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Mehr als Natur, Feen und Fjorde: starke Frauenporträts in einem ungewöhnlichen Reisebericht aus Island
Wer Gleichberechtigung im Einsatz sehen will, muss nur nach Island blicken. Auf der kleinen Insel leben inspirierende Frauen, die Anne Siegel in ihrer Biografie-Sammlung hautnah vorstellt.
Die Island-Expertin durfte zehn starke Isländerinnen durch ihr Leben begleiten und beschreibt ihre außergewöhnlichen Berufe, spannende Alltagserlebnisse und Ansichten zum Frausein mit großem Einfühlungsvermögen und noch mehr Wanderlust. Dabei entwirft sie auch ein Porträt eines Landes, in dem Frauenpower ohne Quotenregelungen praktisch selbstverständlich ist.
Unterwegs mit Braumeisterinnen, Schlafforscherinnen, Pferdesportlerinnen und auf den Spuren der isländischen Sängerin Björk weckt Anne Siegel nicht nur die Sehnsucht nach dieser sagenhaften Insel, sondern unterstreicht auch die ureigene Kraft der Frau.
»Anne Siegels Bücher sind pures Glück zwischen zwei Buchdeckeln.« – WDR
Ein Reisebuch über Island wäre nichts ohne einen Einblick in die einzigartige Natur der Insel. Anne Siegel besucht mit ihren Leserinnen Orte tiefster spiritueller Selbsterfahrung, in denen raue Berge und Vulkane genauso zum Erkunden einladen wie uralte Geschichten über Feen und Trolle. Wer mit Anne Siegel reist, lernt diese Kraftorte hautnah kennen.
»Diese Biografien machen sofort Lust auf eine Reise in den wilden Norden.« – Hamburger Morgenpost
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Für Helen, weil ich weiß, Du wirst eine von ihnen sein, wenn Du erwachsen bist.
Mit 34 Abbildungen und einer Karte
© Piper Verlag GmbH, München 2020
Redaktion: Antje Steinhäuser, München
Bildteilfotos: Anne Siegel, mit Ausnahme der Fotos auf Seite 6 unten: Susan Muska und Gréta Ólafsdóttir; auf Seite 7 unten: Zach Klein und auf Seite 10 Mitte: Thomas Quine
Karte: Peter Palm, Berlin
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas
Covermotiv: Gustaf Emanuelsson/Plainpicture
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Cover & Impressum
Karte
Vorwort
Einleitung
Kristín Ósk Jónasdóttir
Agnes Anna Sigurðardóttir
Hulda Gústafsdóttir
Hrefna Kristmannsdóttir
Björk Guðmundsdóttir
Vilborg Gissurardóttir
Bryndís Benediktsdóttir
Kristín Johannsdóttir
Steinunn Einarsdóttir
Katrín Ólína Pétursdóttir
Bildteil
»Architektinnen werden gebraucht. Architektinnen der Schönheit, die Genuss gestalten – ein sehr feines Material.«
Luce Irigaray
Mein Land liegt seit vielen Jahren an der Spitze des Global Gender Gap Reports. Er wird vom World Economic Forum kompiliert und berechnet den Unterschied in der Stellung der Geschlechter nach finanzieller Lage, Ausbildung, Gesundheit und Teilnahme an Politik. Insgesamt hat Island den ersten Platz inne und führt die Liste der ungefähr 150 Länder an. Diese Teilhabe bedeutet aber längst nicht, dass wir genauso viel verdienen wie die Männer. Diese Gerechtigkeit herrscht an keinem Ort auf der Welt. Global betrachtet, verdienen Frauen nur 63 Prozent dessen, was Männer bekommen – und in Island sind es 82 Prozent.
Wenn die Lage sich entwickelt wie bisher, wird es noch ganze 200 Jahre dauern, bis in Sachen Einkommen Geschlechtergleichheit auf der Welt herrscht – wenn es dann überhaupt noch Geschlechter gibt! Wahrscheinlich wird es eher Löhne als Geschlechter geben, weil es angeblich für uns einfacher ist, sich das Ende der Menschheit vorzustellen als das Ende des Kapitalismus … Dennoch soll Island die Ungleichbehandlung zwischen den Geschlechtern laut dem Report zu 85 Prozent beseitigt haben. Wie wird das sein, wenn durch diese Aspekte die Geschlechterlücke vielleicht einmal ganz geschlossen werden wird?
Die Frauen, die Anne Siegel in Island getroffen hat und deren Geschichten sie in diesem Buch auf lebhafte Weise erzählt, verbindet vor allem die Fähigkeit, die Maßstäbe für die Geschlechtergerechtigkeit neu zu denken, sie weiterzudenken. So vieles braucht Umgestaltung.
Diese Frauen sind »wild«, nicht nur weil sie von einer großartigen und zum Teil herausfordernden Natur geprägt und inspiriert sind. Sie sind vor allem wild, weil sie sich auf ihren eigenen Weg begaben, engagiert nach neuen Lösungen auf den Gebieten der Arbeit, der Politik, des Wohlbefindens, der Familie, der Verwirklichung ihrer eigenen Träume suchten und so die Gesellschaft gestalten.
Vor allem entkommen diese Frauen dem Klischee, das über die (nicht immer richtig verstandene) Stärke der Frauen Islands herrscht. Sie sind sich selbst und ihren Visionen treu geblieben und erlauben es sich, was als fragil und was als stark gilt, neu und anders zu definieren.
Sigridur Thorgeirsdóttir, Philosophin
Reykjavík, im Winter 2019
»Wir, die Menschen von Island, wollen eine gerechte Gesellschaft erschaffen, in der gleiche Möglichkeiten für alle herrschen.
Die verschiedenen Quellen unserer Herkunft bereichern das Ganze, und zusammen sehen wir uns verantwortlich für das Erbe von Generationen, für das Erbe des Landes und der Geschichte, der Natur, der Sprache und unserer Kultur.
Island ist ein freier und souveräner Staat, der auf den Eckpfeilern von Freiheit, Gleichheit, Demokratie und Menschenrechten ruht.
Die Regierung soll für das Wohl der Bewohner dieses Landes arbeiten, seine Kultur stärken und die Vielfalt des menschlichen Lebens, den Boden und seine Biosphäre respektieren.
Wir wünschen die Förderung des Friedens, der Sicherheit, des leiblichen Wohles und des Glücks zwischen uns und zukünftigen Generationen.
