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Ursprünglich als progressive Identitätspolitik an Universitäten entstanden, hat Wokeness sich mehr und mehr als Bewegung in staatlichen Institutionen und in Denkmustern von Menschen ausgebreitet wie festgesetzt. Die Psychologin Esther Bockwyt betrachtet den Ursprung und die Folgen der Woke-Bewegung erstmals aus psychologischer Perspektive. Sie sieht Wokeness als den exzessiven wie vergeblichen Versuch, Menschen vor der Übernahme von reifer Verantwortung und unerwünschten Empfindungen zu schützen. Die positive Idee des Schutzes von Minderheiten und des Ausgleichs von Ungerechtigkeiten ist in ein starres, einengendes Schubladendenken mit pessimistischem Welt- und Menschenbild gedreht, sodass eine schwer überwindbare Wand zwischen Benachteiligten und Privilegierten entstehen kann. So kritisch wie ausgewogen und fernab von schrillen Tonlagen fragt die Autorin: Was bedeutet Wokeness für unsere psychische Gesundheit und das gesellschaftliche Miteinander? Was passiert, wenn Narzissmus, Gewissenhaftigkeit oder Aggression im Namen der Wokeness ein gesundes Maß überschreiten? Und wie entsteht eine gesunde Balance zwischen entgegengesetzten Kräften?
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Ebook Edition
Esther Bockwyt
Woke
Psychologie eines Kulturkampfs
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ISBN: 978-3-98791-039-5
1. Auflage 2024
© Westend Verlag GmbH, Neu-Isenburg 2024
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt
Titel
Vorwort
1 Woke Welten
Woker Anti-Rassismus
Geschlecht, Körper und Sexualität
Planwirtschaft der Gefühle
Psychische Gesundheit
Woke Kernelemente
2 Woke Psyche
Was Psychologie erklären kann
Willst du gelten, mach dich selten – Narzissmus
Kränkung als Trauma – »Hypersensibilität«
Der Wille zum System – Zwanghaftigkeit und das woke Über-Ich
Die Lust an der Zerstörung – Aggression
Offene Aggression
Verdeckte Aggression
Aggression als Kern woker Theorie
Ein Problem für jede Lösung – Negativitätsverzerrung
Allem Neuen wohnt ein Zauber inne – Histrionie
Woker Korpsgeist – gruppenpsychologische Prozesse
Eigen- und Fremdgruppe
Der besondere Einfluss von Minderheitengruppen
Woker Einfluss durch zwei Wahrnehmungsverzerrungen
3 Zwei Seelen wohnen in jeder Brust! – Psychodynamik bipolarer Kräfte
Anmerkungen
Titel
Inhaltsverzeichnis
Wer sich die heile Welt zum Lebensziel macht,wird von der Unerreichbarkeit seiner Vision ernüchtert sein.
Wer das Ideal hingegen vollkommen ablehnt,entfernt sich von der menschlichen Sehnsucht und stumpft ab.
Der balancierte Umgang mit Realität und Traumweltermöglicht einen gelasseneren Blick auf das unerreichbare Paradies.
Liebe Leserinnen und Leser,
eine neue Ideologie breitet sich in westlichen Gesellschaften aus. Erst leise, dafür aber beharrlich, jetzt mit zunehmender Lautstärke. Sie spaltet jene, die sie erkannt haben, in ihre Verfechter und Gegner. Konflikte und Entfremdung sind in vielen Gruppen die Folge.
Der zentral vorgebrachte Anspruch der Bewegung, Diskriminierung und Unterdrückung von bestimmten Gruppen abbauen zu wollen, macht Wokeness auf den ersten Blick unangreifbar und attraktiv. Ihre Appelle nach Gerechtigkeit, Diversität oder Antirassismus sind positiv besetzt. Das macht ihr destruktives Potenzial viel schwieriger zu erkennen als das anderer radikalisierter Orientierungen.
»Was ist eigentlich Wokeness und tut das weh?«1, fragte Maybrit Illner in ihrer Sendung am 20. Juli 2023. War die Woke-Bewegung bis vor wenigen Jahren eher aufmerksamen und politisch interessierten Menschen ein Begriff, dringen jetzt nicht nur ihre Inhalte, sondern auch ihre Konsequenzen mehr und mehr in das Bewusstsein manch eines Zeitgenossen und in den Fokus medialer Berichterstattung.
Schachspiel reproduziert Rassismus? Weil die weißen Figuren zuerst am Zug sind.
»Woher kommst du?«, fragt man besser nicht mehr? Weil diese Frage, gerichtet an eine Person mit Migrationshintergrund, diskriminierend wirken kann.
Tom Hanks soll und will die Rolle eines homosexuellen Mannes im Film nicht mehr spielen? Weil er heterosexuell ist und die entsprechende homosexuelle Erfahrung nicht vermitteln kann.
Menschen mit Behinderung sollen sich nicht wünschen, nicht mehr behindert zu sein. Weil ihnen von Vertretern der Disability Studies vorgehalten wird, dass sie sich der Norm unterwerfen.
All das sind nicht mehr nur skurril wirkende und markante Beispiele der Wokeness-Bewegung aus den USA. Die »Wokeness«, das »Woke-Sein« hat auch hierzulande bedeutsamen Einzug gehalten und sich auf viele Themengebiete ausgedehnt. Nur wenigen ist bekannt, dass sie auf einen gemeinsamen Nenner zurückgehen und mit ihnen eine kulturelle Revolution begonnen hat. Wokeness ist keine skurrile Banalität, sie ist eine Ideologie, die in den USA mit zur Spaltung des gesamten Landes in zwei Lager geführt hat und deren Akzeptanz oder Ablehnung über die Zukunft moderner westlicher demokratischer Gesellschaften mitentscheiden wird. Die häufig beklagte »Polarisierung« oder »Spaltung« der Gesellschaft, die trotz Mahnungen nicht korrigierbar voranzuschreiten scheint, geht in dem einen von zwei Extremen auf mehr oder minder radikal ausgelegte woke Denk- und Erlebensmuster zurück.
