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Geniale Kommissarin die eine, eiskalte Killerin die andere: Im Frankreich-Thriller »Zara und Zoë – Rache in Marseille« müssen zwei verfeindete Zwillingsschwestern zusammenarbeiten, um eine tödliche Katastrophe zu verhindern. Sie ist Europols beste Profilerin: Kommissarin Zara von Hardenberg entgeht kein Detail und sie ahnt, was ihre Gegner planen – doch sie kann keine Regeln brechen. Als bei Marseille ein junges Mädchen bestialisch ermordet wird, spürt Zara, dass etwas noch Schlimmeres hinter diesem Verbrechen steckt. Die Kommissarin kennt nur eine, die ihr helfen kann, die drohende Katastrophe aufzuhalten: ihre Zwillingsschwester Zoë – eine eiskalte Killerin, deren einzige Grenze sie selbst ist. Das Aufeinandertreffen der verfeindeten Schwestern wird zum Kampf um Leben und Tod. Und dann erst beginnt der eigentliche Showdown im nächtlichen Marseille. »Zara und Zoë – Rache in Marseille« ist der erste Fall für die ungleichen Zwillingsschwestern, die in Alexander Oetkers Thriller-Reihe »Die Profilerin und die Patin« immer wieder zur Zusammenarbeit gezwungen sind. Ihren zweiten gemeinsamen Fall lösen die Schwestern im Frankreich-Thriller »Zara und Zoë – Tödliche Zwillinge«.
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Seitenzahl: 353
Alexander Oetker
Zara und Zoë
Roman
Knaur e-books
Kommissarin Zara von Hardenberg ist die beste Profilerin bei Europol. Weil sie sich alles merkt, alles entdeckt und alles voraussieht. Das Dumme ist nur: Sie kann keine Regeln brechen. Als sie ein junges Mädchen bestialisch ermordet in der Felsenlandschaft Marseilles finden, spürt sie, dass das Verbrechen auf eine drohende Katastrophe hinweist. Sie kennt nur eine, die diese noch aufhalten kann: ihre Zwillingsschwester Zoë – eine Killerin der korsischen Mafia, deren einzige Grenze sie selbst ist. Das Aufeinandertreffen der verfeindeten Schwestern wird zum Kampf um Leben und Tod. Und dann erst beginnt der eigentliche Showdown im nächtlichen Marseille.
Für Jasmin, M. und J.
9. Juli 2018 Autoroute 7, kurz hinter Marseille in Richtung Paris
Noch sechs Minuten bis zur Mautstelle. Der Péage de Lançon-Provence. Sie schmiss die Zigarette hinaus und ließ das Fenster hochfahren. Neben ihr rauchte Ahmed seinen Joint, das Beifahrerfenster stand weit offen. Es war dröhnend laut im Auto. Klar, bei 220.
Sie machte ein unwirsches Zeichen mit der Hand. Er sah sie an, aus fragenden Augen.
»Putain, schmeiß das Ding raus und mach das Fenster zu.«
»Is noch nicht fertig«, gab der Algerier zurück.
Sie antwortete nicht, sondern sah schweigend nach vorne.
Augenblicke später rammte sie ihm ihren rechten Ellbogen in die Seite, dann schnellte ihre Hand hinüber, sie riss ihm den Joint aus der Hand, während er sich krümmte, schnippte die Kippe aus dem Fenster und fuhr mit ihrem Schalter sein Fenster hoch. Alles zusammen hatte genau vier Sekunden gedauert.
Als er wieder zu Atem kam, sah er sie wütend an, während er sich die immer noch schmerzenden Rippen rieb.
»Ey, scheiße, salope, was soll das? Bist du irre?«
»Fick dich, du Wichser. Ich hab dir gezeigt, was zu tun ist. Halt’s Maul. Ich hab dir gezeigt, was zu tun ist. Wir sind gleich da.«
»Was machst du’n für Stress? Wird doch alles laufen. Keine Gefahr, Mann.«
Es stimmte.
Das Auto aus der Vorhut hatte sich nicht gemeldet.
Also schien alles glattzugehen.
In den letzten Monaten war das nicht immer so gewesen.
Die Cops waren kompromissloser geworden, ließen nicht mehr jeden Go Fast ungehindert passieren. Sie hatten aufgerüstet, mit mehr Maschinengewehren und besseren Straßensperren.
Und seitdem die Terrorgefahr ein wenig gesunken war, hatten die Bullen wieder Zeit für normale Kriminelle.
Aber gut, sie war keine normale Kriminelle.
Ahmed drehte die Musik lauter.
Sie schaltete die Anlage über das Lenkrad ganz aus.
»Salope …«, murmelte er leise vor sich hin.
Noch zwei Minuten.
Sie fuhr mit starrem Blick auf die Frontscheibe immer geradeaus, das Tempo war seit Minuten unverändert.
Im Rückspiegel sah sie den anderen schwarzen Audi A8, der ihnen folgte. Die Scheiben vorne und hinten tiefschwarz getönt. Wie ihre eigenen.
Im Wagen saßen vier Männer. Alle mit Maschinenpistolen. Sie sah sie nicht, sie wusste es.
Rechts am Fahrbahnrand das Schild »Péage 2000 m«.
Noch vier Péages bis Dijon, später noch zwei bis Lille. Dann bestand keine Gefahr mehr.
Die Bullen in Belgien und in den Niederlanden schissen sich vor Angst in die Hosen. Die würden nicht im Traum daran denken, sie aufzuhalten.
Morgen würde sie ganz entspannt von Amsterdam zurückfliegen, Business natürlich. Nachdem sie heute Nacht so richtig die Sau rausgelassen hatte. Sie stand auf die großen muskulösen Typen aus Surinam. Dieser dunkle Teint, die glatte Haut. So einer dürfte sie nachher ficken. So, wie sie es wollte.
»Péage 1000 m«, stand auf dem Schild. Und die vorgeschriebene Geschwindigkeit: erst 70, dahinten 50. Dann gleich 30.
Sie hielt die 220, fuhr auf der ganz linken Spur, wechselte dann in die Mitte. Spur 5. So hatten sie es ausgemacht. Am Kassenhäuschen von Spur 5.
Die Mautstelle kam rasend schnell näher. Genau wie Kassenhäuschen 5.
