunden, die Fersen mit den Knöcheln. Und dahinten, neben der hölzernen Bohrplattform, liegt ihr Herz. Sie sieht sich um, sammelt ihren Körper ein und ihre zerrissene Kleidung, verstreut wie achtlos weggeworfener Müll; das sind nicht mehr ihr schwarzes Lieblings-T-Shirt, ihre Jeans, die Alma ihr zu Weihnachten geschenkt hat, das bei Sears gestohlene Wäscheset aus BH und Slip.

Gloria weiß, sie sollte es besser nicht tun, aber bevor sie losgeht, dreht sie sich noch einmal zum Pick-up um. Unter der Cowboyhutkrempe ragen dünne blonde Haarsträhnen hervor. Er ist hager und sehnig und nur ein paar Jahre älter als Gloria, die, falls sie diesen Tag überlebt, im Herbst fünfzehn wird. Sein Kinn und seine Brust heben und senken sich gleichmäßig, wie bei jedem anderen Menschen, ansonsten regt sich nichts. Er schläft immer noch, oder er tut nur so.

In diesen letzten Gedanken schlittert Glorias Verstand hinein wie ein Pferd in einen Stacheldrahtzaun. Ihr Kiefer fällt herunter und klappt ruckartig wieder zu. Sie keucht und schnappt nach Luft wie ein aus dem Wasser gerissener Fisch. Sie stellt sich ihre abgetrennten Gliedmaßen vor, die verstreut in der Wüste liegen und von den Kojoten angenagt werden. Die ganze Nacht hat sie ihr Geheul gehört. Sie sieht ihre eigenen ausgebleichten, vom Wind glatt polierten Knochen, eine ganze Wüste voll davon, und würde am liebsten schreien. Stattdessen schluckt sie mühsam, lässt sich wieder in den Sand sinken und verschließt die Augen vor dem Bohrarbeiter, dem gleißenden Sonnenlicht, dem unendlichen Himmel.

Sie darf nicht panisch werden. Panik ist das Schlimmste, würde ihr Onkel jetzt sagen. Wenn Tío vom Krieg erzählt – und seit seiner Heimkehr vor einem Jahr erzählt er von nichts anderem mehr –, fangen seine Geschichten immer gleich an. Wie nennt man einen Soldaten, der in Panik ausgebrochen ist, Gloria? Einen gefallenen Soldaten, jawohl. Die Geschichten enden auch immer gleich: Gloria, hör zu, ein Soldat wird niemals panisch. Du darfst nie die Nerven verlieren, denn sonst – er hebt den Zeigefinger wie eine Pistole, richtet sie auf sein Herz und drückt den Abzug – peng! Und eins weiß Gloria an diesem Morgen mit absoluter Sicherheit, sie will nicht sterben, also schiebt sie sich eine Faust in den Mund und befiehlt sich, aufzustehen. Keinen Mucks zu machen. Los jetzt!

Gloria Ramírez – noch Jahre später wird ihr Name über den Mädchen der Stadt schweben wie ein Wespenschwarm, als Warnung vor dem, was man niemals tun darf – steht auf. Sie denkt ganz kurz an ihre Schuhe, macht sich aber nicht die Mühe, sie zu suchen, ebenso wenig wie die Kaninchenfelljacke, die sie am Vorabend getragen hat, als der junge Mann auf dem Parkplatz des Sonic hielt. Ein aus dem Seitenfenster baumelnder Unterarm, Sommersprossen, goldener Bartflaum im Neonlicht des Drive-in.

Hallo, Herzdame! Seine Stimme nahm dem Drive-in schlagartig alle Hässlichkeit. Sein breiter Akzent verriet, dass er nicht von hier stammte, aber auch nicht von weit her. Glorias Mund wurde so trocken wie Kreide. Wie an fast jedem Samstagabend stand sie neben dem Picknicktisch, windschiefer Treffpunkt zwischen Autos und Trucks: rumhängen, Limonade trinken, Zigaretten schnorren und darauf warten, dass irgendwas passiert. Doch es passierte nie etwas, nicht in diesem Dreckskaff.

Er parkte so dicht neben ihr, dass Gloria selbst durch die Windschutzscheibe die Ölflecken auf seiner Kleidung sehen konnte. Seine Wangen und sein Hals waren windgegerbt, die Finger schwarz. Auf dem Armaturenbrett Straßenkarten und Quittungen, am Kleiderhaken hinter dem Sitz ein Hut. Auf der Ladefläche leere, zerdrückte Bierdosen zwischen Brechstangen und Wasserkanistern. Alles fügte sich mehr oder weniger perfekt zu jenem Horrorbild zusammen, vor dem man Gloria ihr Leben lang gewarnt hatte. Der junge Mann stellte sich vor, Dale Strickland, und fragte nach ihrem Namen.

Geht dich gar nichts an, sagte sie.

Die Worte waren draußen, noch bevor sie nachdenken konnte; womöglich wirkte sie jetzt erst recht wie ein kleines Mädchen und nicht wie die abgeklärte junge Frau, die sie unbedingt sein wollte. Strickland beugte sich noch weiter aus dem Fenster und sah sie an wie ein Hundewelpe, wenn auch wie einer mit blutunterlaufenen, dunkel geränderten Augen. Ein paar Sekunden lang erwiderte sie seinen Blick. Das Blau seiner Augen wirkte hell und dann so dunkel wie Schiefer, je nachdem, in welchem Winkel das Licht auf sein Gesicht fiel. Seine Augen waren so blau wie die Murmeln, die man auf keinen Fall hergeben will, oder vielleicht auch wie der Golf von Mexiko. Andererseits könnte Gloria den Pazifik nicht von einem Wasserloch unterscheiden, und genau das war ihr Problem, oder? Sie war noch nie verreist und kannte nichts als diese Stadt und ihre Bewohner. Möglicherweise würde mit dem jungen Mann etwas Gutes seinen Anfang nehmen. Wenn er ihr Freund wäre, könnte er sie in ein paar Monaten nach Corpus Christi oder nach Galveston mitnehmen, und dann würde sie den Pazifik mit eigenen Augen sehen. Also antwortete sie doch. Gloria.

Er lachte und drehte das Radio lauter, um sie auf den Zufall aufmerksam zu machen. Der Collegesender lief, Patti Smith sang ihren Namen. Und jetzt bist du hier, sagte er, in Fleisch und Blut. Das ist Schicksal, Baby.

Das ist Schwachsinn, Baby, sagte sie. Die spielen das alle zwei Stunden.

Sie kannte den Song seit Monaten und wartete ständig darauf, ihn im Radio zu hören. Das Album hieß Horses, und ihre Mutter bekam jedes Mal einen Anfall, wenn Gloria sang: Jesus died for somebody’s sins but not mine. Einmal hatte Alma ihr damit gedroht, sie in die Kirche mitzuschleifen, aber Gloria hatte nur laut gelacht. Sie ging nicht mehr in die Kirche, seit sie zwölf war. Sie hielt sich die Faust vors Gesicht wie ein Mikrofon und sang weiter, bis Alma ins Bad lief und die Tür hinter sich zuschlug.

