Wolf werden - Morello Katharina - E-Book

Wolf werden E-Book

Morello Katharina

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Beschreibung

Hazara, ein afghanischer Junge, musste mit seiner Familie vor den Taliban in ein Nachbarland flüchten und wuchs dort in den Nullerjahren unter schwierigen Bedingungen auf. Flüchtlinge waren nicht willkommen, oft lebten sie wie Hazaras Familie ausgegrenzt und in Armut. Katharina Morello lässt Hazara erzählen, wie er sich über viele Stationen vom sechsjährigen Blumenverkäufer zum Mechaniker mit eigener Garage und Hausbesitzer hocharbeitete, wie er sich allen Widrigkeiten zum Trotz mit Mut, Wut und Fantasie nicht nur einen Platz in der Gesellschaft, sondern auch die Liebe seines Lebens erkämpfte – um dann alles wieder zu verlieren. Denn als knapp Zwanzigjähriger nahm Hazara an einem Schiesswettbewerb teil, bei dem es ein Auto zu gewinnen gab. Er gewann, bekam den Preis aber nicht: Das könne nur ein Einheimischer. Stattdessen meldete sich das Militär bei ihm. Ins Land geflüchtete Afghanen wurden in den Krieg geschickt. Hazara stand vor der Wahl: Wollte er bleiben und offizielle Papiere bekommen, musste er in den Krieg. Er entschied sich für die erneute Flucht bis in die Schweiz.

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Hazara, ein afghanischer Junge, musste mit seiner Familie vor den Taliban in ein Nachbarland flüchten und wuchs dort in den Nullerjahren unter schwierigen Bedingungen auf. Flüchtlinge waren nicht willkommen, oft lebten sie wie Hazaras Familie ausgegrenzt und in Armut.

Als knapp Zwanzigjähriger nahm Hazara an einem Schießwettbewerb teil, bei dem es ein Auto zu gewinnen gab. Er gewann, bekam den Preis aber nicht: Das könne nur ein Einheimischer. Stattdessen meldete sich das Militär bei ihm. Hazara stand vor der Wahl: Wollte er bleiben und offizielle Papiere bekommen, musste er in den Krieg. Er entschied sich für die erneute Flucht bis in die Schweiz.

Katharina Morello lässt Hazara erzählen, wie er sich über viele Stationen vom sechsjährigen Blumenverkäufer zum Mechaniker mit eigener Garage und Hausbesitzer hocharbeitete, wie er sich allen Widrigkeiten zum Trotz mit Mut, Wut und Fantasie nicht nur einen Platz in der Gesellschaft, sondern auch die Liebe seines Lebens erkämpfte – um dann alles wieder zu verlieren.

Foto Emilio Nasser

Katharina Morello, geboren 1966 in Zürich, studierte Theologie und Journalismus. Sie arbeitete als interkulturelle Beraterin beim Schweizerischen Arbeiterhilfswerk SAH, dann als Redaktorin, Journalistin und Kommunikationsfachfrau u.a. bei Brot für alle. Sie publizierte mehrere Bücher, ist Mutter von drei Kindern, teilzeitlich als Pfarrerin tätig und engagiert sich in der Autonomen Schule Zürich. Für den Beitrag «Armut, Sprachlosigkeit und die Seuche» im «Tages-Anzeiger» erhielt sie den Medienpreis der Stiftung Christoph Eckenstein.

Foto Stefan Anderegg

Philipp Hufschmid, geboren 1973, ist «NZZ»-Redaktor mit Produktionsverantwortung. Er hat an der Universität Zürich Allgemeine Geschichte, Arabistik und Politische Philosophie studiert. Er ist verheiratet und lebt in Birmensdorf.

KATHARINA MORELLO

WOLF WERDEN

EINE AFGHANISCHE LEBENSGESCHICHTE

PROLOG — HASENJAGD

1EIN KIND AUS EINER ANDEREN WELT

2BAUM UND VOGEL

3KLEIDER FÜR MEINE BRÜDER

4BLUMENZÜCHTER, BLUMENHÄNDLER

5DER WISSENSDIEB

6DIE HAARSCHNEIDEMASCHINE

7ICH HASSE DIE GANZE WELT, ABER MEINE MUTTER LÄSST ES NICHT ZU

8VON DER KOSTBARKEIT EINER FUSSMATTE

9GEFÄHRLICHE WASSERMELONEN

10IN DER LANDWIRTSCHAFT

11HETZJAGD MIT FOLGEN

12VON DEN KÜHEN ZU DEN PFERDEN

13WIR SIND VIELE UND WIR STEHEN ZUSAMMEN!