An allen anderen Kassen war viel los. Es war zwar noch früh, aber die holländischen Urlauber waren offenbar zeitig aufgebrochen. Doch an Kassenhäuschen 5 stand kein Wagen. Denn die Anzeige oberhalb des Häuschens war ein rotes Kreuz, bei den anderen war es ein grüner Pfeil.
Nun sah sie, dass die Schranke noch unten war.
Merkwürdig. Warum war sie nicht offen?
Merde.
War das die Falle?
Merde.
Sie bremste nicht. Ahmed dachte wohl nicht mehr an seinen Joint.
Er schaute starr geradeaus, atmete schwer.
»Putain, warum ist die Scheißschranke unten? Putain, fahr langsamer …«
Sie bremste nicht.
Warum war Xavi im Knast? So eine Scheiße. War er doch tatsächlich besoffen auf seinem Motorrad erwischt worden. Der Depp. Auf Bewährung. Nun musste sie mit seinem Scheißdeppen von Schwippschwager arbeiten, den sie hasste.
Weil sie ihm nicht vertraute.
Er griff mit der einen Hand an den Haltegriff an seinem Fenster, mit der anderen krallte er sich an seinen Sitz.
300 Meter.
220 Stundenkilometer.
»Verdammt, du Schlampe, brems die Karre ab …«
120 Meter.
Sie bremste nicht, raste mit vollem Tempo auf die Schranke zu. Den Blick stur geradeaus.
Sie spürte, sie hörte es förmlich, wie Ahmed neben ihr die Augen schloss, die Hände in die beigefarbenen Ledersitze gekrallt.
Zwei Sekunden bevor sie in die Schranke krachte, öffnete die sich wie von Zauberhand. Rasend schnell glitt sie in die Senkrechte, eine Sekunde später waren beide Audi A8 durchgefahren, und sie sah aus dem Augenwinkel, wie sich vom Parkplatz kurz dahinter zwei weitere Audi A8 in den Verkehr einreihten und beschleunigten. In ein paar Minuten würde sie die beiden Wagen überholen lassen.
Damit sie mit 270 Stundenkilometern vorfahren würden und die nächste Péage mit zehn Minuten Vorsprung erreichen würden.
Um dann ihrem Mautstellenwärter den Umschlag mit den 5000 Euro zu überreichen. Der dann die Schranke für den Konvoi öffnen würde. Beim nächsten Mal hoffentlich etwas früher als dieses Mal in Lançon.
Hier würden sie sich einen neuen Wärter suchen müssen.
Sie reihte sich kurz in die mittlere Spur ein, ließ die beiden A8 passieren.
Dann drückte sie auf ihrem Handy eine Taste und sprach ins Telefon.
»Vier Minuten später an der Péage de Vienne. Muss kurz pinkeln.«
Der Wagen hinter ihr gab Lichthupe.
Erst zwei Minuten später ließ Ahmed den Sitz los. Er schwitzte stark. Die Tropfen liefen seine Stirn herunter, unter seiner hässlichen Halbglatze, der Schweiß tropfte auf den Sitz.
»Putain, war das knapp.«
Sie sah ihn an, ganz kurz nur, dann lächelte sie.
»Kann ich einen rauchen?«
Er sah sie an wie ein Hund.
»Bitte …«
Sie gab ihm ein Zeichen und nickte.
Mit zitternden Händen rollte er einen neuen Joint, gab viel zu viel Marihuana hinein und zündete ihn rasch an.
Sie verkniff es sich, das Gesicht zu verziehen.
Zehn Minuten später kam das Schild, das einen Parkplatz anzeigte. Sie bremste ruckartig und riss das Lenkrad herum, die Geschwindigkeit trug den schweren Wagen fast aus der Kurve.
Dann, auf dem noch leeren Parkplatz, trat sie die Bremse durch. Von 120 auf null.
»Steig aus, du musst Wache stehen«, befahl sie kurz.
Der andere Audi blieb hinter ihnen stehen. Niemand stieg aus.
Ahmed öffnete die Tür und erhob sich aus dem Wagen. Er rauchte draußen weiter, sie hörte die Glut in dem Tütchen knistern.
Sie griff nach hinten auf den Rücksitz und fingerte zwischen den schwarzen Reisetaschen mit dem Kokain herum. Dann, Sekunden später, entspannte sich ihr Gesichtsausdruck.
»Warte hier«, sagte sie zu ihm und ging geradewegs in die Büsche. Niemand war hier. Kein Tourist war bisher zum Picknicken gekommen. Kein Wunder. Es war kurz vor sechs Uhr morgens.
Sie zog sich die schwarze Lederjacke aus und faltete sie sauber zusammen, bevor sie sie ins Gras legte. Dann knöpfte sie die Jeans auf und zog sie herunter. Sie hockte sich hin und sah aus dem Augenwinkel, wie Ahmed versuchte, einen Blick auf ihren Arsch zu erhaschen. Sie wusste, dass er sie beobachtete, genau wie die vier anderen im hinteren Audi.
Sie entspannte ihre Blase, und ganz langsam fing es an zu laufen. Was für ein gutes Gefühl. Sie entleerte sich, atmete dabei tief und sog die frische Luft des Morgens ein. Die Sonne war eben aufgegangen, sie roch den Tau auf dem Gras und sah den Lavendel hinter dem Zaun, ein Stück neben der Autobahn. Ein toller Morgen.
Sie stand wieder aus der Hocke auf und zog die Jeans hoch.
Dann ging sie zurück zum Auto.
»Ahmed?«
Er zog gierig am letzten Rest des Joints.
»Was ist?«
»Siehst du das?«
»Was denn?«
»Dort, siehst du es?«
Sie zeigte auf ein Stück Rasen.
»Ich … spinnst du? Da is nichts.«
Er sah wieder zu ihr herüber. Sah, dass sie die Beretta auf ihn richtete.
Und im selben Moment abdrückte. Einmal nur.
Der Schuss zerriss den frühen Morgen, die Vögel verstummten.
Sofort schoss Blut aus seinem Kopf, das Loch klaffte riesig, und Blut und Gehirnmasse verteilten sich auf dem Rasen, noch bevor Ahmed auf dem Boden aufschlug.
Nur Sekunden später öffnete sich die Tür des hinteren Wagens, einer der vier Männer stieg aus.
Sie lief um das Auto herum und stieg auf der Fahrerseite ein. Die Pistole legte sie vorsichtig wieder zwischen die Reisetaschen.
