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Ein Mann so heiß wie die Hölle
Das Praktikum bei Carma Inc. ist für Olivia Roth die Chance ihres Lebens. Denn sie weiß, was sie will, wann sie es will - und niemand kann sie davon abbringen. Als sie jedoch zufällig einem verflucht heißen Typen in die Arme läuft, wirft sie all ihre perfekt ausgearbeiteten Pläne um. Olivia will diesen Kerl, koste es, was wolle. Auch wenn er sich als Callan Carmichael herausstellt - CEO von Carma Inc. und bester Freund ihres Bruders. Callan ist ein eiskalter Geschäftsmann, der die Frauen reihenweise in sein Bett kokettiert. Mehr als einmal wurde Olivia vor ihm gewarnt. Doch wie viel Schaden kann eine einzige Nacht schon anrichten?
"Das Buch ist heiß. HEISSHEISSERAMHEISSESTEN!!!! Einfach berauschend!" Angie’s Dreamy Reads
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Seitenzahl: 375
KATY EVANS
Womanizer
Wenn ich dich liebe
Roman
Ins Deutsche übertragen von Hans Link
Olivia Roth ist jung, selbstbewusst und zielstrebig. Als sie ihr Praktikum bei Carma Inc. beginnt, will sie nur eins: So viel Erfahrung wie möglich sammeln, um danach in ihren Heimatort zurückzukehren. Sie möchte ihr eigenes Unternehmen gründen, um damit kleine Firmen vor dem Konkurs zu retten. An ihrem ersten Tag bei Carma Inc. lernt sie auf der Dachterrasse der Firma einen geheimnisvollen Fremden kennen. Sie fühlt sich vom ersten Moment an zu ihm hingezogen und verbringt eine heiße Nacht mit ihm. Als sie am nächsten Morgen aufwacht und herausfindet, dass der Fremde Callan Carmichael ist, CEO der Firma und bester Freund ihres Bruders, gerät ihre Welt völlig durcheinander. Denn Callan ist nicht nur ihr Chef, sondern auch ein Frauenheld. Mehr als einmal wurde Olivia gewarnt, sich nicht von ihm das Herz brechen zu lassen. Sie weiß, sie muss sich von ihm fernhalten. Doch die Anziehung zwischen den beiden ist stärker als alles, was Olivia bisher erlebt hat. So sehr sie auch versucht sich auf ihre Karriere zu konzentrieren – sie kann nicht aufhören an Callan und die gemeinsame Nacht zu denken. Ist Olivia bereit, für einen Mann all ihre Pläne aufs Spiel zu setzen?
Gewidmet allen ungeplanten Dingen im Leben
»I Lived« von OneRepublic
»All You Are« von Bluebox
»TiO« von Zayn
»For Your Entertainment« von Adam Lambert
»Into You« von Ariana Grande
»Lost Stars« von Adam Levine
»Champagne« von Ferras
»Turn the Night Up« von Enrique Iglesias
»Fiction« von Kygo
»You Make the Rain Fall« von Kevin Rudolf
»Here with Me« von Dido
»Put Your Arms Around Me« von Texas
Umzug nach Chicago
Ich schaue aus dem Flugzeugfenster. Unter mir liegt Chicago, für die nächsten drei Monate mein Zuhause.
Farrah und Veronica, meine besten Freundinnen, wollten es mir zuerst gar nicht glauben.
Und sie waren damit nicht die Einzigen. Niemand in ganz Hill Country hat mir geglaubt, nicht einmal der Arbeitgeber meiner Träume, Daniel Radisson, Chef von Radisson Investments in Austin, der meine Bewerbung für ein Praktikum abgelehnt und mir gesagt hatte, ich solle erst anderswo Erfahrungen sammeln und dann, wenn ich bereit sei, mich wieder bei ihm bewerben. Ich bin extra noch einmal bei ihm vorbeigefahren, um ihn wissen zu lassen, dass ich eine Stelle gefunden habe und zurückkommen werde, um für ihn zu arbeiten, sobald mein Praktikum dort beendet ist.
»Sie haben sich selbst bei der größten Firma in Chicago einen Praktikumsplatz besorgt?«, fragte er mich und schüttelte ungläubig den Kopf, während er meine eleganten Pumps, den Minirock, das niedliche kurze, mit Pailletten besetzte Top und meine Umhängetasche musterte.
Angesichts seiner Skepsis konnte ich nur knapp verhindern, hinter dem Rücken zwei Finger zu kreuzen, um ungestraft ein wenig lügen zu dürfen. Denn ich lüge nicht gern, aber noch weniger gefällt es mir, unterschätzt zu werden.
Gut, es war mein Bruder, der mir diese Stelle verschafft hat, aber nun ist es an mir, sie auch zu behalten und mich aus eigener Kraft nach oben zu arbeiten. Keine Gefälligkeiten mehr von irgendwem. Eines Tages werde ich mein eigenes Unternehmen haben und Menschen helfen, ihre Träume zu verwirklichen.
»Mein Bruder ist mit dem Chef befreundet, und sie haben mir gerne einen Praktikumsplatz angeboten«, erklärte ich – was mehr oder weniger auch der Wahrheit entsprach. Tatsächlich hatte Tahoe nur gemeint: Habe mit Carmichael geredet. Schick sämtlichen Papierkram an diese E-Mail-Adresse. Du fängst in der ersten Juniwoche an.
»Anbieten« kam in seinen Worten nicht vor, aber wenn sein Freund zugestimmt hat, kann ich ja wohl davon ausgehen, dass er sich gefreut hat, mich in der Firma zu haben.
Zumindest jedenfalls bin ich froh.
Ich bin mein Leben lang unterschätzt worden. Als Geschenk zu meinem achtzehnten Geburtstag hat mich mein Bruder für den Sommer nach Frankreich geschickt, und alles, was ich am Ende sagen konnte, war »Oui«. Eine Riesenenttäuschung für meine Eltern, die sich gewünscht hatten, ich würde als eine durch und durch kultivierte, französisch sprechende Dame zurückkommen. Okay, es mag also sein, dass ich mir Fremdsprachen nicht gerade mühelos aneigne. Doch das ist kein Weltuntergang. Ich bin Diplomkauffrau, und ich habe große Träume.
Also gehe ich in der letzten Maiwoche das große Wagnis an: Alles ist fertig gepackt, ich werfe noch einen letzten sehnsüchtigen Blick in das Zimmer, in dem ich den größten Teil meiner Teenagerjahre und meines bisherigen Erwachsenenlebens verbracht habe. Dann verlasse ich nicht nur mein Zuhause, sondern werde tatsächlich – ich habe dem beharrlichen Drängen meines Bruders nachgegeben, mir seinen Jet zu schicken – in die Windy City nach Chicago fliegen.
Es sind Tränen geflossen, als meine Eltern mein Gepäck in den Kofferraum des Familien-SUV schoben, und noch mehr Tränen, als wir den Flughafen erreichten.
Die meisten kamen definitiv von mir. Ich bin nun mal sehr nahe am Wasser gebaut, also keine voreiligen Schlüsse bitte.