14ALLES GEHT EINMAL ZU ENDE

15MEIN EIGENER CHEF

16AUTOS MACHEN LEUTE

17NACHSPIEL

18BRAUTSCHAU

19KÄMPFE UM LEYLA!

20HÄUSER KAUFEN

21DER VERLUST

22IN DER WÜSTE

23DIE LEHRERIN MEINES LEBENS

24WIE ES DAZU KAM, DASS ICH DAS NACHBARLAND VERLIESS

EPILOG — WOLF WERDEN

KONTEXT —Philipp Hufschmid

KARTE

CHRONIK

Prolog

HASENJAGD

Ich bin Hazara. Meine Familie wurde aus ihrer Heimat vertrieben, als ich noch ein kleines Kind war. So kam es, dass ich nicht in Afghanistan aufwuchs, sondern in einem seiner Nachbarländer. Ich nenne dieses Land nur das Nachbarland, denn ich will keine Vorurteile schüren und niemanden unnötig verletzen oder gar in Gefahr bringen. Als ich neunzehn Jahre alt war, sah ich mich gezwungen, auch dieses Nachbarland zu verlassen. Die zweite Flucht in meinem Leben führte mich durch viele Länder bis nach Europa und in die Schweiz.

Nachdem ich dort angekommen war, geschah etwas Seltsames, was im Grunde genommen überhaupt nicht zu mir passt.

Ich verstummte.

Drei Jahre lang sprach ich mit niemandem mehr.

Natürlich sagte ich im Alltag, was nötig war. Ja. Nein. Bitte. Danke. Und natürlich versuchte ich den Schweizer Behörden zu erklären, was mich zur Flucht gezwungen hatte. Dabei wurde mir schnell klar, dass die Befrager an meiner Geschichte nicht wirklich interessiert waren.

Sie wollen nicht hören, was du erlebt, was du überlebt hast. Sie suchen vielmehr nach Gründen, dich wieder loszuwerden. Wenn sie fragen: «Wo kommst du her, lebt deine Familie noch dort, warum bist du geflüchtet, in welchen Ländern hieltest du dich auf, bevor du in die Schweiz kamst, wieso bist du nicht dortgeblieben» und all das, dann suchen sie eigentlich nach Fehlern in deiner Erinnerung. Wenn du etwas verwechselst oder vergisst, sagen sie: Er widerspricht sich. Er ist nicht glaubwürdig.

Vor der Behörde musste ich also reden. Aber sonst schwieg ich. Ich erzählte keiner und keinem von mir, denn ich misstraute allen. Auch den anderen Geflüchteten in der Unterkunft. Trotzdem lernte ich rasch Deutsch. Lernen fiel mir immer schon leicht. Wenn ich etwas höre, kann ich es mir merken. Schon bald konnte ich Gesprächen in deutscher Sprache folgen.

Dann, während ich noch auf meinen Asylentscheid wartete, lernte ich die Autonome Schule Zürich kennen. Hier traf ich auf Menschen, denen das Schicksal Geflüchteter nicht gleichgültig ist. Eines Tages saß ich mit ein paar meiner neuen Bekannten in einem Café zusammen. Es wurde über die Willkür an den Grenzen Europas gesprochen, ich hörte zu. Da fragte jemand aus der Runde: «Wie war es eigentlich bei dir, Hazara, was hast du erlebt auf deiner Flucht?»

Ich war überrascht, dass man etwas von mir wissen wollte, und fragte mich sofort: Was kannst du ihnen erzählen? Ich sagte mir: Hazara, es sind freundliche Leute, du sollst nichts Schlimmes berichten, nichts, was sie traurig macht.

Zum Glück kam mir eine lustige Geschichte in den Sinn, die ich auf dem Weg in die Schweiz erlebt hatte.

In einem Wald irgendwo in Serbien, das war im Jahr 2015. Wie viele andere wanderte ich damals durch den Balkan nach Europa. Allerdings in einer frühen Gruppe. Vor dem ganz großen Marsch.

Manchmal war eine Grenze offen, dann ging es vorwärts. Manchmal war sie geschlossen und wurde von Soldaten bewacht, wir mussten warten. Alles war ungewiss.

