Wo der Brüllaffe zum Frühstück schreit ... - Marion Fennel-Stüber - E-Book

Wo der Brüllaffe zum Frühstück schreit ... E-Book

Marion Fennel-Stüber

4,4

Beschreibung

Während in Kolumbien die Friedensgespräche zwischen Regierung und FARC-Rebellen auf Hochtouren laufen, reist die Autorin dorthin in Gebiete, die bislang aus Sicherheitsgründen abseits der touristischen Landkarte lagen und entdeckt dabei traumhaft schöne und einzigartige Landschaften in noch kaum erschlossenen Regionen, in denen das Leben fast gänzlich von der Natur bestimmt wird. Trotz der gerade dort herrschenden Wirtschaftskrise reist sie weiter nach Venezuela, wo sie einen zauberhaften Natur-Urlaub verbringt, bevor sie über Panamá ihre Rückreise antritt. Die Autorin übernachtet unterwegs in landestypischen Unterkünften, wo sie viel über Land und Leute erfährt. Ihr Weg führt sie dabei in unwegsame Dschungelregionen, zum höchsten Wasserfall und zum schönsten und buntesten Fluss der Erde, an unberührte Traumstrände, zu rätselhaften, uralten und bizarr geformten Tafelbergen, riesigen Wasserfällen, ungezähmten, wilden Flussläufen, Thermalquellen und überfluteten Mangrovewäldern von einzigartiger Schönheit. Sie lernt Vertreter der im Einklang mit der Natur lebenden Indigenenvölker kennen und bekommt Einblicke in deren Alltag. Sie taucht in bunte Unterwasserwelten ab, schwimmt mit Piranhas und rosa Flussdelfinen und beobachtet unter anderem riesige Wale, selten gewordene Meeresschildkröten, gefährliche Pfeilgiftfrösche, elektrische Aale, Kaimane und Schlangen. Akustische Höhepunkte sind die Schreie der lautesten Vögel der Welt, sowie der auf allen Stationen der Reise immer wieder zu hörenden Brüllaffen.

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„Man sagt, dass Gott während der Erschaffung der Welt

zwischen zwei Meeren einen idyllischen Rückzugsort

aus Smaragden und heilsamen Quellen

für seine eigene Mittagspause versteckt hat.

Von dorther stamme ich, aus Kolumbien, einem Land,

in dem Zuversicht und Kaffee nur so sprudeln,

und von dessen Schönheit einem das Herz aufgeht…“

(Erste Zeilen des kolumbianischen Hits „Colombia es Pasíon” aus dem Jahr 2006. Darin haben 15 verschiedene Interpreten gemeinsam die kulturelle und ethnische Vielfalt und Schönheit ihres Heimatlandes Kolumbien besungen.)

„Ich habe heute das Paradies gesehen.“

(Eintrag im Tagebuch von Christoph Kolumbus, nachdem er 1498 die östliche Küste Venezuelas erreicht hatte und an der Mündung des Flusses Orinoco an Land ging. Es war das erste Mal, dass er und seine Mannschaft das amerikanische Festland betraten.)

„In Panama“, sagte er, „ist alles viel schöner, weißt du.

Denn Panama riecht von oben bis unten nach Bananen.

Panama ist das Land unserer Träume, Tiger.

Wir müssen sofort morgen nach Panama...“

(Aus dem illustrierten Kinderbuch „Oh, wie schön ist Panama“ von Horst Eckert [alias Janosch], das 1979 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde.)

Inhalt

Vorwort

Abreise

Fluch der Technik

Kolumbien

Aufbruch in den wilden Osten

Stadt-Zeiten

Natur pur im Chocó

Adiós Colombia

Venezuela

Willkommen im Land des Mangels

Karibik-Flair und Hitchcock-Feeling

Wo Delfine rosa sind

Namensverwirrungen um Städte und Brücken

Reise zum Sitz der Götter

Venezolanische Problemlösungen

Die hundert Farben des Meeres

Panamá

Viel mehr als nur ein Kanal

Wieder in Deutschland

Pannen und Diebe

Anhang

Dank

Externe Bildquellen

Die Autorin

Weitere Bücher der Autorin

Übersichtskarte (mit besuchten National-Parks [NP])

Vorwort

Auf uns Menschen üben Mysterien, Rätsel und Entdeckungen ungewöhnlicher Dinge oder unbekannter Landschaften, exotische Tiere und fremde Kulturen von jeher eine Faszination aus. Unser Bedürfnis danach wurde in den verschiedenen Zeiten durch Märchen, Sagen, Legenden oder Fantasy-Romane geweckt und zugleich halbwegs gestillt. Und doch hat es nie gereicht. Noch immer lockt das Fremde, Exotische, Unwahrscheinliche und Unerklärliche.

In den Jahren 1835 und 1844 führte der deutsche Forschungsreisende und Botaniker Sir Robert Hermann Schomburgk1 mit Hilfe der Britischen Geographischen Gesellschaft wissenschaftliche Expeditionen in Britisch-Guayana und Brasilien durch. Sein Bruder, Richard Moritz Schomburgk, begleitete ihn auf seinen Expeditionen als Schreiber. Dabei dokumentierte er auch Geschichten der Indigenen, die von unzugänglichen Hochebenen der venezolanischen Tafelberge berichteten, auf denen angeblich Fabeltiere und Monster ihr Unwesen treiben würden. Die Einheimischen selbst hatten diese Berge niemals bestiegen, und auch den beiden Schomburgks gelang es nicht, sie zu erklimmen. Von deren Expeditionsberichten war der britische Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle2 dermaßen angetan, dass er sich dadurch zu seinen Roman „Die vergessene Welt“ inspirieren ließ. Darin erkundet ein Professor ein geheimnisvolles Hochplateau mitten im venezolanischen Dschungel, um darauf nach Urtieren zu suchen, die sonst überall auf der Welt schon lange ausgestorben sind. Die Geschichte, die die Generation meiner Eltern noch in Buchform geradezu verschlungen haben muss, war auch für meine Generation noch ein interessanter Lesestoff.