Das bedeutet nicht, dass ich nicht auch knallhart sein kann. Ulysses Harrison kann das gern bezeugen: Für seinen Versuch, meine gerade erst wachsenden Brüste zu betatschen, hat er von mir einen Tritt in die Eier bekommen.
Ich umarmte meine Mom und meinen Dad und atmete zuerst den Zimt- und Apfelduft meiner Mom ein, um dann eine ordentliche Nase voll vom »Old Spice«-Aftershave meines Dads zu nehmen. Nachdem ich die beiden widerwillig losgelassen hatte, stieg ich die Treppe zum luxuriösen Privatjet meines Bruders hinauf. Von der obersten Treppenstufe winkte ich ihnen noch einmal zu, und sie winkten zurück, einen Arm um die Hüfte des anderen gelegt, während sie mir mit dem anderen zugewunken haben. Mein Dad lächelte und hatte sein »Ich lass mir nichts anmerken, aber ich bin doch mächtig bewegt«-Gesicht aufgesetzt. Meine Mom hatte sich eine Sonnenbrille über die Nase geschoben, damit ich nicht sehen konnte, ob sie noch immer weinte oder nicht.
Der Pilot verschloss die Tür, und ich ließ mich auf einem Sitz in der Nähe der Tragflächen nieder, damit sich bei mir nicht das Gefühl einstellte, es ist nichts mehr unter mir. Eine Art zwangsneurotische Selbsttäuschung, nur damit ich mich überhaupt dazu zwingen kann zu fliegen.
Die Flugzeugmotoren heulten auf, und ich lehnte mich zurück, schloss den Flug über die Augen und drehte den Ring an meiner linken Hand wieder und wieder.
Höhe und ich … sagen wir einfach, wir passen nicht so recht zusammen.
Mein Bruder hat mich früher einmal aus großer Höhe gerettet, und er ist der Einzige, bei dem ich mich sicher fühle. Ich würde lieber sterben, als in einer Linienmaschine zu fliegen. Aber das hier war sein Privatflugzeug. Und als ich mitten im Flug die Augen öffnete, sah ich auf einem der Sitze vor mir eine Nachricht. Sie lautete: Halt einfach durch. Es ist gleich wieder vorbei.
Ich musste lachen, und jetzt lande ich auch schon gleich wieder, und dabei höre ich Musik. Um mich abzulenken entscheide mich für den Song »I lived« im Wiederholungsmodus, als das Flugzeug endlich in Chicago aufsetzt. Meinem Zuhause für die nächsten drei Monate und Ort des Praktikums, das der erste Schritt zu vielen, vielen weiteren sein wird, die ich schaffen muss, damit meine Karriereträume wahr werden.
Mein Bruder Tahoe und seine Freundin holen mich in einem sehr schmutzigen Rolls-Royce Ghost vom Flughafen ab. Mein Bruder mag zwar schöne Dinge, aber er nutzt sie ohne Rücksicht auf Verluste. Ich dagegen? Ich lagere meine Lieblingshandtasche ausgestopft mit Füllmaterial, bewahre sie doppelt in Tüten gehüllt in einer Kiste auf und benutze sie nur selten – aus Angst, sie zu zerkratzen. Tahoe sind seine Besitztümer egal, er macht sich nicht einmal die Mühe, sein Dreihunderttausend-Dollar-Auto von jemandem waschen zu lassen.
Wir erreichen einen wunderschönen Wolkenkratzer im zentralen Stadtteil Loop und fahren mit dem Aufzug nach oben.
Sobald wir in die Fahrstuhlkabine eingestiegen sind, küsst er mich auf die Wange.
»Geh nicht in die Clubs, Liv«, flüstert Tahoe. Eine Warnung.
»Lass sie in Ruhe, du alter Fiesling«, verteidigt mich seine Freundin.
So, wie mein Bruder groß, blond und etwas ungeschlacht ist, ist seine Freundin Regina kurvenreich, dunkelhaarig und sinnlich.
Er drückt sie an sich und küsst sie schweigend, ein dicker Schmatz, der sie aufstöhnen lässt, als gefalle es ihr nicht. Aber sie errötet, also gefällt es ihr offensichtlich doch. »Ich bin ihr großer Bruder, es ist mein Aufgabe, sie nicht in Ruhe zu lassen.« Er grinst sie an, jenen speziellen Ausdruck in den Augen, der dort nur dann auftaucht, wenn er sie ansieht. Dann mustert er mich mit ernstem Blick. »Wirklich, geh nicht in die Clubs.«
Ich stöhne. »Ich habe kein Interesse an Clubs, okay? Ich bin hergekommen, um zu arbeiten. Außerdem habe ich sieben Jahre Texas überlebt, ohne dass du meine nächtlichen Aktivitäten überwacht hättest.«
Aber die Wahrheit ist: Ich liebe meinen Bruder. Er ist ein wenig grob und kantig, aber er meint es gut. Ich liebe meine Familie, und ich will, dass sie stolz auf mich ist.
»Gut. Carmichael tut mir damit einen persönlichen Gefallen«, erklärt er, als wir auf meinem Stockwerk aussteigen.
»Wie nett von dir, mich daran zu erinnern, dass mir die Fähigkeiten fehlen, um mir selbst einen Praktikumsplatz zu beschaffen.«
»In einem der fünfhundert umsatzstärksten Unternehmen des Landes? Schwesterherz, du bist gut …«
Ich runzele die Stirn. »Aber nicht so gut?«
Er sieht mich mit seinem typischen Feixen an, dann zaust er mir das Haar. »Du bist gut. Sorg dafür, dass ich stolz auf dich sein kann, okay?« Er drückt mein Kinn nach oben.
Ich nicke.
Callan Carmichael. Ich kenne ihn nicht, obwohl er anscheinend ein enger Freund meines Bruders ist. Als mein Bruder nach Chicago gezogen ist, hat er mir jedes Mal, wenn ich zu Besuch gekommen bin, gesagt, ich solle mich von seinen Freunden fern halten. Jetzt bin ich alt genug, um in einer ihrer Firmen zu arbeiten – Carma Inc. Für den Besitzer und Chef persönlich. Carma ist ein Konglomerat aus über zehn riesigen, Milliarden Dollar schweren Firmen aus den Bereichen Medien und Immobilien. Weltweite Investitionen und Firmenübernahmen sind Carmichaels Spezialität. Er ist unerbittlich. Ich stehe nicht auf Klatsch, erst recht nicht auf den Klatsch einer Stadt, in der ich bis vor einer Stunde noch nie gelebt habe, aber ich weiß, dass man in Chicago mit einer Spur Angst in der Stimme über ihn spricht. Carma Inc. bedeutet seit Jahrzehnten sehr schlechtes Karma für Unternehmen mit schlechter Geschäftsführung.
Nun gut, es wird Zeit für mich, Herrin über mein eigenes Karma zu werden, und ich atme tief durch, als ich nun vor meiner Wohnungstür stehe.