Ich war mit ein paar jungen Männern unterwegs, die wie ich aus Afghanistan stammten. Wir waren von Griechenland über Mazedonien gekommen und wollten weiter nach Serbien. Eine Zeit lang waren wir mit Fahrrädern unterwegs. Irgendwann gingen diese Räder kaputt und wir mussten zu Fuß weiter. Wir schlossen uns einer größeren Gruppe an, die wir eingeholt hatten, Männern, Frauen und Kindern, ganze Familien gab es darunter, es waren ungefähr vierzig Leute, die meisten aus Afghanistan, Syrien. Auch Kurden waren dabei.

Endlich erreichten wir Serbien und kamen in einen Wald, wo wir eine Pause machten. Ich war sehr müde. Wirklich müde! Seit mehreren Tagen war ich ununterbrochen in Bewegung, ich hatte nicht eine einzige Stunde geschlafen. Ich müsse mich ausruhen, sagte ich zu den anderen, und ich legte mich auf den Boden. Gleich war ich weg. Ich schlief ein und schlief, den besten Schlaf meines Lebens – mit dem Kopf auf einem Stein!

Als ich erwachte, war ich allein. Die anderen waren ohne mich weitergegangen. Rund um mich herum gab es nichts als Wald. Einen einzigen, riesigen Wald.

Rasch sprang ich auf die Füße. Ich hatte keine Ahnung, wie viele Stunden vergangen waren. Es war Nacht und so dunkel, dass ich kaum die Hände vor meinem Gesicht sehen konnte. Ich rief. Niemand antwortete.

Darauf geriet ich in Panik. Ohne zu wissen, wohin, marschierte ich los. Wahrscheinlich ging ich nur noch tiefer in den Wald hinein, denn ich fand keine Straße, keinen Weg und keinen anderen Menschen.

Als der Morgen dämmerte, sagte ich zu mir: «Hazara, jetzt ist es fertig mit dir, hier findest du nie wieder heraus.» Weil ich hungrig und durstig war, lief ich trotzdem weiter.

Etwas ist sehr praktisch in Europa. Es gibt überall Trinkwasser. Zuerst fand ich einen kleinen Bach, wo ich meinen Durst stillen konnte, und dann Beeren, so kleine, schwarze, es gibt Joghurt damit – richtig, Brombeeren! Ich aß von diesen Brombeeren, bis mir der Bauch weh tat. Du musst so viel wie möglich essen, sagte ich mir, denn du weißt nicht, wann du wieder etwas finden wirst, was du essen kannst.

Schließlich war ich satt und wanderte weiter. Ich hatte keinen Plan, in welche Richtung ich mich wenden sollte, und wusste auch nicht, wo schlafen. Ich ging einfach immer weiter. Zum Glück gab es überall Wasser, Bäche und kleine Flüsse, ich trank sehr viel Wasser und blieb irgendwo für die Nacht.

Da ich befürchtete, es könnte in diesem Wald Schlangen geben, kletterte ich zum Schlafen auf einen Baum. Das war keineswegs sicherer, im Gegenteil. Kaum war ich eingeschlafen, fiel ich herunter. Zum Glück war mein Fall nicht sehr tief und brachte mir nur ein paar blaue Flecken ein. Darauf beschloss ich, meine Furcht vor Schlangen zu vergessen. Sie würde nichts nützen, wenn ich mir deswegen die Knochen brach.

Am nächsten Tag zog ich weiter und fand nach einer Weile eine Stelle, wo es Wasser und viele Beeren gab. Dort ließ ich mich nieder, aß und trank und entschied mich, da zu bleiben. Ich erinnerte mich nämlich an einen Film, den ich einmal gesehen hatte. In diesem Film verirrte sich auch jemand, und er wurde gefunden, weil er sich nicht von der Stelle rührte. Wenn du herumwanderst, wirst du die verfehlen, die nach dir suchen, dachte ich. Also setzte ich mich unter einen Baum.

Ich blieb bis zum Abend an diesem Ort, wo es Beeren und Wasser gab, schlief auch da und wartete dann noch einen weiteren Tag und eine Nacht darauf, gefunden zu werden. Dazwischen aß ich von den Beeren und trank Wasser.

Dann, als wieder der Morgen kam, sagte ich zu mir: «Hazara, du täuschst dich. Du bist ein Flüchtling. Einer von Tausenden. Keiner kommt und sucht dich, und wenn du ein Jahr lang wartest. Bist du dumm, oder was? Niemand weiß, wo du bist. Nicht einmal deine Familie. Worauf wartest du? Du musst dich selbst retten!» Also stand ich auf und ging weiter.

