Work*in Progress -  - E-Book

Work*in Progress E-Book

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Beschreibung

Eine gleichberechtigte Welt für alle? Mal ehrlich: Davon sind wir noch weit entfernt. Laut Weltwirtschaftsforum sollen wir noch über 130 Jahre warten müssen, bis Mann und Frau in unterschiedlichsten Bereichen dieselben Rechte haben. Das ist das eine. Aber was ist mit den Kämpfen anderer marginalisierter Gruppen? Antisemitismus, Ableismus, Klassismus, Queerfeindlichkeit und Rassismus sind allgegenwärtig und eine Abschaffung all dieser Diskriminierungsformen lässt sich vermutlich nicht in eine dreistellige Zahl fassen. Dieser Band ist ein kollektiver Aufbruch! Die Autor*innen sind wütend. Sie stellen unbequeme Fragen, denken über konstruktive Lösungen nach und formulieren Forderungen an die Gesellschaft und die Politik. Ausgehend von ihren eigenen Lebenswirklichkeiten wissen sie genau, worüber sie sprechen. Gerade in Zeiten des anti-emanzipatorischen Backlashs dürfen wir nicht aufgeben. Wir brauchen Menschen, die Mut haben und Menschen, die Mut machen, gemeinsam in eine gerechtere Zukunft aufzubrechen!

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Seitenzahl: 199

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Work*in Progress

19 Stimmen für eine gerechtere Gesellschaft

herausgegeben von

Camille Haldner & Anne-Kathrin Heier

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über portal.dnb.de abrufbar.

Impressum

1. Auflage September 2024

Layout und Satz: Birgit Lonsdorfer

Lektorat/Redaktion: Camille Haldner, Anne-Kathrin Heier, Stefanie Döring, Jacqueline Meyer

Druck und Bindung: HUNTER Books GmbH, Kleyerstraße 3, 64295 Darmstadt

© Klartext Verlag, Essen 2024

ISBN 978-3-8375-2673-8 eISBN 978-3-8375-2675-2

Jakob Funke Medien Beteiligungs GmbH & Co. KG

Jakob-Funke-Platz 1, 45127 Essen

[email protected]

www.klartext-verlag.de

Work*in Progress

19 STIMMEN FÜR EINE GERECHTERE GESELLSCHAFT

herausgegeben von Camille Haldner & Anne-Kathrin Heier

Inhalt

Vorwort Julia Becker

Zusammenhalt und Solidarität Gespräch der Herausgeberinnen über dieses Buch

The Power of RageWarum wir alle mehr Wut zulassen sollten Katharina Rein

Sprechen statt schweigenWie du Betroffene sexualisierterGewalt unterstützen kannst Sara Hassan

Warum die Liebe politisch istWie gesellschaftliche Machtstrukturenunsere intimsten Beziehungen prägen Anne-Kathrin Heier

Verbinden statt spaltenAutoritären Erzählungenetwas entgegensetzen Gilda Sahebi

Angekommen, um zu bleiben?Wie der 7. Oktober mein Selbstverständnisals Frau, Mutter und Jüdinnachhaltig veränderte Linda Rachel Sabiers

Tokenism und ColorismWieso sehen in der Werbungjetzt alle aus wie ich? Gizem Eza

Zwischen Stigma und AlltagLeben mit einer unsichtbaren Behinderung Ylva Tebartz

Reclaim Behinderung!Warum es völlig okay ist, „behindert“ zu sagen Rebecca Maskos

Nicht der Rede wert?Warum gendergerechte Sprache abbildet,was längst gesellschaftliche Realität ist Camille Haldner

Warum muss ich für meinenNamen kämpfen?Bedingungslose Selbstbestimmungals Grundrecht Mona Siegers

(Re)connecting with my RootsVon der Anpassung zurWiederentdeckung meiner Kultur Kantom Azad

Ein Spektrum ist keine SkalaDie Gefahr von Geschlechterklischees beider Diagnostik von ADHS und Autismus Jasmin Dickerson

„Da müssen Sie jetzt leider so durch“Warum Wechseljahre keinTabuthema sein dürfen Fiona Rohde

