Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Kriminalist und meistgesuchte Privatdetektiv der Vereinigten Staaten, Oliver Murphy, rollt den Fall um das mysteriöse Verschwinden des Ingeneurs Carl Ermelunds auf. Zu Beginn befinden wir uns mitten auf der Zeugenbank eines Gerichtssaals und das Wiederaufnahmeverfahren nimmt seinen Lauf: Doch wer ahnt, welchen Stein das Wiederaufwühlen dieser 'verdammten Geschichte' ins Rollen brigt? Plötzlich ändert die Kulisse sich, der Gerichtssaal verblasst und wechselt über zu unbeantworteten Fragen, wogenden Wellen, stürmischen Nächten an Bord eines Schiffs – Wo blieb Carl Ermelund wirklich? Wird es Oliver Murphy gelingen, nach fünfzig Jahren Licht ins Dunkel zu bringen und das Rätsel endlich zu lösen? Vielerlei Kräfte stellen sich ihm in den Weg auf der Suche nach dem, was damals wirklich geschah.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 269
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Roman eines seltsamen Geschehens
Saga
Heute findet die Verhandlung gegen den Reeder Sophus Wesenberg statt.
Mr. Oliver Murphy, der kleine, wohlbeleibte Herr, der so gar nicht aussieht wie ein Kriminalist und der doch — oder vielleicht gerade deshalb — einer der gesuchtesten Privatdetektive in den Vereinigten Staaten ist, sieht sich triumphierend um, als er auf der Zeugenbank des Gerichts Platz genommen hat. Es war kein leichtes Stück, das Wiederaufnahmeverfahren im Falle Wesenberg durchzudrücken. Schweden ist nicht Amerika, Göteborg beileibe nicht ein zweites Neuyork. Außerdem aber lag die ganze Sache nun schon fünf Jahre zurück. Nein, es sah wirklich zunächst hoffnungslos aus, aber gerade darum hat die Aufgabe Oliver Murphy gereizt. Die schwedischen Behörden waren auch nicht sonderlich willig, diese alte Geschichte, die schon einmal mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen geendet hatte, abermals aufzuwühlen. Mister Murphy hat seine Zuflucht zu amerikanischen Mitteln nehmen müssen. Die Bearbeitung der Presse hat viel Zeit, Mühe und vor allem Takt verlangt. Aber sie ist geglückt. Seit vier Wochen erscheinen in einigen Zeitungen Malmös und Göteborgs, ja selbst in Stockholmer Blättern Artikel, die, von Oliver Murphy inspiriert, sich wieder mit dem seltsamen Verschwinden des Ingenieurs Carl Ermelund beschäftigen. Hier und da sind sogar versteckte Angriffe auf die Behörden herausgekommen, die damals im Falle Ermelund so kläglich versagt haben sollen. Auch der Name des Reeders Wesenberg ist natürlich aufgetaucht, und nun ist es endlich so weit: Das Gericht hat nach Prüfung des neuen, von Oliver Murphy zusammengetragenen Beweismaterials der Wiederaufnahme des Prozesses stattgegeben.
Oliver Murphy hat allen Grund, zufrieden zu sein, und diese selbstbewußte Zufriedenheit spiegelt sich auch deutlich in seinem Gesicht, als er jetzt die Blicke durch den Saal schweifen läßt. Er ist bis auf den letzten Platz besetzt, denn der Prozeß gegen Sophus Wesenberg bildet eine Sensation für ganz Göteborg. Die große Menge, die den Zuhörerraum füllt, interessiert indessen Oliver Murphy wenig. Um so schärfer faßt er die vorderen Bänke ins Auge, auf denen die Zeugen und Prozeßbeteiligten sitzen. Wie ein Feldherr, der vor Beginn der Schlacht noch einmal seine Truppen mustert.
Sie sind vollzählig erschienen. Da ist Mrs. Sivi Johnstone, geborene Tolmainen, die Oliver Murphy nach langen, mühevollen Ermittlungen in einem Landstädtchen Kaliforniens ausfindig gemacht und als wichtige Zeugin persönlich über das Meer gebracht hat. Neben ihr, der lange, hagere Herr in Marineuniform, ist Hjalmar Quist, der Kapitän des Passagierdampfers „Märte Wesenberg“. Dann kommt Frau Hauge, ein bedrückt dreinschauendes altes Mütterchen. An ihrer Seite sitzt Mr. Josuah Ring, klein, bartlos, mit scharfzerfurchtem Gesicht, unverkennbarer Typ des erfolgreichen amerikanischen Geschäftsmannes. Das einfach gekleidete junge Mädchen neben ihm mit dem weißblonden, glattgescheitelten Haar und den sorgenschweren Augen, das ist Fräulein Märte Wesenberg, die Tochter des Reeders Wesenberg. Mit ihr ist die erste Bank zu Ende. Nur ein hochgewachsener, fremder Herr sitzt noch ganz am Ende der Reihe. Oliver Murphy mustert ihn argwöhnisch. Blond, blauäugig, dem ganzen Aussehen nach ein schwedischer Seemann. Vielleicht einer der Subalternoffiziere von der „Märte Wesenberg“, vielleicht aber auch nur ein gleichgültiger Zuhörer, der sich ungeniert in die vorderste Reihe gedrängt hat. Weiter hinten im Zuhörerraum sitzt noch eine ganze Menge ähnlicher Seemannsgestalten. Oliver Murphy beobachtet eine Weile den Fremden und kommt zu dem Schluß, daß es wirklich nur ein. Zuhörer sein kann. Weder Fräulein Wesenberg noch sonst jemand auf der ersten Bank schenkt ihm Beachtung.