Der Wald nahm kein Ende. Wieder fand ich Beeren und aß sie. Allmählich hatte ich genug von diesen Beeren. Mein Bauch knurrte und ich wünschte mir sehnlichst, ich hätte etwas anderes zu essen. Das Brot meiner Mutter. Reis. Kebab. Hazara, sagte ich mir, wie es aussieht, findest du nie mehr aus diesem Wald heraus. Ich fühlte mich auf einmal völlig niedergeschlagen. Wie sollte es weitergehen? Ich war am Ende.

In diesem Moment sah ich den Hasen. Er kam ganz gemütlich zwischen den Bäumen daherspaziert. Ich warf einen Blick zum Himmel und sagte: «Danke, Gott, du hast mir gutes Essen geschickt!» Meine Kräfte erwachten. Sofort stürzte ich mich auf den Hasen, doch er war flink und entwischte mir. Ich lief hinter ihm her. Leider war der Hase schnell und ich langsam. Ich war damals etwas dick, mein Bauch schwang beim Rennen hin und her, dennoch blieb ich ihm auf den Fersen, denn ich wollte unbedingt diesen Hasen haben. Die Jagd war anstrengend. Nach all den Tagen mit nichts als Wasser und Beeren, war ich bald müde und auf einmal war der Hase weg. Ich suchte noch eine Weile nach ihm. Ohne Erfolg. Ich musste wiederum Beeren essen.

Diese Beeren. Immer nur Beeren. Wie hingen sie mir zum Hals heraus! Inzwischen konnte ich nur noch ganz wenige auf einmal essen, sonst kamen sie mir gleich wieder hoch.

Später an diesem Nachmittag, es war vielleicht der vierte oder fünfte Tag, seit ich verloren gegangen war, und ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr, begegnete ich erneut diesem Hasen. Er sah mich neugierig an und hob seine Ohren. Dann hoppelte er zwischen den Bäumen weiter. Mir schien, als mache er sich über mich lustig. «Du Teufel von einem Hasen», sagte ich, «diesmal entkommst du mir nicht.» Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken, bewegte ich mich in seine Richtung. Der Hase zog weiter, ich verfolgte ihn, denn ich wollte sehen, wohin er lief.

Nach einer Weile kamen wir zu einem umgekippten, alten Baum. Zwischen den Wurzeln gab es ein Loch. Der Hase verkroch sich darin. Ich kniete hin und streckte meinen Arm hinein, bekam ihn jedoch nicht zu fassen. Da beschloss ich zu warten. Wie die Katze vor dem Mauseloch. Ich wartete und wartete. Doch der freche Hase zeigte sich nicht.

Nach einigen Stunden hatte ich Rückenschmerzen. Es wurde Abend und ich entschied: Schluss jetzt! Du musst etwas essen.

Nahe bei der Baumwurzel, unter der sich der Hase verkrochen hatte, wuchsen wiederum Beeren. Es waren aber keine Brombeeren, es war eine andere Sorte. Endlich Abwechslung, sagte ich mir, und aß gierig ein paar Hände voll. Doch was war das? Nach kurzer Zeit spürte ich meine Füße nicht mehr. Dann spürte ich meine Beine nicht mehr, ich verlor die Kontrolle über meinen Körper und fiel der Länge nach hin, konnte mich nicht mehr rühren. Keinen Zentimeter. Nur meine Augen blieben geöffnet. Ich sah und hörte alles, was um mich geschah. Weil mein Kopf genauso dalag, dass ich auf das Loch blickte, indem der Hase verschwunden war, beobachtete ich weiter, ob er zu Hause blieb oder ausging. Etwas anderes konnte ich ja gar nicht tun. Daran, wie schlecht meine Lage war, dachte ich nicht. Vielmehr malte ich mir die ganze Zeit über aus, wie ich ein Feuer machen, dem Hasen das Fell über die Ohren ziehen, ihn braten und aufessen würde, sobald ich ihn gefangen hätte.

Keine Ahnung, wie lange ich bewegungslos am Boden lag. Es müssen wenigstens zwölf Stunden gewesen sein, denn es verging eine Nacht und schließlich wurde es Morgen. Der Hase hatte sich die ganze Zeit über nicht blicken lassen.

Als die Sonne aufging, spürte ich allmählich wieder etwas. Zuerst konnte ich meinen Kopf bewegen. Dann meine Schulter, meine Hand, meine Füße – mein gesamter Körper erwachte und ich sagte zu mir: «Hazara, von diesen Beeren wirst du in Zukunft die Finger lassen.»

Im gleichen Moment streckte der arme Hase seinen Kopf aus dem Loch – und sofort hatte ich ihn bei den Ohren. Er zappelte wild, doch ich ließ nicht los, sondern hob ihn hoch und sagte: «Ah, heute esse ich etwas Gutes.»