Wir beschließen, mit anderen Nationen im Interesse des Friedens zu arbeiten und für den Respekt der Erde und aller Menschen.
In diesem Lichte verabschieden wir eine neue Verfassung, die als das oberste Gesetz dieses Landes von allen aufmerksam verfolgt werden möge.«
(Die Präambel der neuen isländischen Verfassung)
Wären wir nicht alle gerne Isländer?
»Tu mir bloß einen Gefallen, und mach daraus nicht so eine schwärmerische Angelegenheit«, sagte meine streitbarste isländische Freundin, als sie hörte, was für ein Buch ich da gerade schrieb. »Wir haben aus der Krise nämlich nichts gelernt.« Da musste ich erst einmal ziemlich schlucken. Für mich sieht es, aus der Ferne betrachtet, nämlich so aus, als wären die Bewohner der größten Vulkaninsel der Erde tüchtige Menschen, die ihre Probleme auf ganz eigene, entspannte Weise lösen.
Isländerinnen und Isländer leben seit der Finanzkrise damit, dass sie für uns, den Rest der Welt, eine perfekte Projektionsfläche darstellen. Schließlich eignet sich ihr Wiederaufstehen nach der Krise geradezu perfekt für unsere eigenen Erlösungssehnsüchte.
Nach dem Niedergang der Banken und ihrer gierigen Manager (von denen einige hinter Gittern landeten) waren Island und seine Menschen im weltweiten Fokus, weil es mutig und selbstbestimmt wirkte, wie das isländische Volk monatelang auf die Straße ging und lautstark demonstrierte. Dabei stand den meisten hier längst das Wasser bis zum Hals, und dem Volk am Polarkreis blieb nichts anderes übrig, als sich an seine ureigenste Fähigkeit zu erinnern und sich mit eigener Kraft aus dem allergrößten Schlamassel zu ziehen. Mit Erdbeben, Vulkanen und Unwettern aller Art kannten sie sich aus, aber ausgerechnet die ökonomische Katastrophe veranlasste die Menschen Islands, sich an die Werte zu erinnern, die für ihre Vorväter und -mütter gegolten hatten: Anstand, Ehrlichkeit und Gemeinsinn.
Was folgte, war ein einzigartiger Selbstfindungsprozess, an dessen Ende das Volk feststellen musste, wer sich alles heimlich am Geld der eigenen Nation bereichert hatte. Die letzten Eliten verloren ihre Posten, als die Panama Papers öffentlich wurden und ein Politiker aus einer der reichsten isländischen Familien vor laufender Kamera demontiert wurde, weil seine heimlichen Kapitalverschiebungen aufflogen.
Dabei hatte sich doch die ganze Nation nach der Krise neu erfunden – oder etwa nicht? Island machte manches anders als andere Demokratien, die in eine Krise geraten. Es ist bislang der einzige Staat, in dem die Kapitalflüchtlinge echte Konsequenzen erfuhren.
Und es war nach der Krise nicht zufällig eine Frau, die es schaffte, als Premierministerin eine Große Koalition hinter sich zu bringen und das Land auf unkonventionelle und pragmatische Weise zu einigen. Auch hier zogen die Frauen den Karren aus dem Dreck, in den Männer ihn fuhren. Unter der Regierung von Jóhanna Sigurðardóttir wurden zuerst die Banken zerschlagen und unter staatliche Aufsicht gestellt und anschließend Prostitution und Sex trafficking nahezu beseitigt. Alle packten zusammen mit an, und die Menschen Islands schafften es, wieder auf die Beine zu kommen. Islands Gesellschaft kam in der Zeit der schlimmsten ökonomischen Bedrängnis wieder mehr zueinander, definierte sich neu und fand zurück zu einer eigenen Identität.
Das leitete manchen Paradigmenwechsel ein: Die Leben aller waren so heftig durchgerüttelt worden, dass es nun darum ging, gemeinsame neue Werte zu bestimmen. Werte, die einen ökonomischen Zusammenbruch überstehen würden. Werte, die andere Schwerpunkte setzten als bisher, mit dem Ziel, mehr Lebensfreude und ein besseres Leben zu erschaffen. Aber wie nachhaltig sind diese Werte?
Längst kehrt der Geist der neoliberalen Geschäftemacher zurück. Bei einer Lesung, die ich in Reykjavík hatte und in der ich aus einem meiner (deutschen) Romane über die Bankenkrise in Island las, kam aus dem Publikum die Frage, wann mein Buch denn auf Isländisch erscheine. Das irritierte mich, denn wer bin ich, dass ich den Isländern von ihrer eigenen Krise erzählen sollte? In der anschließenden Diskussion stellte sich heraus, dass es kaum isländische Literatur zur eigenen Finanzkrise gibt. »Ach, das haben wir doch schon wieder vergessen!«, sagte eine Frau aus dem Publikum, und alle lachten und applaudierten.
Die Entwicklung in Island hat – auch das macht dieses Land zum gesellschaftlichen Labor – eine viel höhere Geschwindigkeit als in anderen Nationen. Das mag daran liegen, dass 360 000 Menschen sich wesentlich schneller bewegen können als achtzig Millionen, oder ist der recht hohen Grundgeschwindigkeit zu verdanken, mit der in Island die Dinge erledigt werden. Die Frauen hier genießen den höchsten Grad an weiblicher Selbstbestimmung auf der ganzen Welt. Nirgendwo sind Männer und Frauen so gleichberechtigt wie in Island. Für jemanden, in dessen Land die öffentliche Sichtbarkeit von Frauen so reduziert ist, dass in jeder Fernsehtalkshow auf vier Männer gerade mal eine Frau in den Expertenrunden kommt, mag das paradiesisch wirken. Drei Viertel aller Literaturkritiken im deutschen Feuilleton behandeln ausschließlich männliche Autoren. So etwas wäre in Island undenkbar. Das deutsche »Frauenzählen«, das noch ganz neu in unserem Land ist, stammt ursprünglich sogar aus Island und begann dort vor Jahrzehnten. Unter dem Hashtag #Frauenzählen prangern junge Feministinnen die mangelnde Sichtbarkeit weiblicher Literaten und Künstler in den Medien an. In Island zeigte diese Technik ihre Wirkung, denn den meisten Männern schien nicht einmal bewusst zu sein, dass sie ihre Geschlechtsgenossen ganz selbstverständlich bevorzugten.