1988 las ich das gerade erschienene Geo-Buch „Inseln in der Zeit“, das mich vollkommen in seinen Bann schlug. So etwas Fremdes und Unentdecktes sollte es auf unsere Welt noch geben, die bis in den kleinsten Winkel erforscht und bekannt zu sein schien? Das würde ich für mein Leben gerne einmal sehen. Aber ich hatte damals ein Kleinkind und zudem einen Ehemann, der Reisen in solche Gebiete niemals mitgemacht hätte. Es blieb also bei dem Wunsch, von dem ich sicher war, er sei für mich ganz und gar unerfüllbar: Zu entlegen, zu heiß, politisch zu unsicher, mit zu viel Zeitaufwand und Anstrengungen verbunden, zu dies und zu das. 1990 drehte Steven Spielberg den Film „Jurassic Park“. Das Drehbuch dazu stammte von Michael Crichton3, der sich dazu von Conan Doyles Roman hatte inspirieren lassen. Wie schon Generationen davor, war auch die der damaligen Kinogänger fasziniert von der Geschichte. Eine wahre Dino-Manie schien die Jugendlichen überall auf der Welt erfasst zu haben. Es war die Magie des Unbekannten, des Besonderen, des Blicks in die Vergangenheit unserer Erde, die erneut die Menschen ergriffen hatte. Offenbar gibt es bei der Mehrzahl der Menschen eine Art Grundbedürfnis nach Geheimnisvollem. Etwas zu sehen, das es eigentlich seit Jahrmillionen gar nicht mehr gibt – diese Aussicht elektrisiert uns Menschen. Welche Fachgebiete eignen sich dazu besser als Geologie oder Paläontologie? Nun, die Aussicht auf noch lebende Dinosaurier gibt es nicht, aber doch auf einen Einblick in die ganz alte Geschichte unseres Planeten. Uralte Gesteine, die Hunderte von Jahrmillionen in der Tiefe verborgen waren und erst seit etwa 60 Millionen Jahren durch tektonische Prozesse nach oben gepresst, zu einem heute noch immer aufsteigenden Gebirge aufgewölbt und die durch Erosionsprozesse zu bizarren Tafelbergen modelliert worden sind – das Hochland von Guayana in Südamerika, wo auch schon die Geschichte aus Conan Doyles Roman spielt. Während alle Welt plötzlich von einer Dino-Manie erfasst wurde, entsann ich mich erneut der fantastischen Fotos in dem Buch „Inseln in der Zeit“, die in der atemberaubend schönen Landschaft der venezolanischen Gran Sabana entstanden waren. So habe ich auch nie den Wunsch ganz begraben, einmal in meinem Leben die Tafelberge Venezuelas – dort Tepuis genannt – aufzusuchen. An diesen Wunsch wurde ich im Jahr 1991 ein weiteres Mal erinnert. Da sah ich im Fernsehen eine Reportage mit dem Namen „Inseln über dem Regenwald“ (der Serie „Terra X“), die von einer Expedition zu den Tepuis handelte. Und zugleich erhärtete sich meine Befürchtung, eine Reise dorthin sei dermaßen hammerhart und schwierig, dass ich sie niemals würde machen können. Aber sag niemals „nie“! Die Gründe, die mich früher zurückgehalten haben, gibt es für mich inzwischen nämlich nicht mehr. Meine Tochter ist heute erwachsen und selbst eine begeisterte Reisende, mein Mann, der niemals nach Venezuela reisen wollte, hat mich vor ein paar Jahren verlassen, ist inzwischen verstorben, und ich bin im Ruhestand, habe also Zeit für lange Reisen. Wer oder was kann mich jetzt noch von dieser Unternehmung abhalten? Nachdem ich in den letzten Jahren als Alleinreisende schon andere touristisch kaum erschlossene Gegenden Südamerikas bereist habe, ist die Zeit endlich auch reif für eine Reise zu den Tepuis. Nur sind die Presseberichte über Venezuela ausgerechnet momentan besonders ungünstig. Von Reisen nach Venezuela, die nicht aus irgendwelchen Gründen absolut notwendig sind, wird sogar dringend abgeraten. Mir läuft aber die Zeit davon. Ich kann aus Altersgründen nicht mehr lange warten, wenn ich so ein Gebiet kennenlernen und bereisen möchte. Noch bin ich fit genug dazu, also mache ich die Reise jetzt oder nie, auch wenn der Zeitpunkt mit dem der Wirtschaftskrise in Venezuela zusammenfällt. Wie reist man unter solchen Umständen? Ganz alleine zu planen und alles zu organisieren erscheint mir in so komplizierten Zeiten zu unsicher. Daher habe ich einen lokalen Reiseveranstalter kontaktiert. Vor Ort lebend, weiß er, was momentan möglich und erforderlich ist. Er hat außer diesem Ziel noch andere im Angebot, die man nach eigenen Wünschen und Vorstellungen miteinander kombinieren kann. Eines davon ist die fast ebenso unbekannte und entlegene Dschungel-Region des Orinoco-Deltas. Ich habe auch schon einmal zu Fuß eine Treckingtour am Amazonas gemacht. Dabei bin ich körperlich an meine Grenzen gekommen. Den Orinoco kann man hingegen im Delta nur per Boot bereisen, das erscheint mir für meine physische Verfassung eine etwas einfachere Art des Herumkommens zu sein. Nun habe ich mich also für einen reinen Natururlaub mit Tepuis und dem Orinoco entschieden, da fällt die Wahl auf weitere Stationen nicht mehr schwer. Den schönsten Fluss der Welt4 und die unberührte Traumküste des Chocó5 am Pazifischen Ozean, in dem die Buckelwale ihre Jungen gebären und aufziehen, wollte ich bereits seit Jahren kennenlernen. Beides liegt in Kolumbien und dort in Gebieten, die bisher politisch als äußerst unsicher galten. Seit 2012 laufen jedoch zwischen den verfeindeten Lagern der Regierung und der FARC6 intensive Friedensverhandlungen, die gerade zur Zeit meiner Reise vor dem Abschluss stehen. Nie erschien der Moment günstiger als gerade jetzt, wo alle Parteien auf Frieden hoffen. Da steht dort sicher auch das Reisen unter einem guten Stern. Zwischen diese Hauptziele meiner Reise lege ich noch ein paar andere Ziele in Venezuela, die aus verschiedenen Gründen für mich als Biologin besonders interessant sind – die Guácharohöhle, den Mochima-Nationalpark, und als Abschlussgebiet meiner Reise entscheide ich mich für die Los Roques-Inseln, wo ich noch ein paar Tage einfach nur relaxen und tauchen will. Ein Urlaub der Highlights für einen Naturliebhaber, ganz ohne Schickimicki, in landestypischen Unterkünften ohne Luxus und daher auch bezahlbar für mich. Das Einzige, was weder preisgünstig, noch „Öko“ an der Reise ist, sind die Flüge zwischen den einzelnen Zielen. Aber anders sind sie nun einmal nicht miteinander zu verbinden.

Vorbereitung ist der erste Teil einer gelungenen Reise.

Ab März beginne ich zu planen und Nicky, mein lokaler Reiseanbieter in Venezuela, „zimmert“ mir im Laufe der nächsten fünf Monate eine tolle Route zusammen, bei der auch wirklich alles stimmt. Am Ende wird die „Reise meines Lebens“ daraus. Dorthin möchte ich meine Leserinnen und Leser nun noch einmal mitnehmen.

1Sir Robert Hermann Schomburgk (* 5. Juni 1804 in Freyburg/Unstrut; † 11. März 1865 in Schöneberg) war ein deutscher Forschungsreisender.