Dann sah ich mir den Hasen genauer an. Am Tag zuvor, als ich hinter ihm herlief, war er mir frech und übermütig vorgekommen. Ich dachte, er sei ein Teufel, der mich zum Narren hält. Wie er nun in meinen Händen war, fand ich ihn auf einmal klein und niedlich. Ich sah ihm in die Augen und mir wurde klar, dass ich ihn niemals umbringen könnte. Ich hatte einen so großen Hunger. Doch in den ängstlichen Hasenaugen spiegelte sich mein Gesicht.

«Okay», sagte ich zum Hasen, «du kannst gehen.»

Im Grunde genommen habe ich es noch nie geschafft, etwas Lebendiges zu töten, das hatte ich völlig vergessen. Also ließ ich den Hasen laufen.

Er lief davon, und da ich nicht in Versuchung kommen wollte, meinen Braten weiter zu verfolgen, wandte ich mich genau in die andere Richtung, um meine Wanderung durch den Wald wieder aufzunehmen. Bis heute denke ich, dies war eine göttliche Fügung. Als ich etwa eine halbe Stunde gegangen war, fand ich nämlich einen Kinderschuh am Boden, dann ein T-Shirt an einem Strauch und später noch weitere Kleidungsstücke. Die Menschen, mit denen ich unterwegs auf der Flucht gewesen war, hatten sie liegen lassen. Wie eine Spur, der ich folgen konnte, und wenig weiter kam ich zu einer Straße.

Dort war dann allerdings sofort die Polizei hinter mir her. Es war schon seltsam: Im Wald hätte ich mich über jeden Polizisten gefreut und keiner kam. Und als ich den Weg aus dem Wald gefunden hatte, waren sie gleich zur Stelle. Sie nahmen mich fest und steckten mich ins Gefängnis. Irgendwo in Serbien. Meine Flucht war noch lange nicht zu Ende. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nachdem ich mein Erlebnis mit dem Hasen erzählt hatte, begann sich mein Leben in der Schweiz zu verändern. Ich fand gute Freunde, Menschen, die sich für mich interessierten und die ich gern mochte. Manchmal trafen wir uns bei jemandem zu Hause zum Essen und Reden. Immer wieder sagten sie zu mir: «Hazara, erzähl nochmal, wie du den Hasen gefangen hast!»

Bald genügte ihnen diese Geschichte nicht mehr, sie wollten mehr hören und ich begann darüber nachzudenken, was ich sonst noch erzählen könnte.

Zuerst redete ich nur, wenn ich betrunken war. Ein paar Gläser Wodka lösten meine Zunge, die so lange geschwiegen hatte, und mir fielen längst vergangene Dinge ein. Dinge, die ich als Kind erlebt hatte. Und als Jugendlicher.

Irgendwann sagte einer der Freunde, der für mich wie ein großer Bruder geworden war: «Hazara, erzähl alles der Reihe nach.» Und eine Freundin meinte: «Erzähl nicht nur die lustigen Dinge. Erzähl deine ganze Lebensgeschichte. Wir halten das aus.»

Ich habe lange überlegt und mich dann entschlossen, genau dies zu tun. Unter einer Bedingung: Bitte kein Mitleid! Ich kann es nicht ausstehen, wenn Leute Mitleid mit mir haben. Mitleid macht einen Menschen klein. Ich möchte nicht bedauert werden, ah, der Arme, er hat all diese Sachen erlebt. Ich möchte einfach Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, mitteilen.

Nichts weiter.

1

EIN KIND AUS EINER ANDEREN WELT

Dies ist meine früheste Kindheitserinnerung. Ich liege wach auf meinem Lager, betrachte den schwarzen Himmel mit den Sternen, dem Mond, und denke: Da oben ist meine Heimat. Afghanistan.

Ich war vier oder fünf Jahre alt und wir lebten auf der Straße in jenem Nachbarland, in das wir geflüchtet waren. Wir hatten kein Haus, in dem wir wohnen konnten. Deshalb hatte mein Vater am Rand einer Stadt einen Stock in die Erde gestoßen und meine Mutter ein paar Tücher und Decken darüber gehängt. Fertig. In der Mitte stand unser tragbarer Ofen, der zum Kochen und Heizen mit Öl befeuert wurde, um ihn herum lagen unsere Matten, Decken und Kissen. In diesem Zelt aßen, schliefen und lebten wir. Wir – das waren meine Mutter, mein Vater, meine jüngere Schwester, der kleine Bruder, der hier zur Welt gekommen war, und ich.