Fuck the System!Warum der Kita-Notstand für Frauenein Schlag ins Gesicht ist Ann-Kathrin Schöll

Best Friends ForeverWarum echte Freundschaft mehrzählt als die ewige Liebe Tino Amaral

Sieben Jahre und zehn MonateMein Leben mit dem Kinderwunsch Franziska Gärtner

Mut zur VeränderungCare-Arbeit fair-teilen! Yvonne Weiss

I’m a Hustler, Baby!Warum Existenzangst für immer bleibtund wie ein Umgang damit möglich ist Lana Wittig

Glossar

Literatur- und Quellenverzeichnis

Die Autor*innen

Danksagung

Raum für eigene Gedankenund Forderungen

VorwortJulia Becker

Laut sind oft die, die ihre Stimme besser gar nicht erheben sollten. Leise sind zu oft die, die endlich und in aller Konsequenz Gehör finden müssten, aber viel zu häufig ausgebremst und klein gehalten werden: Frauen, Mädchen, Migrant*innen, queere Menschen, Menschen mit Behinderungen, alte Menschen, armutsbetroffene Menschen und rassismusbetroffene Menschen. Denn eines ist klar in diesen Zeiten: Wir erleben die Grenzen der Aufklärung in bedrohlicher Weise. Gerade in den Ländern, die sich Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit, Gewaltenteilung, Individualismus und Toleranz verschrieben haben, scheint ein Sturm auf die fortschrittlichen, emanzipatorischen, demokratischen Bastionen begonnen zu haben. Hetzer*innen und Verfechter*innen von einfachen Scheinlösungen bestimmen mehr und mehr den gesellschaftlichen Diskurs. Extremistische und populistische Parteien gewinnen an Zustimmung. Autoritäre Kräfte nutzen immer häufiger die Freiheiten liberaler Gesellschaften, um die individuellen Freiheiten, die für die Entfaltung und Selbstbestimmung aller wichtig sind, einzuschränken.

Ganz gleich, ob sie eher rechte oder linke Positionen vertreten, eines haben fast alle Populist*innen und Extremist*innen gemeinsam: Sie streben autoritäre, patriarchale Gesellschaftsmodelle an. Emanzipation und Vielfalt mit gleichen Entfaltungsrechten und -möglichkeiten für alle Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrem Alter, ihrer Religion, ihrer körperlichen und psychischen Verfassung sowie ihrer sexuellen Orientierung sind die Opfer dieses beängstigenden Trends. Nach Jahrzehnten, in denen die Gleichberechtigung der Geschlechter deutliche Fortschritte gemacht hat und Diversität wenn noch lange nicht zur Normalität, so doch aber mehr und mehr zu einem von vielen geteilten gesellschaftspolitischen Ziel wurde, schlägt das Pendel zurück. Die Überwindung von Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Ableismus, Klassismus, Queerfeindlichkeit scheint genauso in weite Ferne gerückt zu sein wie das Schließen der unterschiedlichen Gender Gaps: Care, Health, Data, Pay …

Ein Blick in die Sozialen Medien macht das exemplarisch deutlich. Dort wird der Trend zu konservativen Frauenbildern und Geschlechterstereotypen allgemein immer stärker. Man denke nur an die beliebten „Tradwives“-Posts, in denen das Idealbild der traditionellen Hausfrau zelebriert und zementiert wird – leider nicht selten in Verbindung mit rechtspopulistischen Ideologien und einer strikt antifeministischen Haltung. Gleichzeitig tauschen sich bei Instagram oder TikTok Männer in Pseudo-Talk-Formaten darüber aus – immer wieder auch in aggressiver Weise –, wie Frauen ihrer Ansicht nach zu sein haben und wie sie sich verhalten sollen. All das geht viral und findet enorme Reichweiten. Doch gerade in Zeiten des anti-emanzipatorischen Backlashs dürfen wir nicht aufgeben. Alle, die für eine bessere, gerechtere Welt eintreten, müssen jetzt eng zusammenstehen, konstruktive Lösungsansätze entwickeln und diskutieren, gemeinsam Wege zu ihrer Realisierung erarbeiten und sich gegenseitig ermutigen. Deshalb freue ich mich so sehr über diesen Sammelband. Hier schreiben Menschen, die Mut haben und Mut machen, analysieren ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen die aktuelle Situation, denken über Wege der Veränderung nach und formulieren Forderungen an Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Sie geben denen eine Stimme, die nicht gesehen und nicht akzeptiert werden. Die täglich kämpfen müssen, ob im Beruf, in der Familie oder im Freundes- und Bekanntenkreis. Dabei verweilen sie nicht in ihren individuellen Lebenswirklichkeiten, sondern erweitern persönliche Details zu einer gesamtgesellschaftlichen Dimension. Damit regen sie eine Diskussion an, die wir heute dringender denn je brauchen: darüber, wie wir in Zukunft miteinander leben wollen, was wir anstreben und wie wir dorthin kommen können. Und, ganz wichtig: Alle Beiträge zeigen, wie wir Courage bewahren können, auch wenn uns der Wind heftig ins Gesicht bläst.

