Wo warst du Adam - Heinrich Böll - E-Book

Wo warst du Adam E-Book

Heinrich Böll

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Beschreibung

In seinem frühen Roman schildert Heinrich Böll den Krieg als eine Krankheit. Es ist daher nur folgerichtig, daß er nicht die Mechanismen einer Schlacht beschreiben wollte, sondern den einzelnen Menschen in den Vordergrund stellt. Böll geht vom Detail aus und öffnet so den Blick auf das Ganze. Er zeichnet seine Gestalten, Landser und Generäle, SS-Führer und gehetzte Juden, Frauen und Mädchen im Hinterland, ohne zu verzerren oder zu idealisieren. Viele Bücher sind gegen den Krieg geschrieben worden. Aber nicht alle wurden so verstanden. Ungewollt ließen sie einen Rest von Sinngebung oder gar eine Faszination am Grauen und an der zerstörenden Gewalt des Krieges zu. Bölls Roman ist unmißverständlich. So macht zum Beispiel die Geschichte eines Wachkommandos bei einer Brücke, die von Partisanen gesprengt und von den Deutschen wieder aufgebaut wird, um gleich wieder vor den anrückenden Russen gesprengt zu werden, die organisierte Sinnlosigkeit des Krieges deutlicher als jedes grausige Schlachtenpanorama. Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1 - 27 Kölner Ausgabe

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Heinrich Böll

Wo warst du Adam

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Über Heinrich Böll

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Über Heinrich Böll

Heinrich Böll, 1917 in Köln geboren, nach dem Abitur 1937 Lehrling im Buchhandel und Student der Germanistik. Mit Kriegsausbruch wurde er zur Wehrmacht eingezogen und war sechs Jahre lang Soldat. Seit 1947 veröffentlichte er Erzählungen, Romane, Hör- und Fernsehspiele, Theaterstücke und zahlreiche Essays. Zusammen mit seiner Frau Annemarie war er auch als Übersetzer englischsprachiger Literatur tätig. Heinrich Böll erhielt 1972 den Nobelpreis für Literatur. Er starb im Juli 1985 in Langen-broich/Eifel.

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Über dieses Buch

In seinem frühen Roman schildert Heinrich Böll den Krieg als eine Krankheit. Es ist daher nur folgerichtig, daß er nicht die Mechanismen einer Schlacht beschreiben wollte, sondern den einzelnen Menschen in den Vordergrund stellt.

Böll geht vom Detail aus und öffnet so den Blick auf das Ganze. Er zeichnet seine Gestalten, Landser und Generäle, SS-Führer und gehetzte Juden, Frauen und Mädchen im Hinterland, ohne zu verzerren oder zu idealisieren. Viele Bücher sind gegen den Krieg geschrieben worden. Aber nicht alle wurden so verstanden. Ungewollt ließen sie einen Rest von Sinngebung oder gar eine Faszination am Grauen und an der zerstörenden Gewalt des Krieges zu. Bölls Roman ist unmißverständlich. So macht zum Beispiel die Geschichte eines Wachkommandos bei einer Brücke, die von Partisanen gesprengt und von den Deutschen wieder aufgebaut wird, um gleich wieder vor den anrückenden Russen gesprengt zu werden, die organisierte Sinnlosigkeit des Krieges deutlicher als jedes grausige Schlachtenpanorama.

Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1-27 Kölner Ausgabe

Inhaltsverzeichnis

Wo warst du, Adam?

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

Die Förderer

Wo warst du, Adam?

(1951)

Eine Weltkatastrophe kann zu manchem dienen. Auch dazu, ein Alibi zu finden vor Gott. Wo warst du, Adam? »Ich war im Weltkrieg.«

Theodor Haecker, Tag- und Nachtbücher, 31. März 1940

Früher habe ich Abenteuer erlebt: die Einrichtung von Postlinien, die Überwindung der Sahara, Südamerika – aber der Krieg ist kein richtiges Abenteuer, er ist nur Abenteuer-Ersatz. Der Krieg ist eine Krankheit. Wie der Typhus.