An die Flucht aus Afghanistan und alles, was davor geschehen war, erinnere ich mich nicht. Wenn ich Fragen stellte, und ich stellte bald viele Fragen, sagte meine Mutter: «Wir sind aus Afghanistan. Das liegt weit weg von hier.»

Sofort dachte ich da an den Mond. Weit weg war für mich als Kind der Mond. Wenn ich ihn nachts zwischen den Zelttüchern hindurch beobachtete, glaubte ich, dass wir von da oben kämen, und ich fragte mich, wann wir zurückkehren würden.

«Warum sind wir nicht dort?», pflegte ich Mutter zu fragen.

«Wegen der Dämonen», antwortete sie. «Sie wollten uns vernichten.» Die Dämonen haben in meiner Kindheit eine große Rolle gespielt. Ich dachte in der Dunkelheit an sie und war froh, wenn der Mond die Nacht erhellte. Dann fühlte ich Sehnsucht nach meiner Heimat und grübelte darüber nach, wie um alles in der Welt es dazu gekommen war, dass wir ihn verlassen hatten. Die Dämonen mussten sehr böse sein.

Tagsüber hatte ich nicht viel zu tun. Meine Eltern waren meist fort auf der Suche nach Arbeit, meine Schwester hütete den kleinen Bruder und ich trieb mich in den Gassen der Stadt herum. Sobald ich mich von meiner Familie entfernte, hatte ich keinen Namen mehr.

«Hey, Afghane, hey, Flüchtling!», sagten die Leute zu mir, und die Kinder, denen ich unterwegs begegnete, wollten nicht mit mir spielen.

Es lag, wie ich bald erkannte, an meinem Aussehen. Jede Pfütze, jede Fensterscheibe, in der ich mich spiegelte, zeigte mir, dass ich anders war. Ich hatte ein anderes Gesicht, eine kleine Nase, kleinere Augen. Ich kam aus einer anderen Welt.

Nicht alle wandten sich von mir ab. Die größeren Kinder und die Jugendlichen blieben stehen. Sie lachten. «Hey, Afghane», riefen sie. Nicht selten geriet ich mit ihnen in Streit und kam mit zahlreichen Schrammen nach Hause.

«Warum nennen sie mich so? Was ist falsch mit mir?», fragte ich meine Mutter.

«Weißt du, mein Junge», pflegte sie zu sagen, «wir hatten ein schönes Heim, wir hatten ein gutes Leben. Bis die Dämonen kamen und alles zerstörten.»

Sie wollte mir die Dinge richtig erklären, doch ich war noch zu klein. Wer die Taliban waren, konnte ich nicht verstehen. Deshalb sagte sie: «Die Dämonen kamen.»

Meine Mutter versorgte die Wunden, die ich von meinen Streifzügen durch die Stadt heimbrachte. Sie heilten rasch. Das größere Problem war mein Vater. Wenn er mich bluten sah, regte er sich furchtbar auf. Mutter versuchte stets, ihn zu beruhigen, doch ihre Worte halfen nicht viel. Vater lief weg, um die Jungen zu strafen, die mir das angetan hatten, und wir bangten die halbe Nacht um ihn, weil wir wussten, dass er den Kampf suchte.

Mein Vater. Zu Hause in Afghanistan hatte er fast seine ganze Familie verloren. Zwei meiner Schwestern starben auf der Flucht. Wir gehören zum Volk der Hazara. Bei den Taliban gilt bis heute: Wer sieben von uns Hazara tötet, kommt direkt ins Paradies. Mein Vater hatte Schlimmes mitangesehen, mehr, als ein Mensch ertragen kann. Davon erholte er sich nie mehr. Immer wollte er kämpfen – gegen die Taliban und gegen die Welt. Aber meine Mutter ließ es nicht zu.

Sie sagte: «Wenn du in den Krieg ziehst und diese Leute umbringst, dann wirst du einer von ihnen – ein Dämon!»

Die Jahre meiner frühen Kindheit waren geprägt von der Angst, mein Vater könnte sich in einen Dämon verwandeln. Deshalb beschloss ich, mit kaum sechs Jahren, ihm nie wieder von meinen Schwierigkeiten zu erzählen. Was immer draußen auf der Straße geschah, abends, wenn ich heimkam, biss ich die Zähne zusammen und sagte: «Es geht mir gut.»

