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Monika Rincks Lichtenberg-Poetikvorlesungen von 2019. Wirksame Fiktionen ist der Titel der Lichtenberg-Poetikvorlesungen, die Monika Rinck im Januar 2019 in Göttingen gehalten hat. Jetzt erscheinen die Vorlesungen in einer überarbeiteten Form. Darin widmet sich die Dichterin und Essayistin Übergängen in vielerlei Gestalt. Es geht um Türen, Schwellen - und Grenzen, zwischen Fiction und Non-Fiction, zwischen Sprachkunst und Sprache, zwischen Genres, Ländern und Menschen, zwischen dem Material und seiner Verwendung. Entlang einiger Gedichte von Christa Reinig, Julian Talamantez Brolaski, Ann Cotten, Wendy Trevino, Elke Erb und zuletzt auch ihr selbst, untersucht Monika Rinck, was passiert, wenn Wirklichkeit als Material von Dichtung verwendet wird. Die Fahrt führt an Grenzen, in Wälder jenseits der Plantagen, in öffentliche Bibliotheken und auf das ganz reale Wirkungsfeld starker Fiktionen. Wie widerlege ich ein Gedicht? Wie halte ich die Räume offen? Inwiefern kann die Beschäftigung mit Gedichten und ihrer Deutung eine Offenheit lehren, die nicht in Gleichgültigkeit abgleitet? Wie realistisch ist das Gedicht, zu Ende gedacht? Hat es etwas zu sagen?
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Seitenzahl: 119
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Monika Rinck
Wirksame Fiktionen
Wallstein Verlag
Titel
Wirksame Fiktionen
Anmerkungen
Über Lyrik zwischen Fiktion und Non-Fiction
Der Mensch ist vielleicht halb Geist und halb Materie, so wie der Polype halb Pflanze und halb Tier. Auf der Grenze liegen immer die seltsamsten Geschöpfe.
Georg Christoph Lichtenberg
WIRKSAME FIKTIONEN – so habe ich im letzten Jahr diese Vorlesung betitelt. Jetzt, nachdem ich sie geschrieben habe, würde ich ihr vielleicht einen anderen Titel geben. Damals hatte ich nur eine leise Ahnung davon, womit ich mich (und damit auch Sie) in diesen Stunden am 30. und 31. Januar 2019 in Göttingen beschäftigen werde, und fügte dennoch mit sicherer Hand einen Untertitel hinzu: »Eine Vorlesung über Lyrik zwischen Fiktion und Non-Fiction«.
Ich denke schon seit einiger Zeit darüber nach, wie sich die Unterscheidung von Fiktion und Non-Fiction zum Gedicht verhält, ob sie überhaupt zutrifft auf die Gattung Lyrik und die Gedichte der Gegenwart, die mich begeistern. Und sie begeistern mich aufgrund ihres Realismus, ihrer Erkenntnishaltigkeit, ihrer Schönheit und Tapferkeit, ihrer überraschenden Einfälle, ihrer blitzartigen Figuren, ihres Witzes, der Treue zu den Brüchen, die in ihnen abgebildet sind, ihrer Nähe zu den kaum mitdenkbaren Strukturen des Denkens, ihrer meta-mimetischen Nachbildung meiner nervösen Wahrnehmung, sie sind mir, mit einem Begriff, den ich dem Anthropologen Michael Taussig entlehne: Schreibweisen des Nervensystems. Doch auch damit lassen sich ihre Eigenschaften nicht restlos fassen, ich lese sie ihrer Radikalität wegen, ihrer Freundlichkeit, der plötzlichen Wendung wegen, mit der sie das tun, was sie sagen. Mit einer wichtigen Eingrenzung: Ich habe diese Ausführungen auch deswegen an den Anfang gestellt, um darauf hinzuweisen, dass ich nur über Gedichte schreibe, die mir gefallen – und an dieser höchst persönlichen, idiosynkratischen Auswahl meine Gedanken entwickele. Ich schreibe nicht über Lyrik als Gattung im Ganzen, doch einstweilen sei mir die Verwendung des zusammenraffenden Begriffs Lyrik dennoch gestattet, also, wenn Sie erlauben: Lyrik zwischen Fiktion und Non-Fiction.