Wenn also Straßennamen ebenso einer Prüfung potenzieller Gefühlsverletzung unterzogen werden wie Karnevalskostüme, Bücher, Filme oder Männer, die es noch für adäquat halten, einer »weiblich gelesenen Person« die Tür aufzuhalten, gibt es für all diese Phänomene einen gemeinsamen Nenner, den es zu begreifen gilt: die Wokeness. Ein Gedankengut mit manchmal totalitärem Anspruch, bei dem es grundsätzlich und ganz ursprünglich um Akzeptanz von menschlicher Vielfalt und gegen Diskriminierungen ging.
Wenn Sie Wokeness noch nicht bewusst registriert haben, so haben Sie sie sicherlich schon unbewusst wahrgenommen – nämlich, wenn Sie sich selbst dabei ertappen, dass Sie im Sprechen oder gar im Denken vorsichtiger geworden sind.
Ein in den Grundzügen nachvollziehbares und unterstützenswertes Anliegen des Minderheitenschutzes hat sich über Jahre hinweg, zunächst in den USA, mit dem Impetus einer Kulturrevolution in westlichen Gesellschaften radikalisiert, dabei sich zunächst in Universitäten, inzwischen auch in Institutionen, staatlichen Stellen, Teilen der Medienlandschaft, gar in Unternehmen (woke capitalism) zunehmend Einfluss verschafft und sich im kollektiven Denken unbemerkt verankert.
Auch deshalb, da viele woke Themen scheinbar unabhängig voneinander betrachtet und die zugrunde liegenden Denkschablonen wenig erkannt werden, wird Wokeness oft wenig kritisch angesehen, sondern wie ein religiöser Eifer reflexartig und verinnerlicht ausgelebt. Etablierte Medien, angeführt von Twitter- und Instagram-Influencern, tragen wokes Denken gerne mit, indem sie mehr oder weniger bewusst woke Denkschemata übernehmen.
Wer könnte nun guten Gewissens etwas gegen Vielfalt und Toleranz sagen oder gar für Diskriminierung sein? Kein Mensch möchte als intolerant oder rückständig gelten. Moderne, fortschrittliche Unternehmen auch nicht, diese glauben, dass sich Wokesein zu Marketingzwecken eignet. Und so kommt es, dass das Destruktive der woken Ideologie, das sich hinter dem ursprünglich Guten verbirgt, weniger gut erkennbar ist, als es in anderen problematischen Strömungen der Menschheitsgeschichte der Fall war und ist.
Wer dieser Tage nicht ein allumfängliches Diversity-Bekenntnis ablegt oder gar kritisch gegen den woken Zeitgeist opponiert, muss den für Menschen schmerzlichsten, den Preis der sozialen Geringschätzung und Ausgrenzung zahlen. Kaum noch ein Lebensbereich ohne Vielfaltsglaubensbekenntnis. In Universitäten und Medienanstalten sind Leitfäden über geschlechtergerechte Sprache oder »reproduktive Gerechtigkeit« auf dem Vormarsch; auch von Sportlern wird das Bekenntnis abverlangt. Unternehmen haben eigene Diversity-Abteilungen, Regenbogenflaggen hängen vor Regierungsgebäuden. Wokeness ist beinahe unbemerkt zu einer Ideologie geworden, der man sich scheinbar nicht verweigern kann. Dieser ausufernde Druck beengt Menschen wie kaum etwas anderes und macht zugleich eine freiwillige, von innen herauskommende woke Haltung unmöglich. Manch einer sieht in der woken Bewegung eine (Ersatz-)Religion mit Predigern, die nicht in Kirchen, sondern vorwiegend an Universitäten und in den Medien predigen. Die Gefahren der durch Wokeness und ihre Gegnerschaft entstehenden Dynamiken für den demokratischen Zusammenhalt werden noch unterschätzt und kleingeredet.
Woke Ideen und Forderungen scheinen zu spalten, zu irritieren und manch einen Zeitgenossen zu nerven. Gelebte und institutionalisierte Wokeness geht alle Menschen an. Denn Wokeness beinhaltet mehr als markante, für manch einen als Nebensächlichkeiten erscheinende Skurrilitäten wie eine gemaßregelte Seniorengruppe, die Sombrero-Kostüme tragen möchte, oder den Versuch, ein vermeintlich sexistisches Schlagerlied von Volksfesten zu verbannen. Warum die sich in Institutionen und Regierungspraktiken ausbreitenden woken Gedankenschemata letztlich alle Menschen betreffen, soll in diesem Buch verständlich werden.
Um die Frage danach beantworten zu können, ob man sie als einen gesamtgesellschaftlichen Wert befürworten oder als Gefahr ablehnen sollte, muss man zunächst nicht nur ihren theoretischen Grundrahmen verstehen, sondern auch die aus ihnen abgeleiteten Schlussfolgerungen in ihrer zu Ende gedachten Konsequenz.
Wie jeder weltanschaulichen oder politischen Ausrichtung liegt auch der Wokeness ein bestimmtes Welt- und Menschenbild zugrunde. Es beinhaltet Annahmen darüber, was den Menschen als Individuum und soziales Wesen motiviert, wie seine Natur beschaffen ist und – wenn es um die Gestaltung seiner Lebensbedingungen geht – dazu, was »gut«, also gesund, oder zumindest nicht ungesund für den einzelnen Menschen und sein Zusammenleben mit anderen ist. Diese Fragen sind psychologische Fragen. Sie fragen nach der psychischen Beschaffenheit des Menschen, nach seinen emotionalen, gedanklichen und verhaltenssteuernden Charakteristika.
Eine Psychologie der Wokeness zu beschreiben, bedeutet einerseits ebendieses Menschenbild zu verstehen und zu überprüfen, aber auch die konkreten Verhaltensweisen gelebter Wokeness, von Aktivisten, Organisationen, Institutionen und Medienvertretern psychologisch zu erklären.
In der Psychologie geht es nahezu immer um das Ansetzen zu Veränderung durch Verstehen. Dieses Verstehen ist auch der Schlüssel zur Befriedung entgegengesetzter, polarisierter Dynamiken in gesellschaftlichen Unruhen.