2Sir Arthur Conan Doyle (* 22. Mai 1859 in Edinburgh, Schottland; † 7. Juli 1930 in Crowborough, Sussex, England) war ein britischer Arzt und Schriftsteller. Seine bekanntesten Werke handeln von den Abenteuern von Sherlock Holmes und dessen Freund Dr. Watson.

3John Michael Crichton (* 23. Oktober 1942 in Chicago, Illinois; † 4. November 2008 in Los Angeles) war ein US-amerikanischer Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur.

4 Der Caño Cristales ist ein Fluss im Departamento del Meta in Kolumbien, der im Nationalpark Serranía de la Macarena, einer Bergkette, entspringt und in den Guayabero mündet. Wegen seiner Farbenvielfalt von Juli bis November wird er als „Fünf-Farben-Fluss“ oder als „Flüssiger Regenbogen“ bezeichnet.

5 Das Departamento del Chocó ist ein Departamento im Nordwesten Kolumbiens. Es grenzt im Westen an den Pazifik und an Panama und im Norden an den Atlantik.

6Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens); Es handelt sich um größte und aktivste Guerillaorganisation Lateinamerikas, die sich selbst als marxistisch bezeichnet. Ursprünglich wollte die FARC die große soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit insbesondere in den ländlichen Regionen Kolumbiens abschaffen. Seit 1964 wurde dieser Kampf mit Waffen ausgetragen, deren Finanzierung aus Drogenhandel sowie Geiselnahmen und Lösegelderpressungen erfolgte. Zunehmend gerieten die ursprünglichen Ziele, die für eine größere Gerechtigkeit innerhalb der kolumbianischen Bevölkerung sorgen sollten, in den Hintergrund. Immer wieder wurden auch Unbeteiligte und Zivilisten zum Ziel gewalttätiger Aktionen. Während des langen Konflikts kamen in Kolumbien rund 220.000 Menschen ums Leben, von denen über 80% Zivilisten waren. Zudem wurden innerhalb des eigenen Landes rund 6 Millionen Menschen (13%der Bevölkerung ) aus ihren Heimatgebieten vertrieben. Seit 2012 verhandeln FARC und die kolumbianische Regierung um Bedingungen für einen Waffenstillstand und Friedensvertrag. In einem nicht bindenden Referendum lehnte am 2. Oktober 2016 eine knappe Mehrheit von 50,22 % der Kolumbianer den Friedensvertrag zunächst ab, da er ihnen in einigen Details zu weit ging. Wegen seiner Friedensbemühungen erhielt der kolumbianische Präsident Santos 2016 den Friedensnobelpreis. Nach dem Scheitern des Referendums werden die Verhandlungen weiter fortgesetzt.

Abreise

Fluch der Technik

„Schon wieder nach Kolumbien? Wird das nicht irgendwann mal langweilig?“, fragt mich eine Freundin, als ich ihr von meinen Reiseplänen berichte. Auch dass ich dieses Mal Regionen aufsuchen möchte, die ich noch nicht kenne, kann sie nicht nachvollziehen. „Was, in den Chocó? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Darüber habe ich unlängst etwas in der Zeitung gelesen. Da soll es momentan drunter und drüber gehen. Das ist doch viel zu riskant. Was? Auch noch in die Serranía de Macarena? Hast du nicht in deinem eigenen Buch schon darüber geschrieben, wie unsicher das Reisen, ja allein sogar schon das Ankommen, in dieser FARC-Hochburg sein soll? Und dass du danach auch noch nach Venezuela weiterziehen willst, halte ich für geradezu selbstmörderisch. Sogar Lufthansa fliegt dort jetzt nicht mehr hin. Warum dann ausgerechnet du? Willst du dein Schicksal unbedingt herausfordern? Liegt dir nichts mehr am Leben?“ So hat mich schon lange keiner mehr runtergeputzt. Als hätte ich mir alle diese Gedanken nicht auch schon gemacht. Aber wohin kann man in diesem Jahr überhaupt noch reisen? Es häufen sich die Schreckensmeldungen über Terroranschläge und Selbstmordattentate nicht nur irgendwo weit entfernt in der Welt, sondern sogar bei uns mitten in Europa.

In Kolumbien hingegen habe ich bereits auf meiner letzten Reise vor vier Jahren an allen Ecken das Bedürfnis nach Frieden erkennen können und mich immer sehr sicher gefühlt. Seitdem hat der Staat zusammen mit Vertretern der FARC im nahe gelegenen Kuba in den letzten Jahren ein Friedensabkommen erarbeitet, das mehr als ein halbes Jahrhundert Bürgerkriegszeit7 beenden soll. In der Zeit, in der ich dort sein werde, soll dieser Vertrag durch eine Volksabstimmung gültig werden – ein historischer Moment. Beide Seiten werden Zugeständnisse machen müssen, die allerdings einem Großteil der Bevölkerung zu weit gehen, weshalb die Friedensvereinbarung in dieser vorliegenden Form auch Ende September 2016 erst einmal abgelehnt wurde. Zum Zeitpunkt meiner Reiseplanung ist eine solche Entwicklung zwar noch nicht abzusehen, aber unabhängig vom Ausgang des Referendums ist bereits davon auszugehen, dass die Kolumbianer Frieden wollen – so oder eben anders in einem weiteren Anlauf. Ich sehe das für meine Reise nicht als ein Problem an, sondern eher als einen Grund, erneut dorthin zu reisen. Viel mehr sehe ich ein Problem in meinem Alter, denn so eine Reise sollte man sich nur vornehmen, wenn man körperlich einigermaßen fit ist, um sie genießen zu können.

Wenn mich nur nicht alle Freunde und Bekannte ständig mit schlechten Nachrichten über beide Länder geradezu bombardieren würden! Dabei lese ich dieselben Berichte ebenfalls. Ich bin bestens informiert und gewappnet. Und nein, Angst habe ich trotzdem keine. Stattdessen war ich noch nie vor einer großen Urlaubsreise so ruhig. „Das einzige, was mich beunruhigt, ist, dass ich so ruhig bin!“, sage ich zu meiner Freundin und lache über mein Wortspiel. „Ach, ich kenne dich doch. Das kommt noch“, sagt sie. Wenn sie mir schon die Reise nicht ausreden kann, dann hofft sie vielleicht, dass ich selbst aus lauter Angst im letzten Moment noch abspringe. Doch wie könnte ich von so einer Reise noch abspringen wollen? Ich habe mir meine Ziele mit viel Herzblut gewählt. Das sind Orte, die ich schon immer einmal kennenlernen wollte. Klar, dass es nicht einfach sein wird, dorthin zu gelangen. Neben dem Hinflug nach Kolumbien, dem Transfer nach Venezuela und von dort weiter nach Panamá und am Ende dem Rückflug nach Deutschland liegen 10 Charter-Flüge mit kleinen und kleinsten Maschinen. Fliegen ist oft die einzige Möglichkeit, überhaupt zu den ausgesuchten Zielen zu kommen. Diese Flüge und Aufenthalte zu koordinieren, zu organisieren und zu planen, war enorm aufwendig. Ich habe mir daher Hilfe geholt – allein war das nicht zu schaffen. Wenn ich es dennoch hätte tun wollen, wäre es zudem garantiert teurer geworden, und ich hätte zudem sicher Fehler gemacht. Reiseplanung soll, so meine ich, auch schon eine Art Vorurlaub sein und nicht in Stress ausarten.