Hier muss ich gleich wieder innehalten. Das englische Wort »fiction« ist nicht identisch mit dem deutschen Wort: Fiktion. Identisch ist es sowieso nicht, stammt es ja aus einer anderen Sprache. Die beiden Wörter entsprechen einander nur am Rande. Eher müsste man »fiction« mit Belletristik übersetzen, oder sogar mit Dichtung. Ja, »fiction« kann auch Fiktion heißen (d. h. etwas Erdachtes, eine falsche Annahme), aber nicht in erster Linie. Und für »Non-Fiction« halten wir zunächst das deutsche Sachbuch bereit. Wobei das eine Reportage sein kann, eine philosophische Abhandlung, ein Essayband, ein Reisebericht, die Autobiografie, Fachliteratur aus den unterschiedlichsten Disziplinen, oft auch poetologische Schriften, Erlebnisberichte, Leben mit Tieren, Entzugs- und Drogenerfahrungen, Tokyo Interieurs, Ayurvedische Kochbücher. Zuweilen begegnen auch Mischbegriffe wie »Doku-Fiction«, »New Journalism«, »faketionales Erzählen«[1] oder »Non-Fiction-Novel« – das Hereinstreunen freilaufender und wilder Fiktionalisierungsverfahren in faktuale Erzählungen. Das sind wohl Verfransungen an den Grenzen der Gattungen. Es könnten aber auch zentrale sein, Verfransungen inmitten des Geschehens, nicht nur an seinem Rand.
Daneben gibt es einen weiteren Unterschied, und das ist der zwischen »fiktiv« und »fiktional«. Fiktiv ist, was sich in der fiktionalen Welt befindet, lautet eine einfache Definition. In beiden Fällen gilt: Sie ist etwas anderes als die Wirklichkeit, die aber wiederum Stoff der Fiktion ist. Ja, ich weiß, dass die Bücher überfällig sind, ich bringe sie gleich morgen zurück, den ganzen Stapel.
Und wir müssen weitere Unterscheidungen machen, auch innerhalb der Dichtung. Womöglich spreche ich, wenn ich vom Gedicht spreche, nicht von Balladen, wobei: von der »Ballade vom blutigen Bomme« von Christa Reinig zum Beispiel würde es sich zu sprechen schon lohnen.[2] Einige kluge Leute haben sich damit befasst, ob Reinigs Kunstfigur Bomme eine Stilisierung des Räuberhauptmanns Gladow oder eine Personifizierung der Gladow-Bande insgesamt darstellt, die während der Zeit der Berliner Blockade Ost- und West-Berlin in Atem hielt (so Reinhard Döhl)[3] –, mit ihrem Anführer Werner Gladow, der mit 19 Jahren 1950 in Frankfurt an der Oder zum Tode durch das Fallbeil verurteilt wird, wobei ihm im Zusammenhang mit der Verkündung seines Urteils der Ausspruch zugeschrieben wird: »Wissen Sie, Herr Richter, die dreifache Todesstrafe, einmal lass ich mir das ja gefallen, die Birne abhauen, aber det andere beede Mal würde ich sagen, dat is Leichenschändung.«[4] Wie habe ich die dreifache Todesstrafe zu verstehen? Wie oft wollt ihr ihm das Leben nehmen? Wird das erste Mal in der Wirklichkeit und das zweite Mal in der fiktionalen Welt der Strafgerechtigkeit geköpft? Die ist doch, kann man sagen, nicht fiktiv; sie bewirkt.
Auf der dem »blutigen Bomme« gegenüberliegenden Seite in meiner violetten Ausgabe der »Sämtlichen Gedichte« von Christa Reinig finde ich ein anderes Gedicht, mit dem Titel »AUSWEG«, und mit einem Mal erinnere ich mich wieder an alles, an die Straßen im Zweibrücker Röntgenviertel, an den Geruch im Treppenhaus, die Agave neben der Haustür, an den Bauplatz gegenüber, den es inzwischen nicht mehr gibt, weil er seit Jahren mit einem sehr ausladenden Einfamilienhaus bebaut ist, wo und wie bei uns die Möbel standen, die Teppiche lagen, in der Beringstraße, an das Fenster, die Nachbarn, den Hund der Nachbarn, das Zimmer, den Winter, als einmal alles, wirklich alles in dickes Eis gehüllt war, selbst der Schnee. Ich erinnere mich an die Zettel und Bilder an der Wand, die Bücher in meinen Regalen aus gestapelten Weinkisten, die Unsicherheit und Verpeiltheit, den Selbsthass und die starke Stimme der guten Gedichte. Ja, vor allem erinnere ich mich daran, dass ich es einmal auswendig konnte, und es kommt sogleich zurück. Hier ist es.