Genau das ist auch der Charakter der Marke EDITION F, deren Macherinnen diese Anthologie herausgegeben haben: die Lage nüchtern und gewissenhaft analysieren, Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen, dazu ermutigen, das Notwendige zu tun und dabei nicht nachzulassen, das Gelungene zu feiern! Seit zwei Jahren gehört EDITION F zur FUNKE Mediengruppe, worüber ich mich sehr freue. Denn das Magazin gibt nicht nur viele wichtige Impulse in die Gesellschaft, es regt auch innerhalb unseres Unternehmens zum Nachdenken und Handeln an und verändert damit mehr, als uns vielleicht manchmal bewusst ist. Dieser Sammelband ist eine Art Extrakt von EDITION F. Er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern versammelt eine ganze Reihe unterschiedlicher Denkrichtungen, die ein Ziel teilen: die echte Gleichberechtigung aller Menschen. Die Autor*innen sind Brückenbauer*innen, die ihre vielfältigen Erfahrungen teilen und den Finger in die Wunde legen. Die unterschiedlichen Positionen spiegeln die Vielstimmigkeit wider, für die EDITION F steht. Wir müssen nicht allen Positionen zustimmen. Aber auch die Auseinandersetzung mit uns fremden oder unbequemen Ansichten ist ein Wert. „Heute kommt es darauf an, dass Leute, die verschieden denken, miteinander sprechen“, hat Freya von Moltke, die den berühmten Kreisauer Kreis im Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit ins Leben rief, sehr richtig festgestellt. Dieses Buch möchte zu einem solchen Gespräch inspirieren. Es möchte unsere Gegenwart vermessen und zeigen, dass wir alle Menschen sind, die ihre eigenen Privilegien im Abgleich mit anderen Lebenswirklichkeiten erkennen und für eine gerechtere Welt einsetzen können. Der Fortschritt mag zwar eine Schnecke sein – aber er ist unaufhaltsam. Mal läuft es besser, mal miserabel; gestern haben wir drei Schritte nach vorne gemacht, und auch wenn wir heute zwei zurückgegangen sind, so sind wir dennoch weiter, als wir es vorgestern waren: WORK*IN Progress also.

Ich danke Anne-Kathrin Heier und Camille Haldner für die Idee und Realisation dieses wichtigen Buches. Möge es viele Leser*innen auch bei denen finden, die sich von den Anti-Aufklärer*innen angesprochen fühlen.

Zusammenhalt und SolidaritätGespräch der Herausgeberinnen über dieses Buch

Camille Haldner: „Work*in Progress“ heißt dieses Buch. Was hat es mit diesem Titel auf sich, Anne?