Ich mag meinem Bruder erlaubt haben, mir seinen Jet zu schicken, aber als er auch noch meinte, er wolle für mich eine Wohnung in seinem Gebäude mieten, habe ich mich quergestellt. Schließlich geht es hier um meine Unabhängigkeit. Also haben wir, als ich in der Nähe meiner Arbeitsstelle nichts Bezahlbares hatte finden können, einen Kompromiss geschlossen.
Ich werde Wohnung und Mietvertrag seiner Freundin übernehmen, da sie inzwischen ohnehin fast schon bei Tahoe lebt.
Tahoes Freund Will Blackstone besitzt ein Gebäude in bester Lage im Loop, das er abreißen will, um neue Wohnkomplexe zu schaffen. Der Genehmigungsprozess ist noch immer im Gang, und die ganze Sache könnte sich noch eine Weile hinziehen, und darum hat Gina in der Zwischenzeit für sich eine große Wohnung zu einem unglaublichen Preis gemietet, die aber die meiste Zeit leer steht. Sie hat immer noch einige ihrer Sachen hier stehen, aber alles, was sie wirklich braucht, hat sie bei Tahoe. Die Wohnung wird für die nächsten Monate mir gehören.
Und nun bin ich plötzlich hier, und die Aufregung packt mich, als ich mich jetzt daranmache, mit meinem brandneuen Schlüssel zum ersten Mal meine brandneue Wohnung aufzuschließen.
»Hast du vor, diese Tür heute noch zu öffnen, Schwesterchen?«, fragt Tahoe, die Schulter an die Wand gelehnt, während er nicht gerade sonderlich geduldig wartet.
»Gib mir eine Sekunde Zeit! Lass mich diesen Moment genießen!«, protestiere ich.
Meine Hand zittert ein wenig, und es entgeht meinem Bruder nicht, aber er lässt trotzdem mich die Tür aufschließen.
Schließlich ist es so weit, und ich trete ein.
Es ist eine Wohnung mit einem Schlafzimmer, zwei Bädern und einem begehbaren Kleiderschrank, der so groß wie mein Zimmer zu Hause in Texas ist. Außerdem gehört eine riesige Küche dazu, in der man auch Gäste bewirten kann, sowie ein Wohnzimmer mit einem absolut umwerfenden Blick auf die Stadt und Parkettböden, die einfach phänomenal riechen.
»Ach, ich vermisse diese Wohnung«, sagt Regina mit einem Seufzen.
Tahoe sieht sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich sie lieber mag als deine.« Sie stupst ihn mit der Fußspitze an, und er schenkt ihr ein Grinsen.
Während sie einander schöne Augen machen, trete ich ans Fenster und öffne es. Gina hat mir die Wohnung damit schmackhaft gemacht, dass sie mir erzählt hat, die Luft rieche nach Schokolade, weil in der Nähe eine Schokoladenfabrik ist.
Ich atme tief ein, und die Luft riecht nicht nur nach Schokolade, sie schmeckt auch so.
Ich lasse den Blick über die benachbarten Gebäude wandern und kann gar nicht glauben, dass ich wirklich hier bin. Ich kneife mich ein wenig, und ich spüre den Schmerz. Es ist real!
Die Bauten im Umkreis sind wunderschön, die Straßen sauber. Wir machen noch einen kurzen Abstecher nach unten, um mein ganzes Gepäck heraufzubringen.
Im Schrank hat Regina ihre eigenen Sachen auf der einen Seite verstaut, sodass mir nur die Hälfte des Raums zur Verfügung steht, aber selbst diese Schrankhälfte kann ich nicht komplett füllen, so geräumig ist der Schrank.
Ich hänge meine Kleider auf, und im Gegensatz zu meinen texanischen Freunden mag ich es, wenn Wandschränke nicht völlig vollgestopft sind. Wenn du deinen Schrank aufräumst und Überflüssiges aussortierst, hat mir mal jemand gesagt, bleibt Platz für neue Dinge, die in dein Leben treten können. In meinem ist immer gerade genug Platz für etwas Neues. Um was es sich dabei handelt, weiß ich nicht. Aber irgendetwas eben.
Gina hilft mir beim Auspacken, und mein Bruder holt für uns etwas vom Chinesen für ein spätes Mittagessen, und als sie dann gehen, um sich für irgendein vornehmes Dinner fertig zu machen, an dem sie teilnehmen müssen, sehe ich mich in der Wohnung um und kann gar nicht glauben, dass das hier mein erstes eigenes Zuhause ist.
Es ist ein etwas seltsames Gefühl, meine Eltern nicht unten im Erdgeschoss zu hören. Dafür höre ich von draußen die Stadt, die Klänge reger Betriebsamkeit und ihres Lebens, und es gefällt mir.
Die Wohnzimmerausstattung ergänze ich um genau ein Kissen, das ich von zu Hause mitgebracht habe. Es ist mit einer kleinen bunten Krone verziert und darauf steht gestickt:
KÖNIGIN VON VERDAMMT NOCH MAL ALLEM.
Meine Großmutter hat mir dieses Kissen geschenkt. Wenn es jemals eine Königin in Texas gegeben hat, dann ist sie es.
Mit zweiundachtzig ist sie immer noch die coolste Oma, die ich kenne. Meine Omi ist mit ihrem makellosem weißem Haar und den vielen Kraftausdrücken, die das Vokabular jedes Bierkutschers in den Schatten stellen, meine eigene Betty White, Hauptdarstellerin aus der Serie Golden Girls.
Das Einzige, was Gina zu kaufen versäumt hat, sind ein paar Hocker für die Kücheninsel. Da ich lernen will, allein von meinem Lohn zu leben, und vorhabe, unnötige Ausgaben zu vermeiden, werde ich einfach den Schreibtischstuhl mit einem kleinen Kissen darauf an den Tisch ziehen, wenn ich dort eine Sitzgelegenheit brauche.
Ich mache mein Bett und positioniere die gerahmten Fotos von Tahoe, Mom, Dad und mir auf dem Nachttisch. Dann mühe ich mich schnaufend und keuchend damit ab, meine Koffer auf das oberste Schrankregal zu wuchten, damit sie keinen Platz auf dem Boden wegnehmen.
In dieser Nacht schlafe ich zum ersten Mal in meinem Leben in einer Wohnung, die ich ganz allein für mich habe.
Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gefällt.
Noch nicht.
Am Sonntag habe ich den Kleiderschrank fertig eingeräumt und packe mir meine brandneue Aktentasche – ein Geschenk meiner stolzen Eltern.
Ein Mädchen von zweiundzwanzig Jahren hat Texas verlassen, und morgen früh wird sie eine erwachsene, unabhängige Frau sein. Ich bin bereit. Ich habe eine Menge zu beweisen, vor allem mir selbst. Und ich bin hier, um zu lernen, wie man bei den ganz großen Jungs oben an der Spitze mitspielt.