Bevor sie anfuhr, sah sie aus dem Fenster zu Ahmed, der, die Augen weit aufgerissen, auf dem Rasen lag. Der vierte Mann beugte sich zu ihm herunter und entnahm seinen Hosentaschen Portemonnaie und Handy. Ganz geschäftsmäßig ging das vonstatten. Bevor er in ihren Wagen stieg, sagte sie leise zum Beifahrersitz: »Du hast mich Schlampe genannt. Dreimal. Niemand nennt mich mehr als einmal so.«
Außerdem verabscheute sie den Geruch von Joints. Bis Amsterdam hätte Zoë das niemals ertragen.
9. Juli 2018Pointe du Figuier, 12 Kilometer östlich von Marseille
Rot auf Grau. Banal sah es aus, wie es da auf dem Felsen festtrocknete. An den Rändern bleichte es schon aus. Dazwischen einige Lavendelstängel. Die sanfte Farbe der Blüten biss sich mit dem Rot des Blutes.
Die Sonne im Zenith. So brennend heiß, wie sie es in Frankreich nur hier sein konnte. Scharfe, wütende Hitze. Die keine Flucht zuließ. Mit diesem Anblick eh nicht.
Es musste viel Blut gewesen sein. Doch die Hitze hatte alles verdunsten lassen, geblieben waren die roten Krusten und die Umrisse auf dem heißen Stein.
Zara stand da und schaute nur. Seit zehn Minuten nahm sie jedes Detail des Anblicks in sich auf, still und starr wie eine Statue.
Sie schüttelte nicht den Kopf, wandte sich nicht ab, war nicht angeekelt und blinzelte auch nicht mit den Augen wegen der prallen Sonne. Sie schaute unverwandt auf das Blut und auf den Körper, aus dem es geflossen war.
Niemand wagte es, sie zu unterbrechen.
Zara wusste das. Sie musste nicht auf der Hut sein. Niemand würde sie stören.
Sie hatte vorhin die Fronten schon geklärt mit dem Mann von der Police Municipale aus Cassis. Das hier war kein Tatort der französischen Behörden mehr. Sie würde ermitteln. So einfach war das. Der Mann sah damit recht zufrieden aus. Diesen Tatort wollte kein Dorf-flic als seinen betrachten müssen.
Dort unten tobte das Meer. Hier oben ging kein Lüftchen.
Die Wellen brachen sich an den Felsen der Calanques. Dieser bizarren Felsformationen, rau und karg, obendrauf nur winzige Lavendelblüten und die grüne und braune Macchia, sozusagen als Alibi der Natur. Wieder schaffte es die Gischt einer Welle bis fast hier herauf.
Merkwürdig, dass sie diese Kraft vergessen hatte. Diese Gewalten, die hier so eindrücklich waren, dass sie sie ganz hinter sich gelassen hatte, da, wo sie jetzt war.
Hinter sich hörte sie durch den Lärm des Meeresgebrülls zwei bekannte Stimmen. Sie waren angekommen.
Sie drehte sich nicht um, rief stattdessen gegen den Wind: »Aznar, Isaakson, kommt her.«
Es dauerte nur einen Moment, dann traten die beiden Männer lautlos neben sie. Sie blickten Zara nicht an, sondern betrachteten den toten Körper.
Wieder vergingen Minuten.
»Kann ich?«, fragte der Spanier in die Stille.
Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.
Niemand bewegte sich.
Noch zwei Dinge musste sie sich einprägen.
Nach zwei Minuten nickte sie. Wieder kaum merklich.
Aznar trat nach vorn und beugte sich über den Körper. Wie immer in schwarzem Anzug, knapp geschnitten, Maßschneiderei. Die Fliege in Schwarz, dem Anlass angemessen. Er hatte bereits seine Handschuhe angezogen.
Wie Zara ihn kannte, hatte er sie schon kurz nach Barcelona übergestreift, während er in seinem hellgrünen Porsche hierher raste. Er wollte schließlich vorbereitet sein.
Zum ersten Mal sah sie auf und blickte auf den Horizont. Der andere Mann, blond und groß, stand neben ihr.
Sie sagte tonlos: »Endlich hergefunden?«
»Hab den KLM-Flieger von Amsterdam knapp verpasst. Musste Air France über Paris fliegen. Was für ein Mist.«
Sie lächelte nicht. Sie kannte Isaaksons Abneigung gegen südeuropäische Fluggesellschaften. Und das waren für einen Schweden wie ihn alle außer SAS und Lufthansa. KLM ließ er gerade so gelten.
»Und wie warst du so schnell hier?«, fragte der Schwede.
»EasyJet fliegt direkt von Berlin nach Nizza.«
Wieder sah sie Aznar zu, wie er immer noch über den Leichnam gebeugt dastand.
Dann richtete sie den Fokus auf den Leichnam.
Vierzehn Jahre. Vielleicht dreizehn. Vielleicht fünfzehn. Eine Schwarze. Kleine Locken. Große Augen. Kindliches Gesicht. Vollständig bekleidet. Obwohl das fast egal war. Sie konnte vor lauter Einstichwunden und Rissen ohnehin kaum noch Kleidung sehen. Da waren nur Hautfetzen, Wunden. In diesem unnachahmlichen hellen Rosa schimmerten Teile von Organen, jedes einzelne hätte Zara benennen können, wenn sie danach gefragt worden wäre.
Sie war wohl schon eine ganze Weile tot. Seit gestern Nacht? Hatte sie den Tageswechsel noch erlebt? Oder war sie schon am Abend getötet worden?
»Es ist so eine Scheiße«, sagte Isaakson und brach die Stille.
»Psst«, machte sie.
Er sah sie an. Wütend, entsetzt, sein Gesicht glühte.
»Nein, Zara, wirklich. Was hat dieses junge Mädchen denn mit einem beschissenen fiche S zu tun? So ein Mädchen ist doch kein Gefährder, verdammt. Sie war doch noch ein Kind.«
Sie dachte an Amélie zu Hause in Berlin und hätte ihm den Hals dafür umdrehen können, dass er sie auf diesen Gedanken hatte bringen müssen.
Internetseite des Fernsehsenders vom 9. Juli 2018
Orange (mit AFP).