Ein Summen und Flüstern geht durch den Saal. Sophus Wesenberg ist eingetreten und geht, von seinem Verteidiger begleitet, langsam und ruhig zu seinem Platz. Oliver Murphy studiert aufmerksam das Gesicht des Mannes, obwohl er es längst kennt. Eigentlich schade um den Mann. Ein Fünfziger, groß und schlank, wie all diese Meerleute hier, das Haar ergraut, ernste, ruhigkraftvolle Gesichtszüge, über der ganzen Gestalt eine stille, vornehme Würde.
Oliver Murphys Gedanken werden durch das Scharren und Kratzen von hundert Füßen unterbrochen. Zuhörer und Zeugen haben sich erhoben. Das Gericht ist eingetreten.
„Herr Wesenberg,“ wendet sich der Vorsitzende nach der üblichen Aufrufung der Zeugen und Verlesen der Personalien an den vorgetretenen Reeder. „Sie wissen, worum es sich handelt. Im Jahre 1917 verschwand der Ingenieur Carl Ermelund spurlos von dem Ihrer Reederei gehörigen Dampfer ‚Märte Wesenberg’ auf der Fahrt von Göteborg nach Neuyork. Bitte erzählen Sie uns noch einmal, was Ihnen über diesen Fall bekannt ist!“
Sophus Wesenberg verbeugt sich leicht. Man sieht seinem Gesicht die verhaltene Qual an, dies alles noch einmal vor der Öffentlichkeit darstellen zu müssen, aber seine Stimme ist fest und ruhig, als er beginnt.
„Am 20. Mai 1917 trat der damals neu in Dienst gestellte Dampfer ‚Märte Wesenberg’ seine erste Fahrt Göteborg—Neuyork an. Unter den Gästen befand sich auch der mir befreundete Ingenieur Carl Ermelund, der auf Einladung des amerikanischen Marineamts nach Washington reiste, um dort mit den Behörden über den Ankauf einer von ihm gemachten Erfindung zu verhandeln.
In der Nacht nach der Ausreise wurde, dem Bericht des Kapitäns zufolge, die ‚Märte Wesenberg’ im Kattegat von einem deutschen U-Boot gepreit. Es wurde gestoppt, und ein Kommando kam an Bord, um die Schiffspapiere zu untersuchen. Da es sich um ein neutrales Schiff handelte und die ‚Märte Wasenberg’ auch keinerlei Kriegskonterbande an Bord führte, verlief die Untersuchung ohne aufregende Zwischenfälle. Die Fahrgäste hielten sich während der Untersuchung befehlsgemäß in ihren Kabinen. Nach etwa 40 Minuten ging das deutsche Kommando von Bord, und gleich darauf signalisierte das U-Boot ‚Fahrt fortsetzen’. Die ‚Wesenberg’ nahm ihren planmäßigen Kurs wieder auf.
Erst am nächsten Mittag wurde die Entdekkung gemacht, daß einer der Fahrgäste, der Ingenieur Carl Ermelund, verschwunden war. Am Vorabend gegen 10 Uhr hat der Kabinensteward den Fahrgast Ermelund zuletzt gesehen, als er seine Kabine verließ und sich an Deck begab. Kabine und Gepäck Ermelunds wurden bei der sofort angestellten Durchsuchung in voller Ordnung befunden. Auch seine Wertsachen und einige Ausweispapiere waren vorhanden. Lediglich Brieftasche und Uhr, die Ermelund wahrscheinlich bei sich getragen hat, wurden vermißt. Die gründliche Durchsuchung des ganzen Schiffes blieb erfolglos. Der Verschwundene war nirgends zu finden. Nach der ganzen Sachlage kam Kapitän Quist zu der Überzeugung, daß der Fahrgast Ermelund in der Nacht vom 20. zum 21. Mai durch einen Unglücksfall über Bord gefallen und ertrunken sei. Er benachrichtigte mich durch Funkdepesche von dem traurigen Vorfall. Leider haben auch später sowohl von den Behörden wie von mir persönlich angestellte Nachforschungen keinen weiteren Anhaltspunkt für das Verschwinden Ermelunds gegeben. Mehr weiß ich über die Sache nicht auszusagen.“
Der Vorsitzende beugt sich über den vor ihm liegenden aufgeschlagenen Aktenband.
„Sie haben vergessen zu erwähnen, Herr Wesenberg, daß das Zusammentreffen Ihres Schiffes mit dem U-Boot doch nicht so ganz harmlos verlief. Ein Fahrgast des Schiffes wurde von dem deutschen Kommando mitgenommen und auf das U-Boot gebracht.