Die deutlich größere Gleichberechtigung der Isländerinnen bedeutet aber längst nicht, dass sie das selbst auch so empfinden. Im hohen Norden herrscht eine vitale Debattenkultur. Gerade jetzt sprechen Frauen hier endlich offen darüber, dass sie vor lauter Gleichberechtigung auch fürchterlich erschöpft sind. Das ist die andere Seite ihrer vermeintlichen Stärke: »Das Klischee von der Stärke setzt uns zu, es macht uns Druck«, sagte mir ebenjene streitbare Isländerin, die meinen deutschen Blick auf ihre Nation oft zu schwärmerisch findet.
Die Frauen in Island zahlen schließlich auch einen Preis für ihre starke Gleichberechtigung. Ihre Freiheit und das große Engagement der Männer, auch bei der Kindererziehung, haben eine Schattenseite, sagen sie, denn den Müttern verlangt es viel ab, schnell nach der Geburt ihrer Kinder wieder zurück an ihre Arbeitsplätze zu müssen. Eine neue Fernsehserie, über die gerade viel diskutiert wird, befasst sich mit den Heldinnen, die plötzlich zerbrechlich sein dürfen. Auch das ist neu in Island. Genauso, wie die Geschichte der Politikerin, die ihr Burn-out mit Häkeln heilte und darüber öffentlich spricht. Bis jetzt mussten Frauen einfach stark sein.
Aus Sicht der Nation, in der es nur eine einzige Frau in einen Dax-Konzern-Vorstand schaffte, sind das Probleme, die wie aus einer anderen Welt wirken, aber in Island ist alles immer in Bewegung, so wie der vulkanische Urgrund des Landes, der die Erde jeden Tag viele Male zum Beben bringt.
Die Taktik der isländischen Fußballspielerinnen und Fußballspieler, die in wenigen Jahren einen sagenhaften Aufstieg hinlegten, entspricht dem Leben in Island: Nichts ist fest, alles geht, wir machen das, was jetzt gut für alle ist. Das muss nicht bedeuten, dass es morgen dieselbe Strategie bleibt. Wie auf das Wetter wird auch auf alle anderen Umstände und Bedingungen möglichst angemessen und zügig reagiert, damit möglichst viele Menschen davon profitieren, auch außerhalb der isländischen Gemeinschaft.
Das isländische Fußballmärchen erzählt von Anständigkeit, Fairness, unbedingtem Willen und großem Gemeinschaftssinn. Dass der Trainer nebenbei Zahnarzt auf den Westmännerinseln ist und der Torwart ein international bekannter Regisseur, machte die Mannschaft der Männer für uns alle, die wir ihnen fasziniert zusahen, nur noch sympathischer. Die Fans des isländischen Frauenfußballs (die in Island zu einem großen Teil männlich sind) wissen außerdem sehr wohl, dass dieser lange viel erfolgreicher war als der der Männer.
Wären wir nicht alle gerne Isländerinnen?
Es herrschen hier ganz andere Regeln zwischen den Geschlechtern als in Mitteleuropa. In Island sind es vor allem auch die Männer, die sich zum Feminismus bekennen und die in ihrem eigenen Verhalten echte Paradigmenwechsel einleiteten – mit dem Ziel, glücklichere, selbstbestimmtere, erfülltere Frauen an ihrer Seite zu haben.
Wer als Mann in Island sein Kind nicht zum Kindergarten bringt, gilt als unmännlich. In Reykjavík tragen die jungen Väter begeistert ihre Kinder durch die Stadt. 96 Prozent aller Männer nehmen Elternzeit und kümmern sich intensiv um den Nachwuchs. In Deutschland ist es kaum ein Viertel, in manchen Bundesländern deutlich darunter.
Der Staat fördert die junge Elternschaft und bestärkt Studentinnen und Studenten in ihrem Kinderwunsch. Junge Paare erfahren eine großzügige staatliche Unterstützung, und so bekommen auch diejenigen Kinder, für die es andernfalls ein finanzielles Risiko bedeuten würde. Die Geburtenrate sinkt zwar zurzeit ein bisschen, aber dennoch ist der Wunsch nach Kindern kein Armutsrisiko oder ein Karrierehindernis, wie zum Beispiel in Deutschland, wo die Elternschaft für Frauen ungleich größere Auswirkungen auf die Berufsbiografie hat.
Isländerinnen genießen mehr Rechte als alle anderen Frauen der westlichen Hemisphäre. Und sie erfahren mehr Sicherheit im öffentlichen Raum, ein Grund, weshalb allein reisende Frauen die Reisen an den Polarkreis als paradiesisch empfinden. Aber empfinden Isländerinnen das selbst so? Wie leben sie das, was ihnen ihr Herz befiehlt? Existieren für sie denn gar keine gläsernen Decken? Was haben sie aus der Finanzkrise für sich gelernt? Und wie weit reicht ihre Freiheit?
Dieses Buch wirft ein Schlaglicht auf zehn mutige und außergewöhnliche Frauen, deren Leben mit der Natur verbunden sind und die in ungewöhnlichen Bereichen tätig sind. Alle diese Frauen befreiten sich aus Zwängen und leben andere Arbeitsmodelle als die, die von ihnen erwartet wurden. Das wilde Element daran ist nicht nur ihre Verbundenheit mit der unbändigen isländischen Natur, sondern auch ihre anarchistisch-abenteuerliche Art, neue Firmen, Arbeits- und Lebensformen zu begründen.
Manche von ihnen fanden durch einen Schicksalsschlag zu außergewöhnlicher Kraft, wie etwa Agnes Anna, die eine Brauerei aufbaute, obwohl sie nicht einmal gerne Bier trank. Es sind Frauen, die sich auf eine andere, neue Weiblichkeit besannen, wie Hrefna Kristmannsdóttir, die erste Geothermal-Fachfrau Islands.
Wie gehen die Gestalterinnen mit dem um, was ihnen die Krise hinterlassen hat? Björk und die Objektdesignerin Katrín Ólína beleuchten eine der am stärksten wachsenden Branchen im Island nach der Bankenkrise, die Kreativen.
