Wo der Nordstern sein zu Hause weiß - Solène de la Pluie - E-Book

Wo der Nordstern sein zu Hause weiß E-Book

Solène de la Pluie

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Beschreibung

" Wo der Nordstern sein zu Hause weiß" erzählt eine tragische Liebesgeschichte. Die verheiratete Madeline Heart verliebt sich in den verheirateten Dr. Anthony Bennett. Anthony hüllt sich bezüglich seiner Gefühle in Schweigen, als gläubigen Menschen ist es ihm verboten seine Ehefrau zu verlassen. Madelines Ehemann John erkennt im Verlauf, dass seine Frau Anthony auf eine Weise liebt, mit der es ihre Ehe nicht aufnehmen kann. Der Verlust der kleinen Schwester Lana schadet Madelines Psyche zusätzlich. Die psychischen Belastungen führen zu Wahnvorstellungen. Die verzweifelte Madeline entschließt sich in ein Kloster zu gehen. Dort begegnet sie Estelle, mit der sie eine tiefe Freundschaft verbindet. Maddie die sich versündigt glaubt, möchte noch eine gute Tat vollbringen. Sie verfolgt den Plan, sich an den beiden Männern, welche Lanas und Estelles Seelen beschmutzt haben, zu rächen. " Wo der Nordstern sein zu Hause weiß", ist ein tragisch philosophischer Liebesroman, der die moralischen Wertvorstellungen im neunzehnten Jahrhundert, sowie in der heutigen Zeit, in Frage stellt. Wer ist befugt über eine liebende Seele zu urteilen? Wenn Ihnen Romeo und Julia, Anna Karenina oder Suite francaise gefallen, werden Sie diesen Roman lieben.

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Vertraue niemals anderen,

alleine deinem Herzen.

Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,

Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.

Johann Wolfgang von Goethe – Marienbader Elegie

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel I

England 1881

Frühling

Sommer

Herbst

Winter

Kapitel II

Kapitel III

Prolog

Glauben Sie mir, ich war nie ein verrückter Mensch, ich war stets zu akkurat für die hiesige Gesellschaft, doch… das Leben geschieht, irgendwann stellt es keine Fragen mehr… Menschen verändern sich, vollendete Tatsachen sind nicht mehr zu ändern.

Glaube mir, wenn ich in deine Augen sehe, weiß ich, dass es möglich ist, nicht nur eine Seele zu lieben, jede auf eine besondere Art und Weise. Die Anerkennung und Annahme einer nicht monogamen Liebe stellt sich jedoch als nicht tragbar, als Verrat dar, an dem Menschen, dem wir erstmals unsere Liebe geschworen haben…

Ich komme nicht umhin, dich auf ein Podest des Höchsten zu stellen… mein Herz will mir endgültig versagen… Ich nehme das Leid jedoch wehmütig an, lade meinen Freund, den Schmerz, ein, gehe mit ihm durch Dunkelheit, Verzweiflung, Angst und Einsamkeit. Ich habe nie um diese Rolle gebeten… Teufelswerk kann Liebe nicht sein… Am Ende wird es sein wie es immer schon war… die schöne Frau an deiner Seite, die dein ganzes Sein ausmacht. Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen...

In Liebe Madeline.

I

England 1881:

Das ganze Haus befand sich in hellem Aufruhr, jetzt waren es nicht einmal mehr vierundzwanzig Stunden bis zur Hochzeit. Wenn ich mich an meine eigene Hochzeit zurückerinnere, weiß ich, dass sich meine Euphorie und Aufregung in Grenzen hielten. Das bedeutet jedoch nicht, dass meine Hochzeit nicht zu einem der schönsten Tage in meinem Leben zählt. Vivienne, die mit ihren achtzehn Jahren morgen ihre Jugendliebe Arthur ehelichen würde, wirkte im Gegensatz zu mir damals vollends ungeduldig und außer sich vor Freude, sodass sie einen jeden mit ihrer Unruhe und Nervosität ansteckte. Es war schon früh klar, dass die beiden füreinander bestimmt sind. Sie begegneten sich im Alter von sieben und zehn Jahren das erste Mal. Arthur ist der Sohn einer guten Freundin unserer Mutter. Je öfter sie sich sahen, desto sicherer wurde ihre Verbindung.

Das Problem an dieser zugegeben romantischen Geschichte war, dass Arthurs Vater bereits eine andere Heiratskandidatin für seinen Sohn auserwählt hatte, und von diesem Plan ließ er sich nicht abbringen. Die Mitgift hätte sich sehen lassen können, sein Sohn wäre bis zum Lebensende abgesichert gewesen. Unsere Familie ist zu einer Hälfte polnischer Abstammung, andererseits haben wir englisches Blut, doch übermäßig vermögend sind wir nicht, nicht mehr. Für Arthur gab es immer nur Vivienne, Geld weckte sein Interesse nicht. Arthur verließ seine Familie als er verstand, dass keiner von ihnen an seinem Glück interessiert war und von ihm verlangt wurde, sich des Geldes wegen das Herz herauszuschneiden. Die Entscheidung, mit seinem Vater zu brechen, zehrte lange und schwer an ihm, doch nichts vermochte es, sich über sein Liebesglück zu stellen. Er genießt meinen tiefsten Respekt im Hinblick auf diese Sache, ich bewundere ihn. Arthur ist ein sehr liebevoller Mann, und ich bin dankbar, dass Vivienne und er sich gefunden haben.