An diesem Valentinsabend war das Sonic wie ausgestorben. Nichts und niemand Neues – nur dieselbe dünne Kellnerin auf Rollschuhen, die direkt von ihrem Tagesjob kam und demonstrativ wegsah, wenn die üblichen Verdächtigen sich Jack Daniel’s in ihre halb leeren Dr-Pepper-Becher kippten; das Mädchen, das in die Oberstufe von Glorias Schule ging und nun auf einem Barhocker hinter dem Tresen saß, Knöpfe drückte und Bestellungen wiederholte, die schnarrend und verzerrt aus den großen Lautsprechern tönten; der Koch, der immer wieder seinen Posten am Grill verließ, um draußen eine Zigarette zu rauchen und die Autos auf der Hauptstraße zu beobachten. In diesem Moment kam eine große, breitschultrige, ältere Frau aus der Damentoilette, ließ die Tür hinter sich zufallen, trocknete sich die Hände an der Hose ab und lief über den Parkplatz zu einem Truck. Am Steuer saß ein noch älterer, spindeldürrer Mann mit kahlem Eierkopf. Er sah herüber.

Als die Frau einstieg, zeigte er auf Gloria und redete aufgeregt. Seine Frau nickte, anscheinend war sie seiner Meinung, aber als er den Kopf zum Fenster hinausstrecken wollte, legte sie ihm kopfschüttelnd eine Hand auf den Arm. Gloria lehnte sich rücklings an den Picknicktisch, schob die Hände in die Taschen ihrer neuen Jacke und schaute zwischen dem Paar und dem jungen Mann hin und her. Er saß am Steuer, ließ den Arm herunterbaumeln und trommelte mit Fingerspitzen von außen gegen das Blech. Die beiden Alten diskutierten immer noch. Als sie das nächste Mal herübersahen, zog Gloria eine Faust aus der Jackentasche, hob sie in die Höhe und entrollte ganz langsam den Mittelfinger. Fickt euch, formten ihre Lippen stumm, und fickt das Pferd, auf dem ihr hergeritten seid.

Sie ließ den Blick noch einmal über den Parkplatz des Drive-in schweifen, zuckte die Achseln – nichts zu verlieren, nichts zu gewinnen – und kletterte in den Pick-up. In der Fahrerkabine war es warm wie in einer Küche, und es roch ganz schwach nach dem ammoniakhaltigen Industriereiniger, den ihre Mutter an Händen und Kleidung von der Arbeit mitbrachte. Strickland drehte die Musik auf und bot Gloria eine Dose Bier an. Er öffnete sie mit einer Hand, die andere blieb am Lenkrad. Na so was, sagte er. Gloria, ich glaube, ich habe mich in dich verliebt. Gloria zog die schwere Beifahrertür zu.

Als sie sich endlich in Bewegung setzt, steht die Sonne knapp oberhalb der Autoreifen. Sie dreht sich nicht noch einmal um. Falls er aufwacht und sie erschießt, möchte sie nichts davon mitbekommen. Soll das Schwein sie doch in den Kopf schießen. Soll er doch zeigen, was für ein Feigling er ist. Was den Namen Gloria betrifft, so wird sie ihn nie wieder verwenden – den Namen, den er wieder und wieder gestöhnt hat, stundenlang, während sie bäuchlings im Staub lag. Ihr Name war durch die Nachtluft geflogen wie ein vergifteter Pfeil. Gloria. Spöttisch, böse wie eine Viper. Aber damit ist es vorbei. Ab heute wird sie sich Glory nennen. Der Unterschied ist klein, aber ihr bedeutet er die Welt.

Glory überquert das Ölfeld, stolpert und schwankt, fällt zwischen Pumpen und Mesquitebäumen immer wieder hin. Sie kriecht unter einem Stacheldrahtzaun durch und findet sich neben einem stillgelegten Bohrloch wieder. Ein selbst gemaltes Schild starrt auf sie nieder, es warnt vor giftigen Gasen und unbefugtem Zutritt: SCHUSSWAFFENGEBRAUCH! Sie tritt in eine Glasscherbe oder eine Kaktusnadel, ihr Blut sammelt sich als kleine Pfütze auf dem harten, undurchdringlichen Boden, und sie wünscht sich, es wäre Wasser. Ein Kojote heult, ein anderer antwortet. Glory sieht sich nach einer Waffe um, kann aber nichts entdecken. Sie reißt einen Ast von einem Mesquitebaum und wundert sich über die eigene Stärke und darüber, dass sie sich immer noch vorwärtsbewegen kann. Sie spürt eine quälende Trockenheit in Mund und Kehle, und da ist noch etwas, ein neuer Schmerz, der kurz nach dem Aufwachen als leichtes Stechen in der Rippengegend begonnen hatte. Inzwischen ist er als heißes Brennen in ihren Unterleib gewandert, wie ein Stahlrohr, das zu dicht am Hochofen liegt.

Sie stößt auf Bahngleise und beschließt, ihnen zu folgen. Einmal verliert sie das Gleichgewicht, stürzt in den Stacheldrahtzaun und von dort auf einen kniehohen Wall aus Sedimentgestein. Sie betrachtet die Steinchen in ihren Handballen. Blut und Haut unter ihren Fingernägeln verraten, wie tapfer sie sich gewehrt hat. Aber nicht tapfer genug, denkt sie, liest einen Kiesel vom Boden auf und schiebt ihn sich unter die Zunge, denn so würde Onkel Victor es machen, müsste er halb verdurstet durch eine unbekannte Wüste irren. Am Ende des Steinwalls ragt ein Stahlkreuz aus dem Boden, auf der kleinen Plakette steht Anonymes Grab. Wenige Schritte daneben entdeckt sie einen zweiten, kleineren Wall ohne Kreuz. Das Grab eines Kindes vielleicht, oder eines Hundes.

Glory steht wieder auf und wirft einen Blick zurück. Sie ist der Ranch jetzt näher als dem Truck. Wind kommt auf und streicht durchs Gras wie ein langer Finger, und zum ersten Mal überhaupt bemerkt sie, wie still der Morgen ist. Als hätten selbst die dünnen, biegsamen Halme von Moskito- und Büffelgras den Atem angehalten. Die Bö ist schwach, kaum mehr als ein Hauch, dabei ist es auf dieser Ebene fast immer windig. Auf jeden Fall ist sie zu schwach, um eine Stimme zu tragen. Wenn sie jetzt etwas sagt, wird er es nicht hören. Glory Ramírez dreht sich um. Zum ersten Mal seit Stunden hat sie den Wunsch, laut zu sprechen. Sie sucht nach den passenden Worten, bringt aber nur ein leises Winseln heraus. Es fliegt aus ihrem Mund in die Stille und verschwindet.