Mitten im Sommerreiseverkehr ist es auf der Autoroute 7 in Richtung Lyon zu einem sogenannten Go Fast gekommen. Augenzeugen berichten, dass zwei oder mehrere schwarze Luxuslimousinen in einem Konvoi mit überhöhter Geschwindigkeit die Strecke passiert haben.
An einer Stelle kurz vor Orange kam es zu einer Kollision, als der Konvoi einen holländischen Kleinwagen zur Seite drängte und die Urlauberin am Steuer dabei die Kontrolle über das Fahrzeug verlor. Niemand wurde verletzt.
Die Vorgehensweise entspricht der üblichen Taktik der Drogenmafia im Bouches-du-Rhône. Mit sogenannten Go Fasts schmuggeln sie große Mengen von Kokain ins nördliche Europa. Die Police Nationale hat sich in der Vergangenheit machtlos gezeigt, auch diesmal will sich im Commissariat von Marseille gegenüber unserem Sender niemand offiziell äußern.
»Wir haben keine Meldungen über einen Go Fast erhalten«, sagte uns ein Commissaire, der nicht namentlich genannt werden will. Auch an den beiden Mautstellen entlang der A7 gab es keinerlei offizielle Mitteilungen über ungewöhnliche Vorkommnisse.
In der Vergangenheit wurde bekannt, dass die Mafia Mautstellenmitarbeitern Bestechungsgelder zahlt.
In diesem Fall ist im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Schmuggel möglicherweise auch ein Toter zu verzeichnen: Am Rastplatz Aire de Sénas wurde ein Toter gefunden. Der Mann starb durch einen Kopfschuss; die Umstände deuten auf eine Hinrichtung hin. Das sagte uns das Büro der Gendarmerie in Avignon.
Demnach ist der Tote ein junger Mann maghrebinischer Herkunft, seine Identität ist unbekannt. Ob er einer der Männer aus den Luxuslimousinen ist, ist ebenso wenig klar wie das Motiv für seine Ermordung.
Die Gendarmerie von Avignon äußerte unserem Sender gegenüber Unverständnis, dass die Kollegen der Polizei von Marseille nicht viel entschlossener gegen diese Fahrten vorgingen.
»Ein neuer Höhepunkt im Drogenkrieg ist das«, sagte uns ein Oberst der Gendarmerie, »und jeder weiß, dass die Drogenmafia auch den Terror finanziert.«
9. Juli 2018 Hôtel de Police, 2, Rue Antoine Becker, Marseille
Sie sprach nicht mehr mit ihm. Seit Stunden.
Verdammt. Was hatte er falsch gemacht?
Dabei wusste er es ganz genau.
Er hatte ein Tabu gebrochen.
Er hatte über Emotionen gesprochen. Über seine Wut darüber, dass hier ein junges Mädchen hatte sterben müssen, aus völlig unklaren Motiven. Und über sein Unverständnis darüber, dass ausgerechnet sie sich darum kümmern mussten.
Die Antiterrorbrigade. Bei einem Mädchenmord. Einem so brutalen, wie er es vorher nicht für möglich gehalten hatte.
Sie hatten sie regelrecht zerfleddert. Der Pathologe hatte eben am Telefon von insgesamt 35 Messerstichen gesprochen. Seine Stimme war schwach gewesen, als kämpfe er immer noch mit seinen Gefühlen. Denn er hatte auch noch Würgemale gefunden. Sie mussten die Kleine gewürgt haben, bis sie ohnmächtig geworden war. Aber dabei hatten sie es nicht belassen. Sie hatten sie noch geschlagen – und dann hatten sie sie abgestochen. Wie ein Stück Vieh.
Isaakson war noch kein Vater. Er liebte sein Junggesellenleben. Er war 29.
Aber er wollte eines Tages Vater werden.
Er konnte sich nicht ausmalen, was er mit einem machen würde, der seiner zukünftigen Tochter so etwas antat.
Und Zara? Was machte Zara? Sie redete nicht mehr mit ihm. Als Dank für seine Wut.
Er verstand sie nicht. Er hatte sie noch nie verstanden. Aber er bewunderte sie. Noch wichtiger: Er vertraute ihr.
Obwohl er beinahe nichts von ihr wusste.
Sie war aus Berlin hergeflogen. Von ihrer Familie. Ihrem Mann und ihren zwei Kindern.
So, wie sie für die letzten acht Fälle angeflogen gekommen war. Immer aus Berlin.
Es lief immer gleich ab: Sie wurden gerufen. Er, der junge Schwede, kam aus dem Hauptquartier des Europäischen Terrorabwehrzentrums in Den Haag, wo er am Schreibtisch arbeitete und Akten las, Berichte schrieb und wartete, dass sie gebraucht wurden.
Wenn sie dann gebraucht wurden, kam auch Zara. Keine Ahnung, was sie in Berlin tat, wenn sie nicht gebraucht wurden. Er hatte sie nie gefragt. Er wusste nur, dass sie immer schneller am Tatort war als er.
Und dass ihn der Chef der Führungsgruppe »Terror und explizite Gewalt«, der portugiesische Kommissar Rui Vicente, gebeten hatte, sie nie nach ihrem Leben zu fragen. Nach ihren Gedanken. Oder Plänen.
Sie wollten als Nächstes in die Marseiller Vorstadt.
Die Cité La Castellane, aus der das Mädchen kam.
Aber sie konnten nicht direkt dorthin. Nicht ohne Schutz. Und schon gar nicht ohne die Unterstützung der örtlichen Behörden.
So hielt es die Brigade von Europol immer, weil es das Gesetz so wollte: Sie mussten am Einsatzort mit der lokalen Polizei zusammenarbeiten. So stand es im Kooperationsvertrag der Europäischen Union. Und auch wenn Isaakson gerne mal undercover ermittelt hätte: Zara hielt sich immer an diesen Vertrag. Und zwar penibel.
Er verstand es nicht, aber er musste es hinnehmen.
Er betrachtete die Frau an seiner Seite.
Zara.
Wie sie da stand. In ihrem Kleid. Einem schlichten cremefarbenen Sommerkleid. Das ihrer Figur schmeichelte. Ohne dass sie auch nur im Traum daran denken würde, damit zu kokettieren. Sie trug es einfach. Weil es praktisch war. Weil sie es in Berlin angezogen hatte. Und noch einmal genau das gleiche Kleid in ihrem kleinen silbernen Koffer hatte.