Und wer hätte gedacht, dass wichtige Erkenntnisse der Schlafforschung ausgerechnet aus Island kommen, wo doch Isländer und Isländerinnen trotz des intensiven Lichts in der einen Jahreshälfte und fast vollkommener Dunkelheit in der anderen viel weniger Schlafprobleme haben als andere Völker? Es war mein großes Glück, dass ausgerechnet die Schlafforscherin Bryndís Benediktsdóttir meinen Weg kreuzte.
Zwei Fischerinnen, die heute nachhaltig fischen, Mutter und Tochter, gewähren Einblick in die Geschichte der Frauen der isländischen Seefahrt, in der die Lohngleichheit für Frauen schon im búalög, einem Gesetz von 1775, eingeführt wurde.
Immer wieder geht es auch um isländisch-deutsche Verbindungen, wie im Fall der Vizeweltmeisterin im Islandpferde-Reitsport, Hulda Gústafsdóttir, oder der Literatin und Museumsdirektorin, Kristín Johannsdóttir, die in Ostdeutschland studierte und erst zwei Jahrzehnte danach erfuhr, warum ihr damaliger Freund wie vom Erdboden verschwunden war und was das mit der Stasi zu tun hatte. In einem der größten Naturreservate Islands fand sie ihren Frieden und baute ein ungewöhnliches Museum auf.
»Wir haben das Glück, schon so früh Kinder zu bekommen, dass sie aus dem Haus sind, wenn wir eine zweite Karriere wollen«, sagt die Rangerin Kristín Ósk, deren frühe Mutterschaft ihr eine eindrucksvolle Karriere erlaubte. Sie entschied sich, als sie längst Verwaltungsleiterin der Universität der Arktis von Ísafjörður war, zu einem Leben in und für die Natur. Insbesondere in Island bedeutet dies aufgrund schmelzender Gletscher gleichzeitig ein politisches Leben, denn hier spüren die Menschen die Auswirkungen des aktuellen Klimawandels längst am eigenen Leib. Wie die Bankenkrise am Polarkreis dem Rest der Welt schon früh zeigte, was danach erst auf andere Nationen zukommen sollte, sehen wir in Island schon jetzt, vor welche Herausforderungen eine weltweite Klimakrise uns stellen wird und wie wir ihr mit einer kompromisslosen Haltung begegnen können. Kristín Ósk Jónasdóttir, die sich dafür mit der gesamten Kreuzfahrtindustrie anlegte, liefert ein eindrucksvolles Beispiel.
Und weil sie die einzige Isländerin ist, die die Seven Summits bestieg und die Antarktis auf Skiern überquerte, darf auch Vilborg Arna Gissurardóttir in diesem Buch nicht fehlen, die vermutlich größte Abenteurerin Islands, die nicht das geringste Problem damit hat, der Mount-Everest-Besteigung und dem ein oder anderen TED-Talk eine TV-Karriere beim isländischen »Let’s dance« folgen zu lassen.
Dieses Buch erzählt vom Alltag außergewöhnlicher Frauen und von ihren Stärken, vor allem aber von der Neubesinnung der Isländerinnen und von ihrem Leben in und mit der Natur. Diese Natur ist im Land von Feuer und Eis mit einer so außerordentlichen Kraft ausgestattet, dass sie als Wildnis verstanden werden soll. Wildnis von einer Art, die sich als Gegenentwurf zum Leben in unseren Metropolen versteht, als jener Ort, der mächtiger ist als der Mensch, da, wo wir Demut lernen. Dieser Ort, dem wir uns entfremdet haben, obwohl wir ihm entstammen. Die Protagonistinnen dieses Buches erzählen deshalb von ihren Kraftorten – den Orten, deren Energie ihnen den inneren Reichtum verleiht, den es braucht, um ihre Gesellschaft tatsächlich aus eigener Kraft zu prägen und zu verändern.
Rangerin
»Weißt du, wann das Boot kommt, das mich mitnimmt?«
»Du musst mal entspannen«, antwortet Kitty.
Sie ist die Eignerin des kleinen Bootes, das von Ísafjördurs Hafen nach Holmarvík fährt, in den abgelegensten aller Fjorde in Islands Westfjorden. Es ist mein zweiter Besuch in einer Stunde in Kittys kleinem Hafenbüro.
Zugegeben, ich bin etwas aufgeregt, denn ich will Kristín Ósk nicht verpassen und habe beschlossen, ihr entgegenzufahren.
Auf Kitty, eine Mittsechzigerin mit dem gleichmütigen Gesichtsausdruck eines weiblichen Buddhas, scheine ich zu wirken wie eine hypernervöse Zivilisationstussi.
Unter dröhnendem Gelächter unterhält sie gerade eine ganze Männerclique mit Witzen. Die Herren schlagen sich auf die Schenkel, und wieder einmal stelle ich fest, dass Islands Frauen dunklere Stimmen haben als wir angepassten Ladys auf dem Kontinent. Dürfen die vielleicht mehr Stärke zeigen als wir?
Kitty lehnt sich in ihrem Bürostuhl zurück. Ihre rote Hütte steht direkt am Kai. Die Männer wärmen sich hier auf. Über Nacht hat es einen Temperatursturz gegeben. Mützenwetter herrscht hier, in Ísafjörður und Umgebung, immer, aber nun vermisse ich meine Handschuhe.
Gegenüber der Hütte sind die großen Fischhallen. Die ersten Trawler kommen zurück vom Meer, und aus den gestapelten Hartplastikboxen, die die Gabelstapler nun in die Halle gegenüber fahren, schauen üppige Fänge über die Ränder. Dunkelrote, riesige Fische, deren große Mäuler halb offen unter toten Augen über die Kanten der prall gefüllten Bottiche hängen. Direkt daneben läuft Eis über ein Fließband in andere Tonnen.
Das ist das Eis, mit dem die Trawler wieder hinaus aufs Meer fahren. Aus einem riesigen zylindrischen Silo laufen die gecrunchten Eisstückchen kontinuierlich nach. Ein anderer Gabelstapler fährt abwechselnd Tonnen unter den nicht enden wollenden Eisquell und bugsiert sie zum gegenüberliegenden Hafenbecken, wo die Schiffe wieder beladen werden. Eis ist die wichtigste Fracht, wenn sie am Abend erneut auslaufen, denn damit werden die Fänge der kleineren Schiffe gekühlt und erst hier in der Fischfabrik verarbeitet. Nautischer Mittelstand sozusagen, denn die ganz großen Trawler verpacken die frischen Fische direkt an Bord und liefern sie portionsfertig auf die Lastwagen, die bereits warten und mit ihrer frischen Fracht über schmale Pisten aus den Westfjorden hinaus- und in den Süden des Landes fahren.