AUSWEG
das was zu schreiben ist mit klarer schrift zu schreiben
dann löcher hauchen in gefrorene fensterscheiben
dann bücher und papiere in ein schubfach schließen
dann eine katze füttern eine blume gießen
und ganz tief drin sein – und den sinn erfassen:
zieh deinen mantel an du sollst das haus verlassen[5]
»zieh deinen mantel an du sollst das haus verlassen«. Dieses Gedicht kann ich nicht widerlegen, indem ich einfach ohne Mantel aus dem Haus gehe. Sie alle könnten sich entschließen, das Haus gemeinsam ohne Mantel zu verlassen und das Gedicht wäre damit immer noch nicht widerlegt. Aber so funktioniert das doch nicht, werden Sie einwenden. Sie seien doch gar nicht gemeint. Was lässt Sie da so sicher sein?
Gleich zu Anfang ihres Buches »Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur« schließt Ruth Klüger, im Vorwort schon, die Lyrik von ihrer Untersuchung aus, denn die in ihrer Publikation gesammelten Arbeiten seien alle »dort angesiedelt, wo Lebens- und Leseerfahrung sich überschneiden. Das ist zwar eine weitverbreitete und vielgelesene Sparte der Literatur, aber keineswegs die einzige. Es gibt ja Esoterik, Mystik, Sprachexperimente, besonders in der Lyrik, wo es mehr um Form als um Inhalte geht, Phantasien, die aus der Wirklichkeit ausscheren wollen, Gedichte, die uns durch ihre Musikalität bezaubern und dann noch jede Menge erzählender Literatur, die mit Erotik und mit intimen Familienstrukturen zu tun hat.«[6] Aber geht es in der Gegenwartslyrik wirklich mehr um Form als um Inhalte – und lassen sich diese beiden Qualitäten so schroff gegenüberstellen? Ist es wirklich die Form, die verhindert, dass sich Lebens- und Leseerfahrung überschneiden? Ließe sich nicht genauso behaupten, dass gerade die bewusste Setzung einer poetischen Form dazu in der Lage ist, Wirklichkeit auf ernste und reelle Weise sprachlich zu repräsentieren. Der Lyrikband als Sachbuch? Öffnet die Märkte!
Die aristotelische Annahme besagt: Sprache ist schöpferisch, wenn sie in den Dienst der Fiktion tritt. Die Kreativität zeigt sich in der Fabel, nicht im Vers. Moment, hab ich gestern vergessen, das hier auszuradieren, oder kommen nachts, während ich schlafe, Drittsemester in meine Wohnung und tragen in den von mir entliehenen Büchern ihre Unterstreichungen, die ich tagsüber so sorgfältig ausradiert habe, erneut ein? Und dann immer wieder? Ich bin mir ziemlich sicher, dass dies so ist, das würde auch den schlechten Schlaf der letzten Nacht erklären, ach was, seit Tagen schon, meine halsstarrige Schreckhaftigkeit, den abstrakten, fast quadratischen Albdruck. Danach verschließen sie die Tür von innen und werfen sich lautlos die Treppe hinab. Das ist das Gegenteil dessen, was Jakobson mit der poetischen Sprachfunktion verbindet: denn sie akzentuiert den Text gerade in seiner sprachlichen Form. Da das Gegenteil der Fiktion, so verstanden, nicht einfach alles andere sein kann, und auch Nicht-Fiktion (Non-Fiction), nach Genette, dem französischen Literaturwissenschaftler und Erzähltheoretiker, nicht das zu treffen scheint, was die poetische Perspektive auf die Sprachkunst in das Zentrum setzt, schlägt er den Begriff der »Diktion« vor. »Fiktionsliteratur ist die, die wesentlich durch den imaginären Charakter ihrer Gegenstände gekennzeichnet ist, während Diktionsliteratur wesentlich durch ihre formalen Qualitäten beeindruckt – wieder ungeachtet der Amalgame und Mischformen.«[7] Damit ist allerdings über den wirklichkeitsnahen oder fernen Status der Gedichte noch keine Klarheit erlangt.