Dazu die dunkelblonden halblangen Haare. Die Sommersprossen. Die gebräunte Haut, die immer ein wenig ins Rote überging.
Eigentlich unglaublich, dass sie wirklich Südfranzösin sein sollte. Von hier stammte. Aus dieser Gegend. Sie hatte es ihm nie erzählt. Er hatte in der Kantine in Den Haag davon gehört. Wie sie dort ständig über sie sprachen.
Zara. Die Unberührbare. Die Unfehlbare. Die Unfassbare.
Er war vor zwei Jahren frisch von der Polizei in Stockholm nach Den Haag entsandt worden. Für fünf Jahre in den europäischen Dienst. Danach könnte er als hochdekorierter Kommissar Abteilungsleiter in Schweden werden. Und die wirklich großen Fälle lösen.
Kaum in den Niederlanden angekommen, hatte ihn der Portugiese zu sich gerufen. Und ihm gesagt, dass er Großes mit ihm vorhabe. Zu diesem Zwecke sei er ab sofort Teil des wichtigsten Außenkommandos der gesamten Führungsgruppe.
Und er habe eine neue Partnerin.
Nun ja, keine wirkliche Partnerin, hatte Rui Vicente gestammelt. Es sei vielmehr so, dass er der fähigsten Polizistin von Faro bis Helsinki assistieren würde.
Ob er diese fähige Polizistin, seine neue Partnerin, mal treffen könne, abends auf ein Bier, hatte Isaakson gefragt.
Nein, das sei nicht möglich, hatte der Portugiese geantwortet.
Isaakson hatte ihn mit großen Augen angeschaut.
Bei ihrem ersten Fall würde er sie treffen, hatte Rui dann gesagt.
Wie das denn sein könne, hatte Isaakson gefragt. Er müsse ihr doch vertrauen, seiner neuen Partnerin, das sei das A und O bei einer Zusammenarbeit in einer derart gefährlichen Tätigkeit.
Doch Vicente hatte den Kopf geschüttelt und war gegangen.
Er hatte noch im Weggehen »Sie werden schon sehen« gemurmelt.
Und so war es gekommen.
Isaakson hatte gesehen.
Sie hatten einen Antiterroreinsatz in Deutschland gehabt. Nichts hatte irgendeinen Hinweis auf den Verdächtigen gegeben. Aus Isaaksons Sicht. Der Mann war Flüchtling, Syrer angeblich. In einem Kaff bei Dortmund. Sie hatten keinerlei Hinweise. Und Isaakson hatte keinen Plan, wie sie vorgehen sollten, als sie in seinem Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft standen, einem kargen Raum ohne jeden Hinweis. Im Internet hatte der junge Mann mit einem bevorstehenden Anschlag geprahlt.
Sieben Stunden später hatten sie ihn. Weil sich Zara das Zimmer zwar genauso lange angesehen hatte wie Isaakson, aber in diesen fünf Minuten unzählige Informationen gesammelt hatte.
Dinge zur Herkunft des jungen Mannes, zu seinen Vorlieben, zu seinem Geruch und zu seinem Blick aus dem Fenster.
Sie stellten den Mann zusammen mit einem Sondereinsatzkommando am Bahnhof von Dortmund. Keine zehn Kilometer vom Heim entfernt. Er war kein Syrer, sondern Marokkaner. Und er hatte keinen Anschlag geplant, dazu war er gar nicht in der Lage. Er hatte sich vielleicht gewünscht, dazu bereit gewesen zu sein.
Sie hatte den jungen Mann nur angesehen, ihm tonlos seine Rechte vorgelesen, und dann war er im Knast verschwunden. Einige Wochen nur, dann hatten sie ihn nach Rabat abgeschoben.
Wahrscheinlich war er inzwischen schon wieder auf dem Weg nach Europa.
Nach diesen Ermittlungen hatte Isaakson nichts mehr gefragt. Er wusste: Er konnte Zara bedingungslos vertrauen. Sie hatte alles im Blick. Er spürte es. Und konnte trotzdem nicht erklären, wie es ging.
Vicente hatte ihm, als er wieder in Den Haag ankam, nur gesagt: »Sehen Sie?«
Sie war vor ihm gelaufen, seitdem sie am alten Hafen geparkt hatten. Nun standen sie vor dem Hôtel de Police von Marseille. Ein alter Bau, herrschaftlich und trutzig.
Doch das hier war Marseille. Die »nördlichste Stadt Afrikas«, wie man hier sagte. Die Heimat von Islamisten, Drogenclans, der französischen Mafia. Und deshalb sah das Hauptquartier der Polizei aus wie eine Festung. Mit dicken Zäunen, Stacheldraht und vergitterten Fenstern. Polizisten der Spezialeinheit CRS mit Maschinenpistolen standen davor.
Zara zeigte ihren Ausweis, Isaakson tat es ihr nach.
»Zum Commissaire général«, sagte sie. Der Polizist an der Pforte trat aus seinem Zimmer und führte sie die Treppe hinauf.
Zwei Minuten und vier Flure später standen sie vor einer weiteren Tür. Ein Schild mit zwei Namen: Navarro / Petit.
Sie traten ein.
»Bonjour«, sagte Zara, ruhig, gänzlich konzentriert und dabei so zurückgenommen, als sei sie hier und eigentlich doch ganz woanders.
Ein Blick, eine Präsenz, eine Täuschung, die nur sie konnte.
Der kleine Mann, der an der Tür saß, rauchte, als sie eintraten. Sein Büro war dunkel, geschützt gegen die Sommersonne, die nur durch die Spalten der Fensterläden hineinfiel. Er blickte weiter auf seinen Schreibtisch und fingerte an etwas herum, das wie ein Bündel Papiere aussah. Die Haut dunkel, wie sie es bei den Marseillais ist. Eine kleine Narbe auf der Wange, die aussah wie ein abgerutschter Messerstich.
Dann erst fiel der blasse blonde Mann weiter hinten im Raum auf, der sofort den Blick gehoben hatte.
Er stand auf und trat nach vorne, endlich sah auch der Kleine auf.
»Was wollen Sie?«, fragte er, die Stimme einer Hyäne mit dem vertrauten Akzent des Südfranzosen, der die Wörter zusammenzog wie einen alten Kaugummi.
»Den Commissaire général sprechen, Monsieur.«
»Krank.«
Er spuckte das Wort aus.