„Meine Tochter Märte, jawohl. Ich habe das absichtlich nicht erwähnt, da es eine rein private Angelegenheit ist, die mit dem Verschwinden Carl Ermelunds absolut nichts zu tun hat.“
„Dennoch muß ich bitten, uns auch darüber ausführlich zu sagen, was Sie wissen.“
Sophus Wesenberg neigt ein wenig den Kopf. Die Furchen um seinen Mund werden tiefer. „Meine Tochter machte als Taufpatin des neuen Schiffes die erste Reise mit. In der Nacht vom 20. zum 21. Mai kam es zwischen ihr und dem Kapitän Quist zu einer erregten Auseinandersetzung, der rein persönliche Motive zugrunde lagen. Meine Tochter war so erregt, daß sie, als plötzlich das deutsche Kommando auftauchte, den deutschen Leutnant bat, sie an Bord des U-Bootes zu nehmen. Durch Lichtsignale verständigte sich der Offizier mit seinem Kommandanten und nahm meine Tochter Märte nach erhaltener Erlaubnis mit.“
„Einen Augenblick, Herr Wesenberg,“ unterbrach ihn der Vorsitzende. „Finden Sie es nicht eigentümlich, daß der deutsche Kommandant eine fremde, noch dazu eine junge Dame, an Bord seines U-Bootes nahm?“
„Sehr eigentümlich, Herr Vorsitzender. Aber die Sache hat sich später aufgeklärt. Durch die kurze Signalnachricht des Leutnants war der U-Boot-Kommandant zu der irrigen Auffassung gelangt, es handle sich um eine deutsche Staatsangehörige, die den Schutz des Kriegsschiffes anrief. Er hat dann auch am nächsten Morgen, als ihm der wahre Sachverhalt bekannt wurde, unverzüglich den nächsten ihm begegnenden Dampfer angerufen und meine Tochter an Bord dieses Fahrzeuges bringen lassen. Es war der dänische Frachtdampfer ‚Gorm’, mit dem meine Tochter zwei Tage später wohlbehalten hier in Göteborg wieder eintraf.“
„Welche Absicht hatte Fräulein Wesenberg, als sie die Bitte aussprach, an Bord des deutschen Kriegsschiffes zu gehen?“
„Keine andere, Herr Vorsitzender, als so rasch wie möglich die ‚Märte Wesenberg’ zu verlassen und zu mir nach Göteborg zurückzukehren. Der Aufenthalt an Bord schien ihr nach dem Zusammenstoß mit Kapitän Quist unmöglich geworden zu sein. Ich gebe zu, daß meine Tochter in ihrem Erregungszustand wohl die Sachlage schlimmer beurteilt hat, als sie wirklich war, aber in Anbetracht der Umstände ist ihr übereilter Entschluß wohl menschlich verständlich.“
Der Vorsitzende wirft einen rügenden Blick in den Zuhörerraum, wo ein halblautes Flüstern und Raunen laut geworden ist, und denkt sich sein Teil. Diese dumme Geschichte mit Fräulein Märte Wesenberg ist ja schon bei dem ersten Prozeß vor Jahren gründlich erörtert worden und hat allen Klatschbasen Göteborgs monatelangen Gesprächsstoff gegeben. Es handelte sich ja wohl um eine Liebesgeschichte zwischen der Tochter des Reeders und dem Kapitän Quist. Letzterer hat selber zugeben müssen, daß er der jungen Dame eine etwas zu stürmische Liebeserklärung gemacht, in deren Verlauf es zu jener erregten Szene kam, die Märte Wesenberg veranlaßte, sich an Bord des U-Bootes zu begeben. Peinlich genug, daß man dem Reeder Sophus Wesenberg nicht ersparen kann, diese rein private Angelegenheit noch einmal zu erörtern. Der Vorsitzende tauscht einen kurzen Blick mit dem Staatsanwalt und beendet diese Episode mit einer sachlichen Frage.
„Es ist also Ihre Überzeugung, Herr Wesenberg, daß die Überführung Ihrer Tochter auf das deutsche U-Boot in keinerlei Beziehung zu dem Ingenieur Ermelund stand?“
„Das ist völlig ausgeschlossen, Herr Vorsitzender. Meine Tochter Märte hat Ermelund nur flüchtig bei einem seiner Besuche in meinem Kontor gesehen. An Bord hat sie ihn überhaupt noch nicht gesprochen. Sie wußte nur aus der Schiffsliste, daß er die Reise mitmachte.“
Der Vorsitzende räuspert sich und läßt einen Augenblick seine klugen, alten Juristenaugen forschend auf dem Gesicht des Reeders ruhen. „Es ist der Verdacht aufgetaucht, Herr Wesenberg, daß Sie mit dem geheimnisvollen Verschwinden Carl Ermelunds in Verbindung stehen.“
„Ja,“ stößt Sophus Wesenberg bitter hervor, „ich habe nicht umhin gekonnt, Herr Vorsitzender, das zu bemerken. Schon damals, gleich nach der Rückkehr der ‚Märte Wesenberg’ von ihrer ersten Fahrt, fing es an. Gewisse Zeitungen im In- und Ausland beschuldigten mich, an meinem Freund Ermelund wie ein Schurke gehandelt zu haben! Ich soll durch geheime Nachrichten der deutschen Seekriegsleitung verraten haben, wann und mit welchem Schiffe Carl Ermelund nach Amerika fuhr.