Nochmals: Es geht mir darum, ob Gedichtbände zu den Neuerscheinungen auf das Non-Fiction-Regal gestellt werden sollen, wie es übrigens in der Public Library in Los Angeles schon heute gehandhabt wird. Sechs Millionen Bände, Ausleihfrist drei Monate, die Benutzung ist kostenlos für alle Bürger und Bürgerinnen Kaliforniens, die Bibliothek hat derzeit 828 Angestellte. Sie wurde 1926 erbaut, der Architekt war Bertram Goodhue, es ist ein großes, schweres festungsähnliches Gebäude, das in den letzten Jahrzehnten um neue Trakte erweitert wurde. Es hat acht Stockwerke, ist also vergleichsweise flach, umgeben von viel höher aufgeschossenen gleichförmigen Bürogebäuden mit spiegelnden und etwas aus der Mode geratenen Fassaden, und einer Gartenanlage, in der viele arme Menschen unter dem Blick bewaffneter Sicherheitskräfte in der kalifornischen Sonne sitzen.
»Einer der wenigen Orte, an denen Obdachlose willkommen sind, wo sie Zugang zu Computern und dem Internet bekommen und ihnen erlaubt wird, den ganzen Tag zu verweilen, ist eine Öffentliche Bücherei«, schreibt Susan Orlean in ihrem Buch mit dem naheliegenden Titel: »The Library Book«, zu Deutsch, »Das Büchereibuch«. »Libraries have become a de facto community center for the homeless across the globe.«[8] Büchereien wurden weltweit zu einer Begegnungs- und Hilfsstätte für obdachlose Menschen. Ja, eine Bücherei bleibe eine Bücherei, aber, so John Szabo, City Librarian of Los Angeles, »the homeless are already here«, und in Los Angeles sind (nach jüngsten Zahlen) 60.000 Menschen obdachlos, hinzu kommen 15.000 Leute, die in ihren Autos leben. Also koordiniert der Bibliothekar die städtischen Angebote, bietet Veranstaltungen an und trifft sich regelmäßig mit Alisa Orduña, Senior Advisor on Homelessness der Stadt Los Angeles, beispielsweise um zu besprechen, was es bedeutet, wenn eine neue Stadtverordnung die Größe der Objekte, die auf Bürgersteigen erlaubt sind, begrenzt, um die Errichtung provisorischer Unterkünfte aus Koffern, Zelten, Einkaufswägen zu erschweren. Ob es womöglich irgendwo in der Bibliothek noch Stauraum gebe, um den Leuten einen Ort zu bieten, an dem sie tagsüber ihr Eigentum deponieren können. Es gelte weiterhin die erste Regel: Eine öffentliche Bibliothek muss für alle geöffnet sein. Die Anwesenheit vieler obdachloser Menschen verändert freilich die Atmosphäre in der Bibliothek, man könnte sagen: sie wird realistischer. Das zeigt sich auch in der Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin-Kreuzberg.