Ich fülle die Aktentasche aus schwarzem Leder mit allen möglichen Dingen wie Post-its, Kugelschreibern und Bleistiften, das ganze Programm. Außerdem gehe ich einkaufen, um sicherzustellen, dass ich das perfekte Outfit habe. Offenbar gibt es beim Chef einen Dresscode. Und so lege ich mir die entsprechende Uniform zu: Sachen in Schwarz, Weiß und Grau, wie sie von allen Angestellten bei Carma Inc. erwartet werden.
Als ich nach Hause komme, erwarten mich Popcorntüten und ein Zettel.
Du kannst dich nicht als Bürgerin von Chicago bezeichnen, solange du die hier noch nicht probiert hast.
Dein Lieblingsbruder
Ich schreibe ihm eine Textnachricht:
Ich: Du bist mein einziger Bruder, Schwachkopf.
T. R.: Nur deshalb kann ich dein Lieblingsbruder sein.
Ich: Grüß Gina von mir. Ich geh heute früh ins Bett. MORGEN IST EIN GROSSER TAG!
T. R.: Es wird nun drei Monate lang jeder Tag ein großer Tag sein, mein Schatz. Carmichael ist in allem, außer dem Geschäftlichen, ein verdammt cooler Knochen. Sei also vorgewarnt.
Ich: Herausforderung angenommen.
T. R.: Wenn du kneifen willst, kannst du dein Praktikum auch bei mir machen.
Ich: Bei meinem Lieblingsbruder? Damit er mir Zeit gibt, mir die Nägel zu feilen und bei der Arbeit Reality-TV zu schauen? Nein danke, da verdiene ich mir meine Stellung lieber selbst.
T. R.: Okay. Lass es mich wissen, wenn du es vermisst, eine Prinzessin zu sein, und ich werde sehen, was ich tun kann.
Ich: Versprochen.
T. R.: Da wir schon vom Teufel sprechen: Ich gehe heute Abend mit deinem Boss Abendessen.
Ich: Bitte, sprich nicht über mich, ich habe dir gesagt, dass ich keine Sonderbehandlung will, nur weil ich deine Schwester bin.
T. R.: Und das habe ich schon beim ersten Mal verstanden.
Ich: Okay, versprich es mir!
T. R.: Schwesterherz, ob du es glaubst oder nicht, wir haben noch andere Gesprächsthemen als dich.
Ich: Wirklich? Dann hör auf, mir auf die Nerven zu gehen. Es ist alles gut bei mir! Sogar Bestens. Du brauchst mich nicht zu beglucken, dafür gibt es Mom.
T. R.: Ich denke, wir sind jetzt fertig. Ruf Regina oder mich an, falls du irgendetwas brauchst.
Ich: Falls ich eure Telefonnummern nicht verliere.
T. R.: HA!
Mir fällt ein, dass Gina einen Schlüssel zur Wohnung hat, also muss wohl sie das Popcorn für mich dagelassen haben. Ich genehmige mir das Garrett-Mix-Popcorn zum Abendessen und stöhne die ganze Zeit über genussvoll, selbst noch, als ich mir die Überbleibsel von den Fingerspitzen lecke, dann schlendere ich in mein Schlafzimmer und bin überrascht, einen kleinen Korb mit Kondomen auf dem Bett zu finden.
Liv, erzähl Tahoe nicht, dass ich dir die hiergelassen habe. Ich will nur sichergehen, dass du in allem klug handelst.
Liebe Grüße, Gina
Ich lache und schaue all die Kondome mit verschiedenen Aromen durch, alle im Format extragroß. Ich frage mich nicht einmal, warum Gina wohl gemeint hat, dass das die gängigste Größe sei, wo ich mir doch ziemlich sicher bin, dass dem nicht so ist, aber okay. Ich verstecke den Korb hinter einem meiner gerahmten Bilder auf dem unteren Regal des Nachttisches und rufe dann meine Eltern an, um ihnen endlich Bericht zu erstatten und ihnen mitzuteilen, dass ich mich wohnlich eingerichtet habe.
»Alles in Ordnung bei dir dort drüben, Olivia? Hat dein Bruder dir geholfen, dich einzuleben?«
»Und wie, Mom. Noch mehr Hilfe, und er und Gina könnten gleich bei mir einziehen.« Ich stöhne, aber ich lache auch, so dankbar bin ich, eine Familie zu haben, die mich liebt und mich unterstützt. Ich weiß, dass niemand es besser mit mir meint als meine Familie. Ich liebe sie, und ich will, dass sie stolz auf mich ist.
Der erste Tag
Ich wache auf, noch bevor der Wecker klingelt, so nervös bin ich.
Nicht nur, weil mich meine erste offizielle Beschäftigung erwartet, sondern auch wegen der Gesellschaft, für die ich arbeiten werde. Ich weiß, dass die Erfahrung bei Carma mir einen Vorteil verschaffen wird, wenn ich zu Radisson Investments zurückkehre und auch, wenn ich später meine eigene Firma gründe. Indem ich von der knallhärtesten der auf Unternehmensübernahmen spezialisierten Firmen im Land lerne, erfahre ich mehr über die schmutzigen Spielchen, die solche Firmen spielen – damit ich lerne, wie man sie aufhalten und die Unternehmen schützen kann, die ich zu retten versuche. Aber obwohl ich entschlossen bin, so viel wie möglich zu lernen, weiß ich, dass ich sicherstellen muss, Carma in drei Monaten wieder zu verlassen, ohne meine Seele verloren zu haben.
Ich will nicht, dass die Erfahrung mich skrupellos macht – wie es angeblich allen ergeht, die bei Carma arbeiten.
Und doch kleide ich mich entsprechend. Schicke Geschäftskleidung: Bleistiftrock, dazu ein passender figurbetonter kurzer Blazer. Mein Haar trage ich wieder als tief im Nacken gebundenen Pferdeschwanz. Die Frisur ist elegant und geschmackvoll, und ich mag das Gefühl meines Haars dicht am Hals; es wärmt mich. Ich bin dort sehr empfindlich. Jeder Luftzug an meinem Nacken kitzelt mich. Als Nächstes kommen Pumps und Perlenohrringe. Ich hätte gern noch von ein paar zusätzlichen Accessoires Gebrauch gemacht und zum Beispiel für Pferdeschwanz und Haarknoten Schals und Halstücher benutzt, aber das hier ist nicht mehr das College. Das ist das Leben.
Es ist ein heißer, windiger Tag in Chicago, als ich aus dem Taxi steige und zum Gebäude von Carma Inc. emporschaue.
Sollte der Ruf der Firma noch nicht genügen, um einen einzuschüchtern, dürfte ein Blick auf das Gebäude sein Übriges tun.
Es ragt mit über fünfzig Stockwerken in die Höhe und scheint mich nicht nur regelrecht verschlucken zu wollen, als ich vor seinen beeindruckenden Glastüren auf dem Gehsteig stehe, es nimmt auch in Breite und Tiefe den ganzen Block ein. Sodass für nichts anderes mehr Platz bleibt.
Wow.
Ich kann nicht glauben, dass ich genau hier arbeiten werde.
Heute soll ich zusammen mit einem Dutzend anderer Praktikanten in mein Tätigkeitsfeld eingeführt werden.