Ich soll veranlaßt haben, daß Ermelund und seine Erfindung spurlos verschwanden! Herr Vorsitzender, damals, im Kriegsjahr 1917, habe ich Verständnis aufgebracht für diese sinnlosen Beschuldigungen. Sie waren ein Ausfluß der damals herrschenden allgemeinen Kriegspsychose. Letzten Endes waren sie ja auch nicht hier bei uns entstanden, sondern in Amerika und England, wo gewisse Kreise über das Verschwinden der erfolgversprechenden Erfindung natürlich sehr erregt sein mußten und begreiflicherweise die Deutschen damit in Verbindung brachten. Wie gesagt, damals hab’ ich das verstanden und mit leidlicher Fassung die Flut von Verdächtigungen, Schmähungen und Anklagen über mich ergehen lassen, die monatelang über mich hereinbrach. Alle Begleitumstände des Verschwindens Ermelunds sind damals vor Gericht erörtert und geprüft worden. Es ist bitter für mich, Herr Vorsitzender, daß ich heute wieder an dieser Stelle stehen muß! Der Krieg ist längst zu Ende. Die Entschuldigungsgründe von ehemals bestehen für meine Gegner nicht mehr. Und doch hat seit sechs Wochen wieder eine förmliche Hetze in einer gewissen Presse gegen mich begonnen!“
„Ich verstehe Ihre Gefühle, Herr Wesenberg,“ nickt der Vorsitzende, als der Reeder eine Atempause macht. „Andererseits wird es auch Ihnen begreiflich sein, daß sowohl die Behörden wie die Angehörigen Ermelunds immer noch ein Interesse daran haben, diesen rätselhaften Fall aufzuklären.“
„Ich selber nicht minder, Herr Vorsitzender. Aber ich sehe nicht ein, warum man immer noch auf die alte unsinnige Beschuldigung gegen mich zurückkommt! Man behauptet neuerdings wieder, daß Carl Ermelund in jener Nacht heimlich an Boord des deutschen U-Bootes gebracht worden und dort verschollen sei. Diese lächerliche Behauptung ist längst widerlegt! Ganz abgesehen davon, daß sie eine schwere Beleidigung der deutschen Seekriegsführung darstellt, ihr sozusagen vorwirft, einen schwedischen Staatsangehörigen völkerrechtswidrig von einem schwedischen Schiff heruntergeholt und ‚beseitigt’ zu haben, ist von den berufenen amtlichen Stellen bereits im Jahre 1917 auf die Anfrage unserer Behörden die klare und eindeutige Auskunft erteilt worden, daß der schwedische Ingenieur Carl Ermelund in Deutschland völlig unbekannt ist und daß nach dem Bericht des betreffenden U-Boot-Kommandanten bei der Anhaltung des Dampfers ‚Märte Wesenberg’ weder Papiere noch Personen beschlagnahmt worden sind.“
„Wir haben die amtliche Auskunft der Deutschen Gesandtschaft bei den Akten,“ nickt der Vorsitzende. „Selbstverständlich erhebt niemand den Vorwurf, diese amtliche Verlautbarung als wissentlich unwahr zu bezeichnen.“
„Nun also!“
„Herr Wesenberg,“ sagt der Vorsitzende mild, „Sie irren sich in bezug auf das vorliegende Material. Selbst wenn wir den Verdacht, Ermelund könne heimlich an Bord des U-Bootes gebracht worden sein, gänzlich beiseite lassen, so bleiben noch genug Gründe bestehen, die es notwendig machen, den Prozeß noch einmal aufzurollen. Es geschieht auch in Ihrem Interesse, Herr Wesenberg. Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich vermute, daß auch Ihnen damit gedient sein wird, wenn das Verschwinden Ermelunds restlos aufgeklärt wird.“
„Sie haben recht, Herr Vorsitzender,“ sagt Sophus Wesenberg leise und senkt ergeben ein wenig den Kopf. „Bitte fragen Sie! Ich werde jede Frage nach bestem Wissen und Gewissen beantworten.“
„Nehmen Sie einstweilen Platz, Herr Wesenberg! Wir wollen zunächst den Zeugen Quist hören.“
Der Aufgerufene tritt, die goldbetreßte Marinemütze in der Hand, vor den Richtertisch, eine leichte Röte in dem fleischigen, aber nicht unsympathischen Gesicht.
Quist, Hjalmar, Schiffskapitän, geboren am 9. Februar 1879 zu Malmö, evangelisch, schwedischer Staatsbürger, nicht vorbestraft.“
Die Personalien gibt Kapitän Quist, der Verhandlungen vor dem Seeamt gewöhnt, rasch und mit sicherer Stimme an.
„Sie stehen noch in Diensten der Reederei Wesenberg?“
„Jawohl.“
„Und haben am 20. Mai 1917 den Dampfer ‚Märte Wesenberg’ geführt?“
„Jawohl. Die ‚Märte Wesenberg’ steht heute noch unter meinem Kommando.“
„Erzählen Sie uns möglichst genau die Ereignisse bei der ersten Ausreise des Schiffes!“
Kapitän Quist räuspert sich. „Dampfer ‚Märte Wesenberg’, 12 000 Tons, Heimathafen Göteborg, von der Reederei Sophus Wesenberg, trat am 20. Mai 1917 unter meinem Kommando seine erste Ausreise an. Wir hatten Stückgut für Neuyork und insgesamt 214 Fahrgäste erster und zweiter Kajüte an Bord.“
„War Ihnen unter den Fahrgästen ein Ingenieur Carl Ermelund bekannt?“
„Jawohl. Er kam als einer der ersten Fahrgäste hier in Göteborg an Bord. Ich befand mich auf der Brücke, und Sigurd Oesterberg, mein damaliger Zweiter Offizier, machte mich auf ihn aufmerksam, weil Reeder Wesenberg selbst bereits vor einigen Tagen eine besonders gute Kabine für diesen Herrn Ermelund hatte reservieren lassen.“