Wir sind zwei Schwestern unterschiedlichen Naturells. Vivienne gelingt es jedes Mal, die Menschen mit ihrer offenen, sorglosen und lebensfrohen Art für sich zu gewinnen. Es geschieht ganz selbstverständlich, und ein jeder fühlt sich sogleich komfortabel und willkommen in ihrer Gesellschaft. Ich, als ältere Schwester mit meinen zwanzig Jahren, bin viel ruhiger, studiere die Philosophen und Musiker, ihre Werke, die sie uns hinterlassen haben, in denen für mich oft etwas Wahres und Verborgenes zu finden ist. Ich komme mit mir selbst gut aus, das heißt, ich verfalle nicht in Melancholie, wenn mein Mann John wieder einmal für einige Wochen politisch aktiv unterwegs ist, wenngleich man mich mit einer schwerblütigen Natur vergleichen könnte. Vivienne braucht die Gesellschaft, den Trubel, sie würde ohne Gesellschaft nicht zurechtkommen. Unsere jüngste Schwester Lana ist mit zwölf Jahren gerade dabei, ihre Persönlichkeit zu entwickeln. In den letzten Monaten war es besonders für sie nicht einfach. Mama starb im letzten Frühling, ganz plötzlich ging sie von uns, ohne jede Vorwarnung. Ihr Tod stellte uns alle vor die größte Herausforderung. Vor allem Lana hatte dadurch viel ihrer kindlich unbeschwerten Art verloren. Wir Schwestern weinten unzählige Tränen, traten in zwiespältige Gespräche mit Gott, und unseren armen Vater trieb ihr Verlust in die Nervenheilanstalt. Ein halbes Jahr verbrachte er dort. Wenn wir zu Besuch kamen, war er anfangs derart verwirrt, dass er seine eigenen Töchter nicht erkannte oder uns mit Mama verwechselte. Nach seiner Entlassung hofften wir alle, trotz des anhaltenden Schmerzes über Mamas Verlust, auf den Beginn eines sich normalisierenden Lebens. Vergebens. Am Tag verschanzte er sich in seinem Zimmer, aß unregelmäßig und er, der sonst ein hohes Ansehen in der Gesellschaft genoss, verlor an Achtung. Des Nachts schlich er sich für gewöhnlich aus dem Haus, um im Dorf seinem Drang, den Kummer in Brandy und Whisky zu betäuben, nachgehen zu können. Die Gesellschaft ist ein übles Pack, wenn Dinge geschehen, die sich mit ihrer sozial strukturierten Vorstellung von moralischer Kultur nicht decken. Allen hätte ich gewaltig ihre Mäuler stopfen wollen, als herauskam, dass Papa, von allen guten Geistern verlassen, sich nach seinen Saufgelagen im Schoße einer Dirne des Dorfes ausweinte und in seiner Verzweiflung Trost bei ihr suchte. Es ging so weit, dass das Geschwätz des niederträchtigen Volkes bis zu unserem Onkel vorrückte. Onkel Maxwell, der Bruder unserer Mutter, sah sich zum Handeln gezwungen, seiner Aussage zufolge insbesondere, um unseres guten Rufes willen. Papa hatte in kürzester Zeit viel Geld verschwendet, die Leute fingen an, die wildesten Geschichten über uns zu erzählen… Deshalb sah er es als seine Aufgabe, uns vor ihm „zu beschützen“. Er forderte Vater auf, sich nicht mehr mit uns in Verbindung setzen zu dürfen, wenn ihm etwas an seinen Töchtern liege. Papa hat das sehr verletzt, und seither wurde er bei uns nicht mehr gesehen. Er lebt mit seiner „Trösterin“ Maggie außerhalb von Forest High, wo unser Haus steht. Wir besuchen ihn und Maggie ab und an, Viv und Lana fahren meist zu zweit zu ihm. James, unser älterer Bruder, und ich besuchen ihn häufig gemeinsam.

Es ist nicht im Geringsten so, dass wir Kinder uns unseres Vaters wegen geschämt hätten, im Gegenteil. Ich liebe meinen Vater tief, wir alle lieben ihn, doch unser Wohlergehen liegt ihm zu sehr am Herzen, als dass er die üblen Nachreden und abfälligen Blicke, die uns seinetwegen weiter verfolgen würden, hätte akzeptieren können. Immer stellte er sich schützend vor seine Kinder und ließ uns jede Unterstützung zukommen, die ihm möglich war. Als Mama ging, verlor er sich allerdings selbst. Er verglich unsere Mutter stets mit einer roten Rose in einem Garten, eingebettet in Polarkälte, umgeben von Eiskristallen und Schnee, sie war seine Königin. Er erzählte einmal, dass er alles hätte ertragen können, nur nicht den Verlust seiner starken, wunderschönen Rose, die sein Heiligstes war. Wir befürchteten, dass er niemals über ihren Tod hinwegkommen würde. Doch in Maggies Armen fand er zumindest Ruhe, eine Ruhe, die er bei uns nicht mehr finden konnte. Niemand würde verstehen, wieso man einen Irren, der in Ungnade gefallen ist, besuchen sollte, außer man sei selbst vom rechten Weg abgekommen. Unsere Großeltern sowohl mütterlicherals auch väterlicherseits sind früh verstorben, und ich habe kaum noch eine Erinnerung an sie, so schrumpfte unsere Familie auf einen Vater mit drei Kindern. Erweitert zähle ich natürlich Viviennes Mann Arthur und meinen Mann sowie unsere Tante Charlotte, Papas ältere Schwester, dazu.

Wenn wir alle zusammen zu Papa fahren würden, wäre das Aufsehen zu groß. Auch John, mein Ehemann, darf es nicht wissen. Einmal folgte er mir, um mich von einem Treffen mit Papa abzubringen. Unter seiner Aufsicht gewährte er mir letztlich diesen einen Besuch, und ich musste ihm versprechen, mich künftig an Onkel Maxwells Vorschrift zu halten und den Kontakt zu unterlassen. Ich war weniger über Onkel Maxwells abstruse Maßregelung betroffen, von ihm hatte ich nie erwartet, dass er sich zu einen Herzmenschen entwickeln würde. Ich erwartete nichts von meinem Onkel und ließ mich zugleich auch nicht von ihm einschüchtern. Dass John mir den Umgang mit meinem Vater verwehrte, traf mich allerdings tief, und ich verstand nicht, welche Absicht er damit verfolgte, außer mir das Herz zu brechen. Ich verzeihe es ihm bis heute nicht. Ich war mir von Beginn unserer Beziehung durchaus bewusst, dass wir beide wie Feuer und Wasser sind, aber ich liebe ihn und fühle mich bei ihm geborgen. Manches in seiner Art wird mir jedoch immer befremdlich sein.