Anne-Kathrin Heier: Das Buch ist ein Ergebnis der redaktionellen Arbeit von EDITION F, dem Online-Magazin, für das wir gemeinsam arbeiten. Damit steht das Buch für die Werte, für die auch EDITION F steht, seit es vor zehn Jahren von Susann Hoffmann und Nora-Vanessa Wohlert gegründet wurde: Wir setzen uns unter Einbeziehung verschiedenster Perspektiven und mit einem intersektionalen Blick für Gleichberechtigung in allen Bereichen des Lebens ein. Da gibt es unendlich viel zu tun, ein Ende ist (leider) nicht in Sicht. Das Sternchen im Titel deutet auf eine verspielte Weise die Richtung an, in die wir uns bewegen müssen – hin zu Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt. Wir sind mitten im Prozess. Laut Weltwirtschaftsforum zum Beispiel dauert es noch 134 Jahre, bis die Gleichstellung zwischen Mann und Frau erreicht ist.

Camille Haldner: 134 Jahre ist echt eine lange Zeit, insbesondere wenn man bedenkt, wie lange Feminist*innen bereits für Gleichberechtigung kämpfen. Hinzu kommt, dass diese Berechnung des Weltwirtschaftsforums lediglich die fehlende Chancengleichheit und Diskriminierung aufgrund von Geschlecht in den Blick nimmt und nicht auf die Kämpfe anderer marginalisierter Gruppen eingeht. Du hast den intersektionalen Ansatz erwähnt, der den Blick weitet für verschiedenste Formen der Diskriminierung wie Antisemitismus, Ableismus, Klassismus, Rassismus und Queerfeindlichkeit. Eine Berechnung, wie lange es dauert, bis all diese Ungerechtigkeiten aus der Welt geschafft wurden, gibt es vermutlich nicht einmal.

Anne-Kathrin Heier: Nein, ziemlich sicher nicht. Vor allem gelten Errungenschaften des Feminismus ja leider nicht als unumstößlich. Nicht selten gehen wir als Gesellschaft drei Schritte vor und zwei zurück. Die Bandbreite an Ungleichheit, Ausgrenzung, Diskriminierung ist einfach immens groß. Und das ist auch der Grund, warum wir den Voices Newsletter bei EDITION F ins Leben gerufen haben: Hier schreiben jede Woche Autor*innen über Missstände und Ungerechtigkeiten. Ausgehend von ihren ganz persönlichen Erfahrungen spannen sie die Themen gesellschaftspolitisch auf, ergänzen sie mit Studien, Daten und Fakten und zeigen – und das ist uns besonders wichtig – im Sinne des konstruktiven Journalismus auch Wege und Lösungen auf. Daraus entsteht im besten Fall der utopische Entwurf eines Lebens, das gut und gerecht für uns alle ist. „Work*in Progress“ ist eine repräsentative Zusammenstellung der wöchentlich im Voices Newsletter erscheinenden Texte.

Camille Haldner: Diese Vielstimmigkeit ist eine große Stärke des Buches, die wir auch im Untertitel – „19 Stimmen für eine gerechtere Gesellschaft“ – sichtbar machen. Als uns die Kolleg*innen vom Verlag darauf aufmerksam machten, dass es 20 Autor*innen sein müssten, um im Titel ein Gefühl der Vollständigkeit vermitteln zu können, war für uns ganz klar: eine unrunde Zahl ist genau richtig. „Work*in Progress“ erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und liefert kein fertiges Rezept, wie echte Gleichberechtigung für alle Menschen erreicht wird. Das kann ein einzelnes Buch kaum leisten. Vielmehr geben unsere 19 Autor*innen Impulse, bieten Einblicke in verschiedene Lebensrealitäten und schaffen so ein Bewusstsein dafür, dass die bestehenden Strukturen dieser Welt oft ungerecht sind und viele Menschen diskriminieren. Selbstverständlich gäbe es darüber hinaus noch viele weitere Perspektiven, die für eine Diskussion über Gleichberechtigung wichtig und wertvoll sind. Die bilden wir hoffentlich auch in Zukunft im EDITION F-Magazin ab.