Auch am Morgen der Abreise bin ich noch immer unverhältnismäßig ruhig. Die Prognose meiner Freundin hat sich bis jetzt noch nicht bewahrheitet. Ein wesentlicher Grund dafür besteht darin, dass das Packen einfach ist, da es an meinen Zielen nirgends auf schicke Kleidung ankommt. Überall ist es warm, beziehungsweise heiß, ich brauche also auch keine dicken Sachen außer einem Pulli für die Zugfahrt von Frankfurt nach Basel. Noch nie habe ich so wenig eingepackt. Ich habe einen großen Koffer, dessen Gewicht sogar vier Kilogramm unter dem zulässigen Höchstgewicht liegt. Mein Handgepäckkoffer ist fast leer. Er enthält in erster Linie meine Dokumente und Voucher sowie zwei Rucksäcke. Da ich an vier Urlaubszielen nur insgesamt 10 Kilogramm Gepäck mitführen darf, werde ich vor jeder Etappe umpacken müssen. Dann wird der große Koffer irgendwo deponiert – auch das ist bereits organisiert – der Handgepäckkoffer mutiert zum „normalen“ Koffer, der eine Rucksack zum Handgepäck und der kleine, absolut wasserdichte kommt im Koffer mit.

Die Frage der Schuhe ist auch sehr einfach zu lösen: Ich reise in Wanderschuhen und nehme Treckingsandalen und noch dazu ein Paar normale Sandalen mit – fertig. Für die Touren mit leichtem Gepäck habe ich kleine, leichte Fläschchen und Tiegel dabei, die ich vor jeder Etappe wieder auffüllen kann. Dann wiegt auch der Kulturbeutel wenig. Wenn doch noch irgendetwas fehlt, kann ich das in Medellín vor dem Weiterflug nach Venezuela kaufen. Dort herrscht gerade, wie man überall lesen kann, Mangel an fast allem – soweit es mich betreffen könnte, sind das Nahrung, Kosmetika und Medikamente. Also schön alles dorthin mitnehmen, besser zu viel als zu wenig. Was übrig bleibt, kann ich ja am Ende verschenken. Ich kaufe deshalb in Medellín, wie wohl fast alle anderen Venezuela-Reisenden, erst mal Klopapier ein. Eine gute Idee, wie sich herausstellen wird, da in dem sozialistischen Staat während meiner Reise ein akuter Klopapier-Notstand herrscht.

Ganz entspannt sitze ich am Abflugmorgen beim Frühstück und löse noch das Kreuzworträtsel in der Tageszeitung. Mein bester Freund wird in meiner Abwesenheit Haus, Post, Garten und Hund versorgen. Er wird mich jetzt gleich mit dem Auto zum Badischen Bahnhof nach Basel bringen. Von dort aus fahre ich mit dem Intercity nach Frankfurt zum Flughafen. Koffer und Handkoffer stehen neben dem Esstisch und sind bereits per Nummerncode verschlossen. Mein Blick fällt auf die Hülle mit allen Vouchern an meinem Essplatz – die habe ich ja noch gar nicht eingepackt! Also Handkoffer schnell noch mal öffnen. Es geht nicht. Nochmal Code eingeben. Ohne Erfolg. Und nochmal – gleiches Ergebnis. Es geht nicht. Und jetzt, nach Wochen der Ruhe vor dem Abflug, werde ich total hektisch, geradezu panisch. Ich kann mein Handgepäck nicht öffnen! Selbst wenn es jetzt doch noch irgendwie gehen sollte (was es aber nicht tut), scheint doch etwas Wesentliches daran kaputt zu sein. Wer weiß, wie oft ich dann das gleiche Problem noch unterwegs bekomme? Irgendwie kann man den Code ändern und neu eingeben. Ich war sogar so schlau, mir die Beschreibung dafür einzupacken – sie ist im Koffer drin. In dem, den ich ja nicht öffnen kann, und somit unerreichbar unter diesen Umständen. Die Zeit läuft mir davon. In zehn Minuten muss ich los zum Bahnhof. Also in Hektik vom Dachboden einen anderen Handkoffer holen – ein altes, schwereres Modell, das auch kein Schloss hat, und daher unterwegs nicht verschlossen werden kann. Aber wie kann ich nun den Handkoffer, in dem sich die Sachen jetzt noch befinden, öffnen, um sie herauszunehmen und dann in den anderen Koffer umzupacken? Ich hetze in den Keller zu meinem Werkzeugraum. Dort habe ich zwei Werkzeugkoffer, deren Inhalt im Laufe der Jahre nach dem Auszug meines Exmannes und nach diversen nie zurückgegebenen Ausleihen an andere Leute sehr reduziert wurde. Hoffentlich ist wenigstens in einem davon ein Werkzeug, das in diesem speziellen Fall hilft. Sicherheitshalber hole ich aus der Küche auch noch mein Zwillings-Küchenwunder – die Allzweckschere. Die beiden Werkzeugkoffer stehen jetzt neben beiden Reisekoffern, einer Fototasche und einer Handtasche um den Esstisch herum. Das Zimmer gleicht nun einer Gepäckdeponie, und mir bricht von der ganzen Hektik der Schweiß aus. Zum Glück kommt gerade mein Freund vom Gassigehen mit unseren drei Hunden heim. Mit allem, was uns zur Verfügung steht, öffnen wir das Schloss. Tatsächlich nur das Schloss – der Reißverschluss bleibt bei der Aktion funktionsfähig. „Jetzt kannst du die Sachen im alten Koffer lassen. Der andere geht ja auch nicht zu verschließen. Das dürfte aber kein Problem sein – das Handgepäck hast du doch ohnedies immer bei dir“, meint mein Freund. Das ist jedoch falsch, da die Funktion des Koffers sich während der Kleingepäck-Etappen immer wieder ändern wird. Dieses Problem muss ich unterwegs noch irgendwie lösen. Vielleicht gibt es ja an irgendeinem der vielen angesteuerten Flughäfen einen Gurt und ein Zahlenschloss zu kaufen. Ich verschiebe notgedrungen die Lösung des Problems auf spätere Zeiten. Schon vorweggenommen: Einen solchen Gurt bekommt man auf keinem Flughafen, und bis ich zwei Wochen später in Medellín in einem Laden so einen Gurt entdecke, habe ich zwei der vier Touren schon gemacht – da sehe ich dann auch keine Notwendigkeit mehr für einen Kauf, denn im Charterflugzeug hat man das Nicht-Handgepäck während des Fluges ständig im Blick, da es im Gang und auf den leeren Sitzen verteilt wird.