Lanas Augen strahlten endlich wieder, denn sie freute sich, auf der Hochzeit ihr neues Kleid tragen zu dürfen. Nachdem ihr Vivienne noch dazu versprochen hatte, sie könne morgen so lang wach bleiben und tanzen, wie es ihr beliebt, keimte Hoffnung in ihr auf, und ich betete lange Zeit zu Gott, sie wieder glücklich sehen zu dürfen. Sie war eine begnadete Ballerina, nach dem Tod von Viola allerdings igelte sie sich Monate lang in ihrem Zimmer ein und schwor, nie mehr tanzen zu wollen. Vivienne war tapfer, niemand merkte ihr durch ihre nach außen immerzu fröhliche Art an, dass sie noch gestern Abend, ihren Kopf in meinem Schoß versteckt, bitterlich geweint hatte, da beide Elternteile nicht zu ihrer Hochzeit kommen würden. „Jedes Mal, wenn der Kummer darüber versuchen will, dich in die Knie zu zwingen, siehe Arthur in die Augen, sehe eure gemeinsame Zukunft, die glücklich sein wird, und denke daran, dass Mama und Papa, auch wenn sie nicht da sein können, dich doch immer lieben werden, das weißt du!“ Dies sagte ich ihr, da es meine Überzeugung ist. Ich hatte das Privileg, meine Hochzeit mit beiden erleben zu dürfen, das ist mir bewusst, und ich empfinde eine große Dankbarkeit dafür.

Wir alle blickten dem morgigen Tag mit freudiger Erwartung entgegen. Selbst ich, die es doch eher bevorzugte, meinen geistigen Fähigkeiten alleine und in Stille Unterhaltung zu bieten, als in lauter, prunkvoller Gesellschaft mit geschickter Wortgewandtheit zu glänzen, freute mich wahrhaftig.

Vivienne und Arthur haben erstklassige Musiker engagiert, und ich sah mich vor meinem geistigen Auge die Nacht durchtanzen, so wie ich es früher allzu gerne, ungebunden und unerfahren, beinahe sorgenlos, getan hatte. Ich war bei weitem keine gar so begabte Tänzerin wie Lana, aber meines Erachtens war ich ein immer gern gesehener Gast auf Bällen und Musikveranstaltungen. Die Musik liegt auch mir wie Mama und Lana im Blut. Wir sind eine musikalische Familie. Dank Mama bin ich des Klavierspielens mächtig, und ich habe ein Stück am Piano eigens für Viv und Arthur komponiert, welches ich morgen vorspielen wollte. Wochenlang habe ich nach einer geeigneten Melodie gesucht. Es kostete mich einige Zeit und Nerven, um die mir vorschwebende Melodie zu Papier zu bringen, doch, so wie ich hoffe, ist sie ganz passabel geworden.

Unser Haus ist groß, so groß, dass es für meine Geschwister, Vivs und meinen Mann sowie Onkel Maxwell und seine Frau möglich ist, Seite an Seite zu wohnen. Es ist ein Herrenhaus, welches seit Generationen weitergeführt wird und beinahe als kleines Schloss bezeichnet werden kann.

In Anbetracht gewisser Regelungen und des vorhandenen Platzes lernte ich, damit zu leben, unter dem gleichen Dach wie Onkel Maxwell zu leben, auch wenn sich innerlich immer wieder Groll gegenüber ihm bemerkbar macht, ich meide ihn weitestgehend. Das wichtigste ist mir, meine Schwestern und meinen Bruder nah bei mir zu wissen. Wir geben uns gegenseitig einen Halt, welchen uns niemand sonst geben kann.

Der Tanzsaal war bereits mit Blumen übersät, und die Kerzenleuchter warteten darauf, entzündet zu werden. Lana und ich schlichen uns heimlich nach unten, um die letzten Vorbereitungen beobachten zu können. Jeder Bedienstete gab sich sichtlich Mühe, den Saal mit seinen wunderschön hohen, weißen Gewölbedecken in eine kleine Märchenszene zu verwandeln. Rote und weiße Rosen zierten den Brauttisch, die Tische, an denen die Verwandtschaft sitzen sollte, wurden mit dunkelblauen Rosen verschönert. Freunde und Bekannte durften an einem mit gelben Rosen geschmückten Platz dinieren. Der ganze Raum duftet himmlisch nach Blumen. „Madeline, kommt Cousin Owen morgen auch?“, wollte Lana wissen. „Natürlich, meine Maus, Tante Charlotte hatte es in ihrem letzten Brief versichert“, erklärte ich ihr. „Und meinst du, Owen freut sich auch schon auf das Fest? Glaubst du, er wird mich zum Tanz auffordern?“ „Selbstverständlich, Lana, ich bin mir ganz sicher.“ Meine Schwester strahlte über ihr hübsches Gesicht. Ihre hellgrünen Augen füllten sich mit Hoffnung und Vorfreude. Es brachte mich fast zum Weinen, da ich ihr Lachen beinahe vergessen hatte. „Maddie, steckst du mir morgen früh die Haare hoch, bitte?“ „Natürlich.“ Sie umarmte mich, woraufhin ich ihr einen Kuss gab. Dass sie seit dem letzten Gartenfest unserer Verwandtschaft für Owen schwärmte, wusste ich, und er, wie ich hoffte, empfand auch für sie ähnlich. Ein Dutzend Mal habe ich mir seine ihr gewidmeten Worte angehört, Lana wiederholte sie wieder und wieder:

„Liebstes kleines Cousinchen, die so zart wie eine Butterblume ist, ich möchte mit dir zu den Sternen reisen und die Sonne in dein Herz legen.“ Unser Cousin ist sechs Jahre älter als Lana, ich hatte mir nie besonders viele Gedanken über ihn gemacht, doch irgendetwas an seiner Art missfiel mir immer schon. Er wirkte auf mich in seiner Juvenilität mit seinen fünf Haaren auf der Oberlippe wie ein Möchtegern-Casanova. Seine Ausstrahlung empfand ich stets dissonant expressiv, doch wenn Lana ihm ihr Herz schenken wollte, so war ich gewillt, seine innere Schönheit zu erkennen.

