World of Lehrkraft - Herr Schröder - E-Book

World of Lehrkraft E-Book

Herr Schröder

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Beschreibung

So komisch ist selten über den Schulalltag geschrieben worden: Comedian Herr Schröder feiert seine Schüler für ihre sprachliche Kreativität, wenn sie ihn als "Korrekturensohn" verhöhnen. Beleidigungen auf dem Schulhof findet er völlig in Ordnung – solange sie im dreihebigen Jambus erfolgen. Und Metaphern wie "Opferabo" und "Eckenkind" wecken in ihm den Stolz des begeisterten Germanisten. Und sein Lieblings-Problemschüler glaubt, dass ein Kreiskrankenhaus rund ist. Beweis: Es ist ein Kreißsaal drin. Johannes Schröder war früher selbst Deutschlehrer. Zwölf Jahre lang hat er seine Schüler mit dem "lyrischen Ich" und Gedichtinterpretationen gequält und dabei täglich tapfer die Sinnfrage unterdrückt. Bis er schließlich ausstieg und Comedian wurde ...

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Das Buch

Deutschlehrer Herr Schröder mag seine 10a. Es ist ein bunter Haufen mit der anarchischen Kreativität eines Cirque du Soleil, aber ohne dessen Talent. Trotzdem lässt er sich von ihnen gerne ein Instagram-Profil #korrekturensohn erstellen, denn er hat Großes vor. Gegen das Abraten sämtlicher Schüler, aller Kollegen sowie der gesamten Elternschaft: Herr Schröder kandidiert für den »Lehrer des Jahres«. Begleiten Sie den sympathischen Beamten mit Frustrationshintergrund durch die ockerfarbenen Korridore der Helene-Fischer-Gesamtschule. Blicken Sie hinter die Kulissen des Cholerikums, und fiebern Sie der Wahl entgegen. Diese ist in den Augen von Herrn Schröder so gut wie gewonnen – wäre da nicht der beliebte Sportlehrer, die bildungsferne Spaßgurke aus der Turnhalle …

Der Autor

Johannes Schröder ist Deutschlehrer und Comedian. Was sich wie ein Widerspruch anhört, ist letztlich eine Form der Selbstverteidigung. Nach zwölf Jahren Schuldienst hat der Wahlkölner alias »Herr Schröder« die Seite gewechselt und das Klassenzimmer gegen die Bühne eingetauscht. Mit seinem mehrfach ausgezeichneten Comedy-Soloprogramm »World of Lehrkraft – Ein Trauma geht in Erfüllung« (u. a. Bonner Prix Pantheon 2018) ist er auf großer Deutschland-Tournee und veröffentlicht nun sein erstes Buch.

Co-Autor und Kreativ-Partner ist Simon Slomma, Musiker und Komiker aus Remagen.

Herr Schrödermit Simon Slomma

WORLDOF LEHRKRAFT

Ein Pädagoge packt aus

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2130-1

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Robert MaschkeE-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Prolog   Ich, Herr Schrödi