Ich atme tief ein und drücke mir meine Aktentasche ein wenig fester an die Brust.
Also schön.
Ich lasse den Arm mit meiner Aktentasche sinken und mache einen Schritt nach vorn, in meine erste offizielle Beschäftigung hinein.
Ich habe Schmetterlinge im Bauch, als ich mit dem Aufzug in mein Stockwerk fahre. In der verspiegelten Kabine sehe ich mich selbst in der geforderten einheitlichen Unternehmenskleidung. Meine Güte, ich wirke ja geradezu verängstigt. Reiß dich zusammen, Livvy! Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn heute schon kennenlernen werde. Oder überhaupt je. Ich will nicht bevorzugt behandelt werden, nur weil mein Bruder mit ihm befreundet ist. Das habe ich Tahoe deutlich gesagt – er wird es also auch Callan Carmichael klar gemacht haben. Ich werde ganz normal arbeiten.
Trotzdem hoffe ich, meine Sache so gut zu machen, dass er irgendwann von mir hören wird. Oh ja, er wird wirklich »froh« darüber sein, mich dabeizuhaben!
Na gut, jetzt muss ich erst einmal den ersten Tag überstehen.
Gott sei Dank werde ich hier nur einen einzigen ersten Tag haben.
Nach nur einem Tag im Unternehmen habe ich bereits von der neuesten Übernahme gehört. Es wurde in der Cafeteria darüber gesprochen sowie in jedem Telefongespräch, das mein Boss an diesem Tag angenommen hat. Man hat mich der Rechercheabteilung zugewiesen, und ich arbeite für Mr Henry Lincoln. Er ist ein freundlicher Mann in mittleren Jahren, der mit seinem glänzenden Glatzkopf und der etwas schroffen Stimme wie ein Historiker wirkt, aber er hat warme Augen, die immer ins Leere zu starren scheinen, als denke er gerade an etwas anderes.
Ich assistiere ihm bei seinen Recherchen. Er ist einer von Carmichaels genialsten Köpfen, und es ist unsere Aufgabe, die Firmen ausfindig zu machen, die unbedingt Carmichaels Aufmerksamkeit verdient haben.
Ich will mich eigentlich nicht auf Übernahmen spezialisieren, sondern vielmehr darauf, Firmen zu finden, die Hilfe brauchen, um dann nach Wegen zu suchen, ihnen diese Hilfe zukommen zu lassen. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es in Hinblick auf dieses zukünftiges Ziel, Firmen aufzubauen, das Beste ist, wenn man weiß, wie Firmen im Allgemeinen demontiert und zerschlagen werden und warum das passiert. Haie wie Carmichael bringen Unternehmen zu Fall und reklamieren sie dann für sich, indem sie jeden einzelnen Firmenzweig unter die Lupe nehmen und nach Schwachstellen suchen. Aber dieses Auffinden der Schwachstellen kann mir auch helfen, Methoden zu entwickeln, sie wieder aufzubauen und zu stärken, bis – voilà – das Unternehmen wieder gesund dasteht.
Einen Großteil des Tages bin ich voll und ganz mit der Frage beschäftigt, ob ich wirklich für diese Arbeit geeignet bin, und gebe mir die größte Mühe, nicht zu versagen. Kaffee, Notizen, Aktenordner, Recherche.
Feindliche Übernahmen, darum dreht sich hier alles. Ich muss Informationen über Marktpositionen recherchieren – ob das Unternehmen, auf das wir aus sind, auch im Dow Jones oder im NASDAQ gelistet ist, Informationen über Investoren, die Firmengeschichte, Kapitalanlagen, Einnahmen und sonstige Geldströme, Betriebskosten – das volle Programm.
Ich habe einen geregelten Arbeitstag von neun bis fünf Uhr, aber heute bleibe ich bis sechs und helfe Mr Lincoln, die Stapel mit den Aktenordnern für die Präsentation mit Carmichael und seinem Vorstand morgen fertig zu machen.
Ich bringe gerade die letzten Kopien aus dem Kopierraum im zweiten Stockwerk, zusammen mit Lincolns fünftem Kaffee, um alles auf seinem Schreibtisch abzusetzen – und verschütte seinen Kaffee mitten über meinen vom Dresscode vorgeschriebenen grauen Blazer.
»Mist!«, murmele ich. »Mr Lincoln …«
»Schon gut. Macht nichts. Wir sind sowieso fast fertig. Gehen Sie einfach nach Hause. Ziehen Sie sich die nasse Jacke aus. Passen Sie nur auf, sich nicht ohne blicken zu lassen.«
Im Nu habe ich mir den Blazer vom Leib gerissen.
»Ich sage Ihnen, gehen Sie«, bekräftigt er. Er scheucht mich mit einer Handbewegung weg und fährt fort, seine Akten zu sortieren.
Und ich gehe auch, aber nicht ohne ihm vorher die Kaffeetasse wieder aufgefüllt und an den Schreibtisch zurückgebracht zu haben. »Es tut mir leid«, entschuldige ich mich.
»Hören Sie auf, sich zu entschuldigen – Sie leisten weit mehr als je irgendein Praktikant an seinem ersten Tag geschafft hat. Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus«, wiederholt er, jetzt freundlicher, als er sieht, dass ich ihm neuen Kaffee gebracht habe.
Ich nicke und mache mich auf den Weg zu den Aufzügen, den Blazer über dem Arm zusammengefaltet. Drei Aufzüge halten auf meinem Stockwerk, und alle sind sie überfüllt von Mitarbeitern, die Feierabend machen. Jeder Einzelne von ihnen starrt die befleckte Jacke an, die ich über dem Arm trage.
Gott!
Werde ich in die Geschichte eingehen als diejenige Praktikantin, die es gleich am ersten Tag komplett vermasselt hat?
Ich drücke auf den AUFWÄRTS-Pfeil und stelle fest, dass der Aufzug, der nach oben fährt, vollkommen leer ist.
Ich steige ein und atme tief aus, versuche, mich wieder zu sammeln. Ich werde mit dem Heimgehen warten, bis alle anderen weg sind.
Ich verlasse den Aufzug und trete auf eine herrliche Dachterrasse hinaus.
Mir stockt der Atem, als ich etwas entdecke.
Eine dunkle Gestalt am anderen Ende, die sich an das Geländer lehnt.
Der Mann trägt ein weißes Hemd, eine schwarze Hose und hat sich die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Ich sehe die Konturen seiner Rückenmuskeln und seine schmale Taille, um die sich ein eleganter schwarzer Gürtel legt, und seinen Hintern.
Er steht mit dem Rücken zu mir. Es ist ein wirklich beeindruckender Hintern.
Eine Zigarette hängt ihm im Mundwinkel. Ich bin keine Raucherin, aber plötzlich wäre ich gern eine.
Er wirkt so entspannt und absolut obenauf; plötzlich wünsche ich mir, mich genauso zu fühlen – mit ihm zusammen.
»Wäre es sehr schrecklich von mir, zu fragen, ob ich auch einmal ziehen dürfte?« Ich mache einen Schritt auf ihn zu.