Anne-Kathrin Heier: Ich muss sehr oft an einen Satz von Enissa Amani denken, die bei einem unserer Events gesagt hat: „Wir haben eine Sache noch zu wenig begriffen: wie wichtig es ist, sich für Gruppen einzusetzen, denen wir nicht angehören.“ Ich denke, dass sie hier eine Haltung beschreibt, die wir als Gesellschaft verinnerlichen sollten. Wir brauchen das unablässige Bewusstsein über die eigenen Privilegien, um sie zu nutzen. Dieses Buch zeigt einen kleinen Ausschnitt einer riesigen Welt, die voller Krisen, Kriege und struktureller Unterschiede ist. Wir alle haben die Verantwortung und wir alle können unseren Teil beitragen für ein besseres Leben für alle. Und so bleiben die letzten Seiten in diesem Buch frei. Frei für die Gedanken unserer Leser*innen, frei für neue Ideen, frei für weitere Perspektiven. Wir führen dieses einleitende Gespräch kurz bevor das Manuskript in den Druck geht. Mit welchem Gefühl übergeben wir dieses Buch der Öffentlichkeit, Camille?

Camille Haldner: Mit der Hoffnung, dass sich möglichst viele Menschen in den Texten der verschiedenen Autor*innen wiederfinden, sich gesehen und verstanden fühlen; dass sie Worte für Gefühle und Erfahrungen finden, die ihnen bisher vielleicht gefehlt haben. Und wir hoffen, dass Leser*innen, die bisher keine Berührungspunkte mit gewissen Themen hatten, ihr neu gewonnenes Bewusstsein über existierende Ungerechtigkeiten dafür nutzen, andere in ihrem Kampf für Gleichberechtigung zu unterstützen. Gerade auch mit Blick auf immer stärker werdende antifeministische Kräfte, die – wie die Autorin Gilda Sahebi in ihrem Kapitel beschreibt – gut darin sind, Menschen zu spalten, müssen wir zusammenhalten und solidarisch sein.

„Reg dich erstmal ab.“ Kaum eine Aussage bringt mich schneller auf 180! Wenn ich vorher eher mittelmäßig angepisst war, dann bin ich, sobald dieser Satz ausgesprochen ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kurz vorm Explodieren.

Männer, die leidenschaftlich für ihr Recht einstehen, gelten als „durchsetzungsfähig“. Wenn Frauen hingegen ihrer Wut Luft machen, werden sie häufig als „überemotional“ oder gar „irrational“ bezeichnet. Ihre Wut macht sie „zickig“, „hysterisch“, „unsympathisch“. Wer, wie ich, zum Club der wütenden Frauen gehört, bekommt den Satz „Reg dich erstmal ab“ oder eine ähnliche Variante entsprechend oft zu hören. Denn dieser Satz gehört zu einer Taktik: Beim sogenannten „Tone policing“ werden Ton und Wortwahl angegangen, um vom Inhalt des Gesagten abzulenken. So ist es leichter, sich der Debatte zu entziehen. Das Gegenüber soll ins Zweifeln kommen: Ist meine Wut berechtigt? Dabei ist Wut als Reaktion auf real existierende Ungerechtigkeiten eine verdammt angemessene Reaktion! Und ich als Frau habe allen Grund, wütend zu sein.

Die amerikanische Aktivistin, Journalistin und Autorin Soraya Chemaly beschreibt die Wut in ihrem TED-Talk „The Power of Women’s Anger“ als Emotion, die uns „vor Demütigung, Drohungen, Beleidigungen und Leid“ warnen soll. Wut zeigt uns an, wenn uns Unrecht widerfährt. Sie meldet sich, wenn etwas passiert, was wir nicht möchten. Wenn wir auf unsere Wut hören, fällt es uns leichter, Grenzüberschreitungen zu erkennen. Und laut „Stopp“ zu sagen.

Wut als emotionales Zuhause

Deshalb hat sich Wut für mich schon als Kind besser angefühlt als Traurigkeit. Über die Jahre ist sie mein emotionales Zuhause geworden. Bin ich traurig, verletzt und hilflos, dann möchte ich mich in die Ecke verkriechen und mich selbst bemitleiden. Meine Wut aber macht mich wehrhaft. Wenn ich wütend bin, werde ich vom hilflosen Opfer der Umstände zur Verteidigerin meiner eigenen Grenzen. Waren früher Mitschüler*innen gemein zu mir, so war die Wut mein Antrieb, lautstark zurückzufeuern. Behandelten Lehrer*innen mich oder meine Klassenkamerad*innen ungerecht, ging ich auf die Barrikaden. Viele Schulstunden verbrachte ich deshalb vor der Tür des Klassenzimmers. Lieber wurde ich von allen respektiert, von allen gehört als von allen gemocht.