Kittys kleines Holzhaus sieht aus wie eine Miniaturausgabe dessen, was es noch ganz selten in Ísafjörður gibt: Holzhäuser. Das, was viele Reisende oft auch für buntes Holz halten, ist ein Material, das seit Langem in Island hergestellt wird und das auf den ersten Blick täuscht: Aluminium. Australische Firmen karren seit vielen Jahren ihre Rohstoffe nach Island und verarbeiten sie hier, weil die Energie zur Herstellung hier so günstig ist. Im Land ist das umstritten, aber mit jeder Regierung, die versprach, dass es mit der Aluminiumindustrie nun demnächst ein Ende haben solle, weil sie nicht gerade nachhaltig sei, wurde das Vorhaben auch wieder vergessen, weil dann doch andere Dinge wichtiger waren nach dem Finanzcrash. Schließlich bedeuten diese Industrien Arbeitsplätze und werden von den Gemeinden sogar gefördert.
Kitty, die Lady im kleinen roten Holzhaus, registriert meinen ungläubigen Blick und tippt auf eine Taste des Laptops vor sich auf dem Schreibtisch. Sie behält den Hafen im Auge und schaut nun mit dem Blick einer Wissenden auf das Display. Auf ihrem Bildschirm wandern kleine eckige Klötzchen über eine blaue Fläche. Die Boote, die in der Region unterwegs sind, erscheinen da auf einem von Satelliten gesteuerten Kontrollfeld.
»Komm in einer Stunde und zwölf Minuten zurück, dann kann dich das Boot mitnehmen«, sagt sie und grinst mich an.
Respekt, denke ich ob der konkreten Angabe.
Heute Nacht hat es in den Westfjorden zum ersten Mal geschneit. Es sind 4 Grad Celsius. Am letzten Tag im August fiel der erste Schnee. Dabei hatte ich gestern zum ersten Mal die Westfjorde ganz ohne Schnee in den Höhen gesehen.
Rund um Ísafjörður tragen die Berge weiße Schneehauben, und ich bin – zugegeben – etwas nervös, weil heute meine letzte Möglichkeit ist, Kristín zu treffen, bevor ich diese schöne Gegend wieder verlassen muss. Die Anreise hierher ist so beschwerlich, dass sie bei diesen Temperaturen sorgsam geplant sein will.
Als habe Kitty meine Gedanken gelesen, seufzt sie laut und schaut genüsslich in meine Richtung. »Es kann auch sein, dass das Boot in einer Stunde und vierzehn Minuten kommt und dich mitnimmt.«
Habe ich da gerade ein leichtes Glucksen gehört?
Nachdem ich mich bedanke und schon halb wieder draußen, zurück in der Kälte, bin, dreht sie sich über die Schulter hinweg zu mir: »Ach ja, und nicht vergessen: Entspann dich mal. In den Westfjorden kannst du nämlich nichts beeinflussen. Beug dich lieber gleich der Natur.«
Grinsend trete ich hinaus ins Flockengrieseln, das binnen weniger Minuten den ganzen Ort wie eine Schneekugel erscheinen lässt, die zu wild geschüttelt wurde.
Acht Tage lang versuchte ich die Rangerin Kristín Ósk zu erreichen, aber das, was unter ihrer mobilen Nummer ertönte, war eine knarzende isländische Telefonansage, die mich wissen ließ, dass die Teilnehmerin »nicht erreichbar« sei.
Dabei möchte ich die leitende Rangerin der Westfjorde unbedingt kennenlernen. Sie ist direkt Islands Umweltministerium und der Naturschutzbehörde unterstellt und hat in den letzten Wochen unter den Naturfans in ganz Skandinavien so etwas wie einen Heldinnenstatus erlangt. Die Zeitungen waren voll von dieser Frau, auch im Fernsehen trat sie auf.
Der staatliche Sender RÚV hat direkt neben der kleinen Bäckerei des Ortes eine kleine Dependance, einfach weil es zu lange dauern würde, wenn die Hauptstadt-Reporter jedes Mal aus Reykjavík kommen müssten, wenn am verstecktesten Winkel des Landes etwas passiert.
Kristín ist die Hüterin eines 600 Quadratkilometer großen Naturschutzgebietes und hat sich gerade gehörig mit der mächtigen Kreuzfahrtindustrie angelegt. Die ist neben den lautstarken Politdebatten der Bewohner von Ísafjörður, Akureyri und Reykjavík gerade das Thema.
Islands Bewohner sind ein debattierfreudiges Volk. »Sag mal, was du davon hältst« ist in etwa die isländische Version zur amerikanischen Floskel »How are you doing?«, denn alles ist hier immer in Bewegung, nicht erst seit der Bankenkrise.
Dass die Natur hier gerade so einen Hype erlebt, liegt auch am isländischen Blut, denn die Aktivität an der frischen Luft ist im privaten Leben der Menschen wichtiger als in vielen anderen Ländern. Nahezu alle fischenden Väter und Mütter bringen ihren Töchtern und Söhnen Angeln und Fliegenfischen bei, gehen mit den Kindern zur Jagd oder fahren in die Sommerhäuser aufs Land, um Cross-Country-Läufe zu bestreiten, zu segeln und zu laufen.
Jeden Freitagmittag füllt sich der sonst so beschauliche Inlandsflughafen, bevor all die Propellermaschinen in die entlegenen Ost- oder Westfjorde, auf die Westmännerinseln, nach Grímsey oder nach Grönland abheben.
Die Freizeit in der Natur zu verbringen ist etwas geradezu Heiliges, am besten mit der ganzen Familie.
Im Sommer liegt der Schwerpunkt beim Angeln, Reiten und allen möglichen Outdoor-Sportarten, auch Golfplätze sind im ganzen Land riesig und sehr gut gepflegt. Im Winter fliegen die Inlandsmaschinen die müden Hauptstädter (zwei Drittel aller Menschen in Island leben in oder um Reykjavík) zum Abfahrtsski oder Langlauf in die Westfjorde.
Unabhängig von den Jahreszeiten treffen sich alle immer im Hotpot, natürlich auch an den Ferienorten. Da werden die Debatten wieder lebendig, auch wenn die Politik in den heißen Pötten mehr den Witzen weicht, weil man sich schließlich darin erholen will.