Mary Rose

Früher habe ich geglaubt, jeder könnte gnädig sein. Man muss, dachte ich, nur lange genug versuchen, sich in einen anderen Menschen reinzuversetzen, und dann kann man irgendwann selbst die Gefühle und Gedanken beispielsweise eines Diebes oder eines Mörders nachvollziehen. Oder eines Mannes, der eine Vierzehnjährige auf ein Ölfeld verschleppt und die ganze Nacht lang vergewaltigt. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es für Dale Strickland war:

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er aufwachte, mit brennendem Durst, wundgescheuertem Schwanz und der vertrauten Amphetaminstarre im Kiefer. Im Mund einen Geschmack, als hätte er an einem Benzinschlauch genuckelt, und am linken Oberschenkel einen blauen faustgroßen Fleck, vielleicht weil er ihn stundenlang gegen den Schaltknüppel gedrückt hatte. Schwer zu sagen. Aber eins wusste er genau: Er fühlte sich beschissen. Als hätte jemand mit einem Schuh auf seinen Kopf eingedroschen. Da war Blut in seinem Gesicht und auch an seinem Hemd und an den Stiefeln. Er rieb sich die Augen, fuhr sich über die Mundwinkel. Kehrte die Handflächen nach oben auf der Suche nach Schnittwunden, legte sie sich dann an die Schläfen. Vielleicht öffnete er sogar den Reißverschluss seiner Hose, um sich genauer zu untersuchen. Ein bisschen Blut, aber keine sichtbaren Verletzungen. Möglicherweise kletterte er aus dem Truck, stand eine Weile herum und ließ sich von der kraftlosen Wintersonne wärmen. Nicht auszuschließen, dass er sich über den ungewöhnlich warmen Morgen wunderte, über die Stille, so wie ich, als ich auf die Veranda trat und in den Himmel blickte, wo ein halbes Dutzend Truthahngeier langsam große Kreise zog. Gnädig zu sein bedeutet zu sehen, wie er auf der Ladefläche seines Trucks nach Wasser sucht und dann auf dem Ölfeld steht, sich wie in Zeitlupe um die eigene Achse dreht und sich fragt, wo die letzten vierzehn Stunden geblieben sind. Vielleicht fiel ihm das Mädchen erst wieder ein, als er ihre Turnschuhe neben dem Auto liegen sah, oder ihre zusammengeknüllte Kaninchenfelljacke neben der Bohrplattform. Die Jacke hatte knapp über ihre Taille gereicht und trug ihren Namen in blauer Tinte auf dem Etikett. G. Ramírez. Ich wünsche mir, dass er denkt: Was habe ich getan? Ich möchte, dass er sich erinnert. Vielleicht wurde ihm erst nach einer ganzen Weile klar, dass er sie finden und sich davon überzeugen sollte, dass es ihr gut ging und dass sie sich über das Vorgefallene einig waren. Vielleicht saß er auf der Heckklappe, trank muffiges Wasser aus dem Kanister und versuchte, sich an ihr Gesicht zu erinnern. Er rammte einen Stiefelabsatz in den Boden und konzentrierte sich auf die vergangene Nacht, oder er betrachtete die Schuhe und die Jacke und ließ den Blick dann zu den Bohrtürmen wandern, über die Schotterstraße, die Bahngleise und die ferne, spärlich befahrene Interstate, vielleicht sogar bis zu unserer Ranch. Zu meinem Haus. Womöglich war er der Meinung, es sei zu weit weg, um den Weg dorthin zu Fuß zurückzulegen. Aber man kann nie wissen. Diese Provinzgören können ganz schön zäh sein, vor allem, wenn sie sauer sind. Verdammt, die können barfuß durch ein Höllenfeuer laufen, wenn sie es nur wollen. Er stieß sich von der Heckklappe ab und linste in den Kanister. Er hatte noch genug Wasser übrig, um sich notdürftig zu waschen. Er beugte sich vor den Seitenspiegel, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und fasste einen Plan. Er würde pinkeln, falls ihm das gelang, und dann würde er zu dem Haus rüberfahren und sich umsehen. Mit ein bisschen Glück war es unbewohnt, vielleicht saß seine neue Freundin auf der morschen Veranda, war durstig wie ein Pfirsichbaum im August und hocherfreut, ihn wiederzusehen. Vielleicht. Doch an Orten wie diesen ist Gnade selten. Ich habe ihm den Tod gewünscht, noch bevor ich sein Gesicht sah.

~

Wenn es so weit ist und man mich in den Zeugenstand ruft, werde ich aussagen, dass ich die Erste war, die Gloria Ramírez lebend sah. Das arme Mädchen, werde ich sagen. Wie soll ein Kind sich von so was erholen? Der Prozess findet erst im August statt, aber ich werde den Männern im Gerichtssaal dasselbe erzählen wie meiner Tochter, später, wenn sie alt genug ist.

Ich werde sagen, wie schlimm der Winter für uns war, auch schon vor jenem Tag im Februar. Der Preis für Rinder fiel im Minutentakt, außerdem hatte es seit einem halben Jahr nicht mehr geregnet. Wir mussten Mais zufüttern, einige Kühe suchten sogar nach Mutterwurz, um ihre Kälber abzutreiben. Ohne die Ölpächter hätten wir einen Teil unseres Landes verkaufen müssen.

Ich werde sagen, dass mein Mann die Ranch mit den letzten beiden Helfern bewirtschaftete. Alle anderen hatten uns verlassen, um gegen bessere Bezahlung auf den Ölfeldern zu arbeiten. Mein Mann und seine Helfer verteilten Silofutter auf den Weiden und bekämpften die Schraubenwurmfliegen. Sie bargen halb tote Kühe, die in Stacheldraht gelaufen waren – diese Tiere sind dumm, lassen Sie sich nichts anderes erzählen –, und wenn sie eine nicht retten konnten, schossen sie ihr zwischen die Augen und überließen den Kadaver den Geiern.

Ich werde aussagen, dass Robert von früh bis spät gearbeitet hat, jeden Tag, sogar an den Wochenenden, weil Kühe auch sonntags verenden. Meinen Mann habe ich höchstens mal für eine Viertelstunde gesehen, wenn er nach Hause kam, um eine Portion Schmorbraten zu verschlingen – da steht man den halben Tag in der Küche, und die brauchen zum Essen keine fünf Minuten. Wir müssen auf eine robustere Rinderrasse umstellen, sagte er, stand auf und reichte mir auf dem Weg zur Tür seinen schmutzigen Teller. Auf Polled Herefords oder Red Brangus. Aber wie sollen wir uns die leisten? Was sollen wir tun?

Wenn ich an den Tag zurückdenke, an dem Gloria Ramírez auf meiner Veranda auftauchte, erscheinen mir die Erinnerungen wie Stückwerk, wie die Flicken einer Patchworkdecke. Sie sind von unterschiedlicher Form und Farbe und werden nur von einem dünnen schwarzen Faden zusammengehalten, und das wird wohl für immer so bleiben. Im August werde ich aussagen, dass ich getan habe, was in meiner Macht stand; wie sehr ich sie und mich damals enttäuscht habe, werde ich verschweigen.