Antoine de Saint-Exupéry, Flug nach Arras

1

Zuerst ging ein großes, gelbes, tragisches Gesicht an ihnen vorbei, das war der General. Der General sah müde aus. Hastig trug er seinen Kopf mit den bläulichen Tränensäcken, den gelben Malariaaugen und dem schlaffen, dünnlippigen Mund eines Mannes, der Pech hat, an den tausend Männern vorbei. Er fing an der rechten Ecke des staubigen Karrees an, blickte jedem traurig ins Gesicht, nahm die Kurven schlapp, ohne Schwung und Zackigkeit, und sie sahen es alle: auf der Brust hatte er Orden genug, es blitzte von Silber und Gold, aber sein Hals war leer, ohne Orden. Und obwohl sie wußten, daß das Kreuz am Halse eines Generals nicht viel bedeutete, so lähmte es sie doch, daß er nicht einmal das hatte. Dieser magere, gelbe Generalshals ohne Schmuck ließ an verlorene Schlachten denken, mißlungene Rückzüge, an Rüffel, peinliche, bissige Rüffel, wie sie hohe Offiziere untereinander austauschten, an ironische Telefongespräche, versetzte Stabschefs und einen müden, alten Mann, der hoffnungslos aussah, wenn er abends den Rock auszog und sich mit seinen dünnen Beinen, dem ausgemergelten Malariakörper auf den Rand seines Bettes setzte, um Schnaps zu trinken. Alle die dreihundertunddreiunddreißig mal drei Mann, denen er ins Gesicht blickte, fühlten etwas Seltsames: Trauer, Mitleid, Angst und eine geheime Wut. Wut auf diesen Krieg, der schon viel zu lange dauerte, viel zu lange, als daß der Hals eines Generals noch ohne den gehörigen Schmuck hätte sein dürfen. Der General hielt seine Hand an die verschlissene Mütze, die Hand wenigstens hielt er gerade, und als er an der linken Ecke des Karrees angekommen war, machte er eine etwas schärfere Wendung, ging in die Mitte der offenen Seite, blieb dort stehen, und der Schwarm von Offizieren gruppierte sich um ihn, locker und doch planmäßig, und es war peinlich, ihn dort zu sehen, ohne Halsschmuck, während andere, Rangniedrigere, das Kreuz in der Sonne blitzen lassen konnten.

Er schien erst etwas sagen zu wollen, aber er nahm nur noch einmal sehr plötzlich die Hand an die Mütze und machte so unerwartet kehrt, daß der Schwarm von Offizieren sich erschreckt verteilte, um ihm Platz zu machen. Und sie sahen alle, wie das kleine, schmale Männchen in seinen Wagen stieg, die Offiziere ihre Hände noch einmal an die Mütze nahmen, und dann zeigte eine aufwirbelnde weiße Staubwolke an, daß der General nach Westen fuhr, dorthin, wo die Sonne schon ziemlich niedrig stand, nicht mehr sehr weit entfernt von den flachen weißen Dächern, dorthin, wo keine Front war.

Dann marschierten sie zu einhundertundelf mal drei Mann in einen anderen Stadtteil, südlich, an Cafés von schmutziger Eleganz vorbei, vorbei an Kinos und Kirchen, durch Armenviertel, wo Hunde und Hühner faul vor den Türen lagen, schmutzige, hübsche Frauen mit weißen Brüsten in den Fenstern, wo aus dreckigen Kneipen der eintönige, seltsam erregende Gesang trinkender Männer kam. Straßenbahnen kreischten mit abenteuerlicher Schnelligkeit vorbei – und dann kamen sie in ein Viertel, wo es still war. Villen lagen in grünen Gärten, Militärautos standen vor steinernen Portalen, und sie marschierten in eines dieser steinernen Portale hinein, kamen in einen sehr gepflegten Park und stellten sich wieder im Karree auf, in einem kleineren Karree, einhundertundelf mal drei Mann.

Das Gepäck wurde nach hinten herausgelegt, ausgerichtet, die Gewehre zusammengesetzt, und als sie wieder stillstanden, müde und hungrig, durstig, wütend und überdrüssig dieses verfluchten Krieges, als sie wieder stillstanden, ging ein schmales, rassiges Gesicht an ihnen vorbei: das war der Oberst, blaß, mit harten Augen, zusammengekniffenen Lippen und einer langen Nase. Es erschien ihnen allen selbstverständlich, daß der Kragen unter diesem Gesicht mit dem Kreuz geschmückt war. Aber auch dieses Gesicht gefiel ihnen nicht. Der Oberst nahm die Ecken gerade, ging langsam und fest, ließ kein Augenpaar aus, und als er zuletzt in die offene Flanke schwenkte, mit einem kleinen Schwanz von Offizieren, da wußten sie alle, daß er etwas sagen würde, und sie dachten alle, daß sie gern etwas trinken möchten, trinken, auch essen oder schlafen oder eine Zigarette rauchen.

»Kameraden«, sagte die Stimme hell und klar, »Kameraden, ich begrüße euch. Es gibt nicht viel zu sagen, nur eins: wir müssen sie jagen, diese Schlappohren, jagen in ihre Steppe zurück. Versteht ihr?«

Die Stimme machte eine Pause, und das Schweigen in dieser Pause war peinlich, fast tödlich, und sie sahen alle, daß die Sonne schon ganz rot war, dunkelrot, und der tödliche, rote Glanz schien sich in dem Kreuz am Halse des Obersten zu fangen, ganz allein in diesen vier glänzenden Balken, und sie sahen jetzt erst, daß das Kreuz noch verziert war, mit Eichenlaub, das sie Gemüse nannten.

Der Oberst hatte Gemüse am Hals.

»Ob ihr versteht?« schrie die Stimme, und sie überschlug sich jetzt.

»Jawohl«, riefen ein paar, aber die Stimmen waren heiser, müde und gleichgültig.

»Ob ihr versteht, frage ich?« schrie die Stimme wieder, und sie überschlug sich so sehr, daß sie in den Himmel zu steigen schien, schnell, allzu schnell, wie eine verrückt gewordene Lerche, die sich einen Stern zum Futter pflücken will.