Ich habe früh gelernt, dass Wut mir hilft, mich durchzusetzen. Und dass ich für meine Wut einen Preis zahlen muss, den Männer nicht zahlen.

Obwohl Wut schon immer meine bevorzugte Emotion war, schaue ich heute auf viele Momente zurück, in denen ich viel wütender hätte sein müssen. Momente, in denen Männer mich ohne meine Zustimmung angefasst haben, in denen mir Männer ins Wort gefallen sind, mich bloßgestellt haben.

„Wut zeigt uns an, wenn uns Unrecht widerfährt. Siemeldet sich, wenn etwas passiert, was wir nicht möchten.Wenn wir auf unsere Wut hören, fällt es uns leichter, Grenzüberschreitungen zu erkennen. Und laut ‚Stopp‘ zusagen.“

Vor kurzem fiel mir ein altes Bild in die Hand: Tenniscamp 2005. Ich stehe zwischen den anderen Mädchen aus meiner Mannschaft. Ich habe vielleicht 15 Kilo mehr auf den Rippen als die anderen. Ich betrachte das Bild und sofort schießen mir Erinnerungen an diese Zeit durch den Kopf. An die vielen Sprüche über mein Gewicht, die ich mir von Lehrer*innen, Jungs und ja, auch meinen Tennistrainern anhören musste. Damals habe ich in diesen Situationen oft mit einem frechen Spruch gekontert, bewusst Humor genutzt, um mir in der Situation noch mehr Häme zu ersparen. Innerlich habe ich getobt. Ich war wütend. Meistens auf mich selbst, dafür, dass ich nicht einfach so sein konnte wie die anderen. Doch in diesem Moment, mit dem Foto in der Hand, überkommt mich eine andere Wut: Wut auf die Ungerechtigkeit, die meinem jüngeren Ich widerfahren ist. Dem Ich, das jahrelang geglaubt hat, es sei weniger wert, weil es zu dick ist.

Meine Wut richtet sich jetzt gegen die, die mich schikaniert haben. Und gegen die, die danebenstanden und mich nicht verteidigt haben. Gegen das System, in dem Frauen nur so viel zählen, wie sie sexuell attraktiv sind. Ich fange an zu beben, das Blut schießt mir ins Gesicht, mein Magen verkrampft sich. Ich bin so rasend vor Wut, dass ich das Gefühl habe, meine Haut brennt. Ich schreie aus vollem Hals all meine Wut raus.

Motor, Schutzschild und Schwert

Danach sitze ich in der Stille. Ich fühle mich, als ob eine Last von mir abgefallen ist. Denn ich realisiere, dass ich Mitleid habe mit dem Mädchen, das Ungerechtigkeit erfahren hat. Dass ich den Impuls habe, es zu beschützen. Und ich denke an die vielen Situationen, in denen ich meine Wut nicht gegen mich selbst, sondern gegen den Aggressor gerichtet habe. In denen ich für mich eingestanden bin, ohne an die möglichen Konsequenzen zu denken. In denen ich laut „Stopp“ und „Nein!“ gesagt habe. In denen die Wut mein Motor war. Mein Schutzschild und mein Schwert. Und plötzlich bin ich stolz auf mich. Stolz darauf, eine wütende Frau zu sein. Diese Erfahrung wünsche ich mir für alle Frauen.

Deshalb macht es mich rasend, dass Frauen ihre Wut systematisch aberzogen wird. Die Forschung ist eindeutig: Frauen fühlen Wut genauso intensiv und häufig wie Männer. Die Reaktion auf ihre Wut macht den Unterschied. Sie werden weniger ernst genommen, erfahren Ablehnung, wenn sie ihre Wut zeigen – und lernen früh, sich selbst zu zensieren. Und die Wut nach innen zu richten, wie ich.