Ich war sechsundzwanzig Jahre alt, schwanger mit dem zweiten Kind und schwer wie ein Buick. Beim zweiten Mal nimmt man viel schneller zu, zumindest behaupten das meine weiblichen Verwandten. Manchmal war ich so einsam, dass ich Aimee erlaubt habe, die Schule zu schwänzen und zu Hause zu bleiben. Ich habe irgendeine Krankheit vorgeschoben, im Austausch für ein kleines bisschen Gesellschaft. Zwei Tage vorher hatte ich Eunice Lee angerufen, die Schulsekretärin.

Sobald ich den Hörer aufgelegt hatte, zog Aimee Jo ein Gesicht wie die alte Miss Lee. Manche Leute sagen, die Frau sei eine direkte Nachfahrin des berühmten Generals, aber ich bezweifle das, und eines kann ich Ihnen versichern: Falls es stimmt, hat sie von seinem guten Aussehen nichts geerbt. Die Ärmste. Meine Tochter hat sich also die Faust ans Ohr gehalten und das Gesicht verzogen: Danke für Ihren Anruf, Mrs Whitehead, aber die Details von Aimee Jos Stuhlgang interessieren mich wirklich nicht. Ich wünsche ihr gute Besserung. Machen Sie sich einen schönen Valentinstag. Bye-bye! Aimee wackelte mit den Fingern, wir haben uns schlappgelacht. Und dann haben wir Hefebrötchen gebacken und sie mit Butter und Zucker gegessen.

Mit Aimee in der Küche zu sein war immer etwas Besonderes. Wir haben darauf gewartet, dass der Teig aufgeht, und der ganze Tag streckte sich vor uns aus wie eine träge alte Hauskatze. Als sie Miss Lee nachgeäfft hat, habe ich mir vor Lachen fast in die Hose gemacht. Manchmal denke ich: Wenn ich eines Tages im Sterben liege, wird jener Freitagvormittag mit meiner Tochter zu meinen glücklichsten Erinnerungen zählen.

Am Sonntagmorgen haben wir Gin Rommé gespielt und den Radiogottesdienst gehört. Aimee war dabei zu verlieren, und ich habe mich gefragt, wie ich das Spiel drehen kann, ohne dass sie es merkt. Ich habe darauf gewartet, dass sie endlich die Herz vier zieht, habe Karten weitergeschoben und Tipps gegeben. Willst du mein Valentinsschatz sein, mein Herz?, habe ich gefragt. Oh, mein Herz! Ich kann es schlagen hören – ein, zwei, drei, vier Mal, Aimee Jo! Damals war ich noch der Meinung, man dürfe ein kleines Mädchen beim Kartenspielen nicht zu oft verlieren lassen. Inzwischen sehe ich das anders.

In seiner Predigt wetterte Pastor Rob gegen die Aufhebung der Rassentrennung. Das sei, als würde man eine Kuh, einen Puma und ein Opossum in dieselbe Scheune sperren und sich hinterher wundern, wenn jemand gefressen wurde.

Wie meint er das?, fragte meine Tochter. Sie nahm eine Karte vom Stapel, musterte sie kurz und breitete ihr Blatt auf dem Tisch aus. Ich habe gewonnen, sagte sie.

Das brauchst du noch nicht zu verstehen, kleines Mädchen, sagte ich. Du musst Gin sagen! Meine Tochter war neun, nur ein paar Jahre jünger als das fremde Mädchen, das draußen vor dem Haus stand und auf Hilfe wartete.

Es war elf Uhr. Ich weiß das so genau, weil der Diakon – so ein harter, humorloser Typ – gerade das Schlussgebet sprach. Wahrscheinlich würde jeder fromme Baptist uns für das Kartenspielen beim Gottesdienst verurteilen, aber so war es nun mal. Nach elf kamen die Nachrichten vom Ölhandel und dann die vom Viehmarkt. Wenn man sich in diesem Februar freuen wollte, achtete man auf die Zahl der neuen Bohrtürme und Pachtverträge. Wenn man sich im Sessel zurücklehnen und ordentlich weinen wollte, hörte man die Nachrichten vom Viehmarkt.

Das Mädchen klopfte zwei Mal an – kurz, energisch und so laut, dass wir erschraken. Beim dritten Mal zitterte die Tür. Sie war neu und aus Eiche, aber auf altes Mahagoni gemacht. Robert hatte sie zwei Wochen vorher aus Lubbock anliefern lassen, weil wir uns wieder mal wegen des Umzugs in die Haare gekriegt hatten. Es war immer dasselbe. Er fand, dass wir zu weit draußen wohnten, vor allem jetzt, da ich wieder schwanger war und die Ölwirtschaft boomte. Hier ist zu viel los, sagte er, die Arbeiter sind überall. Kein guter Ort für Frauen und kleine Mädchen. Aber dann wurde der Streit hässlich, wir haben uns schlimme Sachen an den Kopf geworfen und einander gedroht.

Natürlich hatte ich die Pick-ups satt, die durch unsere Straße fuhren, und auch den Gestank, diese Mischung aus Benzin und faulen Eiern. Ich hatte ständig Angst, irgendein Bohrarbeiter könnte das Gatter offen lassen und ein Bulle auf den Highway laufen, oder Texaco könnte Abwasser in die ungesicherte Grube direkt neben unserem Brunnen leiten. Aber ich liebe unser Haus. Roberts Großvater hat es vor fünfzig Jahren selbst gebaut, den Kalkstein hatte er nach und nach mit dem Truck aus dem Hill Country geholt. Ich liebe die Zugvögel, die im Herbst auf ihrem Weg nach Mexiko oder Südamerika bei uns Rast machen, und dann wieder im Frühling, wenn sie zurück nach Norden fliegen. In der Stadt würde ich das Trauertaubenpaar vermissen, das unter unserer Veranda nistet, und die Turmfalken, die manchmal knapp über der gelben Erde schweben und wie verrückt mit den Flügeln schlagen, bevor sie auf eine Schlange runterschießen. Morgens und abends ist der Himmel eine Explosion aus Farben. Ich würde die Stille vermissen und die schwarze Nacht, wenn weit und breit nichts zu sehen ist als Sterne und die roten und blauen Flammen der abfackelnden Gase.

Tja, sagte ich, ich will hier aber nicht weg. Ich bin hier zu Hause.

Im Laufe des Streits habe ich Robert in die Brust geboxt. Das hatte ich noch nie getan. Er konnte nicht zurückschlagen, weil ich schwanger war, deswegen rammte er die Faust drei oder vier Mal in die Haustür. Jetzt hatte ich also diese schöne neue Tür, und Aimee, die im Bett gelegen und unser Geschrei in der Küche mitangehört hatte, bekam ein neues Kinderfahrrad von Huffy mit rosa Flatterband und kleinem weißen Korb.

Nach dem dritten Klopfen fragte Aimee Jo: Wer ist das? Später habe ich mich gefragt, woher Gloria in ihrem furchtbaren Zustand die Kraft genommen hat, das dicke Eichenholz vibrieren zu lassen. Ich stemmte mich aus dem Sessel hoch. Wir erwarteten keinen Besuch. Niemand fährt so weit raus, ohne vorher anzurufen, nicht mal die Zeugen Jehovas oder die Adventisten, außerdem hatte ich weder ein Auto noch einen Truck gehört. Ich bückte mich nach dem Baseballschläger, den Aimee neben dem Sessel hatte liegen lassen. Bleib sitzen, sagte ich. Bin gleich wieder da.