Hand in Hand erkundeten wir das weitere Geschehen, den Tumult und die Vorbereitungen im Haus für den morgigen Tag und entdeckten dabei Vivienne und Arthur, die den Hochzeitstanz noch einmal probten. Lana und ich beobachteten sie dabei. Beide waren keine begnadeten Tänzer, dennoch wirkte jeder Schritt stimmig und taktvoll. Vor allem aber konnte man die Liebe, die sie füreinander empfinden, wahrlich sehen. „Bravo, bravo“, jubelten Lana und ich ihnen nach Verklingen der Musik zu. Erst jetzt bemerkte Vivienne unsere Anwesenheit und fiel uns in ihrer überdrehten und hektisch aufgeregten Art um den Hals, als die Musik verebbte. „Oh Maddie, Lana, habt ihr uns gesehen, was meint ihr? Werden wir uns morgen blamieren müssen? Wir üben schon seit Monaten, und ich habe solche Angst, die Schritte zu vergessen.“ „Nein! Sicher nicht“, sagte ich mit einem strahlenden Lächeln. Ich war voller Freude für die Beiden. „Ja, Viv, ihr macht das wirklich toll“, sagte Lana. „Wird schon schief gehen“, brachte Arthur mit ein und gab seiner zukünftigen Braut einen überschwänglichen Kuss, der Vivienne zum Lachen brachte. Er hob sie hoch, drehte sich dann mit ihr im Kreis, was

Vivienne immer lauter kichern ließ: „Arthur, lass mich runter, mir wird ja ganz schwindelig, Schatz, wir fallen noch hin.“ „Ich liebe dich,

Vivienne, ich liebe dich.“ „Ja, ja, ich dich doch auch, lass mich runter.“ Er ließ sie herunter, und beide liefen im Haus wie die Kinder hintereinander her. Ihre Zuneigung war von einer spielerisch kindlichen Art, die ich beneidete.

Es war bereits Abend, als John von seinem politischen Treffen zurückkehrte. Beinahe zwei Wochen war er weg gewesen, und ich sehnte mich danach, ihn wieder in meine Arme schließen zu dürfen, um seinen mir so vertrauten Geruch, den Geruch meines Mannes, riechen zu können. Ich hörte sein Pferd wiehern, schaute aus dem Fenster meines Zimmers und erblickte ihn, durchnässt vom Regen, zu unseren Ställen reiten. Schnell eilte ich mit einer Decke zur Eingangshalle hinunter durch den hell beleuchteten Hauskorridor und bat im gleichen Atemzug Betsy, Teewasser für Mr. Heart zu erhitzen.

Als er vor mir stand, umarmte ich ihn überschwänglich, ungeachtet der nassen Gewänder, die schwer an ihm herunterhingen. Ich nahm das Cape von seinem Kopf, selbst sein darunter verstecktes blondes Haar war durchnässt. Sachte löste er sich aus meiner Umarmung. „Madeline, bitte komm mir nicht zu nahe, ich fürchte mir eine Erkältung eingefangen zu haben. Meine Glieder sind schwer, ich habe seit Tagen einen entsetzlichen Husten, bitte lass mich... Alles, was ich wünsche, ist mein Bett und einen warmen Tee.“ „Natürlich“, entgegnete ich ihm mit gesenktem Kopf, enttäuscht und getroffen über seine ablehnende Haltung, sodass meine Freude sich verflüchtigte.

„Betsy hat das Wasser bereits aufgesetzt, erlaubst du, dass ich dir den Tee nachher selbst bringe? Ich habe dich sehr vermisst.“ „In Ordnung“, lautete seine Antwort, wenig dankbar.

So hatte ich mir unser Wiedersehen nicht vorgestellt, aber er konnte schließlich nichts dafür, dass er sich unwohl fühlte. Seinen Tee brachte ich ihm, und ohne sich zu rühren, erklärte er: „Würdest du mich heute alleine schlafen lassen, du weißt, ich brauche meine Ruhe, wenn ich krank bin.“ Es war lange her, doch konnte ich mich augenblicklich an damals erinnern, an eine ähnliche Situation, in der er einen schweren Husten hatte. Mich hatte es nie gestört, in Krankheit neben meinem Ehemann zu schlafen, doch so war er eben, und so wollte ich nicht egoistisch sein und ihm seinen Wunsch, alleine gelassen zu werden, gewähren.

Ob er morgen zur Hochzeit wieder kräftig genug sein würde? Eine böse Vorahnung überkam mich… das würde an ein Wunder grenzen. Seine Augen waren glänzend und sein ansonsten athletisch gesunder Körper glich der Statur eines in sich zusammen gekrümmten Knechts.

Als ich noch einmal in den Hochzeitssaal hinunterging und feststellte, dass endgültig alles organisiert zu sein schien, kein Dekorateur, Florist oder Musiker zu sehen war, begab ich mich auf die Suche nach meiner Schwester, die sicher noch nicht schlafen konnte. Auch in Anbetracht der späten Stunde war ich überzeugt, sie noch nicht schlafend vorzufinden, sodass ich an ihre Türe klopfte. „Viv, schläfst du schon? Ich bin es.“ „Maddie, komm rein.“ „Dachte ich mir doch, dass du noch nicht schläfst. Du solltest aber langsam, du willst doch morgen nicht mit dunklen Augenringen vor den Altar treten.“ „Nein, nein, aber ich lege meinen Schmuck, mein Kleid, Schleier und Schuhe schon zurecht, dann geht es morgen früh schneller.“ „Ist John vorhin nach Hause gekommen, ich meine, ich hätte die Stalltüre gehört?“ „Ja, aber er schläft schon. Es geht ihm nicht gut. Er bat mich, ihn alleine zulassen. Nicht einmal seine Stirn konnte ich fühlen, ob er Temperatur hat. Es wird nichts Ernstes sein, hoffe ich, aber Tage und Nächte bei Wind und Wetter haben ihn wahrscheinlich einfach anfällig für eine Erkrankung gemacht.“ „Oh nein, Maddie, er muss doch morgen dabei sein! Ich bestelle sofort Dr. Fieldings.“ „Viv, nein, bitte lass es gut sein. Ich sehe nachher nochmal nach ihm, er braucht nur seine Ruhe und Schlaf. Du weißt doch, dass er keine Ärzte mag. Womöglich wäre er mir sehr böse im Nachhinein.“ „Soweit kommt es noch, ich heirate in ein paar Stunden und du sollst morgen mit mir ausgelassen und freudig diesen Tag teilen und nicht vor Sorge um deinen Mann allen Spaß vergessen. Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ „Aber es ist schon sehr spät“, erklärte ich meiner Schwester in der Hoffnung, dass sie diese Tatsache von der Idee abbringen würde, den Arzt zu konsultieren. Vivienne schlüpfte in ihren Morgenmantel. „Was machst du?“ Wollte ich wissen und stellte mich ihr in den Weg. Sie eilte an mir vorbei, öffnete die Tür ihres Schlafzimmers, lief die Treppen hinunter und rief mir hinterher: „Ich lasse Betsy nach Dr. Fieldings schicken, keine Widerrede, und wenn mein Schwager sich deswegen echauffiert, nehme ich das auf meine Kappe, Schwesterherz.“ Still und stumm stand ich da und konnte mir schon jetzt Johns Reaktion vorstellen… Andererseits war es vielleicht doch keine schlechte Idee, ihn von einem Arzt untersuchen zu lassen, nicht, dass er am Ende noch eine Lungenentzündung hatte. So wären wir auf der sicheren Seite, auch wenn ihm das im ersten Moment herzlich egal sein würde und wir uns alle auf einen Tobsuchtsanfall würden einstellen müssen…