An vielen Orten, wie etwa Blönduós oder Húsavík, werden im Hotpot sogar Getränke gereicht, und da ist es fast egal, ob man sich kennt oder nicht, wenn in der Gemeinschaft eine Sache besprochen wird.
Auch die Generationen sind in großer Herzlichkeit miteinander verbunden und kommunizieren angeregt. In Island sind generell alle schnell miteinander verbunden und, als liege es den Leuten noch aus alten Zeiten in den Genen, herrscht eine herzliche Neugier. Man war geografisch abgehängt, aber nie desinteressiert. Selbst etliche Bauern und Fischarbeiter waren belesen und besaßen diese gesunde Offenheit für andere.
Dieses Grundprinzip ist auch dem Hightechland geblieben. Heute stehen hier die Serverfarmen für die halbe Welt, und Island hat die höchste Mobiltelefondichte der Erde, die Menschen sind weltläufig, aber diese schöne Neugier, die den anderen nicht bewertet, die ist größtenteils geblieben.
Dass die Kreuzfahrtindustrie hier gerade (wie auch in anderen Teilen der Welt) einen Paradigmenwechsel durchläuft, hat sicher auch mit der Fridays-for-Future-Bewegung zu tun. Island hat eine starke und politische Jugend, die es gewohnt ist, früh Verantwortung zu übernehmen, und jeden Freitag lautstark vors Parlament zieht. In der Ganztagsschule fällt der halbe Freitag auch nicht so stark ins Gewicht, und die Erwachsenen unterstützen ihre Kinder bei den Streiks.
Ungleich größer ist die Betroffenheit, weil die meisten Menschen am Polarkreis so naturverbunden sind. Wenn ich es recht überlege, ist mir bisher tatsächlich noch kein Mensch bei meinen vielen Reisen in den Norden begegnet, für den die Natur nicht diese tiefe, beinahe spirituelle Bedeutung hatte.
Egal, ob Künstler, Intellektuelle oder Businessleute. Der größte Teil der Leute im Hightechland ist höchstens zwei Generationen von der Landwirtschaft entfernt. Noch vor sechzig Jahren lebten zwei Drittel aller Isländer und Isländerinnen in bäuerlichen Verhältnissen auf dem Land.
Heute sind die wichtigsten Künstlerhäuser in abgelegenen Gegenden angesiedelt. Sie sind das ganze Jahr über belegt und stehen den Kreativen zur Verfügung, die sich mit Stipendien versehen in diese Häuser zurückziehen.
Manchmal liegen sie auf Klippen oder in entlegenen Orten. Die Natur wird auf diese Weise zum Objekt und Bezugspunkt der Kunst. Künstler genießen großen Respekt und werden mit großzügigen Fördermitteln von Staat und Gemeinden unterstützt. Sie sind Teil der nationalen Identität und haben eine Verantwortung, weil sie alles, was sie gefördert bekommen, auch dem Volk präsentieren müssen.
Der starke Bezug zur Natur hat sich durch die Klimakrise noch verstärkt. Kein Wunder, denn die Folgen dieser Krise sind hier jeden Tag sichtbar. Gletscher schmelzen augenfällig, der Meeresspiegel im Süden der Insel hat sich so stark angehoben, dass ein großes Hafenprojekt in Höfn eingestellt werden muss, weil die Bauten technisch auf Dauer keine Sicherheit mehr bieten.
Wer gerade etwas Geld übrig hat, investiert in diesem Sommer in eine interessante Sache: Wasserquellen. Die eigene Quelle ist gerade hipper als das schickste Haus.
Auch die Lachsgründe, die vielleicht zum kostbarsten Naturgut gehören, werden für viel Geld gehandelt. In den Ostfjorden stehen am Wochenende neben den leicht ausgeleierten kleinen Propellermaschinen der Inlandsfluggesellschaften die schicken Learjets und neueren Cessnas der Lachsfischer, die aus Nordamerika oder vom Festland Europas nach Island fliegen, weil die Lachsgründe hier so unverdorben und reich sind – denn Isländer schützen nicht nur ihre Pferde- und Schafzuchten. Die Lachse werden ebenso vor Fremdeinwirkungen bewahrt und einer der größten Skandale des vergangenen Jahres fand in den Westfjorden statt, wo eine große Fischzucht ihre sogenannten Open-Sea-Becken nicht ausreichend absicherte, sodass von dort Zuchtlachse entkommen konnten. Wochenlang sprachen die Leute hier über nichts anderes.
Die Reinheit des Wassers, die Luft, die Erhaltung der Kraft der Natur scheint wichtiger denn je in Island. Ganz einfach, weil alle wissen, was auf dem Spiel steht.
Noch vor ein paar Jahren störte es nur die Ökofreaks und sehr jungen Leute, dass Islands kleinere Städte, wie Ísafjörður und Akureyri, vom Kreuzfahrttourismus profitieren. Seit die Gletscher schmelzen und die Feinstaubbelastung Wetterdaten-Standard in der täglichen Prognose ist, kippt die Stimmung gewaltig. Blitzschnell ist die Elektromobilität sehr stark geworden, der gesellschaftliche Druck auf die Kreuzfahrtfirmen steigt.
Die sind umstritten in Ísafjörður, wurden aber in den letzten Jahren immer geduldet, denn schließlich bringen sie den Westfjorden Touristen und sind, wenn man es genau nimmt, der vierte Weg, um in das am schwersten zugängliche Gebiet Islands zu kommen, das vielleicht sogar Islands schönster Landstrich ist. Die anderen fahren in neun Stunden aus Reykjavík mit dem Auto über knifflige Straßen durch die Fjorde her, nehmen die Fähre aus Snæfellsnes und fahren den Rest aus dem Südwesten kommend durch die neuen Tunnel, oder sie reisen, wie wohl die meisten hier, kostspielig mit dem Flugzeug an.
Mit Kristín Ósk ist es fast ein bisschen wie mit dem täglichen Flieger in die Westfjorde: Man weiß nicht immer, ob der kommt, denn manchmal gibt es so starke Turbulenzen von der Grönlandsee her, dass die Maschinen vorher umdrehen müssen und aufgrund der Thermik nicht landen können.
»Och, das passiert öfter mal mit der, die ist auch schon mal zwei Wochen weg, und wir hören nichts von ihr«, lassen mich ihre Bürokolleginnen wissen.