In diesem Buch wird Wokeness aus psychologischer Perspektive kritisch betrachtet, allerdings nicht ohne die positiven Aspekte ebenfalls zu beleuchten und nicht ohne die ihr entgegengesetzten Strebungen im Sinne einer Dynamik mit aufzugreifen.
Da Wokeness zum einen eine komplexe Historie philosophischer und soziologischer Theoriegebäude, zum anderen in ihrer konkreten Auslebung viele Lebensbereiche umfasst, soll in einem ersten Teil zunächst einmal prägnant und verständlich zusammengefasst werden, was Wokeness eigentlich ausmacht und welches die ihr zugrunde liegenden Annahmen sind.
Erst danach, auf Basis einer Zustandsbeschreibung, macht es Sinn, die zentralen psychologischen Variablen der Wokeness zu charakterisieren.
Esther Bockwyt, Dezember 2023
Das Wort »Woke« dürfte, ginge es nach Verfechtern woken Denkens, gar nicht mehr verwendet werden. Denn es soll inzwischen ein rechter Kampfbegriff sein, der keinesfalls reproduziert werden dürfe.
Es ist eine Banalität zu erwähnen, dass Menschen nun einmal Begriffe benötigen, um Sachverhalte zu benennen. Bereits an diesem Punkt, der Begriffsbestimmung, kommt es zu einer absurden Forderung dieser woken Ideologie: Man darf sie nicht benennen und sie auch nicht einer Diskussion zugänglich machen.
Die Agenda, über Sprache neue Realitäten zu schaffen, ist eines der Kernmerkmale der woken Denkweise. Und zieht man allein die Wortdefinition von »Wokeness« heran, entsteht eine positive Assoziation. Denn laut Duden und ursprünglich meint »woke« nicht mehr als:
»In hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung«1.
Populär wurde der Begriff im Jahr 2014, vor allem im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung in den USA.
Manchmal wird statt »Wokeness« von »linker Identitätspolitik« oder »Critical Social Justice« gesprochen, die »Postmoderne« bezieht sich meist auf die zugrunde liegende philosophische Strömung und die »Intersektionalität« auf eine für die Wokeness bedeutsame Theorie.
Wie auch immer man die Bewegung nennt, es geht darum, den zentralen und sich wiederholenden Inhalt zu erkennen, anstatt sich in ablenkende Diskussionen über den Begriff verstricken zu lassen.
Es gibt viele Denker, die (an Universitäten) das geistige Fundament dafür gelegt haben, was man heute in der woken Lebenspraxis von Aktivisten, aber auch in verinnerlichten Normen in Institutionen, Teilen der Medienlandschaft und Unternehmen wiederfindet.
Die jüdische Journalistin Bari Weiss subsumierte jüngst ihre zwanzig Jahre andauernde besorgte Beobachtung der woken Bewegung in beinahe erschütternd anmutenden Worten:
»Es ist gut möglich, dass mir das wahre Wesen dieser Ideologie verschlossen geblieben wäre – oder es mir erspart geblieben wäre, dieses wahre Wesen zu erkennen – wenn ich keine Jüdin wäre …« [zu wokem Antisemitismus an späterer Stelle]
Sie berichtet dann weiter über ihre Erfahrungen als Studentin, die sie negativ empfand und sich entsprechend geäußert habe:
»Woraufhin die meisten jüdischen Autoritäten zu mir sagten, ja, diese Ideologie sei nicht gut, aber ich solle auch nicht so hysterisch sein. Universitäten seien schließlich schon immer Brutstätten des Radikalismus gewesen, sagten sie.«
Bari Weiss stellt fest, dass die Bewegung in den vergangenen zwei Jahrzehnten alle wichtigen Institutionen in den USA erobert habe, angefangen von den Universitäten über Bildungs- und Kultureinrichtungen, Unternehmen bis hin zu den medizinischen und juristischen Fakultären an Universitären. Die Journalistin resümiert:
»Die Eroberung ist so umfassend, dass man sie kaum noch wahrnehmen kann – denn sie ist überall.«2
Der Spiegel-Redakteur René Pfister meint in seinem woke-kritischen Buch Ein falsches Wort: Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht3, man müsse sich nicht erst in die Tiefen der zum Teil hochtrabend intellektualisierten Werke dieser Vorreiter einlesen, um zu spüren, dass etwas falsch laufe, wenn nur noch das Fühlen einer bestimmten Gruppe die Realität bestimmen dürfe.
Gleichwohl sollen hier zunächst die Grundzüge dieser neueren Woke-Theorien und deren konkrete Ausformungen aufgezeigt werden, damit die Wurzel des woken Denkens und Fühlens, nicht nur bei »den Anderen«, sondern auch in sich selbst, erkennbar und verstehbar wird.
Die Ursprünge der heutigen Wokeness sind in der Philosophie der Postmoderne der 60er-Jahre zu finden, beispielsweise bei Michel Foucault4 , wobei manch einer beklagt, dass jener und andere für die heutigen woken identitätspolitischen Auswüchse zu Unrecht herhalten müssen. Jedenfalls stammt aus dieser philosophischen Strömung die Annahme, dass alles menschliches Streben auf Macht ausgerichtet sei. Wissen, Sprache und gesellschaftliche Ordnungen seien letztlich immer und ausschließlich Ausdruck von Machtverhältnissen und eine objektive Wahrheit werde von diesen Verhältnissen untergraben: der Ursprung woker Ideologie.
Diese postmoderne Philosophie ist dabei ein Gegenentwurf zur Moderne und ihrer Philosophie der Aufklärung, auf der westliche Demokratien seit ungefähr 200 Jahren fußen. Die Moderne ist von der Philosophie des Liberalismus geprägt und in diesem Sinne fußen westliche Demokratien auf den Werten des Individualismus, also darauf, der Freiheit des Individuums Priorität einzuräumen, sie als Grundlage zu bestimmen. Darauf, dass das Individuum nach seinem Glück und der Erfüllung seines Lebens strebt. Der Mensch als Individuum ist Träger von Rechten, Pflichten und Verantwortung. Bereits in der Antike angelegt, entfaltete der Individualismus später in Europa seit der Renaissance seine Kraft, forciert durch humanistische, aufklärerische Bewegungen. Europäische Philosophen entwickelten die geistigen Fundamente, auf welchen die heutigen liberalen europäischen Gesellschaften fußen und sich im deutschen Grundgesetz wie in der amerikanischen Verfassung in der unveräußerlichen Würde des Menschen deutlich formuliert wiederfinden.