Mit nur fünf Minuten Verspätung fahren wir in Richtung Basel mitten im Berufsverkehr und über die deutsch-schweizerische Landesgrenze. Zum Glück gibt es nirgends einen Stau. Dafür ist am Bahnhof mal wieder kein Parkplatz frei. Man kann nicht alles haben. Kaum ausgestiegen, weiß ich, wie schwer mein Gepäck wirklich ist. Foto- und Handtasche hänge ich mir jeweils um den Hals und über eine Schulter. Dadurch kann ich die Arme nicht mehr richtig an den Körper anlegen. Rechts und links ziehe ich einen Koffer hinter mir her. Zum Glück war ich schon vorgestern auf dem Bahnhof. Da habe ich mir mein reserviertes Ticket am Automaten gezogen, das erst frühestens 72 Stunden vor Zugabfahrt abgeholt werden kann. Ein paar Tage zuvor war ich schon mal hier und habe mir für Hin- und Rückfahrt Sitzplätze reserviert. Wie schön war das noch im vorelektronischen Zeitalter! Da hat man das in einem Schwung bei einem Schalterbeamten persönlich erledigt. Und da der ja „vom Fach“ war, hat er es auch unter Garantie richtig gemacht. Ich tue mich mit Automaten aller Art immer schwer, ebenso wie mit Betriebsanleitungen. Hinzu kommt, dass ich dafür jedes Mal erst meine Lesebrille aus der Handtasche herausholen und anschließend wieder verstauen muss. Klingt einfach, ist es aber nicht. Wer Frauentaschen von innen kennt, weiß, dass so etwas immer mit erheblichem Wühlaufwand verbunden ist. Und da ist auch noch das Handy, meine wichtigste Verbindung nach Hause während der nächsten fünf Wochen. Ich habe mir wegen der Schwierigkeiten bei meinen früheren Kolumbienreisen dieses Jahr ein teures Smartphone gekauft, das – zumindest laut Verkäufer – sogar von Südamerika aus nach Europa einsatzfähig ist. Das alte konnte nämlich nicht ins kolumbianische Netz hinein. Kontakte zu meiner Tochter waren immer unglaublich kompliziert, selten und stets über drei Ecken. Während ich ja immer wusste, dass es mir gut geht, hat sie daheim Blut geschwitzt nach dem Motto: „Mama beim Trecken im Regenwald, keine Meldung. Was ist los? Lebt sie überhaupt noch?“ Nun also die Luxuslösung. So luxuriös, dass mir eben dieses Smartphone auch gleich eine Woche nach Erwerb bei einem Festival in meinem Wohnort aus meiner offenstehenden Handtasche geklaut wird. Zum Glück kommt der von der Versicherung gezahlte Ersatz gerade noch rechtzeitig. Nun habe ich aber Angst, es könne mir erneut gestohlen werden. Da hilft es nur, immer die Tasche verschlossen zu halten. Lästig, wenn man schnell mal die Lesebrille braucht. Tasche auf, suchen, Etui rausholen, Brille benutzen, Etui wieder verstauen – an sich keine große Aktion, aber mit zwei Rollenkoffern im Schlepptau und einer um den Hals hängenden Fototasche sieht das dann doch wieder anders aus. Zudem habe ich das Gefühl, gedrängt zu werden, wenn hinter mir Leute in der Schlange am selben Automat warten. Wenn man einmal verstanden hat, wie so ein Automat funktioniert, weiß man es fürs nächste Mal. Dann sollte es schneller gehen. Sollte! Leider ist es dann auf dem Rückweg von Frankfurt nach Basel eben doch nicht so, aber das beschreibe ich jetzt noch nicht, sondern erst später. Jedenfalls ist das Erlebnis nicht dazu geeignet, mein Vertrauen in die Technik zu fördern. Ich werde wohl weiterhin mit solchen Automaten auf Kriegsfuß leben.

Als notorischer Bahn-Muffel gefällt mir der Gedanke, mit schwerem Gepäck hier unterwegs sein zu müssen, ganz und gar nicht. Es gibt zwar ein Rollband von der Unterführung zum Bahnsteig hoch, aber man hat mir erzählt, das sei auch oft kaputt. Wie soll ich dann nur meinen schweren Koffer hoch zum Bahnsteig schleppen? Aber zum Glück funktioniert das Rollband heute reibungslos. Oben versuche ich herauszufinden, wo denn der Wagen mit meinem reservierten Sitzplatz halten wird. Learning by doing finde ich heraus, dass es Anzeigetafeln gibt, auf denen die Reihenfolge der Wagen für jeden Zug angegeben ist, und da vor mir ein offensichtlich Bahnkundiger nach seinem Wagen schaut, erkenne ich auch, dass am oberen Tafelrand Buchstaben stehen – dieselben wie sie auch auf dem Bahnsteig in regelmäßigen Abständen angebracht sind. Man muss dann nur unten auf der Anzeigetafel bei seinem Zug die Wagennummer finden und mit den Augen nach oben gehen, dann weiß man, bei welchem Buchstaben der Wagen zum Stehen kommt. Aber entweder bin ich beim Zug in die falsche Reihe gerutscht, sie haben die Wagen dann doch anders hintereinander gehängt oder der Zug hält zu weit vorne. Jedenfalls stehe ich zwei Wagen zu weit hinten und muss, beladen wie ein Packesel, zum richtigen Wagen hetzen. Ich nehme an, es ist nicht mein Fehler, denn auch die anderen um mich herum rennen mit ihren Rollenkoffern alle in dieselbe Richtung und fluchen wie die Rohrspatzen. Man weiß ja, dass der Zug nicht wartet, sondern – zumindest theoretisch – pünktlich nach sehr kurzem Aufenthalt im Bahnhof wieder losfährt. Man muss sich also immer sehr beeilen. Nichts von wegen Eile mit Weile. Hetze mit Koffern trifft es eher.