Kapitel 1   Korrekturensohn

Kapitel 2   Deine Mudda beendet die Stunde – Unterricht in der 10a

Kapitel 3   Der Silberstreif am Erwartungshorizont – Lehrer des Jahres

Kapitel 4   Neun von zehn Kindern finden Mobbing gut – die Flummi-Truppe

Kapitel 5   Das Cholerikum – Feldstudie im Lamentierreich

Kapitel 6   Der Sportlehrer – die bildungsferne Spaßgurke aus der Turnhalle

Kapitel 7   Die Schüler mit Schiller locken – die Theater-AG

Kapitel 8   Das Internet ist für uns alle Neuland – Wahlkampf im Netz

Kapitel 9   Ein Spielplatz der Evolution – der Schulhof

Kapitel 10   Er hat mit Erfolg die Schule abgeschlossen – unser Hausmeister

Kapitel 11   Unser Kind hat ADAC – der Elternabend

Kapitel 12   Mailand oder Madrid, Hauptsache WLAN – die Studienfahrt

Kapitel 13   Eltern auf WhatsApp – das Niveau hat die Gruppe verlassen

Kapitel 14   Nudelsalate haben wir genug – das Schulfest

Kapitel 15   »Ich bin ein Berliner« – Biografisches

Kapitel 16   Ich hab dich Ungeheuer gern – deutsche Sprache, freudsche Sprache

Kapitel 17   Montag für Mutter Erde – Vertretungsstunde

Kapitel 18   Saufen im Woyz-Eck – der Junglehrer-Stammtisch

Kapitel 19   Das Salz in der Buchstabensuppe – die Metapher

Kapitel 20   Ein Fest der Demokratie – die Schülervollversammlung

Kapitel 21   Rehabilitierung im Hallenbad – Schrödi aus der Asche

Kapitel 22   Die Gedanken sind frei … zugänglich – das Kopierzimmer

Kapitel 23   Können wir ’nen Film gucken? – die Lehrerkonferenz

Kapitel 24   Irgendwas mit Medien – die Berufsberatung

Kapitel 25   Der Abschlussball

Epilog   Wir machen heute fünf Minuten früher Schluss

Danksagung

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Prolog

Ich, Herr Schrödi

Guten Morgen. Ich stell mich erst mal vor. Ich bin Herr Schröder. Ich schreib’s besser an die Tafel:

S wie Samariter,

C wie charmant,

H wie Herzenswärme,

R wie Reclamheft,

Ö wie Öffentlicher Dienst,

D wie Dienstaufsichtsbeschwerde,

E wie endoplasmatisches Retikulum,

R wie Reha.

Ich bin Lehrer. Nein, es ist noch schlimmer: Ich bin Deutschlehrer. Ich führe ein Leben am Korrekturrand der Gesellschaft. Durch meine Adern fließt rote Tinte. Ich wurde mit Buchstabensuppe gestillt. Manche sagen, ich sei das Ergebnis einer beruflichen Fehlentscheidung. Da muss ich gleich mal korrigierend eingreifen. Aus meiner Sicht handelt es sich eher um eine ganze Verkettung von Fehlentscheidungen. Aber jetzt ist es, wie es ist. Ich bin Beamter mit Frustrationshintergrund. Rente sicher, aber als Junglehrer schon senil.

Ich möchte wirklich nicht larmoyant erscheinen, aber womit man als Lehrer am meisten zu kämpfen hat, sind Vorurteile und Klischees. »Ach, du bist Lehrer? Na ja, ich arbeite ja Vollzeit.« Ich weiß, was Sie alle denken. Ab 13:30 Uhr auf den Südbalkon, Füße hoch, Hose auf und bei ein, zwei Aperol Spritz den Tag ausklingen lassen. Und das stimmt ja auch – jedenfalls für die Sport- und Erdkundelehrer. Deren Unterrichtsvorbereitung darf man sich so vorstellen: Ball aufpumpen und Weltkarte ausrollen. Fertig.

Für den Rest von uns sieht die Realität anders aus. Heute braucht man als Lehrer vor allem Empathie: Spüren, in welche Schublade das Kind passt. Auch mal ein gewisses Interesse für den sozialen und familiären Hintergrund heucheln. Zum Beispiel beim Elternsprechtag. Da macht der Ton die Musik. Du kannst als Lehrer nicht sagen: Der Maddox ist faul. Das muss positiv formuliert werden. Der Maddox war mit großem Erfolg und kontinuierlich im Unterricht anwesend. Er kam auch nicht jeden Morgen zu spät, nein, er befreite sich selbstbewusst vom Zwang zeitlicher Absprachen. Die Hausaufgaben hat er nicht vergessen, sondern sekundär priorisiert. Unangenehmerweise wollen die Eltern mittlerweile überall mitreden. Sie haben den Schulleiter auf der Kurzwahltaste und eine Standleitung zum Kultusministerium. Die laktosefreie Butter lässt sich keiner mehr so einfach vom Dinkelbrot nehmen.