Er dreht sich nicht um, sieht mich nicht an. Er scheint nicht überrascht, dass ich hier bin. Ich nehme an, er hat den Aufzug bimmeln hören, als ich ausgestiegen bin, und ist es gewohnt, dass andere hier heraufkommen.
Er streckt einfach nur stumm die Hand aus. Sein Unterarm ist muskulös; vielleicht treibt er Sport.
Ich gehe zu ihm. »Es ist mein erster Tag hier.«
»Tun Sie, als sei es ein Tag wie jeder andere, dann werden Sie bestens zurechtkommen.«
Seine tiefe Stimme geht mir durch und durch. Ich nehme ihm die Zigarette aus den Fingern, führe sie an die Lippen, inhaliere und atme den Rauch wieder aus. Und spüre, dass er mich ansieht. Ich erwidere seinen Blick.
Hübsches braunes Haar mit sonnenhellen Strähnen, und ein Paar Augen von beunruhigender Intensität, unverwandt auf mich gerichtet. Sie sind gesäumt von dunklen, geraden Wimpern, darüber ein Paar dichter, dunkler Brauen. Allmählich beginnt mein Gehirn auch die übrigen Gesichtszüge wahrzunehmen, und ich kann gar nicht glauben, dass etwas im gleichen Moment so männlich und so perfekt sein kann. Glatte Stirn, elegant geschwungene Nase und markanter Mund, scharf geschnittenes, einfach vollendetes Kinn, winzige Bartstoppeln darauf – aber nicht viele – und Lippen, die mir aus irgendeinem Grund meine eigenen Lippen sehr bewusst werden lassen.
Ich starre ihn an.
Gaff ihn nicht so an.
»Ich … ähm …«
Sie beginnen zu tanzen, diese Augen.
»Wollen Sie sich vielleicht eine anzünden?« Seine Stimme ist noch tiefer und rauer als zuvor.
»Was?«
Er deutet auf die fast abgebrannte Zigarette, greift in die Innentasche seines Hemdes, um ein Päckchen hervorzuziehen, und schnippt es mit einer knappen Bewegung auf.
Es freut mich ungemein, jemanden anderen kennenzulernen, der nicht mein Bruder oder dessen Freundin ist. Mit dem hier werde ich mich ganz allein anfreunden.
Ich nicke, habe aber Angst, die Hand auszustrecken. Er nimmt die Zigarette zwischen die Lippen, zündet sie an, zieht daran und reicht sie mir. Während er mich mit schimmernden Augen beobachtet, bläst er langsam eine Rauchwolke aus und lässt sie emporsteigen.
Ich greife nach der Zigarette, stecke sie mir zwischen die Lippen und nehme einen tiefen Zug. Dann atme ich den Rauch langsam wieder aus. »Danke.« Ich bleibe an Ort und Stelle stehen. »Ich leide unter Höhenangst.«
Er bewegt die Schultern, dreht sich um und mustert mich neugierig. »Warum sind Sie dann hier oben, außer vielleicht aus Masochismus?« Er verzieht die Lippen ein klein wenig.
Ich tu es ihm nach. »Meine Höhenangst rückt meine anderen Ängste in die richtige Perspektive. Wenn alles verrückt geworden zu sein scheint, halte ich Ausschau nach dem höchsten Punkt, den ich finden kann, und plötzlich erscheint mir alles andere nicht mehr so schlimm. Es wirkt alles kleiner.«
Er schenkt mir ein Lächeln, das unerwarteterweise meinen Puls rasen lässt, als er sich die Zigarette aus meinen Lippen schnappt, sie in dem Standaschenbecher neben sich ausdrückt und sagt: »Kommen Sie her. Keine Sorge, ich werde Sie nicht fallen lassen.«
Ich zögere.
Er verstaut das Zigarettenpäckchen in seiner Hose und streckt gelassen, als bedeute es gar nichts, die Hand aus, um mich einige Schritte näher ans Geländer zu ziehen. »Sehen Sie? Kein Grund zur Angst.«
Seine angenehm tiefe Stimme sinkt mir wie ein Anker bis in den Bauch und lässt mich am ganzen Leib ein leises Prickeln spüren. Ich erschauere. Und dann wird mir klar, dass dieser Mann, dieser Fremde, mich berührt. Seine Hand liegt auf meiner Hüfte, hat sich um mich gelegt.
Ähm, hallo, sagst du vielleicht einmal etwas, Livvy? Ich bin keine Frau, die einen Mann ohne ein anständiges Date so nahe an sich heranlässt.
Ich winde mich ein wenig. Aber seine Hände sind stark. »Sie können mich loslassen.«
»Kann ich das wirklich?« Seine Augen tanzen noch immer.
»Ja, ähm. Das können Sie.« Ich zittere. Auf seinem Gesicht zeichnet sich erneute Belustigung ab.
Er sieht lächelnd erst auf seine Hand hinunter und dann zu mir auf, wobei der pure Schalk in seinen Augen aufblitzt. »Sind Sie sich sicher?« Er mustert mich, als wolle er sich davon überzeugen, dass ich auch wirklich fest auf dem Boden stehe.
Ich nicke. »Mit mir ist alles okay.«
Er lässt mich los, sieht mich noch einmal mit demselben leicht verwunderten Lächeln an, dann schaut er auf seine Armbanduhr.
»Und ich bin spät dran.«
Ich atme tief aus und nicke. »Ich bleibe noch ein kleines Weilchen hier oben.«
Er zieht sein Zigarettenpäckchen aus der Tasche, legt es oben auf das Geländer, zwinkert mir zu und geht davon.
Ich starre die Zigaretten an. Ich mache einen Schritt, und dann noch einen, und selbst wenn alles, was ich mir je gewünscht habe, dort auf mich warten würde, oben auf diesem Geländer, ich könnte es nicht erreichen, wie sehr ich es auch wollte.
Heißer Raucher
Am nächsten Tag nehme ich mir fest vor, nicht wieder auf die Dachterrasse zu gehen. Doch bevor ich mich nach getaner Arbeit auf den Heimweg mache, stehe ich plötzlich wieder im Aufzug nach oben. Es ist nicht die Terrasse, die mich so neugierig gemacht hat, dass ich unaufhörlich daran denken muss.
Es ist dieser Typ, der heiße Raucher.
Ich bin keine Frau, die viel über Männer nachdenkt. Ich habe während meiner gesamten Zeit am College kaum einen Gedanken an Männer verschwendet, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt war, irgendwie meinen Abschluss hinzukriegen. Also ist meine jetzige Neugier eine Art Premiere und vielleicht auch ein klein wenig beunruhigend.
Er trägt heute ein blaues Poloshirt. Es ist mutig von ihm, dass es ihn überhaupt nicht zu kümmern scheint, dass er gefeuert werden könnte, weil er nicht die erforderliche schwarz-weiße oder graue Einheitskleidung trägt, wie alle anderen in der Firma. Er ist bestimmt so was wie der Postbote.
»Sie scheinen sich auch nicht um den Dresscode zu kümmern, was?«, bemerke ich.