In der Zeit, in der wir auf den Doktor warteten, war ich noch einmal in meinem Ankleidezimmer, um Vivienne die Kette unserer Mutter zu holen, welche sie an ihrem Hochzeitstag getragen hatte. „Mach‘ die Augen zu, Viv.“ „Wieso, was hast du vor?“ „Gar nichts, mach‘ sie einfach nur zu und dreh‘ dich um.“ Sie tat kichernd, wie geheißen, und ich legte ihr das mit Perlen besetzte Collier um den Hals. „Jetzt darfst du deine Augen wieder aufmachen“, sagte ich. Sie blickte hinunter an ihren Hals und rief: „Madeline! Das ist Mamas Kette, sie hat sie damals dir geschenkt!“ „Nun schenke ich sie dir.“ „Du weißt, wie sehr ich diese Perlen liebe.“ „Natürlich“, sagte ich und freute mich über die gelungene Überraschung. „Du bist die tollste Schwester auf der ganzen Welt, Madeline Heart. Ich hab‘ dich lieb, tausend Dank.“ Erneut umarmten wir uns. Ihre Freude machte auch mich glücklich. „Ich hab‘ dich auch sehr lieb, Viv.“ „Nimm es mir bitte wieder ab, Arthur darf es erst morgen sehen.“ Eine Stunde verging, als wir unten im Haus Stimmen hörten. Betsy hatte Dr. Fieldings eintreten lassen.

Der Doktor klopfte an Johns Türe und trat in sein Zimmer, als ich die Treppen hochkam. Zuvor hatte ich überlegt, John über den Arztbesuch zu informieren, unterließ es dann aber in der Hoffnung, dass er die Hilfe dankbar annehmen würde. Vivienne bemerkte meine Unruhe und sagte:

„Madeline, sei bitte nicht böse mit mir, aber es muss ihn doch ein Arzt anschauen.“ „Ich bin nicht böse, du hast ja Recht.“

Nach einer Weile fasste ich den Entschluss, hinein zu gehen. Ich wollte wissen, ob ich John irgendetwas Gutes tun konnte. „Wartest du auf mich, bevor du ins Bett gehst, Vivienne? Ich sehe kurz nach ihm.“ „Ich rühre mich nicht vom Fleck bis ich weiß, was mit John ist.“

Klopf, klopf… und ich ging hinein. „Deshalb, Mr. Heart, empfehle ich Ihnen Bettruhe von mindestens einer Woche, kein Ausreiten, keine Anstrengung. Sie müssen viel Flüssigkeit zu sich nehmen und gelegentliche Wadenwickel vornehmen lassen, am Anfang dreimal täglich.“ „Nun, ich könnte mir Schöneres vorstellen, Dr. Bennett, aber es scheint unabwendbar zu sein. Ich danke Ihnen vielmals, Doktor.“ „Nichts zu danken, ich schaue morgen wieder nach Ihnen, Mr. Heart, und denken Sie an den erholsamen Schlaf, das ist die beste Medizin.“ „Das werde ich, Guten Abend, Doktor.“ „Guten Abend.“

Ich stand am Türeingang und hatte dem Gespräch gelauscht, sodass mich John noch nicht bemerkte. Als mich der Arzt beim Verlassen des Zimmers erblickte, deutete er mir, ihm nach draußen zu folgen. Ich schloss sachte die Türe hinter uns. „Was ist mit meinem Mann, Doktor? Es ist doch nichts Ernstes, nicht wahr?“ Ich musterte den jungen Arzt mit dem hellbraunen Haar und den blaugrünen Augen, gekleidet mit einem weißen Hemd, braunen Hosen und schwarzen Hosenträgern, die wohl mehr seinen Stil unterstreichen sollten, als dass sie seine maßgeschneidert wirkenden Hosen halten sollten. Die Lederschuhe waren blank poliert. Sicher hatte er nicht mehr als die Mitte des dreißigsten Lebensjahres erreicht. Das war definitiv nicht Dr. Fieldings. „Oh nein, Mrs. Heart, es ist sicher nur ein Infekt. Er hat Temperatur, die gesenkt werden muss, aber binnen einer Woche werden Sie Ihren Mann, wenn er sich an meine Vorgaben hält, wieder unbeschadet in Ihre Arme schließen können. Er braucht einzig Bettruhe und Schlaf, keine Aufregung oder Zugluft.“

Ich war glücklich, dass es wirklich nichts Schlimmes war. Vivienne, die das Gespräch mitbekommen hatte, brachte sich mit ein: „Danke, dass Sie so schnell kommen konnten. Sagen Sie, Doktor, ich heirate morgen und meine Schwester hatte sich seit Monaten auf diesen Tag gefreut. Besteht für John also keine Möglichkeit, morgen ohne Schweißperlen auf der Stirn und wackeligen Beinen der Feier beizuwohnen?“ „Miss….“, hob er an, „Miss Mitchell“, erklärte sie ihm, „Miss Vivienne Mitchell, aber ab morgen Mrs. Landings.“

„Nun, Miss Mitchell, wenn Sie nicht möchten, dass er den Infekt verschleppt, und das wäre aufgrund der langfristigen Folgen absolut nicht wünschenswert, sehe ich keine Chance dafür. Abgesehen davon wäre da zusätzlich noch die hohe Ansteckungsgefahr, der er andere aussetzen würde.