Ich unterrichte an der HFG, der Helene-Fischer-Gesamtschule. Eigentlich wurde unsere Schule nach dem berühmten deutschen Schriftsteller Hans Fallada (1893–1947), Autor von »Wolf unter Wölfen« und »Kleiner Mann – was nun?«, benannt. (Ich kann das übrigens sehen, wenn Sie gähnen.) Die Schüler können sich diese Eckdaten auch nicht merken und haben die HFG deshalb intern auf eine lebende Schlagerlegende umgetauft. Sie begründen ihre Entscheidung damit, dass das deutsche Schulsystem wahnsinnig stresst und sie von der Politik »atemlos durch G8« getrieben werden. Außerdem sei die Zeit der alten, weißen Männer vorbei.

Apropos, Sie können mich ruhig »Schrödi« nennen. Das machen alle hier. Vor allem die Schüler. »Herr Schröder« sagen sie nur, wenn es irgendwie offiziell ist oder sie etwas von mir wollen. Meine Schüler mögen mich. Glaube ich. Außerdem sehen sie in mir eine Stilikone. Als sie neulich in Geschichte eine Collage zur Adenauerzeit machen sollten, hat eine Arbeitsgruppe einfach mein aktuelles Jahrbuch-Foto aufgeklebt.

Übrigens: Sie müssen sich nicht stressen beim Lesen. Schweifen Sie ruhig ab. Wenn Ihnen der Sinn danach steht, überblättern Sie gerne ein paar Seiten. Suchen Sie nach den bebilderten Passagen. Überstrapazieren Sie Ihre Aufmerksamkeitsspanne nicht. Googeln Sie die Zusammenfassung. Fragen Sie Ihren Sitznachbarn. Bin ich alles gewohnt. Aber denken Sie bitte nicht, dass ich es nicht merke. Das ist die einzige Art, wie man uns Lehrer noch beleidigen kann: Wenn Menschen annehmen, wir würden das alles nicht mitkriegen. Natürlich weiß ich, dass Sie gerade essen und das Buch vollkrümeln. Das macht aber überhaupt nichts! Entspannen Sie sich. Was wir auf den folgenden Seiten behandeln, ist nicht klausurrelevant. Versprechen Sie mir nur, dass Ihre Eltern mich nicht anrufen. Deal?

Ich bin es längst gewohnt, dass meine Schüler während des Unterrichts mit Sachen werfen, bei Lieferando Pizza bestellen, Sprachnachrichten abhören oder das Klassenzimmer verlassen, um für den Klimaschutz zu demonstrieren. Da sollte es mir nichts ausmachen, wenn Sie beim Lesen mal in der Nase bohren. Sie müssen sich bei mir nicht dafür entschuldigen. Macht niemand.

Eigentlich bin ich es ja, der um Verzeihung bitten muss. Also bringen wir es hinter uns.

Im Namen aller Deutschlehrer: Es tut mir leid. Sorry für das Reclamheft in seiner uninspirierten Gelbhaftigkeit. Sorry für das »lyrische Ich«, wer auch immer das sein soll. Sorry für »zwischen den Zeilen lesen«. Sorry für die adverbiale Bestimmung und die »Glied«-Sätze. Sorry für »Wer kann das noch mal in eigenen Worten wiedergeben?«. Sorry für »Du hast dich heute noch gar nicht gemeldet«. Sorry für leere Versprechungen wie »Wir machen fünf Minuten früher Schluss« oder »Ihr kriegt dafür keine Hausaufgaben auf«.

Ich kann leider nicht ungeschehen machen, welche Traumata Wörter wie Inhaltsangabe, Erörterung und Gedichtinterpretation bei Ihnen ausgelöst haben mögen. Auch dafür: Entschuldigung! Ich sehe förmlich vor mir, wie Sie sich krümmen. Beinahe hätten wir Deutschlehrer der gesamten Bevölkerung die Freude an Sprache und Literatur ausgetrieben. Aber die Tatsache, dass Sie gerade dieses Buch in Händen halten, zeigt mir, dass wir auch dabei versagt haben. Trotz unseres pädagogischen Wirkens gibt es weiterhin Menschen, die gerne lesen.