»Jawohl«, riefen ein paar mehr, aber nicht viele, und auch die, die schrien, waren müde, heiser, gleichgültig, und nichts an der Stimme dieses Mannes konnte ihnen ihren Durst stillen, ihren Hunger nehmen und die Lust auf eine Zigarette.

Der Oberst schlug wütend mit seiner Gerte in die Luft, sie hörten etwas, das wie »Mistbande« klang, und er ging mit sehr schnellen Schritten nach hinten weg, gefolgt von seinem Adjutanten, einem langen jungen Oberleutnant, der viel zu lang war, viel zu jung auch, um ihnen nicht leid zu tun.

Immer noch stand die Sonne am Himmel, genau über den Dächern, ein glühendes Eisenei, das über die flachen weißen Dächer zu rollen schien, und der Himmel war grau gebrannt, fast weiß, schlapp hing das magere Laub von den Bäumen, als sie weitermarschierten, nun endlich östlich, durch die Vorstadt, an Hütten vorbei, über Kopfsteinpflaster, vorbei an den Baracken von Lumpenhändlern, einem völlig deplacierten Block moderner, dreckiger Mietskasernen, Abfallgruben, durch Gärten, in denen Melonen faul am Boden lagen, pralle Tomaten an großen Stauden hingen, staubbedeckt, an viel zu großen Stauden, die ihnen fremd vorkamen. Fremd waren auch die Maisfelder mit ihren dicken Kolben, an denen Scharen schwarzer Vögel herumpickten, die träge aufflogen, als ihr müder Tritt sich näherte, Wolken von Vögeln, die zögernd in der Luft schwebten, sich dann niederließen und weiterpickten.

Nun waren sie nur noch fünfunddreißig mal drei Mann, ein müder Zug, staubbedeckt, mit wunden Füßen, schwitzenden Gesichtern, an der Spitze ein Oberleutnant, dem der Überdruß auf dem Gesicht stand. Schon als er das Kommando übernahm, hatten sie gewußt, was für einer er war. Er hatte sie nur angeblickt, und in seinen Augen lasen sie es, obwohl sie müde waren, durstig, durstig, sie lasen es: »Scheiße«, sagte sein Blick, »nichts als Scheiße, aber wir können nichts machen.« Und dann sagte seine Stimme mit betonter Gleichgültigkeit, alle üblichen Kommandos verachtend: »Los.«

Sie hielten jetzt an einer schmutzigen Schule, die zwischen halbverwelkten Bäumen lag. Schwarze, stinkende Pfützen, über denen sich brummende Fliegen tummelten, schienen schon seit Monaten dort zu stehen zwischen grobem Pflaster und einer mit Kreide bekritzelten Pißbude, aus der es abscheulich stank, scharf und deutlich.

»Halt«, sagte der Oberleutnant, dann ging er ins Haus, und er hatte den eleganten und zugleich schlappen Gang eines Mannes, der von oben bis unten mit Überdruß angefüllt ist.

Jetzt brauchten sie kein Karree mehr zu bilden, und der Hauptmann, der an ihnen vorbeiging, nahm nicht einmal die Hand an die Mütze; er hatte kein Koppel um, einen Strohhalm zwischen den Zähnen, und sein dickes Gesicht mit den schwarzen Brauen sah gemütlich aus. Er nickte nur, machte »hm«, stellte sich vor sie und sagte: »Wir haben nicht viel Zeit, Jungens. Ich werde den Spieß schicken und euch gleich zu den Kompanien verteilen lassen.« Aber sie hatten an seinem gesunden Gesicht vorbei schon lange gesehen, daß die Gefechtswagen fertig gepackt dort standen und auf den Fensterbänken in den offenen, schmutzigen Fenstern die Sturmgepäcke lagen, grünliche, korrekte Pakete, die Koppel daneben mit allem, was dazu gehörte: Brotbeutel, Patronentaschen, Spaten und Gasmaske.

Als sie weitergingen, waren sie nur noch zu acht mal drei Mann, und sie gingen durch die Maisfelder zurück bis zu den häßlichen modernen Mietskasernen, bogen dann wieder östlich und kamen an ein paar Häuser in dürftigem Wald, die fast wie eine Künstlerkolonie aussahen: einstöckige, flachdachige Dinger mit großen Glasfenstern. Sommerstühle standen in den Gärten, und als sie hielten und kehrtmachten, sahen sie, daß die Sonne nun schon hinter den Häusern stand, daß ihr Schein die ganze Kuppel des Himmels füllte mit etwas zu hellem Rot, das wie schlecht gemaltes Blut aussah – und hinter ihnen, im Osten, war es schon dunkel-dämmerig und warm. Vor den kleinen Häusern hockten Landser im Schatten, irgendwo standen Gewehrpyramiden, zehn ungefähr schienen es zu sein, und sie sahen, daß die Landser die Koppel schon umgeschnallt hatten: die Stahlhelme an den Karabinerhaken glänzten rötlich.