Man müsse sich aber um Kristín nie Sorgen machen, die kenne sich besser in der wilden Natur da draußen aus als die meisten hier und nehme es zur Not auch mit Eisbären auf, wurde mir gesagt, als ich morgens in ihrem Büro anklopfte, das an der Universität der Arktis liegt.
»Ja, die Kristín kommt immer nur, wenn sie mal wieder Sägespäne aus dem Büro holen will«, lässt mich ihr früherer Chef Peter wissen.
»Das ist schon interessant mit ihr«, schiebt er nach, »eigentlich machen Menschen sonst die Karriere in Gegenrichtung, die fangen erst an mit der Wildnis, toben sich da draußen so richtig aus, und dann folgt ein Studium, sie werden Grundschullehrerin oder, wie Kristín, anschließend Lernberaterin und dann Verwaltungschefin, wie bei uns an der Universität der Arktis.«
Peter schaut mich an und schüttelt den Kopf, ihn fröstelt allein bei dem Gedanken daran, dass Kristín da draußen beim Schneetreiben auf irgendeinem Kliff festhängt und auf das letzte Postboot wartet, das sie zurück in die »Zivilisation« bringen soll und von dem man eigentlich nie genau weiß, wann es wirklich kommen wird – es sei denn, man ist Kitty und bedient sich der App, bloß auf Hornstrandír, wo Kristín Ósk sich befindet, gibt es kein Netz.
»Und was hat es mit den Sägespänen auf sich?«, frage ich neugierig.
»Es scheint das sinnvollste Mittel im Einsatz gegen touristische Exkremente zu sein. Die Natur verzeiht dir ja nichts, da sind die Sägespäne das beste Ökoklo für da draußen.«
Er hält eine dampfende Tasse Tee in seiner Hand, trägt einen blauen Lopapeysa, den Islandpullover, dieses Allroundkleidungsstück, das am besten vor dem Wetter schützt. Ich habe diese Dinger immer abgelehnt. Falscher Snobismus, bis ich auf einer langen Reise in Island, auf der ich ständig fröstelte, doch »schwach« wurde und meinen ersten eigenen Islandpullover anschaffte. Und, o Wunder, es gibt die kratzigen Dinger sogar in stilvoll! Er passt sich dem Körper langsam an, man trägt dieses isländischste aller isländischen Kleidungsstücke viele Jahre, wahrscheinlich sogar ein Leben lang.
Peter sieht darin fantastisch aus.
Dass ausgerechnet wir uns gerade über Kristíns Sägespäne unterhalten, entbehrt nicht einer gewissen Komik, denn ich lernte den Dekan der Uni vor einem Jahr hier in Ísafjörður bei einem Konzert kennen.
Ísafjörður wird von den Hauptstädtern im Süden immer ein klein wenig als schrulliges Kaff am Rande der Insel belächelt und nur für sportive Wochenendausflüge von ihnen genutzt, dabei gibt es hier die größte Dichte an Musikschulen und sogar Flügeln. Als die deutsche Komponistin Ulrike Haage im vergangenen Jahr fast ihr Islandstipendium absagte, weil sie nur auf Flügeln komponiert, musste sie sich sagen lassen: »Geh doch nach Ísafjörður, da gibt es zehn Flügel!« Eine erstaunliche Dichte, hat doch der ganze Ort nur 2600 Einwohner. Es gibt hier mehrere Musikschulen und die bedeutendsten klassischen Konzerte jenseits der Harpa in Reykjavík. Als ich letztes Jahr in Ísafjörður war, hörte ich mehr klassische Konzerte als in der Millionenstadt, in der ich lebe.
Bei einem solchen Konzert lernte ich Peter Weiss kennen, zunächst ohne zu begreifen, dass er Deutscher ist. So fragte ich den attraktiven, vermeintlichen Isländer, der während der Konzertpause gerade aus einer der Toiletten trat, ob das ein Unisex-Klo sei. Die gibt es oft in Island.
Eine halbe Stunde später wurden wir einander vorgestellt und mussten sehr lachen, denn Peter Weiss ist Deutscher und der Dekan der Universität der Arktis hier, des Ablegers der Universität von Island. Alle schwärmen von ihm, er ist bestens integriert (wie die meisten Deutschen, die hier leben) und hat früher einmal das Goethe-Institut in Island geleitet, das heute nur noch als Dependance von Dänemark aus betrieben wird.
Aber das mit Kristíns Karriere, das kann Peter nicht verstehen, obwohl er kernige Frauen mag und respektiert.
»Sie stattet ihre cabins im Naturschutzgebiet mit Sägemehltoiletten aus, weil wir jeden Müll in dem großen Gebiet verhindern. Das Sägemehl nimmt sie mit, das hilft, das Naturreservat auf natürliche Weise sauber zu halten. Die wenigen Besucher, die sich dorthin verirren, sollen nichts in der Natur hinterlassen.«
Das Gebiet, über das die strenge Rangerin Kristín wacht, gilt als eines der letzten Mysterien Islands, denn es ist vollkommen unbewohnt. Die letzten Menschen, die dort lebten, verließen die Dörflein Latrar und Saeból im Jahr 1952. Zum Schluss lebten ein paar Brüder ganz allein hier. Die Allerletzten. Ohne Strom und ohne fließendes Wasser. Die jungen Leute waren längst in die Stadt abgewandert. Heute ist Hornstrandír die geniale Gegend für digitales Detox.
Als ich es endlich aufs Postboot geschafft habe und wir Kristín an einem der Strände aufgabeln (sie hat mehrere Tüten Müll dabei und ist herzlich überrascht von mir, der Fremden, die sie vor der Küste per Boot suchen ging), steht sie da in ihrer grünen Rangermontur, im Parka mit festen Lederwanderschuhen und strahlt. Die acht zurückliegenden Tage in der Wildnis scheinen sie energetisiert zu haben.