Und das freut mich.

Kapitel 1

Korrekturensohn

Frage: Was wäre unsere Schule ohne Schüler?

Richtig: Ein karger, unbelebter Plattenbau, in dem orientierungslose Lehrkörper uninspiriert Kaffee trinken und rauchen.

Erst die Schüler bringen Leben in die Bude. Sobald der Gong morgens den Unterrichtsbeginn einläutet, schwillt der Lautstärkepegel an – und bis zum Nachmittag nicht mehr ab. Hunderte Kinderfüße rennen über den grauen PVC-Boden und beleben, einem Wüstenregen gleich, die toten Korridore. Am stärksten erblüht die ungetrübte Lebensfreude in den unteren Jahrgangsstufen.

Der quirligste Haufen an der HFG ist zweifelsohne die 6b. Schulintern nennen wir diese Klasse die Flummi-Truppe. Die erste Frage der Schüler, als ich bei ihnen nach den Sommerferien als neuer stellvertretender Klassenlehrer den Deutschunterricht übernommen habe:

Klasse: »Herr Schröder, wie alt sind Sie eigentlich?«

Herr Schröder: »Äh, 46.«

Klasse (kreischend im Chor): »Waaaas, ü30??? Soooo aaaaalt?!?!?!«

Da muss man als Pädagoge natürlich schnell reagieren. Sonst hat man autoritätstechnisch sofort verloren. Zum Glück bin ich mit subtiler Schlagfertigkeit gesegnet. Meine Antwort, dass Lehrerjahre wie Hundejahre seien und man daher das Alter eines Lehrers immer umrechnen müsse, ging leider im Geschrei unter.

Dann rief jemand aus der letzten Reihe: »Sie wollen doch bestimmt Ihren Namen an die Tafel schreiben! Wir haben das schon für Sie erledigt, Sie müssen nur noch die fehlenden Buchstaben einsetzen.«

Ich drehte mich um. An der Tafel stand:

Herr öde

Daneben war ein stranguliertes Galgenmännchen gemalt. Es hatte eine Brille auf und einen Aktenkoffer in der Hand. Eine leichte Ähnlichkeit mit mir war nicht von der Hand zu weisen. Ich nahm die kreative Herausforderung an und vervollständigte das Lückenwort:

Herr Aalk öde r

Spontan witzig sein kann ich nämlich auch. Hätte ich allerdings geahnt, dass das von nun an mein Spitzname in der Flummi-Truppe sein würde, hätte ich mich vielleicht doch für eine andere Lösungsvariante entschieden.

Bereits eine Etage höher, in der Mittelstufe, ist die Atmosphäre hormonell bedingt etwas gedämpfter. In den Fluren herrscht kein ausgelassenes Getobe. Bevorzugt wird stattdessen eine subtropische, sauerstoffarme Klimatisierung sowie künstliche Verdunklung. Anders gesagt: Es riecht wie in einem Pumakäfig. Selbst im Winter möchte man in einer Tour lüften. Gefühlt läuft dazu im Hintergrund die ganze Zeit leise Smooth Jazz. Die Teenager lehnen an allem, was zur Verfügung steht, kauen Kaugummi und sind hauptsächlich damit beschäftigt so rüberzukommen, als wäre es ihnen egal, wie sie rüberkommen.

Wird man in der Flummi-Truppe täglich mit einem aufgeweckten »Gu-ten-Mor-gen-Herr-Aal-köd-er!« begrüßt, haben diese zenit-pubertären, storchenbeinigen Schwachstrom-Androiden an guten Tagen gerade mal ein müdes Kopfnicken fürs pädagogische Personal übrig. Sie signalisieren damit, dass sie einen zur Kenntnis genommen haben. Und dass die Vitalfunktionen noch vorhanden sind, aber bald auf Stand-by schalten werden.