Endlich habe ich es geschafft, das Gepäck in den Zug zu heben und in der Nähe meines Platzes zu verstauen. Puh, was für eine Hektik und was für eine elende Knochenarbeit. Wieviel schöner ist es da doch, am Flughafen einzuchecken und den Rest mit leichtem Gepäck zu erledigen! Ich hätte auch von Basel nach Frankfurt fliegen können. Aber so günstig wie ein AiRail-Ticket ist eben keine andere Lösung. Und mit einer Billigfluglinie müsste ich in Frankfurt erst auschecken, um danach bei Lufthansa wieder einzuchecken. In der gleichen Zeit kann ich auch mit der Bahn fahren und dabei noch Geld sparen. Die Reise ist so schon teuer genug. In Frankfurt habe ich laut Fahrplan eine ganze Stunde Zeit vom Bahnsteig bis zum Check-In. Ich halte das für großzügig bemessen. Was ich aber außer Acht gelassen habe, sind die inzwischen legendären Verspätungen der Bahn. Zwar sind wir in Basel pünktlich abgefahren, aber bereits etwa eine halbe Stunde später stehen wir in einem Tunnel. Eine Oberleitung ist defekt. Der Schaden wird erst nach etwa 35 Minuten behoben. Wenn jetzt noch etwas dazwischenkommt, wird es eng mit dem Einchecken. Auch so wird der Aufenthalt auf dem Flughafen schon ziemlich stressig. Endlich am Check-In angekommen, muss ich mir erst selbst eine Bordkarte ausdrucken. Wieder Technik, ein Automat, noch dazu ein mir unbekannter, mit einer Schlange Leuten davor. Lesebrille aufsetzen, zwei Koffer, Handtasche und Fototasche um mich herum drapieren, und dabei noch von der Rennerei vom Bahnsteig hoch zum Airport ziemlich außer Puste, mache ich mich notgedrungen ans Werk. Das mit dem Selbst-Ausdrucken gab es bei meiner letzten Kolumbienreise noch nicht. Die Technik hilft ganz sicher dem Personal bzw. es hilft, mit weniger Personal auszukommen. Mir selbst hilft sie eher nicht. Auch die zwei jungen Männer direkt neben mir mühen sich frustriert mit ihrem Automaten ab. Als sie nach drei Fehlversuchen endlich erfolgreich sind, bitte ich sie einfach um Hilfe mit dem Argument: „Nachdem Sie jetzt wissen wie es geht, könnten Sie mir da kurz noch behilflich sein?“ Wenn sogar Junge Schwierigkeiten haben, so meine ich, muss man sich als Alte auch nicht schämen, etwas nicht kapiert zu haben. Schon gar nicht unter Zeitdruck, denn, Bundesbahn sei Dank, bin ich nun tatsächlich auf dem letzten Drücker.

Frankfurter Flughafen

Ich stehe als nächstes eine lange Schlange bei der Passkontrolle durch, wie alle anderen vor und hinter mir es ebenfalls tun. Der Passbeamte schaut mich mürrisch an und meckert los: „Warum haben Sie nicht die elektronische Passkontrolle gewählt? Damit ersparen Sie uns viel Arbeit.“ Wie? Was? Elektronisch geht auch? Wo? Und warum soll ausgerechnet ich das machen? Die anderen Leute vor und hinter mir haben es ja auch nicht getan. Mit denen schimpft keiner, nur mich hat es erwischt. Ich hebe schon zu einer überflüssigen Rechtfertigung an: „Ich habe es nicht so mit der Technik, wissen Sie. Ich bin von der Generation 60 Plus.“ Humor hat er wohl keinen, Toleranz schon erst recht nicht. Und was Freundlichkeit ist, ist ihm sicher gänzlich unbekannt. So schaut er mich kurz abschätzend an und meint: „Das würde ja sogar meine Oma noch kapieren.“ „Schön für Ihre Oma“, sage ich nur. Den Rest verkneife ich mir. Soll der Mann sich doch freuen, dass er Arbeit hat und sein Platz nicht schon von einem Automaten ersetzt wurde. Der wäre auch nicht so pampig. Was soll‘s? Ich wünsche dem Muffelkopp noch zuckersüß einen schönen Tag. Ein Aushängeschild für die Freundlichkeit des Frankfurter Bodenpersonals ist er jedenfalls ganz sicher nicht.

Einchecken auf dem Frankfurter Flughafen

Flug über die Andenketten

7 Beteiligte Parteien des über 50 Jahre anhaltenden Bürgerkriegs in Kolumbien sind die kolumbianische Polizei, die Streitkräfte, der (2011 aufgelöste) Inlandsgeheimdienst DAS (Departamento Administrativo de Seguridad), die Guerillagruppen FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) und ELN (Ejército de Liberación Nacional) sowie bis ca. 2006 auch die AUC (Autodefensas Unidas de Colombia), ein Dachverband paramilitärischer Gruppierungen unterschiedlichen Ursprungs. Die Drogenmafia ist keine eigenständige Konfliktpartei, sondern mit einer oder mehreren dieser Parteien verbündet, da sich Guerilleros und Paramilitärs seit Anfang der 1980er-Jahre verstärkt durch den Anbau und Verkauf von Drogen – insbesondere Kokain – finanzieren.