„Persönlich kannten Sie Ermelund nicht?“
„Nein. Ich hatte auch keine Gelegenheit, seine Bekanntschaft zu machen. Herr Ermelund ließ sich vom Steward sogleich in seine Kabine geleiten und nahm auch das erste Abendessen in der Kabine ein.“
„Bitte, fahren Sie fort, Kapitän Quist!“
„Wir fuhren mit Kurs West zu Nordnordwest und rundeten gegen 23 Uhr Skagens Horn. Um 0.20 Uhr wurden wir durch Leuchtsignale angerufen und zum Stoppen aufgefordert.“
„Hatten Sie von Ihrem Reeder Auftrag, einem derartigen Befehl Folge zu leisten?“
„Direkt nicht, aber es war selbstverständlich, daß wir der Aufforderung nachkamen. Es war Krieg, und wir befanden uns im Sperrgebiet. Die Nichtbefolgung hätte uns teuer zu stehen kommen können, gleichviel, ob die Aufforderung zum Stoppen von einem deutschen oder britischen Kriegsschiff ausging. Da die ‚Märte Wesenberg’ keinerlei Konterbande führte, bestand auch nicht der geringste Grund, uns durch Nichtachtung eines solchen Befehls einer Gefahr auszusetzen. Herr Carlsson, mein Erster Offizier, der sich auf der Brücke befand, hat ganz in meinem Sinne gehandelt, als er sofort den Befehl zum Stoppen gab.“
„Sie waren selbst nicht auf der Brücke?“
„Nein. Ich hatte von der Ausfahrt bis um 22 Uhr Dienst getan und war unter Deck gegangen.“
„Was geschah dann weiter?“
„Wir signalisierten, wie üblich, Name, Heimathafen und Reiseziel unseres Schiffes. Bald darauf kam ein Boot längsseits an Steuerbord. Wir ließen das Fallreep herunter, und Carlsson, der Erste Offizier, empfing das deutsche Kommando. Es waren ein Leutnant zur See und sechs Mann. Zwei davon blieben im Boot. Die übrigen kamen an Deck. Der deutsche Leutnant, der sehr korrekt und höflich war, sah die Schiffspapiere durch. Wie mir Carlsson erzählte, war er bereits im Begriff, sich zu verabschieden, als sein Mißtrauen durch einen heftigen, sehr lauten Wortwechsel geweckt wurde, der aus dem Kajütenniedergang kam. Er gab zweien seiner Leute Befehl, ihm zu folgen, und machte mit ihnen einen Rundgang unter Deck. Auch Herr Carlsson begleitete ihn dabei. Ich trat eben aus der Kabine heraus, als die Herren durch den Flur kamen.“
„Aus Ihrer Kabine, Kapitän?“
Die Röte im Gesicht Hjalmar Quists vertieft sich ein wenig. „Nein. Es war die Kabine Nummer 17.“
„Sie müssen doch gemerkt haben, Kapitän Quist, daß Ihr Schiff keine Fahrt mehr machte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Kapitän unter solchen Umständen nicht selber sofort auf die Brücke geht, um nachzusehen, was geschehen ist.“
Hjalmar Quist hat Mühe, ein Fluchwort zu unterdrücken. Da hinten im Saal sitzen mindestens drei Dutzend Seeleute, und er weiß, daß ihre Augen jetzt vorwurfsvoll durch seinen Rücken bohren. Er schluckt ein paarmal.
„Mein Erster Offizier befand sich auf der Brücke. Das Schiff war in guten Händen. Wenn eine Gefahr vorgelegen hätte, würde ich auch sofort Meldung erhalten haben. Trotzdem wäre ich . . . ich gebe es zu . . . wäre ich sogleich auf die Brücke gegangen, als die Maschinen stoppten. Aber ich befand mich in einem Erregungszustand . . . in einer ungewöhnlichen Lage, die . . .“ Hjalmar Quist strafft sich und blickt dem Vorsitzenden fast drohend ins Gesicht. „Es handelt sich um rein private Dinge, Herr Vorsitzender. Ich denke, wir verhandeln hier über das Verschwinden des Ingenieurs Ermelund?“
Der Staatsanwalt macht an seinem Tisch eine Bewegung, aber der Vorsitzende wirft ihm einen beruhigenden, bittenden Blick zu.
„Ich will Sie der Peinlichkeit entheben, Kapitän Quist, selber diese Dinge hier erzählen zu müssen. Die Zeugin Wesenberg hat bekundet, daß Sie sich zu der fraglichen Zeit in ihrer Kabine befanden. Sie gibt ferner an, daß Sie, Kapitän Quist, ihr einen Heiratsantrag machten und durch Ablehnung in heftige Erregung gerieten.“
„Ich lehne es ab, mich über diese Angelegenheit zu äußern.“ Kapitän Quists Gesicht gleicht allmählich einem gekochten Krebs. „Das alles hat mit dem Ingenieur Ermelund nicht das Geringste zu tun.“
„Nun, wir sind auf Ihre direkte Aussage nicht angewiesen, Kapitän Quist,“ meint der Vorsitzende versöhnlich. „Ich sehe auch davon ab, Ihnen die Aussage Fräulein Wesenbergs wörtlich vorzulesen. Wichtig ist dabei nur, daß Fräulein Wesenberg durch Ihr Verhalten an jenem Abend bewogen wurde, den Schutz des deutschen Offiziers anzurufen.“
„Das war, weiß Gott, absolut nicht notwendig!“ bricht Kapitän Quist los, obwohl er sich selber im stillen gelobt hat, kein Wort mehr über diese Angelegenheit zu sagen. „Bin ich ein Mädchenräuber, daß sie es nötig gehabt hätte, einen wildfremden Menschen zu ihrem Schutz zu bemühen? Mag sein, daß ich mich an jenem Abend benommen habe wie ein Pirat. Und wie ein Heuochse noch dazu. Bin wohl ein bißchen laut geworden und hab’ vielleicht gar wie ein Türke geflucht und geschworen, sie solle doch noch mal meine Frau werden. Das tut mir leid, und ich habe das Fräulein deswegen längst um Verzeihung gebeten. Aber wahr ist’s auch: Ich war wie vor den Kopf geschlagen, als ich ihr ‚Nein’ hörte. Hatte steif und fest geglaubt, mein Antrag — der ein ehrlicher Antrag war, Herr Vorsitzender — würde willkommen und schließlich erwartet sein.“