Der Oberleutnant, der aus einem Häuschen kam, ging gar nicht an ihnen vorbei. Er blieb gleich in der Mitte vor ihnen stehen, und sie sahen, daß er nur einen Orden hatte, einen kleinen, schwarzen Orden, der eigentlich gar kein Orden war, eine nichtssagende Medaille, aus schwarzem Blech gestanzt, aus der zu ersehen war, daß er Blut fürs Vaterland vergossen hatte. Das Gesicht des Oberleutnants war müde und traurig, und als er sie jetzt anblickte, blickte er erst auf ihre Orden, dann in ihre Gesichter, und er sagte: »Schön«, und nach einer kleinen Pause mit einem Blick auf seine Uhr: »Ihr seid müde, ich weiß, aber ich kann nichts machen – wir müssen in einer Viertelstunde weg.«

Dann blickte er den Unteroffizier an, der neben ihm stand, und sagte: »Hat keinen Zweck, die Personalien aufzunehmen – Soldbücher einsammeln, zum Troß mitgeben. Schnell einteilen, damit die Leute noch trinken können. Macht euch auch die Feldflaschen voll!« rief er den acht mal drei Mann zu.

Der Unteroffizier neben ihm sah gereizt und eingebildet aus. Er hatte viermal soviel Orden wie der Oberleutnant, und er nickte jetzt und sagte mit lauter Stimme: »Los, Soldbücher raus!«

Er legte den Packen auf einen wackeligen Gartentisch und fing an, sie einzuteilen, und während sie gezählt und zugewiesen wurden, dachten sie alle das gleiche: die Fahrt war ermüdend gewesen, langweilig, zum Kotzen, aber es war nicht ernst gewesen. Auch der General, der Oberst, der Hauptmann, sogar der Oberleutnant, die waren weit weg, die konnten ihnen nichts wollen. Aber die hier, denen gehörten sie, diesem Unteroffizier, der die Hand an die Mütze nahm, die Hacken zusammenknallte, wie man es vor vier Jahren einmal getan hatte, oder diesem büffeligen Feldwebel, der nun von hinten herantrat, die Zigarette wegschmiß und sein Koppel zurechtrückte – denen gehörten sie, bis sie gefangen waren oder irgendwo lagen, verwundet – oder tot.

Von den tausend Mann war einer allein übriggeblieben, der nun vor dem Unteroffizier stand und sich hilflos umblickte, weil niemand mehr neben, hinter und vor ihm war; und als er den Unteroffizier wieder ansah, fiel ihm ein, daß er durstig war, sehr durstig, und daß von der Viertelstunde schon mindestens acht Minuten vergangen waren.

Der Unteroffizier hatte sein Soldbuch vom Tisch genommen, es aufgeschlagen, blickte rein, sah ihn an und fragte: »Sie heißen Feinhals?«

»Jawohl.«

»Sind Architekt – und können zeichnen?«

»Jawohl.«

»Kompanietrupp, können wir gebrauchen, Herr Oberleutnant.«

»Schön«, sagte der Oberleutnant und blickte zur Stadt hin, und Feinhals blickte auch dorthin, wo der Oberleutnant hinsah, und er sah jetzt, was diesen so zu fesseln schien: da hinten lag die Sonne jetzt in einer Straßenzeile zwischen zwei Häusern auf dem Boden, merkwürdig, wie ein abgeflachter, glänzender, sehr entarteter Apfel lag sie da einfach zwischen zwei schmutzigen rumänischen Vorstadthäusern auf dem Boden, ein Apfel, der zusehends an Glanz verlor und fast in seinem eigenen Schatten zu liegen schien.

»Schön«, sagte der Oberleutnant noch einmal, und Feinhals wußte nicht, ob er wirklich die Sonne meinte oder die Phrase nur gewohnheitsmäßig von sich gab. Feinhals dachte daran, daß er jetzt schon vier Jahre unterwegs war, vier Jahre schon, und damals auf der Postkarte hatte gestanden, daß er zu einer mehrwöchigen Übung einberufen würde. Aber plötzlich war Krieg gekommen.

»Gehen Sie trinken«, sagte der Unteroffizier zu Feinhals. Feinhals lief dorthin, wo die anderen hingelaufen waren, und er fand die Wasserstelle sofort: der Kran war ein rostiges Eisenrohr mit ausgeleiertem Gartenhahn zwischen mageren Kiefernstämmen, und der Strahl, der herauskam, war halb so dick wie ein kleiner Finger, aber schlimmer noch, daß fast zehn Mann dort standen, drängend, schimpfend, die gegenseitig ihre Kochgeschirre wegstießen.