Ich öffnete die Tür, und im selben Moment fuhr eine Windbö über die Veranda. Sie verscheuchte die Fliegen aus Glorias Haaren, von ihrem Gesicht und den offenen Wunden an Händen und Füßen, und mir drehte sich der Magen um. Du lieber Gott, dachte ich mit einem Blick auf den Schotterpfad, der von unserem Haus zur Straße führt. Aber er war leer, da war nichts zu sehen als ein lärmender Schwarm aus Kanadakranichen, die neben unserem Wasserspeicher überwinterten.

Die zierliche Gloria Ramírez stand auf unserer Veranda, schwankte wie eine Betrunkene und sah aus wie eine Figur aus einem Horrorfilm, die von der Leinwand runtergestiegen ist. Sie hatte zwei Veilchen, ein Auge war fast komplett zugeschwollen. An Wangen, Kinn und Stirn war praktisch keine Haut mehr, üble Schürfwunden bedeckten Arme und Beine. Ich krallte die Finger um den Baseballschläger und rief ins Haus: Aimee Jo Whitehead, lauf ins Schlafzimmer! Hol die Alte Lady aus dem Schrank und bring sie sofort her. Und trag sie richtig herum!

Ich hörte Aimee durchs Haus poltern und rief ihr nach, sie dürfe mit dem Gewehr nicht rennen. Als sie an die Tür kam, schob ich mich zwischen sie und die Fremde. Ich streckte den Arm nach hinten aus und nahm meiner Tochter die gute alte Winchester aus den kleinen Händen. Ich nenne das Gewehr Alte Lady, nach meiner Großmutter, die es mir an meinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt hat.

Was ist da, Mama? Eine Klapperschlange? Kojoten?

Sei still, sagte ich. Lauf in die Küche und ruf den Sheriff an. Sag ihm, wir brauchen einen Krankenwagen. Und Aimee, fügte ich hinzu, ohne das Mädchen auf der Veranda aus den Augen zu lassen, halt dich von den Fenstern fern, sonst prügel ich dich windelweich.

Ich habe meine Tochter nie geschlagen, kein einziges Mal. Als Kind wurde ich regelmäßig verprügelt, deswegen hatte ich mir geschworen, meinen eigenen Kindern so was niemals anzutun. Aber an dem Morgen meinte ich es ernst, und Aimee wusste das. Sie hat sich wortlos umgedreht und ist in die Küche gerannt.

Ich musterte noch einmal das schwankende Kind auf der Veranda, dann suchte ich schnell den Horizont ab. Das Land ist bei uns so flach, dass niemand sich anschleichen kann; so flach, dass man den Pick-up des eigenen Mannes neben einem Silo sieht und weiß, er ist zu weit weg und wird einen nicht hören. Hier draußen kann man meilenweit fahren, ohne dass es auch nur das kleinste bisschen bergauf, bergab oder um die Kurve geht. Ich trat auf die Veranda. Ich konnte keine Bedrohung erkennen, aber auch niemanden, der uns geholfen hätte.

Und zum ersten Mal seit dem Umzug auf Roberts Familienranch wünschte ich mir, ich wäre woanders. Zehn Jahre lang hatte ich nach Schlangen, Sandstürmen und Tornados Ausschau gehalten. Einmal hat sich ein Kojote eins von den Hühnern geschnappt, da habe ich ihn erschossen. Wenn ich Aimee ein Bad einlassen wollte und ein Skorpion in der Wanne lag, habe ich ihn zertreten. Wenn sich eine Klapperschlange unter der Wäscheleine oder neben Aimees kleinem Fahrrad eingerollt hatte, rückte ich ihr mit dem Wasserschlauch zu Leibe. Ich musste fast jeden Tag irgendwas erschießen, zerhacken oder vergiften, ständig entsorgte ich irgendwelche Kadaver.

Und nun stand ich da auf der Veranda, legte mir eine Hand an den Bauch und stützte mich mit der anderen auf das Gewehr wie auf eine Krücke. Ich versuchte, mich ans Frühstück zu erinnern – eine Tasse Kaffee, eine Scheibe kalten Speck, eine Zigarette, die ich beim Eiersammeln heimlich hinter der Scheune geraucht hatte. Mein Magen stülpte sich praktisch um, als ich das fremde Mädchen sah. Ich schluckte salzigen Speichel hinunter und fragte: Woher kommst du, Spätzchen? Odessa?

Stellen Sie sich vor, wie es war: Als das Mädchen den Namen seiner Heimatstadt hört, löst sich die Angststarre. Sie reibt sich das zugeschwollene Auge und zuckt winselnd zusammen. Sie macht den Mund auf und will etwas sagen, die Worte schieben sich kratzend heraus, wie Sandkörner, die der Wind durch ein Fliegengitter drückt.

Haben Sie ein Glas Wasser für mich? Meine Mutter heißt Alma Ramírez. Sie hatte Nachtschicht, aber jetzt ist sie bestimmt wieder zu Hause.

Wie heißt du?

Glory. Haben Sie Eiswasser?

Sie klang, als fragte sie nach den Okraschoten in meinem Gemüsegarten, scheinbar gefasst, irgendwie distanziert, aber hinter ihrer Gleichgültigkeit verbarg sich das Grauen, und auf einmal fühlte es sich an, als würde etwas in mir reißen, sich ein Teil von mir ablösen. In ein paar Jahren wird meine Tochter alt genug sein, dann werde ich ihr erzählen, dass mein Unterleib sich plötzlich zusammenzog und kalt wurde wie ein Eisblock. Ich hörte eine Art Summen, anfangs leise und dann immer lauter, und musste an eine Gedichtzeile denken, die ich damals in der Highschool gelesen hatte, kurz bevor ich alles hingeschmissen und Robert geheiratet hatte – Eine Fliege summte, als ich starb –, und in den elenden, kalten Sekunden vor dem erlösenden Tritt war ich überzeugt, ich hätte das Kind verloren. Meine Sicht trübte sich ein, und ich erinnerte mich an einen anderen, völlig zusammenhanglosen Vers. Wie eigenartig, ausgerechnet in so einem Moment an Gedichte zu denken. Jahrelang hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, nicht seit ich Ehefrau und Mutter geworden war, aber jetzt fielen sie mir wieder ein: Dies ist die Stunde Blei – erinnert, wenn durchlebt.

Ich richtete mich auf und schüttelte vorsichtig den Kopf, als könnte ich damit alles auslöschen, was vor meinen Augen geschah; als könnte ich das schrecklich zugerichtete Gesicht der Kleinen verschwinden lassen, und auch das, was ihr zugestoßen war. Ich wollte ins Wohnzimmer zurückgehen und meiner Tochter sagen: Es war nur der Wind, Schätzchen. Hör nicht hin, wir sind nicht gemeint. Wollen wir weiter Karten spielen? Möchtest du lernen, wie man pokert?