Kollektivistische Ideologien wie der Nationalsozialismus oder der Kommunismus zerstörten die liberal-demokratischen Rechtsstaaten zwischenzeitlich, indem sie einem Volk oder einer Klasse Vorrang vor dem Individuum gaben, »Gemeinnutz vor Eigennutz« predigten und hiermit den Grundstein für menschenverachtende und inhumane (Kultur-)Praktiken legten.
Der Mensch ist in der Philosophie und gelebten Demokratie der Moderne Individuum und hat zugleich Anteil am Universellen, am allgemeinen Menschsein, das alle Menschen gleichermaßen teilen. Alle Menschen sind trotz aller individuellen Unterschiede als Menschen in ihrem Menschsein gleich und gleichberechtigt.
Freiheit, Gleichheit der Chancen, aber auch die aufklärerischen Werte der Vernunft und die wissenschaftliche Methode, die Rechtsstaatlichkeit mit Machtbegrenzung durch das Recht mit seiner Gewaltenteilung und die freie Marktwirtschaft sind die Grundpfeiler westlicher – auf der Philosophie der Moderne – fußender Demokratien.
Die postmodernen Entwicklungen hingegen brechen mit einigen dieser Werte. Grundlegend in dieser Philosophie sind die Annahmen von Relativismus und Sozialkonstruktivismus, also die Annahmen, dass Realität immer auch anders erzählt werden könne und dass Realität sozial konstruiert wird. Und zwar dadurch, wie Menschen sozial miteinander interagieren, und über die Geschichten, die Menschen über die Wirklichkeit erzählten. Diese Geschichten bilden ein jeweiliges Narrativ und seien allein durch existierende Machtverhältnisse bestimmt. Alles sei nur eine Erzählung, die mit anderen Erzählungen, also Sichtweisen, konkurriere. Zwei mal zwei muss nicht vier sein, es kann auch, je nach Umständen, fünf oder irgendetwas anderes sein.
Wem diese Gedankenwelt bekannt erscheinen mag, könnte auf Einstein kommen, nach dem, so meint man, alles relativ war. Fortgesetzt könnte diese populäre Annahme so lauten: Es gibt keine absolute Wahrheit, alles hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zum Credo der Postmoderne, dass nichts wahr ist. Während aber in Einsteins Relativitätstheorie tatsächlich nicht alles relativ verstanden war, findet sich in der Postmoderne ein radikaler Skeptizismus gegenüber jeder Realität, der alles – außer eben die grundlegenden postulierten Machtverhältnisse – infrage stellt. Hieraus folgt auch, dass zwischen unterschiedlichen Kulturen gegenseitige Verständigungsschwierigkeiten bestehen, jede Kultur hat schließlich ihre eigene Realität. Über die Sprache werde nämlich Realität erzeugt und daher sei alles anhand der Sprache erkennbar (und kontrollierbar). Wenn man die Sprache kontrollierte, könne man auch die Realität kontrollieren. Die postmoderne Methode hierfür ist die Diskursanalyse.
Während die ursprünglichen Theoretiker der Postmoderne hauptsächlich Sprachspielen mit letzterer und der sogenannten Dekonstruktion von Diskursen im intellektuellen Elfenbeinturm nachgingen, wenden sich die neueren Theoretiker der Postmoderne der Frage zu, wie man sich die Philosophie und Erkenntnisse der Postmoderne für den politischen Aktivismus zunutze machen kann.
Während ursprünglich jegliche Objektivität und Wahrheit negiert wurde, findet sich im angewandten postmodernen Prinzip ein Bruch mit der radikalen Konsequenz der ursprünglichen Philosophie. Nämlich dahingehend, dass man die spezifische und willkürliche Einschränkung des Prinzips vornimmt, in der Annahme, neben den Machtverhältnissen und der Unterdrückung bestimmter Gruppen sei auch die Identität des Menschen real. Diese Annahmen bereiten schließlich den Boden für identitätsideologische sowie politische Glaubenssätze und Forderungen.
So zeichnen Weiterentwicklungen von Foucaults Annahmen sehr deutlich das Bild von Unterdrückern gegenüber Unterdrückten in Gesellschaften, die stets hierarchisch nach diesem Prinzip gebildet würden. Und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen, bis in die kleinste Einheit. Feministische Perspektiven der sogenannten dritten und vierten Welle wurden in die Theorie eingewoben. In den 90er-Jahren etablierte sich an US-Universitäten bei einigen Wissenschaftlern zunehmend die Schlussfolgerung, auf die Zerstörung von Machtgefällen mit dem Ziel von sozialer Gerechtigkeit (social justice) hinzuwirken. Neue Studienrichtungen wie Gender-, Postcolonial-, Critical-Race, Cultural- oder Queer-Studies entstanden als Anwendungsfelder postmodernen Denkens.
Mit ihrer zentralen Methode der Dekonstruktion, dem Erforschen, wer das Machtinstrument Sprache aus welchen Gründen dominiert, um alle vorherrschenden Narrative, Diskurse und Erkenntnisse als Werkzeuge zur Unterdrückung durch Machtinhaber infrage zu stellen, schritt die angewandte Postmoderne Stück für Stück in ihrer Glaubenswelt voran und eroberte auch Diskursräume und Denken von Forschern außerhalb der philosophischen Lehre an Universitäten. Sie nahm Institutionen, Medienanstalten und zuletzt auch Denkschemata von Teilen der Bevölkerung ein, die sich angesichts realer Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern und jahrzehntelangem berechtigtem feministischen Engagements in einer unsicheren Welt, offen zeigen für eine der komplexen Realität nicht gerecht werdenden Theorie vom Übel der Welt durch falsche Sozialisation. An deren Spitze könne der weiße, heterosexuelle, alte Mann in westlichen, vermeintlich patriarchalen Gesellschaften als Wurzel allen Übels ausgemacht werden. Die Konsequenz der Theorie lautet: Identitätspolitik ist notwendig, um die Nachteile der unterdrückten Gruppen auszugleichen oder abzuschaffen.