In jenen Tagen arbeitete vor allem meine Mutter. Sie brach in aller Frühe auf und ging arbeiten, damit wir abends zu essen hatten. Mein Vater versuchte ebenfalls, Geld zu verdienen. Wenn er von einer Arbeit hörte, ging er sofort hin. Doch selbst wenn er wieder einen neuen Job bekam, endete es jedes Mal auf die gleiche Weise: Spätestens am zweiten oder dritten Tag geriet er in eine Schlägerei und wurde entlassen.

Nachts träumte Vater von den schlimmen Dingen, die er gesehen hatte. Dann weinte und schrie er im Schlaf. Ich habe noch die Stimme meiner Mutter im Ohr, wie sie ihm beruhigend zuredete. Ihn zu trösten versuchte. Als wäre er ein Kind.

In dieser Zeit lebten wir also vom Verdienst meiner Mutter. Sie war sehr fleißig. Doch sie wurde schlecht bezahlt. Eine Frau bekam in jenem Nachbarland vier Mal weniger Lohn als ein Mann für dieselbe Arbeit. Meine Mutter grub Felder und Gärten um, half bei der Ernte, wusch die Wäsche anderer Leute und kam jeden Abend erschöpft nach Hause. Dann kochte sie für uns, räumte auf, spülte das Geschirr und während wir längst im Bett lagen, flickte sie im schwachen Licht einer kleinen Petrollampe unsere Kleider.

Eines Tages fand ich draußen eine kleine, streunende Katze. Ihr Rücken und ihr Kopf waren grauschwarz gestreift, ihre Beine und der Bauch weiß wie der Schnee auf den fernen Bergspitzen. Ich brachte sie nach Hause und fortan lebte sie bei uns.

Nachts glühten ihre Augen im Dunkeln und sie fing die Mäuse und Ratten, die sich über unsere Vorräte hermachen wollten. Wir alle liebten diese Katze! Sie erwiderte unsere Zuneigung, schnurrte, wenn man sie hinter den Ohren kraulte, und wenn wir schliefen, wärmte sie unsere Füße.

Sonst gab es wenig, woran wir uns freuen konnten. Wir besaßen so gut wie nichts, hatten kaum etwas zum Anziehen und wenn wir duschen wollten, mussten meine Schwester und ich zwei, drei Eimer kaltes Wasser mit einer Seilwinde aus der nahen Zisterne ziehen, die wir uns dann gegenseitig über den Kopf schütteten.

Noch durfte ich nicht zur Schule gehen. Ich lief, wie gesagt, jeden Tag in unserer Nachbarschaft umher, hörte überall nur: «Hey, Afghane, hey, Flüchtling!», und trug Kämpfe aus, von denen ich niemandem etwas erzählte.

Dann kam der Winter, Schnee fiel vom Himmel. Es wurde bitterkalt und unser Leben im Zelt war noch schwieriger. In der Nacht schichteten wir alle Decken, die wir besaßen, über und unter uns auf. Wir lagen dicht beieinander, meine Geschwister und ich in der Mitte, mein Vater und meine Mutter zu beiden Seiten. So versuchten wir uns gegenseitig warm zu halten.

Eines Morgens erwachte ich, weil der frisch gefallene Schnee unser Zeltdach bis auf meine Nasenspitze hinunterdrückte.

«So geht das nicht weiter!», sagte meine Mutter.

Sie begann, noch mehr zu arbeiten. Legte jedes entbehrliche Geldstück zur Seite, sparte sich und Vater vom Mund ab, was immer möglich war, und fand endlich für uns eine richtige Wohnung, die wir mieten konnten.

Diese Wohnung lag jedoch in einer anderen Stadt. Wir mussten umziehen. Unsere Freundin, die Katze, blieb zurück.

Auf diesen Schmerz war ich nicht vorbereitet. Zum ersten Mal in meinem Leben verlor ich ein geliebtes Wesen. Ich war vernünftig genug, um zu verstehen, welche Vorteile der Umzug für uns brachte. Doch der Abschied von der Katze zerriss mir das Herz, und ich weinte, als wir wegfuhren. In diesem Moment wurde mir klar, wie gefährlich es ist, jemanden zu lieben.

Unser neues Heim war im Grunde genommen nicht mehr als ein Vorratsschuppen ohne Fenster. Er stand etwas außerhalb der Stadt am Rand einer Landstraße. Die Tür ging nach hinten auf zu einer Weide, auf der Schafe grasten. Der Besitzer unserer Wohnung war ein Bauer und Schafzüchter, den meine Mutter kannte. Sie hatte ihm in den Ohren gelegen, bis er ihr das Gebäude günstig vermietete. Ein einziges Zimmer, wenige Quadratmeter, dafür mit einem festen Dach. Es war eindeutig ein Fortschritt.