Er zieht eine Braue hoch, offenbar amüsiert ihn mein beifälliger Tonfall.
»Sie tragen heute ein Poloshirt, und gestern hatten Sie kein Jackett an.«
Es scheint unmöglich, aber seine Augen beginnen, noch stärker zu funkeln. »Sie wissen wohl alles über meine Kleidungsgewohnheiten?«
Er wirkt darüber belustigt und entzückt, und aus irgendeinem Grund lässt mich das erröten.
Er dreht den Stuhl um, sitzt vor mir, die Arme über die Rückenlehne gelehnt. »Wo liegt denn das Problem bei dem Dresscode? Ich finde, Ihnen steht er sehr gut.«
Ich verdrehe die Augen.
Er lacht mich aus.
»Er ist langweilig, das ist es, was mich stört.« Ich mache eine Handbewegung zu ihm und seiner Scheißegal-Haltung. »Ich wünschte, ich hätte die Eier, wie Sie sie haben.«
»Wo genau hätten Sie meine Eier denn gern?«
Ich lache, dann erröte ich. Oh Gott.
Er lacht ebenfalls. »Tut mir leid, das war völlig daneben«, entschuldigt er sich und rutscht auf seinem Stuhl nach vorn. »Ich konnte einfach nicht widerstehen.«
»Wissen Sie was? Das sollten Sie aber«, erwidere ich mit leicht gerunzelter Stirn. »Glauben Sie denn, irgendeine Frau lässt sich mit solch albernen Possen herumkriegen?«
»Sie würden staunen, wie viele Frauen sich durch meine … Possen herumkriegen lassen.«
Ich mustere ihn zweifelnd. »Na, wenn Sie es sagen.« Er hat Charme, und dieses Gesicht bringt ihm sicher viele Vorteile, aber der Typ scheint auch bereits ein gewaltiges Ego zu haben, daher werde ich mich hüten, es noch weiter aufzublähen. »Und ich meinte damit den Mumm, nicht die … geforderte Kleidung zu tragen. Wie kommen Sie damit durch?«
»Meine speziellen Possen schließen mit ein, dass mir mein Charme an der Pforte vorbeihilft.«
»Es würde helfen, wenn die Leute an der Pforte Männer wären und vielleicht ich bei ihnen meinen Charme spielen lassen könnte.«
Er mustert mich. »Darauf würde ich wetten.«
»Ich meine das ernst. Perfektionistisch zu sein ist schließlich etwas völlig anderes, als pedantisch zu sein. Also wirklich!« Ich seufze. »Aber es ist nun mal so, dass ich meinen Bruder nicht enttäuschen will. Er hat mir die Stelle hier verschafft. Doch jetzt ist es an mir, sie auch zu behalten.«
Er legt die Stirn in Falten und sieht mich plötzlich prüfend an.
Als habe er gerade etwas das ganze Leben Umwälzendes begriffen.
Ich frage mich, ob er den Ehrgeiz hat, mehr als nur der Postbote der Firma zu sein. Er verströmt nicht gerade die Aura eines Menschen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als die Karriereleiter hinaufzuklettern.
Ich bin so sehr damit beschäftigt, darüber nachzugrübeln, dass ich nicht bemerke, wie er nachdenklich die Stirn runzelt und auf seine Zigarette hinabschaut. Er lacht leise, ein Laut, der mehr ihm selbst gilt als mir, dann erhebt er sich von seinem Stuhl, tritt einen Schritt zurück und sagt: »Schönen Abend noch.«
Er schnappt sich sein Jackett, sein Handy, seine Schlüssel und geht.
Habe ich etwas Falsches gesagt?
Am nächsten Tag entdecke ich ihn im Aufzug.
Die Mitarbeiterin, die mit uns einsteigt, bemerkt ihn ebenfalls, und sobald sie ihn sieht, richtet sie sich blitzschnell kerzengerade auf. Es überrascht mich, dass sie sich nicht auch das Haar richtet, obwohl ich ihr nicht den geringsten Vorwurf mache. Ich unterdrücke ebenfalls den Drang, mich zurechtzumachen. Sie nickt ihm höflich zu, während wir zu unseren jeweiligen Stockwerken hinauffahren. Heißer Raucher nickt zurück und sieht dann mich an. Er nickt nicht. Starrt nur. Ich lächele. Sie steigt aus, und wir sind allein.
Ich bin beeindruckt, dass mein Postbote ohne Ehrgeiz den besten Anzug hervorgekramt hat, den er besitzt, tiefschwarz und dazu eine Krawatte, die schlicht der Wahnsinn ist. Niemand würde hier eine rote Krawatte tragen, es sei denn, er geht zu einem Vorstellungsgespräch, ansonsten müssen die Krawatten entweder silberfarben oder schwarz sein.
»Sie sehen toll aus! Sind Sie auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch?«, frage ich, nun da wir allein sind. »Sie haben Ihren besten Anzug hervorgekramt.«
Er beginnt zu lachen, dann reibt er sich mit der Hand das Gesicht und schüttelt den Kopf.
»Wir passen zusammen.« Ich deute auf das rote Tuch, das ich als Haarband trage, meine einzige kleine Rebellion gegen den Dresscode.
»Ja, in dem Punkt muss ich etwas unternehmen«, antwortet er, streckt die Hand aus, zieht mir das Tuch heraus und steckt es sich in die Tasche. Einfach so. Dann verschränkt er lässig die Arme vor der Brust und schaut auf die immer höher kletternden Zahlen auf der Anzeige des Aufzugs.
Er legt den Kopf schräg, um mich zu mustern, und es entgeht mir nicht, wie sein Blick zu meinen Schultern wandert und zu meinem nun offenen herabfallenden Haar. Mir verschlägt es den Atem.
Ich betrachte mein Spiegelbild in der Aufzugstür. Blond und blauäugig, hellhäutig. Ich sehe klein und schwach aus, und er wirkt in diesem dummen Anzug groß und heiß.
»Werden Sie heute Nachmittag oben auf der Terrasse sein?«, platzt es aus mir heraus.
Er zieht überrascht die Brauen hoch, dann lässt er seinen Blick wieder über mein Haar gleiten, langsam und gründlich.
Es kommt mir vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, als er endlich antwortet. Seine Stimme ist ruhig und gelassen, während sein Blick es überhaupt nicht ist. »Ich werde Ihnen meine Zigaretten dalassen, was halten Sie davon?«
»Ach nein, es geht mir nicht um die Zigaretten. Ich rauche ja nicht einmal, nicht richtig. Ich meine nur … nun ja, ich habe hier wirklich nicht viele Bekannte. Es gefällt mir, wenn wir zusammen auf der Terrasse eine Zigarette rauchen.«
In seine Augen tritt ein leicht zärtlicher Ausdruck, aber sein herrlicher Mund schweigt.
Gott sei Dank ist nun endlich mein Stockwerk an der Reihe.