Der demokratische Diskurs wird durch woke Identitätspolitik letztlich verunmöglicht. Kritik kann durch Vertreter der »Mehrheitsgesellschaft« nicht stattfinden, da diese als Teil des toxischen Systems begriffen werden. Wenn sie kritisieren, wird deren Kritik als Beweis für die Existenz des postulierten toxischen Systems ausgelegt. Wer als Weißer Wokeness kritisiert, beweist, dass er, ganz wie postuliert, nur an der Aufrechterhaltung seiner Macht interessiert ist. Es handelt sich um einen Zirkelschluss.
Ein zentraler Widerspruch der Identitätspolitik ist, dass ihre Verfechter nach einem Höchstmaß an Freiheit für das Individuum zu streben scheinen (zum Beispiel die Freiheit, sich mit jedweder Identität identifizieren zu können), weshalb sie von einigen Kritikern als neoliberale Strömung interpretiert wird. Da sie aber andererseits das Individuum auf ein kollektives Identitätsmerkmal festlegt, das höher gewichtet wird als die Individualität, muss man die Wokeness eher als kollektivistische Anschauung verstehen, die neoliberale Elemente in sich trägt.
Als »woke« (wachsam, erwacht) wird in diesem Sinne heute eine aktive Bewegung verstanden, die soziale Ungerechtigkeiten gegenüber den angenommenen marginalisierten Personengruppen in den Fokus rückt und zum Maßstab allen gesellschaftlichen Handelns macht. Unter marginalisierten Personengruppen sind dabei solche zu verstehen, die zu einer definierten Minderheitengruppe gehören, beispielsweise farbige, homosexuelle oder transsexuelle Menschen oder auch Menschen mit Behinderung, Menschen mit psychischen Erkrankungen, Menschen, die übergewichtig sind. Solche, von denen man grundsätzlich annimmt, dass sie einer strukturellen Diskriminierung unterlägen.
Die anerkannten Identitätsgruppen nach woker Glaubensrichtung unterlaufen dabei einer Entwicklung. Aus der angenommenen systematischen Unterdrückung dieser Gruppen, verbunden mit einer sozial benachteiligten Stellung, sollen bestimmte gesellschaftliche Konsequenzen folgen, die von Rücksichtnahme bis zur Unterwerfung unter das Empfinden der Marginalisierten reichen sollen. Diese Rücksichtnahme kann dabei auch so weit führen, dass wiederum das Empfinden anderer Menschen, die nicht zur entsprechenden Minderheit gehören, als irrelevant gesehen wird. Denn es spiegele lediglich das strukturell verinnerlichte rassistische und patriarchale System Nicht-Betroffener wider.
Woke unterteilen die Menschheit also anhand von Identitätsmerkmalen in Gruppen und betonen deren Unterschiede. Individuen werden wenig als solche gesehen, sondern anhand ihrer Gruppenidentitäten definiert. Die sogenannte weiße heteronormative Mehrheitsgesellschaft wird als Gegenpol zu den marginalisierten Gruppen gesehen und zum Feindbild stilisiert.
Da es keine objektiven Realitäten gäbe, bestimmt jede Gruppe für sich, was ihre Realität ausmacht. Deshalb ist zentrales Merkmal eines woken Dogmas über die unterschiedlichen woken Inhalte, von kultureller Aneignung über white privilege (weiße Privilegien) bis zu Forderungen von Teilen der LGBTQI+-Community, dass allein das Fühlen von definierten marginalisierten Gruppen zählt und bestimmt, was Realität ist. Wer sich als Person einer marginalisierten Gruppe verletzt oder diskriminiert fühlt, wurde verletzt oder diskriminiert. Perspektiven von außen zählen nicht, sie werden als invalide angesehen. Doch selbst auf solche individuellen Erklärungen Betroffener kommt es nicht mehr an, da in der Theorie bereits die systematische Unterdrückung dieser betroffenen Gruppen als unverrückbare Realität angesehen wird. In westlichen Gesellschaften existiere basierend auf der kolonialen Ausbeutung ein systematischer, vorwiegend unbewusster Rassismus aller Weißen (neuer: »weiß Positionierten«), ein historisch verwurzeltes, ausbeuterisches, rassistisches System sowie weitere strukturell verankerte Diskriminierungen von bestimmten Minderheitengruppen, von denen fortwährend neue erkannt geglaubt werden. Und auf der anderen Seite, den Opfern gegenüberstehend, finden sich die Täter, die »Privilegierten«: Derzeit wäre es an oberster Stelle wohl die weiße, heterosexuelle, »cis-«männlich gelesene, wohlhabende Person ohne körperliche oder psychische Beeinträchtigung.
Struktureller Rassismus bleibt also keinesfalls mehr der einzige angenommene Malus. Strukturelles Patriarchat, Misogynie (Frauenfeindlichkeit), Queerfeindlichkeit, Ableismus (Diskriminierung wegen einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung) und viele weitere Problemfelder werden im woken Denkschema als gesellschaftlich systematisch und tief verwurzelt angenommen.
Aus der sogenannten intersektionalen feministischen Theorie, manchmal als spätmoderne Mutter der Wokeness benannt, ergeben sich Hierarchien der Benachteiligung von Gruppen. So seien etwa Frauen mit dunkler Hautfarbe mehrfach Benachteiligte (»Mehrfachdiskriminierung«).