Der Anblick des rinnenden Wassers machte Feinhals fast besinnungslos. Er riß das Kochgeschirr vom Brotbeutel, zwängte sich zwischen die anderen und spürte plötzlich, daß er unendlich viel Kraft hatte. Er quetschte sein Geschirr zwischen die anderen, hinein in diese stets sich verschiebende Vielzahl blecherner Öffnungen, und er wußte nicht mehr, welches sein eigenes war; er verfolgte seinen Arm, sah, daß das dunkler emaillierte seins war, schob es mit kräftigem Ruck durch und fühlte etwas, was ihn zittern ließ: es wurde schwer. Er wußte nicht mehr, was schöner war, zu trinken oder zu spüren, wie sein Kochgeschirr schwerer wurde. Plötzlich zog er es zurück, weil er spürte, wie seine Hände kraftlos wurden, es zitterte in seinen Adern von Schwäche, und während hinter ihm die Stimmen riefen: »Antreten – los voran!«, setzte er sich, nahm das Kochgeschirr zwischen die Knie, weil er keine Kraft mehr hatte, es hochzuheben, und beugte sich darüber wie ein Hund über seinen Napf, drückte mit bebenden Fingern sanft nach, so daß der untere Rand sich senkte und der Wasserspiegel seine Lippen berührte, und als die Oberlippe nun wirklich naß wurde und er anfing zu schlürfen, tanzte es vor seinen Augen in allen Farben, sich verschiebend: »Wasser, Sserwa, Asserw«, er sah es mit einer irren Deutlichkeit ins Imaginäre geschrieben: Wasser. Seine Hände wurden wieder stark, er konnte den Napf heben und trinken.

Irgend jemand riß ihn hoch, stieß ihn vor sich her, und er sah die Kompanie dort stehen, den Oberleutnant vorn, der rief: »Voran, voran!«, und er nahm sein Gewehr auf die Schulter und reihte sich vorn ein, wohin ihn der winkende Unteroffizier befohlen hatte.

Dann marschierten sie vorwärts, ins Dunkle hinein, und er bewegte sich, ohne es zu wollen: er wollte sich eigentlich fallen lassen, aber er ging voran, ohne es zu wollen, sein eigenes Schwergewicht veranlaßte ihn, die Knie einzudrücken, und wenn er die Knie eindrückte, schoben sich die wunden Füße vorwärts, die große Placken von Schmerz mitzuschleppen hatten, viel zu große Placken, die größer waren als seine Füße; seine Füße waren zu klein für diesen Schmerz; und wenn er die Füße vorwärts schob, kam die Masse von Hintern, Schultern, Armen und Kopf wieder in Bewegung und veranlaßte ihn, die Knie einzudrücken, und wenn er die Knie eindrückte, schoben sich die wunden Füße vorwärts…

Drei Stunden später lag er müde irgendwo auf magerem Steppengras und sah einer Gestalt nach, die im grauen Dunkel davonkroch; diese Gestalt hatte ihm zwei fettige Papiere, ein Stück Brot, eine Rolle Drops und sechs Zigaretten gebracht, und sie hatte zu ihm gesagt:

»Kennst du die Parole?«

»Nein.«

»Sieg. Parole: Sieg.«

Und er hatte leise wiederholt: »Sieg, Parole Sieg«, und das Wort schmeckte wie lauwarmes Wasser auf der Zunge.

Dann löste er das Papier von den Drops, steckte einen in den Mund, und als er den dünnen, säuerlich-synthetischen Geschmack im Mund verspürte, trieb es ihm den Speichel aus den Drüsen, er spülte den ersten Schwall dieser süßvermischten Bitternis hinunter – und er hörte plötzlich die Granaten, die stundenlang vorn auf einer entfernten Linie herumgebummelt hatten, über sie hinwegfliegen, flatternd, rauschend, wackelnd wie schlecht vernagelte Kisten, und es krachte hinter ihnen ein. Die zweite Ladung lag vor ihnen, nicht allzu weit: Sandfontänen zeichneten sich wie zerfließende Pilze auf dem hellen Dunkel des östlichen Himmels ab, und ihnen fiel auf, daß es jetzt hinter ihnen dunkel war und vor ihnen etwas heller. Die dritte Ladung hörte er nicht: zwischen ihnen schien man mit Zuschlaghämmern Sperrholzplatten zu zerschlagen, krachend, splitternd, nah, gefährlich. Dreck und Pulverdampf trieben nahe der Erde hin, und als er sich herumgeworfen hatte, an die Erde gepreßt, den Kopf vorn in der Mulde der Böschung, die er aufgeworfen hatte, hörte er, wie der Befehl durchgegeben wurde: »Fertigmachen zum Sprung!« Es wisperte, von rechts kommend, zischte an ihnen vorbei wie eine Zündschnur, die nach links abzubrennen schien, still und gefährlich, und als er sein Sturmgepäck zurechtschieben, es festhaken wollte, krachte es neben ihm, und jemand schien ihm die Hand wegzuschlagen und ihn heftig am Oberarm zu zerren. Sein ganzer linker Arm war in feuchte Wärme getaucht, und er hob sein Gesicht aus dem Dreck und rief: »Ich bin verwundet«, aber er selbst hörte nicht, was er rief, er hörte nur leise eine Stimme sagen: »Roßapfel.«

Sehr entfernt, wie durch dicke Glaswände von ihm getrennt, sehr nah und doch entfernt: »Roßapfel«, sagte die Stimme; leise, vornehm, entfernt, gedämpft: »Roßapfel, Hauptmann Bauer, jawohl«; dann war es ganz still, und die Stimme sagte: »Ich höre Herrn Oberstleutnant.« Pause, ganz still war es, nur ferne brodelte etwas, zischte und puffte leise, als koche etwas über. Dann fiel ihm ein, daß er die Augen geschlossen hatte, und er schlug sie auf: er sah den Kopf des Hauptmanns, hörte nun auch die Stimme lauter; der Kopf stand in einem dunklen, schmutzig umrahmten Fensterausschnitt, und das Gesicht des Hauptmanns war müde, unrasiert und übellaunig, er hatte die Augen zugekniffen und sagte jetzt dreimal hintereinander, mit winzigen Pausen dazwischen: »Jawohl, Herr Oberstleutnant« – »Jawohl, Herr Oberstleutnant« – »Jawohl, Herr Oberstleutnant«.