Stattdessen stützte ich mich schwer auf das Gewehr und legte mir eine Hand an den Bauch. Ich hole dir ein Glas Eiswasser, sagte ich, und dann rufen wir deine Mutter an.

Das Mädchen trat zögerlich von einem Bein aufs andere. Aus ihren Haaren und von ihrem schmutzigen Gesicht stieg ein Heiligenschein aus Staub auf. Ganz kurz war sie eine Wolke, ein hilfloser Sandsturm, ein Windstoß, der um Gnade fleht. Ich lehnte das Gewehr in den Türrahmen hinter mir, und als ich mich wieder umdrehte, krümmte sie sich seitwärts wie ein Schilfrohr im Wind. Ich streckte die Arme aus, um zu verhindern, dass sie von der Veranda stürzte, oder vielleicht wollte ich mich auch abstützen, ich weiß es nicht mehr genau, jedenfalls zog sie instinktiv den Kopf ein, und da sah ich in der Ferne hinter ihr eine Staubwolke in den Himmel aufsteigen.

Ein Pick-up war in unsere Straße eingebogen und kam auf unser Haus zu. Auf Höhe des Briefkastens riss der Fahrer das Steuer unvermittelt herum, als wäre vor ihm eine Wachtel über die Straße geflitzt. Die Hinterreifen brachen aus, und der Wagen schlitterte auf den Wasserspeicher zu, doch der Fahrer zog ihn rechtzeitig wieder gerade. Er war noch mindestens eine Meile vom Haus entfernt, rumpelte unbeirrt die Straße entlang und ließ Schotter und Staubwirbel in die Höhe fliegen. Wer immer das auch war – er wusste genau, wohin er wollte, und er hatte es nicht eilig.

~

Ich habe Fehler gemacht. Als der Pick-up sich näherte, hätte ich das Mädchen umdrehen und fragen müssen: Kennst du das Auto? Ist das er?

Stattdessen habe ich sie ins Haus gezerrt und ihr ein Glas Eiswasser gegeben. Langsam trinken, sagte ich, sonst musst du dich übergeben. Aimee Jo kam in die Küche und riss die Augen auf. Das Mädchen murmelte immer wieder: Ich will zu meiner Mom, ich will zu meiner Mom, ich will zu meiner Mom.

Ich schob mir ein paar Salzkräcker in den Mund und trank einen Schluck, dann beugte ich mich über die Spüle und schaufelte mir Wasser ins Gesicht, bis draußen die Pumpe ansprang und ich den Schwefel riechen konnte. Ihr bleibt hier, sagte ich. Ich habe draußen was zu regeln. Wir rufen deine Mutter an, wenn ich zurück bin.

Ich habe Bauchschmerzen, jammerte das Mädchen. Ich will zu meiner Mom. Auf einmal wurde ich schrecklich wütend, die Galle kam mir hoch; später habe ich mich sehr dafür geschämt. Sei still, fuhr ich sie an. Ich sagte den Kindern, sie sollten sich an den Küchentisch setzen und nicht vom Fleck bewegen. Mein zweiter Fehler: Ich habe meine Tochter nicht gefragt, ob sie den Sheriff angerufen hatte. Und mein dritter: Ich habe das Gewehr genommen, bin rausgegangen und habe mich ans Ende der Veranda gestellt, ohne zu überprüfen, ob es geladen war.

Kommen Sie näher, stellen Sie sich neben mich. Sehen Sie, wie er langsam über den Hof rollt und keine zehn Schritte vor dem Haus hält? Er stößt die Fahrertür auf, springt auf die festgestampfte Erde, sieht sich um und stößt einen lang gezogenen, leisen Pfiff aus. Er schlägt die Tür hinter sich zu, lehnt sich an die Motorhaube und sieht aus, als wollte er den ganzen Laden kaufen. Das Sonnenlicht und der Wind zupfen an ihm herum, bringen die Sommersprossen auf seinen Armen zum Leuchten, zerzausen sein strohblondes Haar. Im Licht des späten Vormittags schimmert er wie ein goldgelber Topas, aber selbst aus der Entfernung kann ich die Kratzer an seinen Händen und Wangen sehen, die roten Lidränder seiner blassblauen Augen. Eine Windbö fegt über den Hof. Er verschränkt die Arme vor der Brust, zieht die Schultern hoch und lächelt, als wäre der Tag zu schön, um wahr zu sein. Er ist fast noch ein Junge.

Guten Morgen – er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr –, oder besser gesagt, guten Tag.

Ich stehe da und halte das Gewehr so fest umklammert wie die Hand einer guten alten Freundin. Ich kenne den Mann nicht, aber er ist zu jung, um einer der Landvermesser zu sein, die manchmal bei uns auftauchen und kontrollieren, ob wir irgendwelche Zufahrtsstraßen blockieren. Er ist auch keiner dieser Glücksritter aus der Ölbranche, die auf freundlich machen und versuchen, uns zum Verkauf zu überreden. Für einen Hilfssheriff ist er auch zu jung. Im selben Moment fällt mir ein, dass ich gar nicht weiß, ob Aimee den Sheriff benachrichtigt hat.

Was kann ich für Sie tun?, frage ich.

Sie müssen Mrs Whitehead sein. Eine schöne Ranch haben Sie hier.

Ist ganz in Ordnung hier draußen. Ein bisschen staubig, sage ich mit fester Stimme. Ich frage mich, woher er meinen Namen kennt.

Er schmunzelt, was einfältig und irgendwie arrogant aussieht. Tja, so ist das wohl, sagt er. Für unsereins ist das aber von Vorteil. Es bohrt sich leichter, wenn Mutter Natur schön trocken ist.

Er stößt sich von der Motorhaube ab, hebt die Hände und tritt einen Schritt vor. Sein Lächeln ist so unbeweglich wie die Nadel hinter dem gesprungenen Glas einer kaputten Küchenwaage.

Hören Sie, Ma’am, ich hatte heute Morgen ein bisschen Ärger. Und jetzt frage ich mich, ob Sie mir vielleicht helfen können?

Er schlurft auf die Veranda zu, seine Stiefel schieben sich durch den Staub. Als ich den Kopf hebe, reckt er die Arme hoch. Das Baby tritt mich in die Rippen, ich lege mir eine Hand an den Bauch und wünsche mir, ich könnte mich hinsetzen. Vor zwei Tagen habe ich auf einen Kojoten geschossen, der um den Hühnerstall herumgeschlichen ist. Ich habe angelegt, gezielt und danebengeschossen, und im selben Moment habe ich Aimee wegen eines Skorpions schreien hören. Ich habe das Gewehr hingelegt und bin losgelaufen, um eine Schaufel zu holen. Und jetzt weiß ich nicht mehr, ob ich nachgeladen habe. Die Alte Lady ist eine Winchester 1873 – in den Augen meiner Großmutter das beste Gewehr, das je produziert wurde. Ich streiche mit dem Daumen über den glatten Holzkolben, wie um es zu fragen: Ja oder nein?