»Und wie erreiche ich ihn?«
»Wenn Sie nicht seine Frau sind: gar nicht. Und selbst wenn Sie es wären, seine Frau, meine ich, bin ich mir nicht sicher, ob er mit Ihnen sprechen will. Burn-out, sagt man. Obwohl ich nicht weiß, wie man in dieser Stadt Burn-out haben kann. Ist doch alles so langweilig hier.«
Er lachte, laut, kehlig.
»Wer sind Sie?«
»Commissaire Navarro. Ich vertrete ihn. In allen Angelegenheiten.«
»Wer ist Ihr Kollege?«
Der Blasse war still geblieben, wandte den Blick aber nicht eine Sekunde ab.
»Petit. Lieutenant Petit. Und wer sind Sie und Ihr blonder Beau?«
Ihre Stimme zeigte nicht eine Spur von Irritation.
»Wir sind von Europol. Sie wissen, warum wir hier sind.«
»Ja. In der Tat.«
Er stutzte, als er sie genauer betrachtete. Isaakson sah seinen Blick und fand ihn merkwürdig. Doch Navarro versuchte, mit zusammengekniffenen Augen, noch genauer hinzuschauen, er schaltete gar die Schreibtischlampe an. Für einen Moment besah er sie nachdenklich. Isaakson bemerkte, dass auch Petit so aussah, als wisse er nicht, was hier vorging.
Der Schwede wollte eben etwas sagen, den Franzosen angehen für seine Starrerei, da kratzte der sich am Kopf und fuhr fort: »Sie glauben also, die Kleine in den Calanques hat irgendwas mit Terror zu tun. Verdammter Quatsch.«
Zara hielt dem Blick des Mannes stand, seinem Zorn, der sich gegen alles und jeden zu richten schien. Kaum, dass man seinen Raum betrat. Vielleicht wurde man so als Polizist in Marseille. Isaakson hätte ihm gerne eine reingehauen.
»Unser Verantwortlicher bei Europol hat uns geschickt, weil es in der näheren Umgebung des Mädchens von fiches S nur so wimmelt. Deshalb sind wir hier. Wir müssen in die Cité. Und dafür brauchen wir Sie.«
»Ich habe keine Männer für so einen Mist. Fiches S, wenn ich das schon höre. Für Sie im Norden steht doch ganz Marseille unter Terrorverdacht.«
»Fiches S, das ist wirklich lächerlich«, sagte nun auch Petit. Es waren seine ersten Worte, und er rückte ein Stück näher an seinen Vorgesetzten heran.
Zara hob nicht die Stimme, senkte nicht den Blick, wurde nicht rot. Stand da wie eine Statue. In ihrem Sommerkleid. Isaakson fand sie unglaublich sexy. Nicht nur in diesem Moment. Immer. Und dennoch war sie so unnahbar, dass er es nie auch nur gewagt hätte, sie irgendwie machohaft anzusprechen. Einmal hatte er im Auto beim Schalten aus Versehen ihr Knie gestreift. Er hatte die Hand zurückgezogen, als habe er sich verbrannt.
»Commissaire, ich danke Ihnen für dieses Gespräch«, sagte sie und drehte sich um. Es hatte nicht ironisch geklungen.
Isaakson zog die linke Augenbraue hoch und wollte gerade etwas Verächtliches zu diesem südfranzösischen Riesenarschloch sagen. Doch bevor Zara ihn rufen konnte, besann er sich, machte kehrt und folgte ihr.
»Ach, Mademoiselle?«
Navarros Stimme. Sie hielt an. Drehte sich nicht um.
»Sind Sie von hier?«
»Ich bin aus Berlin.«
Dann ging sie weiter.
Aus dem Büro hörte Isaakson nur leises Murmeln.
Kaum auf dem Flur, hatte Zara ihr Handy gezückt.
Den Haag.
»Rui? Ich habe es geahnt.«
Kurze Pause.
»Ja, es läuft ganz anders als in Paris und Toulouse. Marseille eben. Du weißt, was ich brauche?«
Vicente, der Kommandant der Einheit, zählte am anderen Ende der Leitung wohl die Bestellliste auf. Es dauerte etwas.
»Genau. Sprichst du mit Paris? Gleich?«
Diesmal war die Pause wieder ganz kurz.
»Ich habe die fiches S in der Umgebung des Opfers geprüft. Wir haben vier junge Männer mit einer Akte wegen Terrorverdachts oder potenzieller Radikalisierung. Einer der Brüder des Mädchens, Lamine. Der Cousin, Moussa. Und zwei andere Jungs in dem Wohnblock, ein Abdel Benkader und ein Mohamed Hadia. Wir sehen uns alle an. Obrigada.«
Sie legte auf. Isaakson wusste nicht, wann sie das alles recherchiert hatte. Im easyJet-Flugzeug, mit einer Urlaubergruppe auf dem Schoß?
Draußen traten sie in die gleißende Sonne.
Zara marschierte schnurstracks in ein Café, in der ersten Reihe am Hafen.
Früher waren das hier heruntergekommene Spelunken gewesen. Isaakson war mal als Schüler auf Schulfahrt hergereist, bei der sein Lehrer die Klasse die ganzen drei Tage lang nervös im Auge behalten hatte, aus Angst, in den schummrigen Gassen könnten ihm seine Schutzbefohlenen gestohlen werden – oder sein Portemonnaie.
Heute aber war der Gentrifizierungsgott hier durchgezogen wie Meister Proper. Das neue Pflaster glänzte, die Markisen vor den Cafés sahen so teuer aus, wie der Espresso es mittlerweile war, und die Jachten im Hafen glänzten mit der Sonne um die Wette. Dazu das neue Museum da drüben, mit seiner strahlenden Fassade und die Touristenbimmelbahn mit reichen Russen in Joggingbutz.
Marseille. Die Schöne am Mittelmeer. Wenn Isaakson die Kriminalitätsstatistik nicht auswendig gekannt hätte, wäre er versucht gewesen, den gewieften Politikern der korrupten Stadt zu glauben.
Zara bestellte einen café serré. Schwarz. Kein Zucker.
Ohne ihn anzusehen, zog sie ihr rotes Notizbuch aus der Tasche. Ein kleines Moleskine, A6. Darin notierte sie alles. Ständig.