„Frauen haben nicht nur gelernt, ihre Wut zu unterdrücken, sondern dann mit einem anderen Gefühl zu reagieren. Mit einem erlaubten. Sie dürfen ängstlich und hilflos und traurig sein (…) Mädchen, die weinen, werden in Schutz genommen, Mädchen, die zornig sind, werden weggeschickt“, erklärt Almut Schmale-Riedel im Expertinneninterview mit der „Frankfurter Rundschau“. Die Supervisorin, Lehrtherapeutin und Coachin leitet das Fortbildungs- und Psychotherapie-Institut TEAM in Gilching bei München und untersucht das Phänomen in ihrem Buch „Weibliche Wut“. Dass die weibliche Wut so anders bewertet werde, habe auch mit Dominanz zu tun, erklärt Prof. Dr. Ursula Hess, Professorin für Sozial- und Organisationspsychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Wer wütend ist, zeige Dominanz und die gelte als unweiblich. Dominante Frauen werden laut empirischen Untersuchungen entsprechend aggressiver wahrgenommen als Männer, wenn sie das Gleiche sagen.

„Frauen, die wütend sind, sind weniger leicht zu kontrollieren. Und Frauen, die sich nicht kontrollieren lassen wollen, können den Wandel erreichen – politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich.“

Es geht noch weiter: Wenn Frauen dominant und wütend auftreten, setzen sie sich schlimmstenfalls körperlicher Gewalt aus. Immerhin jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von sexualisierter und/oder körperlicher Gewalt betroffen.

Im vergangenen Jahr hat mich ein Typ, der im Club an der Schlange vorbei ins freiwerdene Klo drängelte, weggeschubst und mir brutal den Arm in der Tür eingeklemmt, als ich die Toilettentür aufhielt, um ihn zur Rede zu stellen.

Wut aus intersektionaler Perspektive

Das Problem: Wer der sozialen Rolle der submissiven, angepassten Frau gerecht werden will, wer nicht wütend ist, akzeptiert den Status Quo. Und das ist ein Privileg derjenigen, die weniger stark unter ihm leiden. Ein Privileg, das sich nicht alle Frauen leisten können – und das sich keine von uns leisten sollte. Es sind die Frauen, die nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Sexualität, ihrer Behinderung oder Krankheit, ihrer Religion oder Kultur, ihrer (sozialen) Herkunft oder ihres sozialen Status diskriminiert werden. Die am meisten unter dem Patriarchat leiden. Und denen gleichzeitig, wenn sie Widerstand leisten, die größten Konsequenzen drohen. Im Job kann ich beispielsweise leichter unbequem und kritisch sein, wenn ich ein finanzielles Polster habe und mir bei Verlust meiner Arbeit nicht die Wohnungslosigkeit droht. Ich kann meinem Ärger einfacher Luft machen, wenn ich nicht bei der kleinsten geäußerten Kritik als „angry black woman“ diskreditiert werde. „Meine Wut als Schwarze Frau wird ganz anders bewertet als die einer weißen Frau. Die einer dicken Frau, behinderten Frau, queeren, non-binären ebenso”, erklärt Ciani-Sophia Hoeder, Journalistin und Autorin des Buches „Wut und Böse“ in einem Artikel im „Stern“ das Problem.

Obwohl ihnen in der Regel größere Konsequenzen als anderen drohen, gehen diese Frauen auf die Straße, sind laut und wütend. Weil sie müssen. Weil sie die Ungerechtigkeit nicht mehr aushalten. Und weil sie wissen, dass nett fragen keinen Wandel bringt. Man denke nur an die Frauen im Iran, deren Wut ein komplettes Regime ins Wanken gebracht hat. Die körperliche Angriffe, Inhaftierung und Tod fürchten müssen und trotzdem jeden Tag Widerstand leisten. Oder an die Schwarzen Frauen, die die Speerspitze der Black Lives Matter Bewegung bilden.

Wo bleibt die Solidarität?