«Jetzt wird es besser», sagte meine Mutter und ich glaubte ihr, obschon ich bald erfuhr, dass wir auch hier nicht willkommen waren.

Über die Straße lebte eine Familie, deren Sohn in meinem Alter war. Er begegnete mir von allem Anfang an hasserfüllt. Vielleicht lag es an meiner Nase, an meinen Augen, daran, dass ich anders war als er. Nie rief er mich bei meinem Namen, bloß immer nur: «Afghane, hey, Flüchtling!»

So hatten wir nun ein Zimmer mit einer festen Tür und einem festen Dach. Dennoch blieb ich das Kind aus der anderen Welt, und der Nachbarsjunge machte mir das Leben so schwer.

Doch ich behielt es für mich, um meinen Vater zu schonen. Wenn meine Eltern fragten, sagte ich: «Ihr Lieben, es geht mir gut!»

2

BAUM UND VOGEL

Kurz nachdem wir von der Straße weg in ein festes Haus gezogen waren, erfuhren wir, dass eine Schule für afghanische Kinder eröffnet wurde. Flüchtlingskinder durften bis anhin nämlich in diesem Nachbarland keine öffentlichen Schulen besuchen. Deshalb gründeten ein paar reiche Afghanen eine eigene Schule – ganz in unserer Nähe! Von diesem Moment an besuchte ich die afghanische Schule. Sechs wunderbare Monate lang. Dieses halbe Jahr sollte die schönste Zeit meiner ganzen Kindheit werden.

Meine Lehrerin stammte wie wir Kinder aus Afghanistan. Und sie war einfach die netteste Person, die man sich vorstellen kann. Wenn ich ihr zuhörte, dachte ich nie, dass ich allein sei, fremd und von einer anderen Welt. Sie war immer freundlich zu uns, wir sprachen dieselbe Sprache, und – was das Beste war – wir hatten die gleichen Gesichter: kleine Nasen, kleine Augen. In ihrer Klasse fühlte ich mich sofort wohl und begann voll Eifer zu lernen. Ich liebte es, da zu lernen.

Die Schule begann morgens um sieben. Doch ich erwachte bereits um fünf und wartete ungeduldig, bis ich hingehen durfte. Nun gab es auf einmal zwei Orte, an denen ich mich zu Hause fühlte: Bei uns daheim und in der Schule.

Was außerhalb dieser beiden Orte vorging, verstand ich nicht, es machte mir Angst. Zu Hause und in der Schule jedoch ging es mir gut. Am liebsten hätte ich Tag und Nacht gelernt.

In meiner Klasse saßen viele Kinder, doch ich erinnere mich nur an ein einziges Mädchen. Leyla. Ihr Bild erscheint bis heute vor meinen Augen. Wir begegneten uns am allerersten Schultag. Sie kam durch die Tür des Schulzimmers und schaute sich um. Sie gefiel mir auf den ersten Blick. Sie war so klein, so niedlich. Hatte rotes Haar und wache Augen. Und dann kam sie her und setzte sich neben mich – ausgerechnet! Von diesem Moment an lernten wir zusammen.

Dieses Mädchen, Leyla, sollte für lange Zeit eine wichtige, vielleicht die wichtigste Person in meinem Leben bleiben. Doch dies wusste ich damals natürlich noch nicht.

Leylas Eltern waren reich; sie hatten diese Schule für die afghanischen Kinder eingerichtet, die Räume gemietet und die Lehrerin bezahlt. Leylas Mutter wollte sogar selbst unterrichten. Sie gab einen Theaterkurs, denn sie war der Meinung, es wäre für uns Kinder gut, neben Rechnen und Schreiben auch zu lernen, wie man Theater spielt.

Wir übten ein Theaterstück ein, das von der Natur handelte. Ich musste die Rolle eines Baumes spielen, die kleine Leyla war ein Vogel. Wir hatten eine gemeinsame Szene.

Leyla kam zu mir und fragte: «Darf ich in deinen Ästen mein Nest bauen?»

Darauf hatte ich zu antworten: «Nein!», denn ich war ein grober und unfreundlicher Baum.

Wir übten drei Monate lang, bis wir richtig gut waren. Die ganze Zeit musste ich den bösen Baum spielen, der den Vogel bei sich kein Nest bauen lässt.

Endlich waren wir bereit, das Stück vorzuführen. Unsere Eltern und Verwandten wurden als Publikum eingeladen. Da es im Saal, in dem die Aufführung stattfand, keine