Nach jedem Gespräch ging sie in das nächste Café und schrieb zwanzig Minuten ein Protokoll. Er hatte noch nie einen Blick in ihr Buch geworfen, aber von der Dauer und der Menge an Text ging Isaakson davon aus, dass sie ein Protokoll schrieb.
Nun war er für zwanzig Minuten abgemeldet.
Er betrachtete ihr Gesicht, ihre weichen Züge, das vom dunkelblonden Haar umrahmte Gesicht. Sie schrieb ganz leicht, mit einer gleichgültigen Miene, in der keine Anstrengung lag. Als würde sie ein Tagebuch führen.
Der Kellner kam, brachte den café.
»Ich nehme einen Ricard.«
Sie sah nicht auf, aber sie schrieb für einen Moment nicht.
Er wusste, dass sie seine Bestellung gehört hatte. Und nicht guthieß.
Sie trank nie. Nicht einen Schluck. Sie konnte keine Südfranzösin sein.
Aber sie würde nichts sagen. Der Ricard war kein dienstliches Problem. Und in private Probleme mischte sie sich nie ein.
Der Kellner brachte das kleine Glas mit der gelben Flüssigkeit, dazu eine Karaffe mit Wasser und einen Krug mit Zange und Eiswürfeln.
Isaakson nahm einen, ließ ihn in den Ricard plumpsen und goss nur ganz wenig Wasser dazu. Das Eis würde bei dieser Hitze in Windeseile schmelzen, dann wäre der Pastis gestreckt genug.
Er nahm den ersten Schluck. Wunderbar. In Schweden hatten sie dieses Getränk nicht. Es gab aber auch kein schwedisches Wetter, bei dem man es trinken wollte.
Er sah auf den Quai, eben spazierten Studentinnen vorbei. Für Schwedinnen waren sie blond genug, aber zu dick und zu laut, also, schloss er, mussten es Amerikanerinnen sein.
Die Segel der Boote wiegten im leichten Wind, der vom Meer herüberkam. Es hätte das Paradies sein können, wenn er nicht immer wieder die laut knarzenden Roller ringsum hörte, mit den jungen Arabern darauf, ohne Helm, aber mit Basecaps und viel zu viel Mut.
Sie waren das beste Zeichen dafür, dass in den Vierteln ringsum das Verbrechen tobte. Immer noch und vielleicht mehr als jemals zuvor. Weil es die Stadt nur vermocht hatte, das Zentrum zu sanieren, zu verschönern, zu entgiften.
Doch ringsum, in den Cités und an den Rändern, war von dem Geld nichts angekommen. Und zu den Gangs und Verbrechern kamen nun auch noch die radikalisierten Jugendlichen.
Sie waren ihr Job. Der Job von Zara und von Isaakson. Und ihrer Einheit, die von Den Haag aus durch ganz Europa reiste. Den Sicherheitsbehörden eigentlich immer willkommen war. Nur hier nicht, nicht in Marseille.
Genau achtzehn Minuten später packte Zara erst den Stift und dann das Notizbuch in ihre kleine Tasche. Sie legte zwei Euro auf den Tisch und stand auf.
Isaakson zahlte ebenfalls, zusammen gingen sie zurück Richtung Hôtel de Police.
Als sie ankamen, sah er, was Zara vorhin bestellt hatte, bei Rui, und was dieser in Zusammenarbeit mit dem Pariser Innenministerium in nicht mal zwanzig Minuten hatte aufmarschieren lassen.
Er sah, was nötig war, um in der Marseiller Vorstadt zu ermitteln. Vor ihnen standen acht Busse der Gendarmerie, daraus stiegen in diesem Moment Dutzende Beamte mit Masken und Maschinenpistolen. Hinter ihnen bremsten vier Landrover der Armee, die Operation Vigipirate, die Einheit der Terrorabwehr. Auch aus diesen Wagen stiegen Männer und Frauen, Soldaten in Tarnkleidung, sie hielten schwere Maschinengewehre in den Händen.
Niemals wären Zara und Isaakson ohne Schutz in die Vorstädte gegangen, und doch überraschte es den Schweden immer wieder, wie viele martialische Waffen hier in Frankreich nötig waren, um eine Cité zu betreten.
Rund um Stockholm, wo er gearbeitet hatte, gab es auch schwierige Viertel, genau wie in Malmö. Aber zwei Polizeiwagen hatten in seiner Ausbildung immer gereicht, um sich Respekt zu verschaffen.
Hier wären sie mit zwei Polizeiwagen plattgemacht worden, von den Jugendlichen des Viertels. Und zwar plattgemacht im Wortsinne. Sie hätten es nicht lebend rausgeschafft.
Isaakson wusste das – sie waren schließlich bei den letzten Terrorermittlungen immer wieder in den Banlieues gewesen, hier, in Paris und Toulouse − und er wollte es dennoch nicht akzeptieren. Das hier war Europa. Verdammt.
Zara stieg in ihren Kleinwagen von dem Autovermieter in Nizza. Sie nickte Isaakson zu.
»Fahren wir.«
9. Juli 2018 Cité La Castellane, Marseille
Jeden Schritt, den sie gingen, hatten vor ihnen schon zwanzig Soldaten gemacht. Dann standen sie an der Tür zu dem Hochhausblock.
Zara wusste, dass tausend Augen sie beobachteten.
Aus den Fenstern im ersten, im zwölften und im 28. Stock.
In diesen kargen, hässlichen Blocks aus Fertigteilmodulen, die sie hier in den Sechzigern aus dem Boden gestampft hatten.
In denen die Aufzüge an zwanzig Tagen im Monat nicht gingen.
Wären sie allein hier gewesen, hätten die Späher an der Einfahrt zur Cité längst Alarm geschlagen. Dann würde es in diesem Moment Steine auf sie regnen. Fernseher. Kühlschränke.
Die Drogenhändler und Zuhälter würden die jungen Araber antreiben, die Polizisten mit allem zu bewerfen, was sie finden könnten.
Aber sie waren nicht alleine hier. Zara würde niemals alleine herkommen. Sie wusste, wie es hier war. Sie wusste es nur zu gut.
Um die Eingangstür herum standen sechs Gendarmen, die Schilde hatten sie nach oben gerichtet, um eventuelle Wurfgeschosse abzufangen.
Ein Soldat öffnete mit einem Tritt die Eingangstür aus Metall, das Glas war gesprungen. Einbrechen wollte hier ohnehin niemand.