Es tut mir leid.“ „Gibt es keine Medizin?“, wollte Viv wissen. „Ich kann Ihnen gerne eine Tinktur mit speziellen Kräutern dalassen, welche den Genesungsprozess unterstützt, allerdings nicht in einem so knappen Zeitraum.“ „Das ist mehr als schade, wissen Sie, unsere Mutter ist letztes Jahr gestorben und Maddie hatte sich endlich wieder auf etwas gefreut und jetzt…“ „Vivienne“, ermahnte ich sie, „bitte lass es, das interessiert doch niemanden, das ist auch unwichtig. Entschuldigen Sie bitte, Doktor Bennett… Dr. Bennett ist richtig, oder?“ „Ja… entschuldigen Sie, dass ich mich zuvor nicht vorstellte…“ „Sehen Sie… meine Schwester ist ein wenig nervös wegen ihres großen Tags morgen. Das Wichtigste ist doch, dass John nicht ernsthaft krank und bald wieder gesund ist, mehr wünsche ich mir überhaupt nicht.“

„Der Verlust Ihrer Mutter tut mir leid“, sagte Dr. Bennett zu uns beiden, mir dabei mitfühlend in die Augen sehend. „Vielen Dank für Ihre Anteilnahme“, sagte ich. Wieder meldete sich mein völlig überdrehtes Schwesterherz zu Wort: „Dr. Bennett, würden Sie meinem Mann und mir die Ehre erweisen, zu unserer Hochzeit zu kommen? Sie werden ohnehin morgen nach meinem Schwager sehen wollen, so haben Sie einen kürzeren Weg.

Ich bitte Sie.“ Der Arzt war sichtlich überrascht, und ihm stand die Hemmung ins Gesicht geschrieben. Einen kurzen Moment wandte er seinen Blick von uns ab, senkte seinen Kopf zu Boden, als würde er die Farbmuster des blauen Teppichs studieren und antwortete daraufhin meiner Schwester: „Ich danke Ihnen Miss Mitchell, es wäre mir eine Ehre.“ Ich war tatsächlich irritiert, dass er ohne den Versuch, eine Ausrede zu finden, schlicht und einfach ihre Einladung annahm, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich an seiner Stelle hätte sicher eine wichtige Verabredung vorgegeben. Er verbeugte sich und war im Begriff zu gehen. „Ich finde alleine hinaus.“ Mit vertrauten Augen, die mich an ein ruhiges Nordmeer in der Abenddämmerung erinnerten, sah er mich an. Es lag etwas Offenes, Ehrliches in seinem Blick.

„Dr. Bennett“, hielt ihn Vivienne erneut an: „Die Trauung ist morgen um 10 Uhr, und nehmen Sie sich für den Rest des Tages nichts vor, außer gute Laune und einen Krankenbesuch bei meinem Schwager“, rief ihm Vivienne hinterher. „So soll es sein, Miss Mitchell“, entgegnete er ihr mit ruhiger Stimme, ehe er langsam und ohne Hast die Treppenstufen hinunterging.

Ich war irritiert, fragte mich, warum Vivienne ihn einlud, noch dazu kannten wir ihn überhaupt nicht. „Er ist der Nachfolger unseres Hausarztes, der aus Altersgründen letzten Winter seinen Posten übergeben musste, Maddie, das hat er mir vorhin erzählt. Das heißt, dass er jetzt unser Hausarzt ist, da ist doch nichts dabei.“ „Ich weiß nicht, Viv, das ist… typisch du.“ Vivienne lachte verschmitzt: „Ich weiß, meine Liebe, aber ich bin so glücklich und möchte es teilen, in die Welt hinausposaunen, es wird mehr als genug Essen geben und ach…“ Sie verlor sich in träumerischen Gedanken. „Gut, was mische ich mich überhaupt ein…, es ist schließlich deine Hochzeit.“ „Er hat doch auch zugesagt, Maddie…, ich denke, er hat sich wirklich gefreut.“ „Ja, vielleicht“, antwortete ich ihr dabei wenig überzeugt.

Leise öffnete ich Johns Zimmertüre, ich wollte sehen, ob er sehr wütend über den Arztbesuch war, aber als ich neben seinem Bett stand, sah ich, dass er bereits schlief. Ich gab ihm vorsichtig einen Kuss auf die Stirn, löschte das Kerzenlicht und schloss die Türe hinter ihm.

Als ich sein Zimmer verlassen hatte, sah ich

Vivienne nicht mehr, sicher war sie zu Bett gegangen, schließlich war es bereits nach Mitternacht. Hoffentlich kann sie ein wenig schlafen, dachte ich, bezweifelte es aber, nachdem sie eben noch so aufgedreht gewesen war wie ein kleines Mädchen, das Prinzessin spielen durfte. Warum hatte sie den Doktor eingeladen, ging es mir wieder durch den Kopf.

Als ich im Bett lag und mein Gebet mit der Bitte um eine schnelle Genesung für John und eine traumhafte Hochzeit für meine Schwester abschloss, fiel ich in einen sanften Schlaf.

Auch ohne John an meiner Seite, so wie ich es leider gewohnt war, schlief ich in der Nacht angenehm ruhig.

Als die Sonne den neuen Tag begrüßte, ging ich in meinem Inneren noch einmal die Noten meines Klavierstückes durch, als meine Gedanken durch ein drängendes Klopfen an der Türe unterbrochen wurden. „Maddie, Maddie, mach‘ auf, ich bin es, mach‘ auf!“ Ich öffnete und Vivienne kam hineingestürmt, bereits im Hochzeitskleid. „Sag‘ mal, wann bist du denn schon aufgestanden?“, fragte ich sie. „Madeline, bitte, du musst mir helfen! Das Kleid geht nicht zu, der Schleier ist völlig schief auf meinem Kopf und ich bin mir nicht mehr sicher, ob der Farbton der Schuhe zum Kleid passt. Ich schwitze fürchterlich, mir ist so warm, und ich kann Mamas Kette nicht alleine anziehen.“ Ich schloss die Türe hinter ihr. „In Ordnung, Viv, atme tief durch, setz‘ dich, wir bekommen das schon hin.“ „Aber wir müssen uns beeilen, es sind nur noch vier Stunden bis zur Trauung, Maddie.“ „Das ist genug Zeit, Maus.

Komm‘, ich schlage vor, du ziehst das Kleid nochmal aus, nicht, dass es Schweißflecken bekommt, solange du dich noch nicht beruhigt hast.