„Die Zeugin Mäte Wesenberg hat in ihrer Aussage zugegeben, daß sie selber durch besondere Freundlichkeit und allerlei kleine Gunstbeweisungen unwissentlich die Meinung in Ihnen genährt hat, Kapitän Quist, daß Ihre Werbung willkommen sein werde. Sie hat des weiteren angegeben, daß sie in ihrer Erregung an jenem Abend den richtigen Maßstab für ihr Handeln verloren hatte. Wörtlich heißt es in der Aussage der Zeugin . . .“ Er blättert in den Akten und rückt den Kneifer zurecht. „‚Hätte ich Zeit gehabt, ruhig zu überlegen, so wäre mir zweifellos damals schon meine erste Befürchtung, nach diesem Auftritt die Fahrt nicht mehr mitmachen zu können, lächerlich übertrieben vorgekommen. Kapitän Quist ist ein redlicher Mann, den sowohl mein Vater wie ich als tüchtigen Offizier wie auch als Mensch schätzen. Ich hätte mich wahrscheinlich auf der weiteren Reise nicht mehr über ihn zu beklagen gehabt.’“
„Weiß Gott, sie hätte keine Angst zu haben brauchen!“ knurrt Kapitän Quist, unwillkürlich die Hände ballend. „Das Unglück war nur, daß gerade in diesem Augenblick, da sowohl Fräulein Wesenberg wie ich sehr aufgeregt waren, diese Deutschen an Bord kommen mußten. Sie sah sich da ganz plötzlich dem fremden Offizier gegenüber, und statt ruhig zu überlegen, empfand sie nur die Möglichkeit, das Schiff sofort zu verlassen. Da griff sie eben zu.“
„Wenn ich recht verstehe, Kapitän Quist, so bestätigen Sie also, daß Fräulein Wesenberg keinen anderen Grund hatte, sich auf das deutsche U-Boot zu begeben, als denjenigen, den sie selber angibt?“
„Ach was!“ versetzt der Kapitän unwirsch. „Was für einen anderen Grund sollte sie denn haben? Was Fräulein Wesenberg sagt, ist wahr!“
„Sie erkennen also die Aussage der Zeugin als richtig an?“
„Jedes Wort! Hol mich der . . .“
Ein energisches Räuspern des Vorsitzenden unterbricht den aufziehenden Seemannsfluch. Im Zuhörerraum kichert es leise.
„Was weiter geschah, hat der Zeuge Carlsson bereits in der ersten Verhandlung bekundet und bestätigt schriftlich — er befindet sich zurzeit auf See — seine damalige Aussage. Danach hat der deutsche Leutnant durch Signale seinem Kommandanten den Wunsch Fräulein Wesenbergs übermittelt und sie dann samt ihrem Gepäck zu dem U-Boot hinübergebracht. Er hat sich nicht lange nach dem Grund erkundigt, warum Fräulein Wesenberg nicht auf dem Dampfer bleiben wollte, weil er von seinem Kommandanten den Befehl bekam, sich zu beeilen. Das stimmt auch, Kapitän Quist?“
„Jawohl. Etwa 20 Minuten, nachdem das Boot uns verlassen hatte, wurde uns durch Lichtsignal bekanntgegeben: ‚Setzen Sie Ihre Reise fort.’ Ich selber war durch den Auftritt mit Fräulein Wesenberg so mitgenommen, daß ich meinem Ersten weiter das Kommando überließ und mich in meine Kabine zurückzog, um mich zu stärken.“
Wieder geht ein leises Flüstern und Lachen durch die Reihen der Zuhörer. Es sind genug da, die den Kapitän Hjalmar Quist kennen und genau wissen, daß diese ‚Stärkung’ in mindestens fünf Glas Toddy bestanden hat. Der Vorsitzende beeilt sich, über diesen Punkt hinwegzugleiten.
„Wann wurde nun das Verschwinden Ermelunds bekannt?“
„Am nächsten Morgen um 10 Uhr, als ich eben zum Dienst auf der Brücke erschienen war, meldete der Kabinensteward Johannsen zuerst dem Obersteward und dann mir, daß der Fahrgast in Kabine Nr. 49 nicht anwesend und auch seine Koje unberührt geblieben sei. Eine Stunde später teilte mir der Obersteward mit, daß der Fahrgast, Herr Ermelund, nirgends an Bord aufzufinden sei. Ich legte dem zunächst keine große Bedeutung bei. Als aber am Nachmittag Herr Ermelund noch nirgends aufgetaucht war, ordnete ich an, daß das ganze Schiff möglichst unauffällig durchsucht wurde, und begab mich mit dem Zweiten Offizier und dem Obersteward in die Kabine Nr. 49. Irgendeine Spur von Unordnung vermochten wir dort nicht festzustellen. Alles sah so aus, als ob der Fahrgast eben die Kabine verlassen hätte und ein wenig an Deck gegangen sei. Kabinenkoffer und Handkoffer waren unverschlossen. Ein Teil der Kleidungsstücke und Toilettensachen war bereits ausgepackt. Das genaue Verzeichnis der Gegenstände hat später im Hafen der Polizeiinspektor, der den Fall untersuchte, aufgenommen.“
„Was haben Sie weiter veranlaßt?“