Dann setzte der Hauptmann den Stahlhelm auf, und sein breiter, gutmütiger, schwarzer Kopf sah nun sehr lächerlich aus, als er zu jemand neben sich sagte: »Mist, Durchbruch bei Roßapfel drei, Freischütz vier, ich muß nach vorn.« Eine andere Stimme rief ins Haus: »Kradmelder zu Herrn Hauptmann«, und es pflanzte sich fort wie ein Echo, murmelte im Haus herum, immer leiser werdend: »Kradmelder zu Herrn Hauptmann, Kradmelder zu Herrn Hauptmann.«

Dann hörte er die Maschine knattern, verfolgte ihr trockenes Geräusch, das näher kam, und sah sie um eine Ecke biegen, langsam, das Tempo verringernd, bis sie vor ihm stehenblieb, brummend, staubbedeckt, und der Fahrer mit seinem müden, gleichgültigen Gesicht, der auf dem hopsenden Ding sitzen blieb, rief ins Fenster: »Krad für Herrn Hauptmann zur Stelle.« Und breitbeinig und langsam, die Zigarre im Mund, trat der Hauptmann aus der Tür, ein finsterer, dicker Pilz mit seinem Stahlhelm, er kletterte lustlos in den Beiwagen, sagte »Los«, und die Maschine hopste hoch und rappelte davon, hastig, in Staub gehüllt, dem brodelnden Durcheinander da vorn entgegen.

Feinhals wußte nicht, ob er sich jemals so glücklich gefühlt hatte. Er spürte kaum Schmerz; in seinem linken Arm, der ganz dick verpackt neben ihm lag, steif und blutig, feucht und fremd, spürte er ein leises Unbehagen, sonst nichts; sonst war alles heil; er konnte die Beine einzeln hochheben, die Füße in den Stiefeln kreisen lassen, den Kopf hochheben, und er konnte liegend rauchen, vor sich die Sonne, die eine Handbreit über der grauen Staubwolke im Osten stand. Aller Lärm war irgendwie entfernt und gedämpft, es schien, als sei sein Kopf mit einer Watteschicht umgeben, und es fiel ihm ein, daß er fast vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte als ein säuerlich-synthetisches Bonbon, nichts getrunken als ein wenig Wasser, rostig und lauwarm mit dem Geschmack von Sand.

Als er spürte, daß er aufgehoben und weggetragen wurde, schloß er die Augen wieder, aber er sah alles, es war so bekannt, war irgendwann schon einmal mit ihm geschehen: an den Auspuffgasen eines brummenden Wagens vorbei wurde er in das heiße, nach Benzin stinkende Innere getragen, die Bahre knirschte in den Schienen, dann sprang der Motor an, und der Lärm draußen entfernte sich immer mehr, unmerklich fast, so wie er sich am Abend vorher unmerklich genähert hatte, nur einzelne Granaten schlugen in die Vorstädte, regelmäßig, ruhig, und während er merkte, daß er einschlafen würde, dachte er: Es ist gut, es ist schnell gegangen dieses Mal, sehr schnell… Nur ein wenig Durst hatte er gehabt, Schmerzen an den Füßen und ein wenig Angst.

Als der Wagen mit einem Ruck hielt, erwachte er aus seinem Dösen. Türen wurden aufgerissen, wieder kreischten die Tragbahren in den Schienen, und er wurde in einen kühlen, weißen Flur hineingetragen, in dem es ganz still war; hintereinander standen die Tragen wie Liegestühle auf einem schmalen Deck, und er sah vor sich einen dichtbehaarten schwarzen Kopf, der ruhig lag, davor auf der nächsten Bahre eine Glatze, die sich heftig hin und her bewegte, und ganz vorn, auf der ersten Bahre, einen weißen Kopf, der dicht verbunden war, vollkommen umwickelt, einen häßlichen, viel zu schmalen Kopf, und aus diesem Mullpacken kam eine Stimme, schneidend, hell, klar, hart gegen die Decke steigend, hilflos und frech zugleich, die Stimme des Obersten, und die Stimme schrie: »Sekt!«

»Schiffe«, sagte der Glatzkopf von vorn ruhig, »sauf deine Schiffe.« Hinten wurde gelacht, leise und vorsichtig.

»Sekt«, schrie die Stimme wütend, »kühlen Sekt.« – »Halt die Fresse«, sagte der Glatzkopf ruhig, »halt endlich die Fresse.«

»Sekt«, rief die Stimme weinerlich, »ich will Sekt«; und der weiße Kopf sank nach hinten, lag jetzt flach da, und zwischen dichten Mullbahnen stieg eine dünne Nasenspitze heraus, und die Stimme stieg höher und rief: »Eine Frau – eine kleine Frau…«

»Schlaf mit dir selbst«, gab der Glatzkopf zurück.