Hier, ziehe den Morgenmantel von mir an“, und ich warf ihn ihr auf mein Bett, auf dem sie jetzt saß. „Vielleicht hast du recht.“ „Natürlich habe ich recht, ich mach dir erst einmal die Haare, und wir bekommen das Problem mit dem Schleier in den Griff.“ „Ja, aber was ist mit den Schuhen?“

„Was soll mit ihnen sein?“ „Der Farbton?“ „Du siehst Gespenster, die Farbe passt genau zum Kleid.“ „Na gut, ich glaube dir, du lügst mich doch nicht an…?“ „Vivienne, jetzt beruhige dich!“, sagte ich mit genervter Stimme. „Es tut mir leid, Maddie, ich bin völlig am Ende mit den Nerven.“ „Ich weiß, du würdest mich niemals anlügen.“ „Eben.“ Nachdem ich ihr das blonde Haar zu ihrer Zufriedenheit gemacht und das Collier umgelegt hatte, schien sie ein wenig ruhiger. „Gefällst du dir so, Viv?“ „Ja, schon.“ „Na also. Ich werde jetzt nach John sehen, dann komme ich wieder, sodass wir im Anschluss gemeinsam zu Arthur gehen.“ „In Ordnung.“ Als ich hinausgehen wollte, stand Lana vor der Türe. „Madeline, machst du mir jetzt die Haare?“ „Guten Morgen, meine Süße. Pass auf, ich muss zu John, er liegt krank im Bett, und es geht ihm nicht so gut.

Willst du hier mit Vivienne auf mich warten, bis ich wieder da bin? Dann kümmere ich mich um deine Frisur.“ Vivienne wandte sich unserer kleinen Schwester zu. „Lana, was hältst du davon, wenn ich es mache? Madeline muss sich selber auch noch herrichten.“ „Wäre das in Ordnung für dich, Lana?“, fragte ich sie. „Ja, dann mach du es Vivienne.“ „Na gut, ihr zwei, ich bin gleich wieder da.“

Als ich eintrat, war John wach. „Guten Morgen, mein Schatz, wie hast du geschlafen, geht es dir besser?“ „Guten Morgen. Geschlafen habe ich gut, von dem Husten abgesehen, der mich wieder und wieder weckte. Ich fühle mich immer noch schwach, und das Fieber ist noch nicht weg.“

„Das dauert, hat der Arzt gesagt, noch ein paar Tage und wir können wieder etwas unternehmen.“ „Ja.“ „Bist du sehr böse, dass Vivienne den Arzt hat schicken lassen? Sie hat sich ernsthafte Sorgen gemacht und es gut gemeint.“ „Nein, schon in Ordnung.“ Ich war froh über seine Einsicht. „Ich mache dir jetzt neue Wickel, und dann muss ich mich fertig machen. Viv war heute morgen schon bei mir und hatte beinahe einen Nervenzusammenbruch, vor lauter Aufregung. Du hättest sie sehen sollen…“. „Das kann ich mir vorstellen, ich kenne deine Schwester.“ „Es ist so schade, dass wir den Tag heute nicht zusammen verbringen können, Schatz, aber ich bin froh, dass du nicht ernsthaft krank bist. Soll ich bei dir bleiben?“ „Nein, natürlich nicht, ich würde auch lieber mit dir tanzen, als hier an die Decke zu starren.“ Ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Du sollst nicht an die Decke starren, sondern deine Augen schließen und dich gesund schlafen“, dabei lächelte ich ihn an. „Ich gebe mir die größte Mühe “, auch sein Mund umspielte ein schwaches Lächeln. Nachdem ich ihm die neuen Wickel angelegt hatte, versicherte ich ihm, nachher wieder nach ihm zu sehen.

Nach und nach trudelten die Gäste ein, um die dreihundert Einladungen waren versandt worden, darunter viele Gäste, auf deren Gesellschaft Viv gut und gerne verzichtet hätte, doch die Etikette ließ das Selektieren nicht zu.

Die Trauung erfolgte durch den selben Priester, der auch John und mich vor drei Jahren getraut hatte, und fand ebenfalls in unserem Garten statt, welcher mit Rosenbögen und hunderten weißer Stühle in Reih und Glied ausgestattet war. Das Paar wurde dazu bestimmt, sich das Ja-Wort unter einem Baldachin zu geben. Ein kleiner Garten Eden war dieser Fleck. Meine Schwester war wunderschön, als sie auf Arthur zuging, gestützt von unserem Onkel Maxwell, was Vivienne nur widerwillig zuließ. Lana streute vor jedem Schritt Viviennes Rosenblätter. Ich musste immer wieder gegen die Tränen ankämpfen. Ich war derart über die Zeremonie gerührt und zugleich traurig, dass unsere Eltern nicht da sein konnten. Im Anschluss bestand zunächst keine Chance, zu meiner Schwester und Arthur durchzudringen, ein jeder wollte der erste Gratulant sein. Nachdem ein halbes Dutzend Gäste dem frisch gebackenen Ehepaar ihre Glückwünsche überbracht hatte, gingen alle vorfreudig ins Haus. Allerlei leckere Kuchen warteten auf die Gäste sowie die begnadeten Musiker, die bereit zum Einsatz waren. Endlich konnte auch ich dem Brautpaar gratulieren. Einige Gäste folgten bereits heiter und gesellig den ersten Takten einer Melodie des Orchesters, dabei entdeckte ich in der Menge Dr. Bennett, der sein Versprechen hielt und der Einladung meiner Schwester gefolgt war. Er trat näher zu uns heran, ich löste Viviennes Umarmung, damit er meine Schwester begrüßen konnte, währenddessen gesellte sich Isabelle, eine alte Schulfreundin von Viv, zu mir, sodass es mir nicht möglich war, das Gespräch zwischen Dr. Bennett und meiner Schwester zu hören.

„Wie schön, dass sie gekommen sind, lieber Doktor Bennett. Darf ich Ihnen meinen Mann Arthur vorstellen?“ Die beiden Herren verbeugten sich voreinander. „Oh Schatz, bitte sage dem Personal, sie sollen mit der Hochzeitstorte noch warten.

Wir stoßen erst noch an und eröffnen im Anschluss das Kuchenbuffet, sei so gut.“ „Natürlich, meine Königin“, dabei lächelte Arthur sie verliebt und selig an. Sie drückte ihm einen Kuss auf den Mund. „Wie hat Ihnen die Trauung gefallen, Doktor, ich hoffe, wir haben Sie in Ihrer Vorstellung nicht enttäuscht?“ „Um ehrlich zu sein, Mrs.