„Zunächst hatten wir immer noch eine leise Hoffnung, daß Herr Ermelund zu finden sein würde. Es kommt vor, daß Fahrgäste, die seekrank werden, sich irgendwo unter einer Persenning oder in einem der Boote verkriechen. Unter meiner persönlichen Leitung wurde darum noch einmal das ganze Schiff durchsucht. Am nächsten Tage mußten wir uns mit der Gewißheit abfinden, daß der Fahrgast verschwunden war. Ich habe mit meinen Offizieren und dem Schiffsarzt den Fall beraten und auch das Personal vernommen. Dabei wurde lediglich festgestellt, daß der Kabinensteward Johannsen am ersten Abend der Fahrt gesehen hatte, wie der Fahrgast die Kabine Nr. 49 verließ und sich an Deck begab. Etwas Besonderes war ihm dabei nicht anzumerken. Seither hat ihn niemand gesehen.“
„Kam Ihnen der Gedanke, daß ein Verbrechen vorliegen könne?“
Kapitän Quist zuckte die Achseln. „Diese Möglichkeit haben wir natürlich in Betracht gezogen. Einige Wertsachen waren im Gepäck Ermelunds vorhanden. Ich habe funkentelegrafisch hier in Göteborg Erkundigungen eingezogen, ob Herr Ermelund etwa einen besonders großen Betrag bei sich führte, konnte jedoch nichts Derartiges erfahren. Am zweiten Tage nach dem Verschwinden des Fahrgastes habe ich den Fall durch Funkspruch an meine Reederei gemeldet. Herr Wesenberg antwortete mir unverzüglich, ich möge alles aufbieten, den traurigen Fall aufzuklären. Insbesondere wies er mich an, mich sofort mit der Neuyorker Hafenpolizei in Verbindung zu setzen. In Ellis Island kam daraufhin ein Polizeiinspektor an Bord, der mit mir gründlich die Liste unserer Fahrgäste durchging und auch vor der Landung die einzelnen Fahrgäste bei der Paßkontrolle scharf unter die Lupe nahm. Es befand sich niemand an Bord, dem der Persönlichkeit nach ein Verbrechen zuzutrauen gewesen wäre. Überhaupt, ich glaube nicht an ein Verbrechen! Meiner Ansicht nach, die ich damals schon vertreten habe, ist der Fahrgast Ermelund unglücklicherweise an jenem Abend über Bord gefallen.“
„Wäre das möglich, ohne bemerkt zu werden?“
„Das Wetter war schön und die See verhältnismäßig ruhig. Einen Hilferuf hätte unbedingt irgend jemand von der Besatzung hören müssen. Das schließt aber nicht aus, daß Ermelund über Bord gegangen sein kann ohne einen Ruf auszustoßen. Er kann in der Schrecksekunde die Sprache verloren haben oder, von einem plötzlichen Unwohlsein gepackt, bewußtlos versunken sein. Es war eine dunkle Nacht, und die Decks waren nicht stark belebt. Die meisten Fahrgäste richteten sich an diesem ersten Abend in ihren Kabinen häuslich ein oder saßen im Rauchsalon.“
„War Ihnen bekannt, daß Ermelund im Begriff stand, eine wichtige kriegstechnische Erfindung, die er gemacht hatte, nach Amerika zu verkaufen?“
„Nein. Das erfuhr ich erst in Neuyork, als dort die Zeitungen ein großes Lamento über das Verschwinden Ermelunds erhoben.“
„In welchen Beziehungen stand Fräulein Wesenberg zu Ermelund?“
„In gar keinen, so viel ich weiß. Am ersten Reisetag hat sie sich hauptsächlich mit Herrn Josuah Ring und mit Oesterberg, meinem Zweiten Offizier, unterhalten. Herrn Ermelund hat sie schon deshalb nicht sprechen können, da er ja in der Kabine blieb und das Essen dort einnahm.
„Danke, Kapitän Quist. Bleiben Sie bitte vorläufig hier! Wahrscheinlich habe ich nachher noch einige Fragen an Sie zu stellen.“
Hjalmar Quist macht eine kurze, eckige Verbeugung und geht auf seinen Platz zurück. Ein scheuer Seitenblick streift dabei Märte Wesenberg, deren graue, ernste Augen ihm einen Augenblick begegnen.
Märte Wesenberg hat Mühe, einen Seufzer zu unterdrücken. Angenehm ist’s ja sicherlich nicht für Kapitän Quist, öffentlich zugeben zu müssen, daß er sich bei der Tochter seines Reeders einen Korb geholt und noch dazu sich in etwas ungestümer Weise um sie beworben hat. Aber er hat trotzdem keinen Grund, diese Sache tragisch zu nehmen. Märte Wesenberg weiß, wie man in Göteborg über den Kapitän Hjalmar Quist denkt und spricht. Ein paar alte, redliche Seeleute gibt es wohl, die es ihm bannig übelnehmen, daß er als Schiffskapitän sich so hat gehen lassen. Die meisten Menschen aber sind geneigt, in Hjalmar Quist einen Teufelskerl zu sehen, und die sensationelle Geschichte, daß die Tochter seines Reeders vor seinem stürmischen Werben auf einem deutschen U-Boot Schutz gesucht hat, hat sein Ansehen als toller Draufgänger noch erheblich verstärkt. Nein, Hjalmar Quist braucht sich keine grauen Haare wachsen zu lassen. Aber ihr Vater! Ihr armer, gehetzter Vater . . .
Märte Wesenberg schreckt auf. Der Vorsitzende hat ihren Namen gerufen.
Dr. Frölén, der Vorsitzende des Gerichts, ist in vornehmer Weise bestrebt, den Zeugen nach Möglichkeit peinliche Verhöre zu ersparen. Auch Märte Wesenberg gegenüber legt er eine Milde an den Tag, die mit Achtung gepaart ist. Ein paar sensationshungrige Dämchen im Zuhörerraum recken vergeblich die Hälse. Der Vorsitzende geht mit keiner Frage auf das Verhältnis Märte Wesenbergs zu dem Kapitän Quist ein, sondern fordert sie sogleich auf, über ihre weiteren Erlebnisse in jener Nacht zu berichten.