Dann wurde endlich der weiße Kopf in die Tür hineingetragen, und es war still.

In der Stille hörten sie nur die einzelnen Granaten einschlagen, die in entfernte Stadtteile pufften, dunkle, ferne Explosionen, die am Rande des Krieges leise dahinzuorgeln schienen. Und als der weiße Kopf des Obersten, nun stumm auf der Seite liegend, herausgetragen und der Glatzkopf hineingeschoben wurde, näherte sich das Geräusch eines Autos draußen: ein sanft heulender Motor kam näher, schnell und fast drohend, schien gegen das kühle, weiße Haus rammen zu wollen, so nah war er schon; dann war er plötzlich still, draußen schrie eine Stimme etwas, und als sie sich umwandten, aufgeschreckt aus ihrer friedlichen, dösenden Müdigkeit, sahen sie den General, der langsam an den Bahren vorbeiging und wortlos Zigarettenschachteln in die Schöße der Männer legte. Die Stille wurde drückender, je näher die Schritte des kleinen Mannes von hinten kamen, und dann sah Feinhals das Gesicht des Generals ganz nah: gelb, groß und traurig mit schneeweißen Brauen, eine schwärzliche Spur von Staub um den dünnen Mund, und in diesem Gesicht war zu lesen, daß auch diese Schlacht verloren war.

2

Er hörte, daß eine Stimme »Bressen« sagte, »Bressen, sehen Sie mich an«, und er wußte, daß dies die Stimme von Kleewitz war, dem Divisionsarzt, der wohl hergeschickt war, um sich zu erkundigen, wann er wiederkommen würde. Aber er würde nicht wiederkommen, nichts mehr wollte er hören und sehen von diesem Regiment – und er sah Kleewitz nicht an. Er sah ganz starr auf das Bild, das ganz rechts von ihm hing, fast in der dunklen Ecke: eine grau und grün gemalte Schafherde, in deren Mitte ein Schäfer in blauem Mantel stand und Flöte blies.

Er dachte an Dinge, die kein Mensch hätte erraten können und an die er gern dachte, obwohl sie widerwärtig waren. Er wußte nicht, ob er Kleewitz’ Stimme hörte; er hörte sie natürlich, aber er wollte es sich nicht eingestehen, und er blickte den Schäfer an, der seine Flöte blies – anstatt den Kopf zu wenden und zu sagen: »Kleewitz, nett, daß Sie gekommen sind.«

Dann hörte er das Herumblättern von Papier, und er nahm an, daß sie seine Krankengeschichte studierten. Er blickte in den Nacken des Schäfers und dachte daran, daß er früher eine Zeitlang Nicker in einem Hotel gewesen war, in einem sehr vornehmen Restaurant. Mittags, wenn die Herren zum Essen kamen, ging er hoch aufgerichtet durch das Lokal und verbeugte sich, und es war merkwürdig gewesen, wie schnell und genau er begriffen hatte, welche Nuancen in seine Verbeugungen zu bringen waren: ob er sich kurz verbeugte, tief, ob er nur nickte, wie er nickte, und manchmal machte er nur eine sehr kurze Kopfbewegung, die in Wirklichkeit ein Auf- und Zuklappen der Augen war, aber wie eine Kopfbewegung wirkte. Gradunterschiede waren für ihn so einfach zu erkennen – es war wie mit den Rängen bei der Armee, dieser Hierarchie der geflochtenen und platten, besternten und unbesternten Schulterstücke, der die große Masse der mehr oder weniger schmucklosen Achselklappen folgte. In diesem Restaurant war die Reihenfolge der Verbeugungsgrade verhältnismäßig einfach: es ging nach dem Geldbeutel, nach der Höhe der Zeche. Er war nicht einmal außerordentlich freundlich, er lächelte fast nie, und sein Gesicht, wenn er auch versuchte, möglichst ausdruckslos dreinzuschauen, sein Gesicht verlor nie diesen Ausdruck von Strenge und Wachsamkeit. Jeden, den er ansah, beschlich weniger das Gefühl, geehrt zu sein, als ein Gefühl der Schuld; alle fühlten sich beobachtet, gemustert, und er hatte schnell heraus, daß es eine Sorte von Menschen gab, die verwirrt wurden, so verwirrt, daß sie sich gedankenlos mit dem Messer über die Kartoffeln machten, wenn sein Blick auf ihnen ruhte, und die ängstlich nach ihren Brieftaschen tasteten, sobald er vorübergegangen war. Ihn wunderte nur, daß sie immer wiederkamen, auch diese. Sie kamen wieder und ließen sich zunicken, ließen diese ungemütliche Musterung über sich ergehen, die zu einem feinen Restaurant gehört. Er bekam sein schmales, rassiges Gesicht und die Fähigkeit, Anzüge anständig zu tragen, verhältnismäßig gut bezahlt, und außerdem aß er umsonst. Aber während er sich den Schein eines gewissen Hochmuts zu geben versuchte, war er im Grunde oft ängstlich. Es gab Tage, an denen er spürte, wie sich der Schweiß auf seinem Körper sammelte, wie er stoßartig herausbrach und ihn beklemmte. Und der Wirt war ein Prolet, ein gutmütiger, auf seinen Erfolg eitler Bursche, der eine peinliche Art hatte; abends spät, wenn das Lokal sich allmählich leerte und er daran denken konnte, nach Hause zu gehen – dann griff er manchmal mit seinen dicken Fingern in die Zigarrenkiste und steckte ihm trotz seines Sträubens drei oder vier in die obere Rocktasche. »Mein Gott«, murmelte der Wirt mit seinem unsicheren Lächeln, »nehmen Sie doch – sind gute Zigarren.« Er nahm sie. Er rauchte sie abends mit Velten, mit dem zusammen er eine kleine möblierte Wohnung hatte, und Velten wunderte sich jedesmal über die Qualität der Zigarren. »Bressen«, sagte Velten, »Bressen, Donnerwetter, Sie rauchen ein gutes Kraut.« Er schwieg dazu und zierte sich nicht, wenn Velten etwas Gutes zu trinken mitbrachte. Velten war Reisender für eine Spirituosenfirma, und wenn er gute Geschäfte gemacht hatte, brachte Velten eine Flasche Sekt mit.