Was wollen Sie, junger Mann?, rufe ich, obwohl er eigentlich noch kein Mann ist.

Er steht ganz entspannt in der Sonne, aber seine Augen sind zusammengekniffen. Also, ich habe großen Durst, außerdem würde ich gern Ihr Telefon benutzen, weil …

Er tritt einen weiteren Schritt vor, sieht die Alte Lady und bleibt abrupt stehen. Er kann nicht wissen, dass sie möglicherweise nicht geladen ist. Ich tippe mit dem Lauf gegen das Holzgeländer. Ein, zwei, drei Mal, und er legt den Kopf schief und lauscht.

Mrs Whitehead, ist Ihr Mann zu Hause?

Ja, natürlich. Er schläft.

Sein Lächeln wird breiter. Ein Rancher, der mitten am Tag schläft?

Es ist halb zwölf, lache ich, aber meine Stimme ist so bitter wie Wacholder. Ich klinge verunsichert und furchtbar allein.

Er kichert schrill, mein Magen krampft sich zusammen. Sein Kichern ist wie ein Stich.

Du lieber Gott, Mrs Whitehead, dann hat Ihr Mann gestern Abend wohl auch einen über den Durst getrunken?

Nein.

Ist er krank? Zu viele Pralinen am Valentinstag?

Er ist nicht krank. Ich lege mir eine Hand an den Bauch und denke: Ruhig, kleines Baby, nicht so wild. Wie kann ich Ihnen helfen?

Wie gesagt, ich hatte Ärger. Meine Freundin und ich sind gestern Abend hier rausgefahren, um ein bisschen zu feiern. Sie wissen ja, wie das ist …

Ja, sage ich, und streiche mir über den Bauch.

… also, wir haben zu viel getrunken, und dann hatten wir einen kleinen Streit. Vielleicht hat ihr die Pralinenschachtel in Herzform nicht gefallen, die ich ihr gekauft habe, außerdem könnte es auch sein, dass ich irgendwann eingeschlafen bin …

Tatsächlich.

Ja, man könnte also sagen, dass ich ausgerechnet am Valentinstag einen Aussetzer hatte. Ich sollte mich was schämen, hm?

Ich höre ihn reden und klammere mich an dem alten Gewehr fest wie eine Ertrinkende. Es fühlt sich an, als würde mir jemand von hinten die Hände um den Hals legen und ganz langsam zudrücken. In der Ferne sehe ich ein kirschrotes Auto über den Highway rasen. Es ist kaum eine Meile entfernt, aber von der Veranda sieht es aus, als flöge es über den Wüstensand. Bitte, komm her, denke ich, als der Wagen sich der Abzweigung zur Ranch nähert. Mein Hals schmerzt. Das Auto scheint langsamer zu werden, ein Stocken am Horizont, aber dann rast es weiter.

Der junge Mann ist immer noch dabei, mir seine kleine Geschichte zu erzählen. Er lächelt, sein blondes Haar schimmert im Sonnenlicht. Er ist keine drei Schritte mehr von mir entfernt. Falls das Gewehr geladen ist, kann ich ihn nicht verfehlen.

Als ich heute Morgen aufgewacht bin, sagt er, war sie schon über alle Berge. Jetzt mache ich mir natürlich Sorgen, sie könnte sich hier draußen auf den Ölfeldern verirrt haben. Das ist doch kein Ort für ein junges Mädchen, das wissen Sie doch selbst.

Ich sage kein Wort. Ich höre zu, und da ist nichts als seine Stimme.

Wäre doch schlimm, wenn ihr hier draußen was zustößt, oder? Wenn sie auf eine Klapperschlange tritt oder irgendeinem Spinner begegnet. Haben Sie meine Gloria gesehen? Er streckt einen Arm zur Seite, mit nach unten gekehrter Handfläche. Eine kleine Mexikanerin, ungefähr so groß?

Meine Kehle ist wie zugeschnürt, ich schlucke tapfer, versuche, den Blickkontakt zu halten. Nein, die haben wir hier nicht gesehen. Vielleicht ist sie per Anhalter in die Stadt zurückgefahren?

Darf ich reinkommen und kurz telefonieren?

Ich schüttele langsam den Kopf. Nein.

Er tut überrascht. Nein? Warum nicht?

Weil ich Sie nicht kenne, sage ich und versuche, mir die Lüge nicht anmerken zu lassen. Denn ich kenne ihn, ich weiß, was er getan hat.

Mrs Whitehead, hören Sie …

Woher wissen Sie meinen Namen? Meine Stimme klingt schrill, meine Hand spürt den Babyfuß, der sich von innen gegen meine Rippen stemmt.

Der junge Mann wirkt verwundert. Na ja, Ihr Name steht dahinten auf dem Briefkasten, Ma’am. Hören Sie … Was passiert ist, tut mir wirklich leid, aber ich mache mir große Sorgen um sie. Sie ist ein bisschen durchgeknallt – Sie wissen ja, wie diese kleinen Mexikanerinnen sind. Er sieht mich eindringlich an, seine Augen sind fast so hellblau wie der Himmel. Wenn Sie sie gesehen haben, müssen Sie es mir sagen.

Und da verstummt er, späht sekundenlang an mir vorbei zum Haus und verzieht den Mund zu einem breiten Grinsen. Ich frage mich, ob meine Tochter am Fenster steht, und neben ihr das fremde Mädchen mit den schwarzvioletten Augen und den aufgeplatzten Lippen. Ich weiß nicht, ob ich ihn im Auge behalten oder mich umdrehen soll. Ich möchte sehen, was er sieht, und wissen, was er weiß. Wir rühren uns nicht, ich und mein möglicherweise geladenes Gewehr. Ich warte.

Gehen Sie zurück zum Auto, höre ich mich nach einer gefühlten Ewigkeit sagen. Stellen Sie sich an die Ladeklappe.

Er bewegt sich nicht von der Stelle. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich einen Schluck Wasser brauche.

Nein.

Er blickt in den Himmel und verschränkt die Hände hinter dem Kopf. Er beginnt zu pfeifen, die Melodie kommt mir bekannt vor, aber mir fällt das Lied nicht ein. Er redet weiter, und auf einmal klingt er wie ein Mann, nicht mehr wie ein Junge.

Sie soll rauskommen, okay?

Ich weiß nicht, was Sie meinen. Warum fahren Sie nicht zurück in die Stadt?

Sie gehen jetzt ins Haus, Mrs Whitehead, und holen meine Freundin. Wecken Sie Ihren Mann nicht, weil der ja oben liegt und schläft. Außer dass er gar nicht da ist, oder?

Es ist keine Frage, und plötzlich habe ich Roberts Gesicht vor Augen. Das hast du getan, Mary Rose? Für eine Fremde? Du hast unsere Tochter, unser ungeborenes Baby und dich selbst in Gefahr gebracht, um einer Fremden zu helfen? Was zur Hölle stimmt nicht mit dir?