Die US-Amerikanerin und Jura-Professorin Kimberlé Crenshaw gilt als gedankliche Pionierin der intersektionalen Theorie. Sie formulierte hierzu:
»Das Konzept richtet den Blick vor allem auf die Art und Weise, wie Rassismus, Patriarchat, Klassenzugehörigkeit sowie andere Systeme der Unterwerfung eine nicht auf den ersten Blick sichtbare Ungleichheit konstruiert, welche die Beziehung von Frauen zu Rasse, Ethnie, Klasse und ähnliches bestimmt.«5
Aus den Worten der woken Aktivistin Sibel Schick lässt sich eindrücklich erfassen, was intersektionales Denken ausmacht:
»Ist wichtig, wer was sagt und tut. Ein Weißtürke ist in Begegnung mit mir, Kurdin, weiß, er profitiert von dem Rassismus, den ich erlebe, auch wenn er in Dt (sic) selber (sic) Rassismus erlebt. Eine nicht-weiße Person mit einem weißen Elternteil verfügt ebenso über entscheidende Privilegien.«6
Kritiker dieses Denksystems wenden ein, dass ein solches neuartiges Kastensystem Menschen nach Hautfarben in Gruppen einteilt, daher an sich wiederum rassistisch sei. Es handele sich um einen zivilisatorischen Rückschritt.
Die Transgender-Person Mîran Newroz Çelik, die von der Heinrich-Böll-Stiftung (der parteinahen Stiftung von Bündnis 90/Die Grünen) zum Thema Intersektionalität online zitiert wird, macht bei ihrer Sicht auf Intersektionalität ebenso deutlich, wie stark es um eine ablehnende Abgrenzung einzelner Gruppen voneinander geht:
»Es ist sehr traurig und gleichzeitig schräg für mich zu sehen, dass Intersektionalität mittlerweile so inflationär von weißen (queeren) Feminist*innen gebraucht wird. Vor einigen Jahren ist derselbe Personenkreis noch in Tränen ausgebrochen, wenn wir oder die Generationen vor uns über Rassismus gesprochen haben oder wenn wir nur sagten, dass sie weiß sind.«
Sie meint, es sei die Errungenschaft von schwarzen Feministinnen, dass Intersektionalität alsThema in Deutschland Fuß gefasst hat und wirft weißen Queerfeministinnen vor, dass sie sich anmaßen würden, sie seien diesbezüglich eigenständig im woken Sinne erwacht. Der »rassistische Backlash« in Deutschland zeige, von wem Intersektionalität erkämpft und verteidigt werden müsse, nämlich von PoC.7
Die scheinbar voneinander getrennten, einzelnen thematischen Spielfelder der Wokeness teilen eine gemeinsame Ideologie mit zunehmend radikalen Forderungen, die letztlich den Umbau westlicher Gesellschaften beinhalten. Ziele und Methoden der woken Bewegung sind die Bewusstwerdung von Privilegien durch deren Inhaber, der Entzug von Plattformen für bestimmte Inhalte und Personen (Deplatforming), die Quotierung von Machtverhältnissen bis hin zu dem, was als Cancel-Culture benannt wird und die Schaffung sogenannter safe spaces (sicherer Orte) für marginalisierte Personengruppen, an denen die jeweilige Identitätsgruppe unter sich bleibt und Mitglieder anderer Identitätsgruppen keinen Zugang erhalten. Jüngstes Beispiel aus Deutschland: Die Zeche Zollern8 in Dortmund als staatlich finanziertes Industriedenkmal mit angeschlossenem Museum öffnete im Sommer 2023 ihre Ausstellung über Kolonialismus zu bestimmten Tages- und Uhrzeiten nur für people of colour (PoC) beziehungsweise BIPoC (Black, Indigenous and People of Colour), um diesen einen safe space zur Verfügung zu stellen, sodass Menschen, die von Rassismus betroffen seien, vor weiteren, auch unbewussten, Diskriminierungen geschützt werden könnten.
Menschen sollen in der woken Welt nicht durch Anerkennung ihrer Leistungen, Fähigkeiten oder ihres gesellschaftlichen Beitrags Einfluss erhalten, stattdessen umgekehrt proportional zu den Diskriminierungen, die sie durch ihre festgelegten Gruppenzugehörigkeiten zu erleiden hätte.
Als konkrete Mittel zum Abbau von Benachteiligungen gelten beispielsweise auch Quotenregelungen mit Bevorzugung von Mitgliedern aus Marginalisiertengruppen, Trainings und Schulungen für Privilegierte, aber auch die gesamtgesellschaftliche Vermeidung von Handlungen und Ausdrucksweisen, die eine Minderheit als diskriminierend empfinden könnte. Sogenannte Mikroaggressionen, die von den Mitgliedern der Mehrheitsgruppe ständig gegenüber den Marginalisierten zum Ausdruck kämen, sollen vermieden werden. Eine Mikroaggression sei es beispielsweise, wenn ein deutscher Lehrer sich am ersten Schultag erstaunt zeige, dass eine dunkelhäutige Schülerin fließend Deutsch spricht.9
Da die Sprache als wesentliches Macht- und Diskriminierungsmittel angesehen wird und Worte bereits als Gewalt gelten, resultieren sprachhygienische Forderungen, von denen die Nutzung der geschlechtergerechten Sprache wohl die prominenteste ist. Die Abänderung von als diskriminierend und verletzend empfundenen Kulturinhalten ist ebenfalls zentraler Bestandteil der abgeleiteten Forderungen des gesellschaftlichen Umbaus. Die Umbenennung von Straßen, Entfernung von Denkmälern, Verbannung oder Veränderung von Literatur, Nutzung von Warnhinweisen wie »Triggerwarnungen« sind prominent gewordene Forderungen und Umsetzungen der woken Ideologie. Auch die Wissenschaft könne und dürfe nicht neutral sein. Denn die naturwissenschaftliche Methode wird als ein von Weißen etabliertes Werkzeug des Machterhalts und der Ausbeutung abgelehnt.
Alle Maßnahmen haben gemein, dass eine geplante Bevorzugung, ein besonderes Eingehen auf angenommene und tatsächliche Bedürfnisse und Gefühle der Mitglieder der Marginalisiertengruppen als absolut notwendig gesehen wird. Die Quotenregelungen verdeutlichen dieses Denkschema besonders deutlich. Insofern könnte man die Wokeness, wenn sie in Konsequenz und Radikalität gelebt wird, auch als Planwirtschaft der Gefühle und Identitäten bezeichnen.