Der interpassive Unterricht wird beherrscht von Einsilbigkeit und ausgesprochener Schweigsamkeit. Tafelbilder werden nicht mehr abgeschrieben, sondern abfotografiert, digital archiviert und dann nie wieder angesehen. Der Flur der Mittelstufe wird unter uns Kollegen nur der »Valiumtrakt« genannt. Gerne würde ich mal ein Kilo Kokain in die Belüftungsanlage mischen; allein meine Scheu vor Beschaffungskriminalität hält mich zurück.

Intellektuell unterschätzen sollte man die Mittelstufe trotzdem nicht. Als ich kürzlich in die 10a kam, stand an der Tafel: »Herr Schröder, Sie Korrekturensohn«. Leider war ich so überrascht, dass ich in meiner Verblüffung die Frage stellte, auf die kein Lehrer jemals eine ehrliche Antwort bekommen hat:

»Wer war das?«

Darauf haben meine hochbegabten Klassenzimmeramöben natürlich eisern geschwiegen. Blöd für den Urheber – ich hätte ihn nämlich direkt zur Deutsch-Olympiade angemeldet. Korrekturensohn, das ist doch genial! Ein Neologismus, eine verbale Klangfusion! Einfach geiler Scheiß, auf den man erst mal kommen muss. Mein Unterricht war also doch nicht umsonst.

Noch ein Stockwerk höher befindet sich die Oberstufe. Die meisten Schüler dort sind volljährig und dürften uns Lehrer eigentlich duzen. Sie verzichten aber weitestgehend darauf, um sich nicht mit dem Lehrervolk gemeinzumachen. Alle haben ihre Menschwerdung erfolgreich abgeschlossen und führen ihre destillierte, politisch korrekte Identität spazieren. Dass wir das dritte OG »die PC-Etage« nennen, hat nur am Rande damit zu tun, dass sich hier oben auch der Computerraum befindet.

Während der Pausen genießen die Oberstufenschüler diplomatische Immunität und dürfen als einzige im Gebäude bleiben. Was dann hinter verschlossenen Türen vor sich geht, bleibt Spekulation. Es kursieren unzählige, wahnwitzige Theorien unter uns Lehrern, was dieser konspirative Zirkel der PC-Etage in den Pausen und Freistunden alles bespricht, raucht und einwirft. Wo man in den unteren Klassen noch bettelnd auf die Knie fallen möchte, damit von den Schülern mal ein bisschen Eigeninitiative und Selbstständigkeit kommt, fühlt man sich hier fast schon überflüssig. Ich vermeide es, wenn möglich, die vorbereitungsintensiven Kurse in der Oberstufe zu unterrichten, aber manchmal reiße ich aus Spaß trotzdem eine der Türen im Oberstufentrakt auf.

Oberstufenschüler: »Herr Schröder, nicht stören, bitte. Wir wählen grad die Oberstufensprecher*innen.«

Sie werden ja so schnell erwachsen.

Kapitel 2

Deine Mudda beendet die Stunde – Unterricht in der 10a

Der Pausengong ruft zur vierten Stunde. Ein Dreiklang in abfallender Tonalität. In Moll. Beethovens Nullte. Hier wird die Ernüchterung musikalisch vorempfunden. Der Stundenplan verheißt mir eine Deutschstunde in meiner 10a.

Wenn ich sage meine10a, dann schwingt darin eine Mischung aus Stolz und nostalgischer Wehmut mit. Denn in gerade mal zehn Wochen werden etliche der Schüler die HFG mit der Mittleren Reife verlassen. Bevor sich die Wege jedoch trennen, zelebrieren sie, quasi auf der Zielgeraden, ein erstarktes Gemeinschaftsgefühl. Themen wie die anstehende Studienfahrt, das Schulfest, die Abschlussfeier und die alles dominierende Frage »Wer wird Lehrer des Jahres?« werden seit Wochen diskutiert.

Neunundzwanzig pädagogische Mängelexemplare besuchen momentan die 10a – sofern sie es terminlich einrichten können. Dass einem die Truppe nach all den Jahren Klassenlehrerschaft ans Herz gewachsen ist, verwundert nicht, denn sie könnten unterschiedlicher kaum sein.