„An Bord des deutschen U-Boots wurde ich von dem Kommandanten empfangen, aber sofort in eine Kammer unter Deck gebracht. Ich hörte noch, wie der Kommandant den Befehl gab: ‚Alle Mann auf Tauchstation!’ Und ich hatte den Eindruck, daß man irgendeine wichtige Nachricht aufgefangen und es daher sehr eilig hatte. Gleich darauf tauchte das Boot auch. Nach einer halben Stunde erschien der Leutnant, der mich an Bord gebracht hatte, und ersuchte mich, einem der Matrosen Bescheid zu geben, wenn ich etwas zu essen wünschte. Auch machte er mich in höflicher Form darauf aufmerksam, daß ich an Bord eines Kriegsschiffes sei und infolgedessen nicht ohne vorherige Erlaubnis des Kommandanten außerhalb der Kammer herumgehen dürfe, Diese halbe Gefangenschaft sei nun einmal aus militärischen Gründen unerläßlich. Ich verspürte auch gar keine Lust, den Raum zu verlassen, sondern sank, müde von all der Aufregung, auf die Koje. Die vernünftige Überlegung begann mir bereits zurückzukehren, und ich schalt mich selber überängstlich und töricht.
Da ich noch nie auf einem Unterseeboot gewesen war, interessierte mich meine Umgebung natürlich. Ich konnte jedoch recht wenig beobachten. Die Kabine war sehr eng. Aus dem Gurgeln und Rauschen, das zu mir hereindrang, schloß ich, daß wir mehrmals tauchten und wieder emporstiegen. Ich hatte den Eindruck, daß wir die Nacht über fast gar keine Fahrt machten, sondern ziemlich an der Stelle blieben, wo die ‚Märte Wesenberg’ angehalten worden war.
Am nächsten Morgen brachte mir ein Matrose Frühstück, und dann ließ mich der Kommandant des U-Bootes rufen. Schon nach wenigen Worten stellte sich heraus, daß der Kommandant mich für eine deutsche Staatsangehörige gehalten hatte.
Der Kommandant ließ seinen Leutnant rufen und machte dem jungen Offizier einige Vorwürfe über die unklare Meldung, die er von dem Dampfer aus gegeben habe. Dann sagte er auch mir ziemlich barsch, daß deutsche Kriegsschiffe nicht zum Spazierenfahren da seien, und daß er mich nicht an Bord genommen haben würde, wenn er gewußt hätte, daß ich Schwedin sei. Als ich durch den scharfen Ton etwas verschüchtert wurde, erklärte er mir freundlicher, er werde schon die Sache ins Lot bringen und mich nach Hause befördern. Auch der Kommandant ersuchte mich noch einmal während meines Aufenthalts auf seinem Boot meine Kabine nicht zu verlassen. Sein Versprechen erfüllte er bereits am gleichen Tage, indem er einen dänischen Frachtdampfer anrief und, nachdem er festgestellt hatte, daß dieses Schiff unterwegs nach Göteborg war, mich durch ein Boot hinüberbringen ließ.“
„Wurde in dem Gespräch zwischen Ihnen und dem deutschen Kommandanten der Name Carl Ermelund genannt?“
„Nein, Herr Vorsitzender. Nur mein eigener Name und — ich glaube — ja, einmal im Gespräch wurde Kapitän Quist erwähnt.“
„Denken Sie einmal genau nach, Fräulein Wesenberg! Wer befand sich alles in dem Boot, das Sie von der ‚Märte Wesenberg’ zu dem deutschen Kriegsschiff brachte?“
„Außer mir nur der junge deutsche Leutnant und die Matrosen. Ich glaube, es waren fünf oder sechs Leute. Genau kann ich das aber heute nicht mehr sagen.“
„Sonst befand sich niemand im Boot, als es von der ‚Märte Wesenberg’ abstieß?“
„Niemand.“
„Sie hätten zum Beispiel Herrn Ermelund unbedingt sehen müssen, wenn er etwa mit im Boot gewesen wäre?“
„Ja, das hätte ich bestimmt. Ich war furchtbar aufgeregt, aber ein Zivilist unter den deutschen Matrosen wäre mir natürlich doch aufgefallen.“
„Danke, Fräulein Wesenberg. Weiter habe ich vorläufig keine Fragen an Sie.“
Als Märte zu ihrem Platz zurückkehrt und unwillkürlich den Blick gegen die Zuhörer richtet, fühlt sie einen Ekel in der Kehle würgen. Was sie da anstarrt aus hundert Augen, ist nichts als Neugier, grinsende Sensationslust, gespannte Schadenfreude. Rasch nimmt sie die Augen zu sich, und unversehens bleiben sie an dem Mann hängen, der am äußersten Ende der ersten Bankreihe sitzt. Ein sonderbares Fragen und Wundern ist plötzlich in ihr. Die hellblauen großen Augen dieses fremden Menschen sehen sie an mit einer so ehrlich teilnehmenden Bekümmernis, recht wie ein paar gute Bruderaugen.
Während sie sich setzt, grübelt sie darüber nach, wer dieser Mann wohl ist. Ein Bekannter jedenfalls nicht. Wohl hat sein Gesicht etwas Vertrautes, aber das kommt wohl nur daher, weil sie im Umgangskreis ihres Vaters viele solcher Seemannsgestalten und Seemannsgesichter zu sehen gewohnt ist. Von der Seite her mustert sie prüfend den Fremden, der nun wieder, ein wenig vorgebeugt, gespannt dem Gang der Verhandlung folgt. Seemann ist er — daran ist nicht zu zweifeln. In einem von Wind und Wetter gebeizten Gesicht stehen ein paar gutmütige blaue Nordlandaugen. Um den Mund ein harter Zug, den Leben und Schicksal gegraben haben. Aber vergeblich suchte Märte Wesenberg in ihrer Erinnerung. Nein, diesen Herrn kennt sie bestimmt nicht.