Kolumbien

Aufbruch in den wilden Osten

Anflug über die Llanos

Bereits eine dreiviertel Stunde später ist das Flugzeug in der Luft. Ich bin jetzt in Urlaub und tatsächlich wieder auf dem Weg nach Kolumbien. Meine kolumbianischen Freunde sind gerade selbst auf Reisen, ich kann sie also daher nicht besuchen oder mir unterwegs Rat und Hilfe von ihnen einholen. Ersteres ist schade, letzteres eigentlich auch gar nicht mehr nötig. Ich kenne mich inzwischen mit den kolumbianischen Gepflogenheiten gut aus, verstehe die Sprache, kenne den Flughafen Bogotá gut und – Luxus – ich werde sogar von einem Mitarbeiter einer lokalen Reiseagentur abgeholt und zu meinem Hotel in der Innenstadt gebracht. Es gibt folglich keinen Grund zu irgendwelcher Unruhe. Ja, wenn ich nicht so ein Schussel wäre, würde das wohl so sein. Aber kaum angekommen in Bogotá, werde ich nach längerem Schlange-Stehen am ersten Schalter nach meiner ausgefüllten Zolldeklaration gefragt. So eine habe ich aber gar nicht. Die Stewardess hat die Formulare dafür wohl ausgeteilt, während ich gerade auf der Toilette war. Und jetzt? Wieder zurück gegen den Strom, die ganze Zickzacklinie durch mit meinem Gepäck. Verflixt noch mal! Ich finde endlich auch einen Stand mit Formularen. Jetzt wieder das ganze Gerödel: Gepäck im Auge behalten, Dokumente erst mal zurück in die Handtasche, Lesebrille raus… Wo ist die Lesebrille? Das gibt es doch gar nicht! Sie ist unauffindbar. „Bleib ganz ruhig, Marion. Wo hast du sie denn zum letzten Mal gehabt? Im Flugzeug! Sie ist immer noch im Netz vor meinem Sitz! Und jetzt?“ Ohne Brille geht nichts. Es hilft nichts, ich muss mit allem Gepäck im Schweinsgalopp wieder zurück zum Flugzeug eilen. Hoffentlich steht das noch am selben Gate. Ich renne durch Gänge, die normalerweise Einbahnstraßen sind – vom Flieger zum Ausgang. Nun also verkehrt herum. Wo, zum Teufel, bin ich denn jetzt so genau hergekommen? Zum Glück kommt mir gerade die Stewardess entgegen, die mich während des Fluges betreut hat. Sie übergibt mich einem kolumbianischen bewaffneten Soldaten, der bringt mich zu einem Mann vom Bodenpersonal, der ebenfalls bewaffnet ist. Bewaffnete machen mich immer nervös. Das kenne ich ja aus Deutschland nicht. Er sieht so aus, als traue er mir nicht so recht, also spreche ich nun zum ersten Mal nach langer Zeit wieder Spanisch und erkläre ihm mehr schlecht als recht die Sachlage: Las Gaffas (die Brille) vergessen. Jetzt lacht er und legt einen Zahn zu. Gaffas braucht man – er weiß es, ist selbst Brillenträger. Ins Flugzeug rein darf ich aus Sicherheitsgründen dann doch nicht mehr, aber vier hilfsbereite Leute, darunter auch der Pilot, suchen und finden die Brille. Heureka! Jetzt schnell wieder zurück zum Formulare-Stand, Formular ausfüllen, Lesebrille verstauen, Ticket und Pass wieder aus der Tasche rausholen und zum zweiten Mal ab in die Schlange beim Einwanderungsschalter. Ein Glück, dass mir das Dokument noch gefehlt hat, sonst hätte ich das Fehlen der Brille zu spät gemerkt, um sie noch zurück zu bekommen. Als ich die Formalitäten erledigt habe, beginnt gerade erst die Gepäckausgabe, die aus irgendwelchen Gründen heute besonders lange auf sich hat warten lassen. Ich habe also wenigstens unterm Strich keine Zeit verloren, nur habe ich sie in großer Unruhe und Hektik verbracht. Das hätte ich einfacher haben können. Meine Ankünfte in Bogotá sind bislang immer von irgendwelchen unerwarteten und einigermaßen chaotischen Begebenheiten begleitet gewesen. Liegt das an Bogotá oder an mir? Wie auch immer, jetzt ist alles in Ordnung. Ich sehe am Ausgang gleich meinen lokalen Betreuer, Andreas, einen Deutschen, der seit 25 Jahren in Kolumbien lebt und Mitarbeiter einer Agentur ist, die mit der meines eigenen Anbieters zusammenarbeitet. Er hat ein Schild mit meinem Namen dabei, ist also nicht zu verfehlen. Er holt das Taxi heran, bringt mich zu meinem hübschen kleinen Hotel in der historischen Innenstadt und verabredet sich mit mir für den nächsten Morgen um 6.30 Uhr. Da müssen wir nämlich schon wieder los zum Flughafen. Dann allerdings muss ich bereits zum ersten Mal reduziertes Gepäck mitbringen, deshalb muss ich heute Abend noch umpacken. Der große Koffer verbleibt für die nächsten vier Tage im Hotel und nach der Macarena-Tour schlafe ich zwei weitere Nächte hier. Im Zimmer geht gleich die große Pack-Aktion los. Noch habe ich darin keine Routine, daher ist alles ziemlich kompliziert. Außerdem bin ich müde – in Deutschland wäre jetzt schon sechs Uhr morgens – und ich bin auch hungrig. Dagegen hilft ein Sandwich, das mir der Nachtportier bringt. Als ich alles fertig gepackt habe, will ich den Koffer wiegen. Dafür habe ich mir eine für die Reise neu gekaufte Kofferwage mitgebracht. Aber man kann sie nach Gebrauch nicht einfach wieder ausstellen. Als Mensch, der mit anderer Technik groß geworden ist, ahne ich nicht, dass die Waage nach einiger Zeit ganz von allein ausgeht. Stattdessen habe ich einfach die Batterie herausgenommen und gesondert in die Verpackung gelegt. Nun ist sie plötzlich verschollen, es gibt daher jetzt doch keine Waagebenutzung. Und das gleich vor der ersten Tour. Am nächsten Morgen, unmittelbar vor Verlassen des Zimmers, kontrolliere ich nochmal, ob ich alles dabei habe. Ich schlage die Bettdecke um und – plumps – fällt mir die Batterie entgegen. Wenigstens habe ich jetzt für die nächsten Touren doch noch eine funktionierende Waage.

Frühstück gibt es im Hotel erst ab 7.00 Uhr, aber der Portier hat mir ein Päckchen mit Sandwich, Getränk und Obst hingelegt und Kaffee, Coca-Tee und Schwarztee gibt es rund um die Uhr in der Lobby aus Warmhaltekannen. Also frühstücke ich im Taxi auf dem Weg zum Flughafen und trinke meinen Kaffee aus dem noch vor der Abfahrt im Hotel gefüllten Plastikbecher. Am Airport geht es nun zu einem mir bis dahin unbekannten Teil des großen Geländes, da ich ja einen Charterflug habe. Ich besitze auch noch gar kein Ticket. Das macht mich nervös, denn, soviel ich weiß, muss man zum Fliegen immer ein Flugticket haben. „Nein“, sagt Andreas. „Das ist schon richtig so.“ Tatsächlich muss ich am Schalter nur den Pass zeigen, dann wird auf einer Liste mein Name abgehakt, Señora Marion, und das war das Check-In. Der Koffer wird noch nicht einmal gewogen.

Bevor sich Andreas verabschiedet, bitte ich ihn, mir noch beim Geldziehen am Automaten behilflich zu sein. Ich habe nämlich mit kolumbianischen Cajeros (Geldautomaten) meine ganz speziellen Erfahrungen gemacht. Mal funktionieren sie, mal funktionieren sie nicht. Und was zum Teufel muss man da wieder eingeben? War es ahorro oder credito? Das habe ich noch nie wirklich begriffen und mir daher auch nicht gemerkt. Ich bin dringend darauf angewiesen, dass ich noch vor Antritt meiner Reise in die Serranía de la Macarena Geld ziehen kann, denn ich habe versehentlich gar kein Bargeld zum Tauschen in den Urlaub mitgebracht. Tatsächlich bin ich ganz ohne Geldscheine von Basel mit der Bahn nach Frankfurt gefahren und danach von Frankfurt mit dem Flugzeug nach Bogotá geflogen. Die Euroscheine liegen irgendwo daheim, wo ich sie mir vor der Reise noch gerichtet und dann vergessen habe. Zum Glück habe ich sie bis jetzt auch nicht gebraucht. Nun muss ich mich also unbedingt am Automaten mit kolumbianischen Pesos eindecken. Und tatsächlich: Es klappt.