»Also, tschüss.« Ich winke lächelnd, steige mit linkischen Bewegungen aus und zwinge mich, nicht zurückzuschauen. Mist. Verdammt. Verdammte Mistscheiße! Ich fluche vor mich hin, spüre, wie mir die Röte in die Wangen kriecht, und frage mich, warum es mir so viel ausmacht, dass er nicht Ja gesagt hat.
Letzten Endes tauche ich dann doch oben auf.
Und frage mich immer noch, warum er mich überhaupt interessiert. Das Letzte, was ich will, ist ein Mann. Ja, ich trage sogar absichtlich den kleinen Diamantring, den mir meine Eltern zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt haben, am Ringfinger meiner linken Hand, damit mich die Typen in Ruhe lassen, falls ich jemals in einen Club gehen oder mit einigen der anderen Praktikanten um die Häuser ziehen sollte.
Ich nehme an, ich suche einfach jemanden als Freund. Und mir gefällt seine Energie. Dieses völlig unbefangene Selbstbewusstsein und die männliche Stärke. Es ist etwas, was ich an meinem Bruder bewundere. Er gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Aber dieser Mann ist ein Fremder, daher verstehe ich nicht so recht, warum ich mich danach sehne, mit ihm zu reden, außer vielleicht, weil ich neugierig bin und ein Gefühl prickelnder Erregung verspüre, wenn er in der Nähe ist.
Er steht ganz vorn am Geländer, als ich aus dem Aufzug steige. Mein Herz macht einen kleinen Satz, und ich muss tief Luft holen, um ruhig und gelassen zu wirken, als ich mich zu ihm geselle.
Er sieht mich an, als fordere er mich heraus, nahe an den Abgrund zu treten.
Ich bleibe einige Schritte entfernt stehen und streiche mit der Hand über den Saum meiner schwarzen Jacke. Sein Blick bleibt an dem Ring an meinem Finger hängen.
»Wer ist der Kerl?«, fragt er beiläufig, während er stirnrunzelnd den Ring betrachtet.
Ich lache und werfe ihm einen grimmigen Blick zu. »Wow. Wo bleiben Ihre albernen Possen? Nicht ›Wer ist der glückliche Kerl‹? Mir ist diese Auslassung nicht entgangen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er glücklich ist oder vielmehr vielleicht schrecklich, schrecklich unglücklich«, gibt er zurück.
Ich spüre den Impuls, einfach den ersten Namen zu nennen, der mir einfällt.
Dann seufze ich.
»Der Ring ist ein Geschenk von meinen Eltern und Zeichen meiner Verpflichtung, fürs Erreichen meiner Ziele einfach alles zu geben.«
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Er bewegt sich, und ich trete einen Schritt zurück.
»Also ist er nicht echt.«
»Der Ring ist keine Fälschung. Es ist ein echter Diamant!«
»Es ist aber kein echter Verlobungsring.«
»Doch, ist er. Ich bin verlobt mit mir selbst.«
Er stopft die Hände in die Taschen und wippt auf den Fersen. »Ahhh, und das sicher doch deshalb, weil sich ja niemand sonst findet, der Sie würde haben wollen?«, fragt er mit todernster Miene.
Ich nicke, ebenfalls todernst. »Tatsächlich ist das genau der Grund. Ich habe auf jedem Teil meines Körpers Unmengen von Sommersprossen und eine Persönlichkeit, die sogar noch schlimmer ist.«
»Schlimmer als Sommersprossen.« Er kratzt sich am Kinn.
»Unmengen von Sommersprossen.«
»Eines Tages werden Sie vielleicht jemanden kennenlernen« – er macht eine Pause, sieht erst den Ring an und dann mich –, »der einen Sommersprossenfetisch hat.« Er lacht. »Und der wird genau erkennen, warum Sie etwas Besonderes sind. Doch könnte dieser Ring ihn dann davon abhalten, auch nur zu versuchen, all die Unmengen von Sommersprossen darunter zu entdecken.«
Ich frage mich, was das wohl für ein Gefühl sein würde. So geliebt zu werden. Auf die gleiche Weise wie mein Bruder Regina liebt. Wie meine Mom und mein Dad einander lieben. »Wenn er ein wenig Konkurrenz nicht aushalten kann und ihn so ein Utensil gleich davon abhält, mich kennenzulernen, dann bin ich nicht interessiert. Er bekommt keine von meinen Sommersprossen.«
Er lächelt leicht, und ich frage mich, was für ein Mensch er wohl ist.
Ob er je geliebt hat, ob er je geliebt worden ist, ob er überhaupt geliebt werden will. Aber wollen wir das nicht alle? Selbst wenn man glaubt, man wolle es nicht, ist da doch dieses Gefühl des Wartens im Hinterkopf, das einen immerzu begleitet. Des Wartens darauf, dass es passiert. Dass man erfährt, wie das ist mit der Liebe, und dass man davon mitgerissen wird.
»Ich glaube, ich hätte jetzt gern eine Zigarette«, erkläre ich errötend.
Ich kann es nicht fassen, dass ich meine große Klappe aufgerissen habe, aber ich wünsche mir so sehr ein echtes Gespräch oder auch ein albernes Gespräch, wünsche mir einfach, ich selbst zu sein, mit jemandem zu reden, der mich nicht verurteilt oder auf mich herabsieht als die unbedeutende kleine Praktikantin, deren Bruder ihr die Stelle verschafft hat.
Er zündet eine Zigarette an, und als ich sie diesmal in den Mund nehme, spüre ich allein bei dem Gedanken daran, dass meine Lippen nun an der gleichen Stelle sind wie zuvor die seinen, tief unten im Bauch ein Pochen.
Der Wind bläst unbarmherzig durch sein hübsches braunes Haar. Er macht den Eindruck, alles unter Kontrolle zu haben, aber auf eine Weise, bei der man sich fragt, was wohl geschieht, wenn all diese Gewalten einmal entfesselt werden.
»Sie haben also einen Bruder«, sagt er.
Ich nicke. »Yup. Er hat mir beigebracht, den Daumen auf den Wasserschlauch zu legen und mit dem Strahl im richtigen Winkel zur Sonne zu zielen, sodass es einen Regenbogen gibt. So albern sind wir gewesen. Auch wenn ich seinen herablassenden Großer-Bruder-Scheiß nicht ausstehen kann. Er wollte, dass ich in seinem Hochhaus eine vornehme Wohnung beziehe. Aber ich habe darauf bestanden, selbst für eine Wohnung zu bezahlen, die ich mir von meinem Gehalt leisten kann.«
Er zieht beeindruckt die Brauen hoch.
»Er hat Geld in einen Fonds für mich eingezahlt, als ich achtzehn geworden bin, aber ich habe es nicht angerührt. Es ist nicht meins. Ich will unter Beweis stellen, dass ich mir meinen Unterhalt selbst verdienen kann … und dann werde ich dieses Geld einer besonderen Verwendung zuführen. Irgendeinem guten Zweck.« Ich zucke die Achseln. »Er macht jede Menge Spenden, aber ich will etwas geben, das von mir kommt, damit ich dort oben Punkte sammeln kann.« Ich zeige gen Himmel.