»Tja, die Wanderschuhe hier hat mir meine Behörde geschenkt, die sind an mir verzweifelt, denn ich hätte eigentlich einen Jeep bekommen oder ein Boot, aber das brauche ich nicht, wir haben ja Ingolfur, den Postkutter, hier, und mit einem Auto würde ich nie nach Hornstrandír kommen, das ist unwegsames Gebiet, da gibt es allenfalls mal ein paar Trampelpfade, weißt du.«
Was ihr als Rangerin gerade zu schaffen macht, sind die vielen Instagramer, die es neuerdings hierherverschlägt. »Dabei ist das hier Digital Detox vom Feinsten, aber man muss wirklich vorbereitet sein.«
Kristín führt die meisten Gruppen selbst. Aber immer wieder gibt es Reisende, die sich ordentlich bei der Rangerin anmelden (das müssen sie, um die Natur zu bewahren) und die alleine auf den lang gezogenen, traumschönen grünen Klippen zelten.
»Die, die hierherkommen, kennen sich meistens aus. Nur seit in den sozialen Netzwerken Fotos von dieser Idylle kursieren, meinen irgendwelche Greenhorns, hier unbedingt fotografieren zu müssen.«
Sie erzählt von einem jungen amerikanischen Paar, das ohne jede Ausrüstung aufs Boot stieg und auf eigene Faust wandern wollte. »Das konnte ich nicht zulassen. Wenn du nicht vorbereitet bist, dann ist das lebensgefährlich.«
Die nordwestliche Spitze der Westfjorde ist wild und unberührt. Alles hier ist größer und prächtiger als der Rest der Westfjorde. Die verlassenen Häuser sind von weiten Ebenen umgeben, auf denen sich riesiger Klee breitgemacht hat.
Besonders berühmt ist das Gebiet, das Kristín als Rangerin betreut, für seine große Kolonie von Polarfüchsen. Robben liegen in den Buchten, die vielleicht einmal in ein paar Monaten ein Mensch betritt, und das ist vermutlich in den meisten Fällen die Rangerin, die dort mit größtem Bedacht nach dem Rechten sieht.
Kristíns Karriere als Naturschützerin ist tatsächlich ungewöhnlich. Sie erzählt gleichzeitig viel von weiblicher Selbstbestimmung.
»Klar kann ich schießen«, sagt sie. Das gehört zur Ausbildung zur Rangerin, auch wenn sie immer unbewaffnet ist. »Vor ein paar Jahren hatten wir hier einen Polarbären. Das war nicht gerade lustig, da mussten meine Kollegen von der Küstenwacht mit dem Hubschrauber kommen. Wir mussten das Tier erschießen. Es tat mir in der Seele weh, aber der wäre hier nicht überlebensfähig gewesen. Er hatte sich wegen des schwindenden Packeises hierherverirrt, und das ist nicht sein natürlicher Lebensraum. Wir haben zu wenig Walrosse und Ringelrobben für ihn.« Außerdem stellte er eine Gefahr dar. Als Kristín erfuhr, dass jemand den Eisbären gesehen hatte, alarmierte sie sofort den Hubschrauber, denn sie hatte gerade Leute in der Bucht abgesetzt, in der er sich angeblich herumtrieb. »Die Häuser hier gehören fast alle noch den Familien, die einmal hier lebten«, sagt sie. Und so war gerade eine junge Familie mit kleinen Kindern in der Bucht. Tatsächlich hatte die Polarbärin sich den Leuten genähert. Die wussten, wie brenzlig die Situation war, hatten aber das Gewehr, das sie sogar besitzen, noch im Auto, das sich nun ausgerechnet hinter der Bärin befand.
»Das war ein tolles Bild. Als wir landeten, bewarfen sie die Bärin mit den Einkäufen, die sie im Schuppen gelagert hatten: Apfelsinen und Zitronen. Wir müssen ja alles, was wir hier verzehren, auch mitschleppen. Wenn du ein Haus in der Gegend hast, super! Aber wenn du wanderst, hast du unter Umständen ganz schön viel zu tragen.«
Es gibt für die Reisenden hier exakte Anweisungen, was sie mitnehmen dürfen und was nicht. Aber Tierschutz scheint von manchen Menschen noch immer nicht verstanden zu werden.
Ihr härtester Brocken »ever« (Zitat Kristín) war ausgerechnet ein deutscher Fotograf, der einen Polarfuchs mit Thüringer Wurst fütterte. Die rigorose Rangerin verzweifelte fast an ihm: »Ich hoffe für euch deutsche Frauen, dass nicht alle eure Männer so sind. Das kannte ich ja gar nicht, dass ein Mann sich nichts von mir sagen ließ, ich war so wütend auf den, dass ich ihn am liebsten verhaftet hätte!«
Kristín findet, dass das isländische Familienmodell genial für Frauen wie sie sei, und sie erklärt mir auch, warum sie – wie Peter Weiss es nannte – »den umgekehrten Karriereweg« ging: »Ich habe meinen Sohn sehr früh bekommen, der ist jetzt erwachsen und selbstständig, und endlich kann ich mein Leben draußen in der Natur verbringen, davon habe ich geträumt, seit ich ein kleines Mädchen war.«
Kristín näherte sich im Laufe der Jahre Hornstrandír an, das für viele ein Mysterium war oder auch ein mit Angst besetzter Ort, weil Menschen umkamen, weil es seltsame Töne gibt, die sich niemand erklären kann. Schon ihre Großeltern lebten in diesem Tal, bevor alle fortzogen und sie mit ihnen.
»Meine Tante hat erzählt, wie krass das war: Da waren draußen so komische Geräusche, das klang wie ein lautes Brüllen auf dem Meer. Meine Tante erzählte, dass sie damals vor die Tür trat und sagte: ›Lass uns doch mal gucken‹, und meine Großmutter sie vollkommen verschreckt und schlotternd vor Angst zurück ins Haus zog. Ich musste heute erst wieder an sie denken. Ich stand da oben auf dem Hochplateau, und da hat sich der Wind in den Felsspalten verfangen. Das ist wunderschön da oben, du denkst, du hörst die Meerjungfrauen singen. Unglaublich. Andererseits haben wir in Island auch diese Geschichten der gestohlenen Kinder, die das Haus verlassen oder von Trollen geholt werden und nie wieder zurückkommen. Meine Großmutter muss an so etwas gedacht haben, als sie so hysterisch reagierte.«
Kristín ging lange allein auf diese Hochebenen, die über viele, viele Kilometer miteinander verbunden sind. Wege, die seit Jahrzehnten niemand mehr gegangen war, waren unwegsam geworden, sie befreite sie von den Hindernissen und legte neue Wanderwege an, baute Schutzhütten und führte nach und nach Freunde in dieses geheimnisvolle fremde Land ihrer Vorfahren.
Ende der Leseprobe