An meinem Gate sind mehrere Flüge angeschrieben, einer davon nach La Macarena. Es ist bereits Boarding-Zeit. Ich gehe deshalb auch gleich vor zum Schalter. „Nein, das ist nicht ihr Flug“, sagt die Dame dahinter. Ihre Kollegin ruft derweil die Macarena-Reisenden auf. Warum nicht mich? Ich verstehe es nicht und frage nochmal nach. Erfahre etwas von Problemas, einem anderen Flugzeug und dass man mich aufrufen würde. Ich solle einfach sitzen bleiben und warten. Ich bin zum Glück nicht allein mit diesem Problem. Auch ein paar andere Reisende sehen ziemlich verunsichert aus. Die Mehrzahl der anderen Macarena-Reisenden ist inzwischen bereits dem Boarding-Aufruf gefolgt und schon nach draußen verschwunden. Sie wurden offenbar nach anderen Kriterien durchgelassen. Nur nach welchen? So eine Situation macht nervös. Zusammen mit mir sind es acht Personen, die vor dem Schalter unruhig auf- und ablaufen wie die Tiger im Zwinger. Etwa 20 Minuten später werden acht Namen aufgerufen, darunter endlich auch meiner. Wir eilen zum Gate und raus zu einem Bus. Darinnen sitzen und stehen bereits alle Leute, die zuvor schon aufgerufen worden sind. Nun sind also doch wieder alle beieinander. Die Frage, was das eben sollte, steht den meisten ins Gesicht geschrieben, manche lassen sich auch darüber belustigt aus. Aber, anders als es wohl in Europa der Fall wäre, schimpft keiner ernsthaft. Der Bus fährt eine wirklich lange Strecke bis zu einem kleinen Gebäude. Während der Fahrt kommt ein Flughafen-Bediensteter mit der Passagierliste durch den Bus und fragt jeden nach seiner Nummer, um sie dann auf seiner Liste abzuhaken. Nur was ist das für eine Nummer? Alle außer mir leiern eine etwa 15-stellige Zahlenfolge aus dem Kopf herunter. Als er mich fragt, bin ich völlig ratlos. Was, zum Teufel, will der eigentlich jetzt wissen? Irgendetwas, das wie „celular“ klingt, zu Deutsch Handy. Meine Telefonnummer? Wozu das denn? Die weiß ich auch noch immer nicht auswendig und bekomme schon richtiggehend Stress. Wie und wo finde ich jetzt stehend im Bus, der über Bodenwellen und um Kurven fährt, meine Handynummer heraus? Die Frau neben mir zeigt mir jetzt ihre Identitätskarte. „Cedula, cedula“, sagt sie. So lernt man neue Vokabeln: Cedula heißt Ausweis. Also Handy wieder in die Tasche packen, Lesebrille raus, Pass suchen. Applaus der Mitreisenden um mich herum. Peinlich? Oder einfach lustig? Ich entscheide mich für Letzteres. Ich erfahre, dass jeder in Kolumbien seine ID-Karten-Nummer auswendig kennt, weil man sie so oft nennen muss. „Mich hat in Europa noch nie einer nach meiner Ausweisnummer gefragt. Andere Länder, andere Sitten“, sage ich. Jetzt staunen die anderen. Es gibt Länder, in denen man seine Ausweisnummer nicht auswendig kennt. Das ist nun ihrerseits für sie kaum vorstellbar. Nach dem Aussteigen aus dem Bus betreten wir eine kleine Wartehalle in einer Art umgebauten Container und werden dort mit Gratis-Kaffee empfangen. Handgepäckkontrolle erfolgt durch ausgiebigen Schnüffeltest mehrerer Drogenhunde, die von bewaffneten Soldaten um die Rucksäcke herum geführt werden. Dann geht es lange Zeit nicht weiter. Eine zweite Runde Kaffee kommt, zudem wird jetzt auch zusätzlich noch Tee angeboten. Das ist zwar wirklich nett, aber eigentlich sind wir ja nicht zur Kaffee- und Teepause, sondern zum Abflug hier versammelt. Draußen schüttet es inzwischen wie aus Eimern. Wahrscheinlich wollen sie das Unwetter abwarten. Nach ungefähr einer halben Stunde fährt ein Auto mit etwa 30 Leih-Schirmen vor. Aha, es geht wohl jetzt irgendwann in absehbarer Zeit zu Fuß zum Flugzeug. Bald darauf erfolgt erneut ein namentlicher Aufruf, und wieder sind acht Namen nicht dabei, darunter auch mal wieder meiner. Keiner weiß, was das soll, das freundliche Bodenpersonal ebenso wenig wie die Passagiere. „Wir lesen nur vor, wer auf der Liste steht. Mehr wissen wir auch nicht.“ antworten sie auf unsere Frage. Wir bleiben notgedrungen sitzen und kommen untereinander ins Gespräch. Es herrsche wohl unterwegs gerade ein Unwetter, sagt ein Soldat zur Erklärung. Aber warum durften die anderen dann schon los? Das wäre ja dann doch auch für sie gefährlich. Nein, erfahren wir von einer der Frauen vom Bodenpersonal, nicht das Wetter sei der Grund, sondern die Tatsache, dass es zwei verschiedene Flugzeuge gäbe. Ein größeres für die anderen Leute und ein ganz kleines für uns. Eine Maschine, in der alle zusammen Platz gefunden hätten, sei heute nicht verfügbar gewesen. Hätte man uns das nicht gleich sagen können? Zu meiner großen, freudigen Überraschung höre jetzt neben mir zwei Leute Deutsch sprechen und drehe mich zu ihnen um. Es ist, wie ich später erfahre, eine Mutter mit ihrem erwachsenen Sohn. Sie ist Deutsche und arbeitet in Kolumbien, er ist Halbkolumbianer, wohnt in Deutschland und ist momentan auf Südamerika-Trip. Die beiden schickt der Himmel. Sie sind mir auf Anhieb sympathisch und sie sprechen die Landessprache fließend, im Gegensatz zu mir. Wenn sogar sie nicht verstehen, was hier los ist, liegt es wenigstens nicht an meinen Sprachfähigkeiten. Ich habe immer Angst, Fehler zu machen, weil ich etwas nicht verstanden habe und dass ich deshalb am Ende vielleicht mein Flugzeug verpasse. „Das kann doch fast nicht passieren“, sagt die Deutsche, „so oft, wie die einen dann noch persönlich ausrufen.“ „Naja, niemandem außer mir“, sagt lachend ihr Sohn. Ihm sei es nämlich erst bei seinem letzten Flug gerade vorgestern so gegangen. Da habe er in Lima so rechtzeitig eingecheckt, dass er meinte, jede Zeit der Welt zu haben. Auf die diversen Aufrufe hat er gar nicht geachtet. Sein Flugzeug samt Gepäck war dann irgendwann weg, und er hatte danach einige Probleme zu lösen, bis er in Bogotá eintraf und wieder mit seinem Gepäck zusammengekommen ist. Schön, wenn solche Dinge auch jungen Leuten mal passieren, dann ist es doch zumindest keine Alterserscheinung. Ich erzähle von meinem Brillen-Erlebnis am Vorabend. Pannen verbinden! Endlich kommt unser kleines Flugzeug – das klein