»Sekt«, sagte er laut vor sich hin, »kühlen Sekt.«

»Das ist das einzige, was er manchmal sagt«, sagte der Stationsarzt neben ihm.

»Sie meinen Herrn Oberst?« fragte Kleewitz kühl.

»Jawohl, Herrn Oberst Bressen. Das einzige, was Herr Oberst manchmal sagen, ist: Sekt – kühler Sekt. Und dann sprechen Herr Oberst manchmal von Frauen – kleinen Frauen.«

Daß er im Restaurant auch hatte essen müssen, war widerlich gewesen. In einem ziemlich schmutzigen Hinterzimmer auf einer schäbigen Tischdecke, bedient von der unfreundlichen Köchin, die seiner Vorliebe für Pudding keinerlei Rechnung trug – in der Nase, in Hals und Mund diese ekelhaften, kalten Kochdünste, fett und gräßlich –, und dieses ständige Aus- und Eingehen des Wirtes, der dann für Augenblicke neben ihm hockte, die Zigarre im Mund, sich aus einer Schnapspulle einschenkte und stumm soff.

Später hatte er Unterricht in gutem Benehmen erteilt. Die Stadt, in der er wohnte, war sehr geeignet für diese Art von Unterricht. Es gab dort viele Reiche, die nicht einmal wußten, daß Fisch anders als Fleisch gegessen wurde, die buchstäblich ihr Leben lang mit den Fingern gegessen hatten, nun Autos hatten, Villen und Weiber, die es nicht länger ertrugen, in ihrer eigenen Haut zu stecken. Er lehrte sie, sich auf dem Glatteis gesellschaftlicher Verpflichtungen einigermaßen aufzuführen, er ging zu ihnen, besprach die Speisenfolge mit ihnen, brachte ihnen bei, die Dienstboten richtig zu behandeln, und aß dann abends mit ihnen – er hatte ihnen jeden Handgriff beizubringen, sie genau zu beobachten, zu korrigieren, und versuchte ihnen klarzumachen, wie man eigenhändig die Sektpulle aufmacht.

»Sekt«, sagte er laut vor sich hin, »kühlen Sekt.«

»O Gott, o Gott«, rief Kleewitz, »Bressen, sehen Sie mich an.« Aber er dachte nicht daran, Kleewitz anzusehen; nichts wollte er hören, nichts sehen von diesem Regiment, das ihm unter seinen Händen auseinandergefallen war wie Zunder; Roßapfel, Freischütz und Zuckerhut – befehligt durch seinen Stab, der sich Jagdbude nannte – weg! Und kurz darauf hörte er, daß Kleewitz gegangen war.

Er war froh, daß er endlich seinen Blick von der Schafherde und dem blöden Schäfer lösen konnte, es hing etwas zu weit rechts von ihm, und er bekam einen leichten Krampf im Nacken. Das zweite Bild hing fast genau vor ihm, und er war gezwungen, es anzusehen, obwohl auch das ihm nicht gefiel: es zeigte den Kronprinzen Michael, der mit einem rumänischen Bauern sprach, flankiert von Marschall Antonescu und der Königin. Die Haltung des rumänischen Bauern war aufregend. Er hatte die Füße zu nahe und zu fest beieinanderstehen, und es sah aus, als ob er nach vorn kippen und das Geschenk, das er in der Hand hielt, dem jungen König auf die Füße werfen würde: das Geschenk war nicht genau zu erkennen – Salz oder Brot oder ein Klumpen Ziegenkäse, aber der junge König lächelte dem Bauern zu. Bressen sah diese Dinge schon lange nicht mehr; er war froh, einen Punkt gefunden zu haben, auf den er starren konnte, ohne den Krampf im Nacken befürchten zu müssen.