Dr. Matthias Oppermann von der Konrad-Adenauer-Stiftung10 meint, es sollte niemanden beruhigen, dass die Revolutionäre der Wokeness in Europa bislang nicht denselben Erfolg wie in den USA haben. Schon jetzt hätte der Import des Konflikts zu ähnlichen kulturellen und gesellschaftlichen Phänomenen geführt: zum Aufeinanderprallen »einer sich erweckt fühlenden Avantgarde in Wissenschaft, Medien und Politik, die die menschliche Natur neu erfinden will, und den Verteidigern traditioneller ›Werte‹«. Hinter den USA sei Großbritannien am stärksten betroffen. Die Zustände dort hätten ein so großes Ausmaß erreicht, dass die konservative Regierung eingegriffen hat. Wissenschaftlern und Studenten, die an einer britischen Universität aufgrund der Äußerung kontroverser Ansichten Nachteile erlitten haben, solle künftig eine Entschädigung zuteilwerden. Universitäten und Studentenvereinigungen, die die Meinungsfreiheit verletzen oder nicht gewährleisten, müssten dann auch mit Geldstrafen rechnen.
Theorien sind die eine Sache. Wie diese durch deren Anwender in der Praxis weiter interpretiert und vor allem konkret ausgelebt werden, ist eine zweite Angelegenheit. Online-Aktivisten haben vor allem auf der Plattform Twittereine dankbare Gegebenheit gefunden, im Sinne der woken Ideologie sich selbst zu einer Art Lehrer mit besonderen woken Kenntnissen und Durchblicken zu stilisieren sowie immer wieder aufs Neue andere User, Personen der Öffentlichkeit, Institutionen oder Unternehmen, die nicht-woke Kommentare von sich geben, laut anzuprangern.
Twitter und Instagram sind die Plattformen, auf denen dieser Aktivismus »gelebt« wird. Von Twitter und Instagram geht trotz dieser Absurdität, dass sich dieser Aktivismus fast ausschließlich online, wie auf einer Art abgekoppeltem Spielfeld, abspielt, ein enormer Einfluss auf die mediale Berichterstattung sowie auf Unternehmen, Institutionen und auch auf Politik aus. Twitter ist lange einer der Orte geworden, an dem Meinung gemacht wird. Immer häufiger greifen die sogenannten etablierten Medien auf, was in die Welt hinaus getweetet wird. Unternehmen fürchten Shitstorms. Mehr noch, es scheint ihnen heute essenziell, ein möglichst wokes Image zu transportieren. Weltoffen, divers, sozial gerecht.
Das Anprangern von sozialen Ungerechtigkeiten ist an sich nichts Neues, sondern, wenn man so will, vielmehr das dauerhafte linke Thema. Bei Wokeness geht es jetzt jedoch nicht mehr so sehr um die Klasse, wie sonst von links, sondern spezifischer um neue Opfergruppen, eben Minderheiten, die Marginalisierten.
Die Themenfelder beackern also längst nicht mehr nur den vermeintlich strukturellen Rassismus, sondern dehnen sich über immer weitere Lebensbereiche aus. Die wichtigsten davon sollen hier im Buch angesprochen werden.
Rassismen lauern mehr und mehr überall: in Filmen, wenn bei Peter Pan als »Indianer« verkleidete Kinder vorkommen; bei Straßennamen, die nach Verfechtern des deutschen Kolonialismus wie beispielsweise Gustav Nachtigal benannt wurden; bei »Afrika« genannten Keksen der Firma Bahlsen und vielem mehr. Die Liste an Beispielen, nicht nur im US-amerikanischen Raum, ist inzwischen lang.
Einige Bücher zum Thema Antirassismus wurden von Vertretern der Wokeness verfasst, einige wurden zu Bestsellern.
Nach der entsetzlichen Tötung des schwarzen US-Amerikaners George Floyds in den USA durch einen Polizeibeamten, verschaffte sich die Black-Lives-Matter-Bewegung nicht nur in den USA, sondern international Gehör. Zahlreiche Institutionen – allen voran Universitäten – gingen daraufhin in eine selbstanklagende Haltung, gelobten öffentlichkeitswirksam Veränderung der selbst diagnostizierten strukturell rassistischen Institution Universität. Die Begründung lautete: Die Unis wurden von Weißen geschaffen. Es sollten umfassende Programme aufgelegt werden. Wie genau sich der behauptete tief in die Strukturen eingebrannte Rassismus konkret auswirkt, blieb dabei stets offen.
Eine bedeutsame woke Grundlagentheorie für den Antirassismus ist die postkoloniale Theorie, nach der die westliche Kultur mit ihren Errungenschaften ausschließlich auf Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus beruht. Die postkoloniale Ideologie widmet sich dabei exklusiv dem westlichen Imperialismus und Kolonialismus. In der Welt der Postkolonialisten existiert kein russischer, kein arabischer, kein muslimischer, kein persischer, kein japanischer, kein chinesischer Kolonialismus. Es geht darum, den Menschen »im Westen« aufzuzeigen, wie schlecht die westliche Kultur und ihre Geschichte ist. Dabei wird nicht nur jede westliche Intervention dämonisiert, sondern auch die Übernahme von westlicher Kultur durch nicht westliche Länder. Damit richtet sich die postkoloniale Theorie gegen säkularisierte muslimische Gesellschaften und man sieht beispielsweise den Staat Israel als Kolonialprojekt und Apartheid-Staat. Die jüngsten Terrorattacken durch Hamas auf Israel wurden aus diesem, aber beispielsweise auch aus dem Black-Lives-Matter-Umfeld11 nicht selten positiv und als koloniale Befreiung gewertet. Den Postkolonialen wird zunehmend eine antisemitische Haltung12 vorgeworfen, zum Beispiel auch, wenn Juden als Opfer wenig zählen, weil sie zu weiß sind13. Die Jüdische Allgemeine wies darauf hin, dass ein prominenter Vertreter der BDS-Bewegung Antisemitismus nicht zu einer »eigenen Klasse des Rassismus« erheben wolle, denn dies wäre »in Wahrheit eine weitere Manifestation der privilegierten Stellung der Weißen«.14 Die BDS-Bewegung ist eine internationale antisemitisch agierende Kampagne, die eine Okkupation und Kolonisierung des arabischen Landes durch Israel propagiert. Die jüngsten Verlautbarungen der Klima-Ikone Greta Thunberg, fest verwurzelt in der woken postkolonialen Theorie, machen im Zuge des Terrors der Hamas gegenüber Israel deutlich, dass die Solidarität dieser Woken den vermeintlich kolonialisierten Palästinensern gilt.15 In einer SPIEGEL-Kolumne »Ihr seid gegen jede Diskriminierung außer sie betrifft Juden und Israelis?«16 setzte sich der Journalist Sascha Lobo bereits mit dem noch wenig bekannten, sich ausbreitenden woken Antisemitismus, in den auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International verstrickt sei, auseinander.