Deshalb möchte ich (insbesondere privilegierte weiße) Frauen, die scheinbar nie wütend sind, am liebsten an den Schultern packen und schütteln. Ich möchte schreien: Lässt dich diese ungerechte Scheiße etwa kalt? Warum stehst du verdammt nochmal nicht für dich und für andere ein? Wo bleibt deine Solidarität? Laut Gender Gap Report 2024 des World Economic Forums (WEF) soll es noch 134 Jahre dauern, bis Frauen und Männer weltweit gleichgestellt sind. Ob Gender Pay Gap, Gender Health Gap und Care Gap: Diese verdammten Lücken werden sich in unserer Lebenszeit nicht schließen, wenn wir so weitermachen.

Dieser Realität können wir nur entgegenwirken, wenn wir gemeinsam wütend sind. Wenn wir breite Bande der Solidarität bilden. Wenn unser Feminismus intersektional ist.

Ja, es hat Nachteile, wenn man als Frau wütend ist. Aber wie wäre es, wenn unser Aufbegehren gegen Ungerechtigkeiten zur Norm würde? Wenn wir Mädchen beibringen, dass Wut ein berechtigtes Gefühl ist? Wenn wir unsere Wut annehmen lernen und sie zu unserem Schutz nutzen? Wenn wir sie wie einen Muskel trainieren und sie immer dann rausholen, wenn eine Situation ein klares „Nein, ich will das nicht“ erfordert? Je mehr wir sind, desto weniger kann man uns ignorieren. Je lauter unser Diskurs, je weniger wir uns einlassen auf ewiges „Tone policing“ und je mehr unsere Wut das Gegenüber zwingt, beim Punkt zu bleiben, desto weniger kann man uns ignorieren. Frauen, die wütend sind, sind weniger leicht zu kontrollieren. Und Frauen, die sich nicht kontrollieren lassen wollen, können den Wandel erreichen – politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich.

Im Jahr 2017 ist mit #MeToo ein Riss durch die Gesellschaft gegangen. Seither sprechen wir öffentlich über Machtmissbrauch. Wenn es um den Umgang mit Betroffenen geht, stehen wir aber noch ganz am Anfang. Wer sich anderen anvertraut, bekommt oft abgeschmackte Klischees, unrealistische Vorschläge und im besten Fall unsensible Floskeln zu hören. Solche Kommentare können einiges anrichten.

Ich habe in den vergangenen Jahren viel über den Umgang mit sexualisierter Belästigung gelernt, zum Beispiel, dass Belästigende immer wieder die gleichen Strategien anwenden, und auch die Reaktionen aus dem Umfeld oft sehr ähnlich sind. Im Umgang mit Menschen hätte ich mir gewünscht, ihnen weniger dieser Lektionen beibringen zu müssen.

Ich teile hier, was ich an persönlichen Erfahrungen und durch die Arbeit in einem feministischen Frauennetzwerk gesammelt habe. Natürlich kann und will ich nicht für alle sprechen. Viele Geschichten von sexualisierter Belästigung haben zwar Gemeinsamkeiten und fast alle folgen gewissen Mustern, aber jede Leidensgeschichte ist individuell und jede*r Betroffene braucht etwas anderes. Oft bedeutet das viel Zeit und, sofern das möglich ist, eine therapeutische Begleitung. Entscheidend ist aber auch, wie sich das Umfeld verhält und ob es ein unterstützendes Netzwerk gibt, das Betroffenen nicht das Gefühl gibt, zur Last zu fallen oder für die Aufarbeitung „zu lange“ zu brauchen.

Belästigung geht uns alle an!

Belästigung ist nicht einfach nur ein Problem Betroffener, sie geht uns alle an. Wir müssen als Gesellschaft und in Communitys besser darin werden, füreinander da zu sein. In all den Geschichten, die ich gehört habe, waren angeblich unbeteiligte Dritte oft ausschlaggebend dafür, wie eine Belästigungsgeschichte weitergeht. Darum richtet sich dieser Text auch an sie.

Viele Menschen sind es nicht gewohnt, über Trauma, Trauer und Schmerz zu sprechen und wissen nicht, wie man sich in solchen Situationen verhält. Bei Gesprächen über sexualisierte Belästigung kommt für viele das ungewohnte Terrain dazu, für das oft die richtige Sprache fehlt.