Landings, richtig?“ „Ja.“ „…habe ich mir keine genaue Vorstellung gemacht, ich kann Ihnen nur gratulieren und freue mich mit Ihnen.“ „Das ist sehr freundlich von Ihnen. Haben Sie heute schon nach unserem Patienten sehen können?“ „In der Tat, das habe ich, und ich sage Ihnen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er Ihre Gesellschaft wieder teilen kann.“ „Wunderbar. Sagen Sie, würden Sie mir eine kleine Freude machen?“

„Um was handelt es sich?“ „Sehen Sie, meine Schwester soll heute einen Tag erleben, an den sie einmal ebenso glücklich wie ich zurückdenken wird. Würden Sie sich heute ihrer annehmen und sie von den Sorgen um die Erkrankung ihres Mannes ein wenig ablenken und sie zum Tanz auffordern?“ „Mrs. Landings, ich bin sicher, dass Ihrer Schwester mehr als genug Aufforderungen zuteilwerden. Bedarf es tatsächlich auch meiner?“

„Nun, ich weiß, dass die heute hier anwesenden Gentlemen weder den Anforderungen noch der Tauglichkeit eines Tänzers, so wie es sich meine Schwester wünschen würde, entsprechen.“ „Bitte entschuldigen Sie die Frage, Mrs. Landings… Warum glauben Sie, dass ich ein angemessener Tanzpartner sein könnte?“ „Oh, ich habe Sie eben mit Mrs. Garfield tanzen sehen, und glauben Sie mir, Sie sind der Richtige.“ „Abgesehen davon, dass ich Ihnen außerordentlich dankbar für dieses, meiner Ansicht nach wohl sehr übertriebene Kompliment bin, muss ich doch erst herausfinden, ob Mrs. Heart dies überhaupt wünscht.“

„Seien Sie unbesorgt, sie wird ja sagen.“

Nach meinem Gespräch mit Isabelle, das von Anekdoten aus Kindertagen handelte, kam ich zu den beiden zurück, umarmte nochmals herzlich meine Schwester, überlegte aber auch, was sie mit Dr. Bennett so lange besprochen haben konnte. „Guten Tag, Dr. Bennett“, sprach ich ihn an, machte einen Knicks und er küsste meine Hand.

Verlegen zog ich sie wieder zurück. „Schönes Wetter haben wir heute Doktor, ist es nicht so?“, begann mein nicht gerade einfallsreicher Versuch, eine Konversation einzuleiten. „In der Tat, das schönste Wetter zum Heiraten, Mrs. Heart.“

„Wie gefällt Ihnen die Braut?“, von mir selbst überrascht, ihm so eine Frage zu stellen. Ich brachte ihn wohl in eine genierliche Situation, denn seine Wangen röteten sich, als er antwortete: „Oh, feinster Stoff, den die Braut trägt. Erlauben Sie mir zu sagen, Mrs. Landings, Sie sind eine Augenweide, Ihr Ehemann kann sich glücklich schätzen.“ „Oh, Sie schmeicheln mir, Dr. Bennett, danke schön.“ „Aber was sagen Sie zu dem Kleid meiner Schwester, Doktor, ich meine, sieht Madeline nicht bezaubernd aus?“ In was für ein Gespräch war ich hier geraten… bitte, bitte Viv, zwinge den Mann doch nicht zu Komplimenten, die er überhaupt nicht vor hat zu geben, sprach ich in meinen Gedanken. „Wissen Sie“, erklärte Vivienne: „Wir wollten uns von konventionellen Vorstellungen verabschieden, dass die Brautjungfern und Schwestern alle das gleiche Kleid tragen müssen, ich habe darauf bestanden, dass es keinerlei Vorschriften diesbezüglich zu geben hat. Wissen Sie, die einen mögen lieber die Farbe Blau, die anderen Grün oder Gelb so wie unsere Lana, und jede Frau ist ein individueller Farbtyp, ich mag es unkonventioneller und…“

„Vivienne, bitte…“, unterbrach ich meine Schwester zaghaft. Jetzt wurden auch meine Wangen rot, ich spürte Hitze in mir aufsteigen und wollte am liebsten kommentarlos das Gespräch verlassen, doch das erlaubte die Etikette nicht. „Nun, Mrs. Heart, auch Sie haben einen erstklassigen Kleidungsgeschmack, wie nennt sich die Farbe Ihres Kleides?“ „Ehrlich gesagt, Dr. Bennett, kenne ich die exakte Bezeichnung nicht, es ist wohl eine Art Himmelblau.“ „Sie erinnern mich an Vergissmeinnicht.“ „Bitte?“ „Ich meine die Farbe erinnert mich an Vergissmeinnicht, die Blumen, wissen Sie?“ Einige Sekunden, die mir wie etliche Minuten vorkamen, konnte ich darauf nichts erwidern, ich sah ihn nur an, wie in Zeitlupe versank ich im Blick seiner Augen, dann endlich: „Oh, wenn Sie das sagen.“ Von einem Moment zum anderen fühlten sich meine Hände seltsam schwitzig an und mir wurde leicht schwindelig, sodass ich mich unbehaglich fühlte und das Gespräch auf John lenkte. „Haben Sie heute schon nach meinem Mann gesehen? Bei meinem Besuch heute Morgen schien es ihm nur wenig besser zu gehen.“ „Ja, aber ich habe bereits Ihrer Schwester berichtet, dass es mit ihm nur noch bergauf gehen kann, Sie werden sehen.“

„Das ist schön zu hören“, sagte ich. Meine Gedanken gingen mit mir durch: blau, himmelblau, Vergissmeinnicht…. die Augen des Arztes waren blau, blaugrün. „Bitte entschuldigen Sie mich, Dr. Bennett, ich brauche frische Luft.“ „Ist alles in Ordnung, Maddie?“, fragte Vivienne. „Ja, alles gut, ich bin gleich wieder da.“ „Mrs. Heart“, sagte Dr. Bennett, „ist Ihnen nicht wohl?“ „Nein, ich spiele nur gleich ein Stück auf dem Klavier und möchte vorher noch meine Gedanken sammeln.

Haben Sie vielen Dank.“

Ich wusste, dass ich nicht aufgeregt sein musste wegen meines Spiels vor all den Gästen, ich hatte schon früher auf vielen Familienfesten gespielt.