Unsere Klassensprecherin ist Anastasia. Sie ist die schulinterne Greta Thunberg und wird vom Cholerikum, pardon, vom Kollegium nur »Miss Scharfblick« genannt. Manchmal schaut sie mich so kritisch an, als wäre mir mein Berliner 3,0-Abitur auf die Stirn tätowiert. Jedes meiner Worte, und sei es nur ein freundliches »Guten Morgen«, kommentiert sie mit Augenrollen oder einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln. Meistens ist sie aber höflich genug, ihre weltumspannende intellektuelle Überlegenheit vor ihren Mitmenschen zu verbergen.

Anastasias beste Freundin ist Lisa-Marie, ein spätes Pferdemädchen mit Reflektoren am Fjällräven-Rucksack. Ihr Federmäppchen gleicht in Ordnung und Struktur dem einer Erstklässlerin und orientiert sich grob an Goethes Farbenlehre. Die Buntstifte sind nach Spektralfarben sortiert, und ihr Pelikan-Füller wird artgerecht gehalten. Die zügellose Pubertät hat Lisa-Marie auf die wilde Araberstute ihres Collegeblocks projiziert. Auf sie ist immer Verlass: Sie erinnert mich am Ende der Stunde an das Erteilen der Hausaufgaben.

Das Rückgrat der Klasse ist Murat. Sein moralischer Kompass lässt sich durch nichts entmagnetisieren. Was er sagt, hat Hand und Fuß. Und Schnurrbart. Um seine Zukunft mache ich mir keine Sorgen.

Dann wäre da noch Justin. Bei einer 50 : 50 Chance vertut er sich dreimal, und Frankfurt / Oder hält er für eine rückversichernde Entscheidungsfrage. Bei Klassenarbeiten muss er sich trotzdem keine Sorgen machen, denn er sitzt neben Torben-Manuel, dem Zauberwürfelrekordhalter und Klassenbesten in allen Fächern, vor allem in Nerdkunde.

Meine 10a: Ein bunter Haufen mit der anarchischen Kreativität eines Cirque du Soleil, aber ohne dessen Talent.

Ich schlendere den leeren Korridor entlang und lasse mir noch etwas Zeit. Denn so sehr ich die Meute auch mag, ich halte es wie viele meiner Kollegen und komme gern mal fünf, sechs Minuten zu spät zum Unterricht – einfach nur, um die Enttäuschung in den Gesichtern der Schüler zu sehen, wenn ich dann doch am Ende des Ganges auftauche.

Heute bin ich stolze sieben Minuten über der Zeit. Ich öffne die Tür und unterbreche das kollektive Dösen mit einem erfrischenden »Guten Morgen, liebe 10a!«. Wie in Zeitlupe, zögernd und widerwillig, lösen sich die sedierten Teenager von ihren Smartphones, als würden sie von lebenserhaltenden Geräten der Intensivmedizin getrennt. Zeit für eine altbewährte Motivationsspritze. Ich klatsche in die Hände.

Herr Schröder (schmeißt lässig seinen Schlüsselbund in die letzte Reihe): »Murat und Justin, holt doch bitte mal den Medienwagen.«

Lisa-Marie: »Mega! Gucken wir ’n Film?«

Murat und Justin spurten aus dem Klassenzimmer. Ich biete ihnen im Vorbeigehen ein High-Five an, das nicht erwidert wird. »Klassischer Fall von High-five-rischem Drüsenfieber«, rufe ich ihnen hinterher und lache. Wenig später rollt der wackelige Medienwagen durch den Mittelgang des Klassenzimmers. Siebenundzwanzig euphorisierte Augenpaare beobachten Murat und Justin beim Anschließen des leicht in die Jahre gekommenen VHS-Geräts.

Herr Schröder: »Heute besprechen wir ein klausurrelevantes Thema, das nicht nur für Klempner und Gas-Wasser-Installateure von unschätzbarem Wert ist: Dichtung.«

In großen, verschnörkelten Lettern schreibe ich das Wort an die Tafel.

Keine Reaktion der Klasse.