Und er hat völlig recht. Was bedeutet mir dieses fremde Mädchen? Vielleicht ist sie freiwillig in seinen Pick-up eingestiegen. Vor zehn Jahren hätte ich vielleicht das Gleiche getan, hätte ein so gut aussehender junger Mann mich dazu eingeladen.

Lady, ich kenne Sie nicht, sagt er. Und Sie kennen weder mich noch Gloria. Wenn Sie jetzt bitte so nett sein würden, das Gewehr wegzulegen und sie rauszuholen?

Dass ich weine, merke ich erst, als ich die nassen Tränen auf meinen Wangen spüre. Auf einmal fühlt das Gewehr sich an wie ein hübsch geschnitztes, aber nutzloses Stück Holz. Warum sollte ich nicht tun, was er sagt? Was bedeutet sie mir? Sie ist nicht mein Kind. Aimee bedeutet mir etwas, und das boxende, strampelnde Baby. Die beiden gehören zu mir, diese Gloria nicht.

Der Mann redet weiter, er hat jetzt keine Lust mehr auf Fragen oder Appelle. Du Schlampe, sagt er, jetzt hör mal gut zu …

Ich versuche, irgendwas anderes zu hören als seine Stimme – ein Telefonklingeln im Haus, einen Truck auf der Schotterstraße, selbst über den Wind würde ich mich freuen, aber anscheinend ist die platte, einsame Landschaft verstummt. Ich höre nichts als seine dröhnende Stimme. Hörst du mir zu, du blöde Schlampe? Hörst du mich?

Ich schüttele langsam den Kopf. Nein, ich höre nichts. Ich hebe mir das Gewehr in einer flüssigen, vertrauten Bewegung an die Schulter, der Lauf fühlt sich bleischwer an. Ich bin so schwach wie eine alte Frau. Vielleicht ist die Waffe geladen, vielleicht auch nicht, aber ich ziele trotzdem auf sein hübsches, sonnengebräuntes Gesicht, denn er weiß genauso wenig wie ich.

Ich habe keine Worte mehr. Ich entsichere das Gewehr mit dem Daumen und nehme ihn ins Visier. Alles zerfließt in Tränen und in der traurigen Erkenntnis, dass mein Widerstand gebrochen ist. Denn wenn er noch ein Mal fragt, werde ich antworten: Tja, Mister, dann kommen Sie rein. Wenn es um meine Tochter ginge, würde ich keinen Zoll von der Stelle weichen, selbst wenn es mich das Leben kostet. Aber Gloria? Die können Sie haben.

In derselben Sekunde hören wir die Sirenen. Er dreht sich um, ich hebe den Kopf. Wir sehen, wie ein Polizeiauto über die Schotterstraße rast, dicht gefolgt von einem Krankenwagen. Mit dem Staub, den sie aufwirbeln, könnte man eine ganze Rinderherde ersticken. Kurz hinter dem Briefkasten verreißt der Fahrer das Lenkrad, der Krankenwagen rutscht von der Straße, durchbricht den Stacheldrahtzaun und schlittert in den Schwarm aus Kanadakranichen, die kreischend in die Höhe flattern. Sie stieben unter lautem Gezeter davon, eine Wolke aus Lärm und dünnen Beinen.

Für paar Sekunden ist der junge Mann so starr wie ein erschreckter Präriehase, dann lässt er die Schultern hängen und reibt sich über die geschlossenen Augen. Scheiße, sagt er, mein Vater wird mich umbringen.

Bis meine Tochter alt genug ist, die Wahrheit zu hören, werden noch viele Jahre vergehen, aber wenn es so weit ist, werde ich ihr erzählen, was ich als Letztes sah, bevor ich mich gegen den Türrahmen sinken ließ und dort auf der Veranda in Ohnmacht fiel. Zwei Mädchen hinter dem Küchenfenster, beide mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen, und eins davon war meine Tochter.

Corrine

Ein blutrünstiger kleiner Scheißkerl, dieser dürre Streuner mit den gelbgrünen Augen und den dicken Eiern. Irgendwer muss ihn Ende Dezember in den Müllcontainer hinter dem Haus der Shepards geworfen haben – wahrscheinlich ein missglücktes Weihnachtsgeschenk, so was ist immer eine schlechte Idee, hatte Corrine zu Potter gesagt –, und seither ist in der Nachbarschaft kein Tier mehr sicher. Die Singvögel sind zu Dutzenden verschwunden. Finken, die Kaktuszaunkönige, die unter dem Gartenschuppen genistet haben, Spatzen und Fledermäuse in unbekannter Zahl, einmal sogar eine große Spottdrossel. In den vergangenen vier Monaten hat der Streuner sein Gewicht verdoppelt, sein Fell glänzt wie eine hellgelbe Chrysantheme.

Corrine kniet vor der Toilette und hört ein kleines Tier im Garten schreien. Vögel kreischen und schlagen die Flügel auf den Boden, Strumpfbandnattern und Schwarznattern sterben lautlos; die leichten Körper hinterlassen auf der harten Erde von Corrines leeren Blumenbeeten kaum Spuren. Der Schrei scheint von einer Maus oder einem Eichhörnchen zu stammen, vielleicht auch von einem jungen Präriehund. Viehzeugs, hat Potter immer dazu gesagt. Corrine spürt einen Kloß im Hals.

Sie hält sich mit der Hand das dünne braune Haar aus dem Gesicht, würgt den letzten Rest heraus, lässt sich zurücksinken und legt die Wange an die kalte Badezimmerwand. Das Tier schreit ein letztes Mal, dann wird alles still. Corrine versucht, sich an den vergangenen Abend zu erinnern. Hatte sie fünf Drinks oder sechs? Was hat sie gesagt, und zu wem?

Der Deckenventilator rattert leise, der fleischige Gestank nach gesalzenen Erdnüssen und Scotch zieht zum Fenster hinaus. Corrine hat vom heftigen Würgen Tränen in den Augen, außerdem wirkt die kahle Stelle oben auf ihrem Kopf größer als sonst. Nicht, dass Corrines Rausch vom Vorabend etwas damit zu tun hätte, aber dennoch – sie macht Inventur und übersieht nichts. Nicht mal den kleinen Fetzen Klopapier an ihrem Kinn. Sie schnippt ihn in die Toilettenschüssel, klappt den Deckel herunter, stützt die Stirn an das kühle Porzellan und hört zu, wie der Spülkasten sich füllt.

Wie ein Schluck Wasser in der Kurve, hätte Potter jetzt gesagt. Und dann hätte er ihr eine Bloody Mary mit extra viel scharfer Sauce gemixt und ihr ein paar Eier mit Speck gebraten. Er hätte ihr ein Stück Toast gereicht, um das letzte Fett vom Teller zu wischen. Da bist du ja wieder, hätte er gesagt. Du solltest dich beim nächsten Mal ein bisschen zurückhalten, Schatz. Potter ist vor sechs Wochen gestorben – in Glanz und Gloria! –, aber an diesem Morgen kann sie seine Stimme so deutlich hören, als stünde er in der Badezimmertür. Dasselbe schiefe Lächeln, dieselbe gutmütige, zuversichtliche Art.