Vorläufiger Tiefpunkt im Zuge der woken Pro-Palästina-Haltung ist das Lobpreisen des »Briefs an Amerika« des Terroristen Osama Bin Laden auf sozialen Medien, in dem dieser sich für die Attentate auf die USA, unter anderem mit antisemitischen Erzählungen, im Jahr 2001 rechtfertigte. Der Migrationsforscher Ruud Koopmann kommentierte dies auf Twitter treffsicher:
»Weite Teile der jüngeren Generation Amerikas (ich fürchte, in Europa ist es nicht viel anders) wurden durch postkoloniale und Critical-race-Theorien so sehr einer Gehirnwäsche unterzogen, dass sie nun Osama Bin Laden als wegweisenden postkolonialen Theoretiker entdecken. Ihr erntet, was ihr sät, liebe akademische Kollegen.«17
Die populärste und einflussreichste Theorie im woken Antirassismus ist wohl die Critical-Race-Theorie, deren Grundannahme lautet, dass es einen gesellschaftlich strukturell tief verankerten Rassismus gebe, den Menschen mit dunkler Hautfarbe regelmäßig erleben müssten und den Weiße qua Geburt in sich tragen und verinnerlicht haben. Rassismus sichere die materiellen Interessen von weißen Eliten sowie die psychologischen Interessen von weißen Angehörigen der Arbeiterklasse, sodass es kaum Interesse an seiner Beseitigung seitens Weißer gebe (»weiße Privilegien«).
Die bekannte amerikanische Anti-Rassismus-Aktivistin Robin DiAngelo, die auch von Zeit Online interviewt wurde, verfasste ein ganzes Buch zum Thema white fragility (weiße Fragilität)18. Auch hier die Grundthese: Weiße würden ihren tief verankerten Rassismus nicht einsehen wollen. Wenn man der Auffassung sei, dass beispielsweise nicht die Hautfarbe, sondern die Taten eines Menschen zählten, sei dies bereits rassistisch. Individualismus sei nur eine Schlüsselideologie der Weißen. Menschen können keine einzigartigen Einzelwesen sein, sie sind einer Gruppe, einer Rasse zugehörig und entsprechend sollen sie primär gesehen werden.
DiAngelo steht mit ihrem »antirassistischem« Werk nicht allein, und auch in Deutschland findet dieses Denken Anhänger. Medienhäuser wie das Handelsblatt19 lobten DiAngelos Ansatz. Die Autorin Sophie Passmann kritisierte, dass Weiße sich weigern, Menschen nach ihrer Hautfarbe zu bewerten, als »Feel-Good-Scheiß«20. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung versucht mit ihrer – in Teilen umstrittenen21 – Kampagne Say my name22 weiße Menschen dazu zu bewegen, ihre weißen Privilegien reumütig zu erkennen: »Kenne dein Privileg … und setze dich dann an die Arbeit«, heißt es dort unter anderem.
Antirassismustrainings für Weiße wurden entwickelt und angewandt. In solchen Trainings gehe es nicht selten sehr dominant und hart zu: In Rollenspielen müssen sich weiße Menschen demütigen lassen, um die Erfahrung der Unterdrückung selbst zu erleben und zu verinnerlichen. In den USA wird inzwischen auf Videos dokumentiert, wie weiße Menschen in den USA vor einer Gruppe Farbiger niederknien und in einer Art Gebet minutenlang um Vergebung für ihre Erbsünde bitten. In Deutschland nicht neu wird in Schulen beispielsweise der sogenannte Blue Eyed-Workshop angewandt, bei dem Schüler in die Gruppen braun- und blauäugig eingeteilt und eine der Gruppen von der anderen bewusst abwertenden und diskriminierenden Erfahrungen ausgesetzt wird, um Rassismus und Gefühle von Wut und Hilflosigkeit selber zu erleben23.
Die Journalistin und Moderatorin Alice Hasters (Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten)24 meint ebenfalls, dass Weiße automatisch, also seit Geburt, Rassisten seien, und sie sollten gar nicht erst versuchen, keine Rassisten zu sein. Nur durch spezielle Programme bestehe überhaupt eine Chance, seine Erbschuld des Rassismus ein Stück weit abzulegen. Und zwar über Scham und Schuld25 sowie letztlich über den aktiven Beitrag zur Dekonstruktion des rassistischen Systems, in dem wir leben. Dies solle konkret auch darin bestehen, aktiv zurückzustehen, PoC gesellschaftliche Macht zu geben und auf eigene Machtansprüche zu verzichten. Diese Programme sind keine Theorien, sondern in den USA, insbesondere an Universitäten, schon gelebte Praxis. Studenten erkennen ganz plötzlich ihre Privilegien, nachdem sie, so ist es gewollt, einen emotional belastenden Prozess durchlaufen haben. Sie bekommen eine Art Gehirnwäsche. Denn die »weiße Psyche« leide an einer »weißen Neurose«, auf dieser Linie auch das Institut für diskriminierungsfreie Bildung26
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