Am 29. April 1986 (meinem 17. Geburtstag) wurde in der Los Angeles Public Library vormittags, um 10 Uhr 52, ein Feueralarm ausgelöst, der so lange für einen der nicht seltenen Fehlalarme gehalten wurde, bis Feuerwehrmänner um 11 Uhr 11 im Fiction Department (ausgerechnet dort!) Rauch entdeckten. »The Fire flashed through Fiction, consuming as it travelled. It reached for the cookbooks.« »Das Feuer flackerte durch die Belletristik, auf seinem zerstörerischen Weg. Es griff nach den Kochbüchern.« 7 Stunden und 38 Minuten dauerte es, bis das Feuer gelöscht werden konnte, es sei farblos gewesen, durchsichtig wie Glas und sehr, sehr heiß. »When they entered the building immediately after the fire, they felt like they’d died and gone to see if Dante knew what he was writing about.«[9] »Als die Bibliothekarinnen direkt nach dem Feuer das Gebäude wieder betraten, kamen sie sich vor, als seien sie bereits gestorben und wollten nun einmal nachsehen, ob Dante wusste, worüber er schrieb.« Das ist natürlich ein hoher Preis, um den Realitätsgehalt der »Göttlichen Komödie« zu prüfen. Es verbrannten 400.000 Bücher, und noch einmal so viele erlitten Wasserschäden. Die entliehenen Bücher indes waren in Sicherheit. Wo liegen die denn bei dir? Bei mir liegen sie da, wo all jene liegen, die mir nicht gehören.
Bald nach dem Feuer herrschte Einigkeit darüber, dass es sich um Brandstiftung gehandelt haben musste, und mit Harry Peak, einem auffällig blonden, arbeitslosen und aufmerksamkeitssüchtigen Schauspieler war schnell ein Verdächtiger gefunden. Er verwirrte die Behörden durch einen ganzen Strauß einander widersprechender Aussagen. Ich zitiere: »Er war da, er war nicht da. Er war vertraut mit der Bücherei; er hatte sie niemals in seinem Leben besucht. Er roch an dem betreffenden Tag nach Rauch, er roch nach gar nichts.« Das einzige, was außer Frage stand: Harry fabulierte gerne. »›He finds it difficult to give a straight answer,‹ one friend told investigators. ›He doesn’t know the difference between fabrication and truth.‹« Schlimmer als seine nicht einmal von ihm selbst kontrollierbaren Lügen, war, dass er es offenbar nicht über sich brachte, einfach eine einzige Lüge auszuwählen und bei ihr zu bleiben. Sieben Alibis! Und zwar sieben verschiedene Alibis: »a continuous coil of untruths, each contradicting«. Dazu gehörten folgende Geschichten: Er habe sich im Gebäude befunden und sei im letzten Moment von einem gutaussehenden Feuerwehrmann herausgetragen worden, er habe das Feuer von außen beobachtet, er sei mit dem Auto an dem Feuer vorbeigefahren, er habe sich in Santa Fe befunden, und er habe in der Zeit mit einigen Geistlichen der American Orthodox Church im French Quarter gefrühstückt. Reverend Smith sagte: »Everyone who knew Harry had laughed when investigators said he gave conflicting accounts of his whereabouts. You had to know Harry, Harry always gives conflicting stories.«[10] So war er eben, Harry erzählt immer widersprüchliche Geschichten.
Mehrere Gleichzeitigkeiten – die indirekte Darstellung von allem. Woran erinnert das? An verwirrte Zeugen, an unentschiedenen Realitätsverlust durch Vervielfachung der gültigen Version, an einen starken Möglichkeitssinn, gedächtnisschwache Prosaautoren, perspektivische Ontologien, den Einsatz einer Zeitmaschine, die multiple Zukünfte hervorbringt, notorisches Lügen – und: die Verfahrensweisen des Traums, von denen Freud in seiner »Traumdeutung« berichtet. Das sind in erster Linie Metonymie und Metapher, Verschiebung und Verdichtung – die Begriffe sind rhetorische, sie sind den tropischen Bauformen der Sprache entlehnt. Diese Mechanismen richten die Verwirrung an, die der Analysand mithilfe eines Analytikers im Dienste seiner psychischen Genesung ausdeuten soll. Die Sache ist nicht festgelegt, es gibt keine einfachen Entsprechungen, wie es in den eher fragwürdigen Nachschlagewerken wie dem »Lexikon der Traumsymbole« nahegelegt wird.[11] Die Mehrdeutigkeit ist eine fortwährende Herausforderung an den Träumer. Das Material kann der Deutung dabei so weit und so oft entgegenspringen, dass letztere zu widersprüchlichen Einsichten kommt, die dann, auf einer anderen Ebene, gemeinsam erneut auszudeuten wären. Widersprüchlichkeit ist nicht das Ende der Deutung, sondern ihr Neubeginn.