Justin: »Was gucken wir denn? Germany’s next Topdichter?«

Herr Schröder: »Kommt ja gleich … aber vorher noch ein knalliges Beispiel aus der Rubrik verschnörkelter Wetterbericht:

Frühling lässt sein blaues Band / wieder flattern durch die Lüfte.

Mal ehrlich: Klingt doch besser als ›Endlich ist dieser verkackte Winter vorbei!‹, oder?«

Lisa-Marie kichert leise. Anastasia rollt mit den Augen.

Herr Schröder: »Apropos Wetter: Das wichtigste Tiefdruckgebiet in der Literaturgeschichte heißt Sturm und Drang. Der Poet hat den ganzen Tag eine graue Regenwolke über dem Kopf und seinen Knirps in der Kutsche liegen lassen. Deshalb gibt er sich seinem Weltschmerz hin:

Über allen Gipfeln ist Ruh,

in allen Wipfeln spürest du

kaum einen Hauch

Die Vögelein schweigen im Walde

… eines Tages, Baby, ruhest du auch.«

Justin: »Langweilig!«

Murat: »Welchen Film gucken wir denn jetzt?«

Torben-Manuel (der sich schon die ganze Zeit schnipsend gemeldet hat): »Herr Schröder, rein meteorologisch betrachtet ist dieses Gedicht ein schlechtes Beispiel für ein Tiefdruckgebiet.«

Herr Schröder: »Ja, ehm, Torben-Manuel, inhaltlich ist das völlig korrekt, was du sagst, jedoch …«

Anastasia: »Streng genommen nicht mal Sturm und Drang. Aber Sie sind der Lehrer.«

Herr Schröder: »Versucht doch mal in eigenen Worten zu schildern, was uns das lyrische Ich hier mitteilen möchte.«

Murat: »Bin im Wald, langweilig hier, nichts zu vögeln, bald sind wir tot.«

Alle lachen. Ich lehne mich ans Pult.

Herr Schröder: »Leute, ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass man mit ›Wandrers Nachtlied‹ außer ein paar Hobby-Germanisten niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlockt. Deswegen habe ich euch einen Film mitgebracht.«

Ich öffne meinen Aktenkoffer.

Die Klasse hält den Atem an.

Die Freude ist mit Händen greifbar.

Torben-Manuel: »Herr Schröder, stimmt es, dass Sturm und Drang keine Epoche im eigentlichen Sinne war, sondern eher eine literarische Strömung?«

Ich klappe den Aktenkoffer wieder zu.

Die Klasse schreit auf.

Justin: »Boa, Torben-Manuel, du Opfer!«

Er boxt ihn in die Seite.

Herr Schröder: »Nein, Justin, der Torben-Manuel hat da jetzt wirklich einen wichtigen Punkt angesprochen. Allerdings muss ich dazu etwas weiter ausholen …«

Justin knallt seinen Kopf auf den Tisch.

Herr Schröder: »Wir schreiben das Jahr 1770. Der junge Goethe galoppierte über die zugefrorene Havel: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind …«

Anastasia holt ein Buch aus ihrer Tasche und fängt an zu schreiben.

Herr Schröder: »Na also, schaut mal, Anastasia dichtet! Das ist Sturm und Drang. Eine rebellische Jugendbewegung gegen die Obrigkeit. Das ist wie … wie … Fridays for Future! Das geht uns alle an!«

Die Schüler hauen mit den Handflächen rhythmisch auf die Tische und skandieren: »Film schauen! Film schauen! Film schauen!«

Herr Schröder: »Seid still, Anastasia wurde von der Muse geküsst.«

Justin: »Quatsch, Herr Schröder, die dichtet nicht, die schreibt wieder in ihr behindertes Tagebuch. Wahrscheinlich lästert sie voll ab über uns alle. Richtig NSA-mäßig. Hey Torben, kannst du dich nicht mal reinhacken? Diary-Leaks?«

Torben-Manuel (zögerlich): »Also, wenn man bedenkt, was mit Julian Assange passiert ist …«

Justin: »Wer?«

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