Sie betraten das Gebäude. Gingen die Treppen hinauf. Langsam, immer vier Soldaten, dann die beiden Beamten, hinter ihnen wieder vier Soldaten, die Maschinengewehre im Anschlag.
Es waren nicht viele Treppen, sie mussten nur bis zur fünften Etage gehen.
Eine Stufe nach der anderen, der hässliche rote Stein, aus dem sie waren, war dreckig und abgeplatzt. Es stank nach Moder und nach Dope. Zara hasste den Geruch von Gras.
Die Soldaten waren schon eine halbe Treppe weiter oben, als in der zweiten Etage plötzlich die Tür aufging. Ein junger Araber steckte den Kopf heraus.
»Was wollt ihr Scheißbullen hier?«, rief er und griff mit einem Arm nach Zara.
Die schlug einen Haken wie ein Hase und stand in Sekundenbruchteilen auf der übernächsten Treppenstufe, während Isaakson sich den Jungen griff und seinen Kopf gegen die Wand drückte.
»Ich hab das nicht verstanden«, sagte er leise zischend auf Arabisch. »Sag das noch mal, du kleine Schwuchtel.«
Zara machte einmal »Psst«.
Sie musste die Treppe wieder heruntergegangen sein, sie stand jedenfalls ganz dicht bei ihm, bei Isaakson.
Sie musste ihn nicht anfassen, nicht ermahnen. Sie machte nur dieses Geräusch. Sofort ließ er ab von dem Jungen, ließ seinen Kopf los und stieß ihn von sich weg, hinein in die Wohnung.
Die Soldaten hinter ihnen schauten nur zu, hielten die Gewehre nach oben und sicherten nach hinten ab.
Sie konnte den Jungen in der Wohnung fluchen hören. Schwuchtel hatte ihn ziemlich sicher noch niemand genannt, der nicht mit ihm verwandt war oder nicht zumindest schon mal mit ihm gekokst hatte.
Sie stiegen die Treppen weiter hinauf. Bis zur Wohnung in der fünften Etage, rechte Seite.
Namensschilder gab es hier nicht. Jeder in der Cité wusste, wer wo wohnte. Und die, die es nicht wussten, hatten hier eh nichts verloren.
Sie klopfte an die Tür. Sehr leise.
Sofort öffnete sich der billige Holzverschlag.
Eine Frau stand dahinter, sie trug einen afrikanischen Turban auf dem Kopf, in Rosa, dazu eines dieser langen westafrikanischen Gewänder.
»Madame Sissoko«, sagte Zara. Es war keine Frage.
Sie nickte und besah sich die Soldaten auf der Treppe. Es lag keine Angst in ihrem Blick. Sie schaute sie einfach nur unverwandt an.
»Ich würde gern mit Ihnen sprechen.«
Die Frau zeigte auf die offene Tür. Ihr Gesicht sah jung aus. Sie musste sehr jung gewesen sein, als sie Aïcha bekommen hatte.
Zara ging zuerst, Isaakson folgte ihr und bedeutete den Soldaten, die Tür von außen zu sichern.
Auf der Couch saßen drei Schwarze.
Ein Mädchen, etwa so alt wie Aïcha. Sie nestelte an ihrem Kopftuch. Keine Haarsträhne schaute darunter hervor. Es war fest gebunden. Sie blickte zu Boden. Still und demütig.
Daneben ein Junge. Vielleicht elf. Seine Haare waren stoppelkurz. Er schaute die Frau und den Mann an, offener Blick, trotzig. Und der Vater. Ein älterer Schwarzer, der die weiße Kappe der gläubigen Senegalesen trug und sie aus blutunterlaufenen Augen ansah.
Sie setzten sich auf die Couch und Zara wollte gerade beginnen, da durchbrach der Vater die Stille.
»Ich habe geträumt, dass Aïcha etwas passiert.«
Er sprach leise, mit diesem tiefen Bass und der breiten Aussprache, die den Senegalesen zu eigen war, wenn sie Französisch redeten.
Sie spürte Isaaksons Blick auf ihr, seine Überraschung über diesen unvermuteten Gesprächsbeginn. Nun wartete er, was sie tat. Zara.
»Darf ich fragen, was ist ihr in Ihrem Traum passiert, Ihrer Tochter?«
Seine Augen blickten durch sie hindurch, sie fanden keinen Halt.
»Sie wurde getötet. Mit einer Machete. Man hat ihr den Kopf abgeschlagen.«
Wieder sagte er das in einer scheinbar inneren Ruhe, doch Zara hörte, wie belegt seine Stimme war.
»Wer?«
»Männer.«
»Und warum?«
»Das spielt keine Rolle. In meinen Träumen spielt das ›Warum‹ keine Rolle.«
»Kannten Sie die Männer?«
Ein Blick zu ihr, jetzt fixierte er sie, wütend, drängend.
»Sie haben keine Gesichter.«
Zara sprach ganz geschäftsmäßig: »Männer ohne Gesichter enthaupten Ihre Tochter. Das ist ein schrecklicher Traum. Haben Sie eine Erklärung für diese Vorahnung?«
»Allah gibt uns Hinweise auf die Zukunft. Er prüft mich, und er prüft meine Familie. Und er sendet mir seine Kraft in diesen Träumen.«
»Sie haben mich noch gar nicht gefragt, was mit Ihrer Tochter passiert ist.«
Eine Stille setzte ein, der Mann sah sie an, wortlos, doch er hatte eine Kraft in sich, in seinem alten Körper, die das zerschlissene Sofa und die heruntergekommene Wohnung vergessen ließ.
»Ich weiß seit zehn Minuten, dass Sie kommen. Ich habe die Soldaten gehört und den Hubschrauber. Und die Jeeps gesehen, unten. Aïcha ist tot.«
Zara nickte.
»Sie ist erstochen worden. In den Calanques.«
Keine Regung in seinem Gesicht, keine Regung in den blutunterlaufenen Augen. Er schaute gedankenverloren, erst zu seinem Sohn, dann zu seiner Frau und dann zu seiner Tochter. Sein Blick ruhte eine Weile auf ihr. Alle drei wiederum schauten den Vater an.
»Das ist sie.«
Eine kurze Pause, nachdem er das wie eine Feststellung gesagt hatte.
»Warum hat Ihnen Allah diese Vorahnung gesandt? Warum sollte er Ihnen Ihre unschuldige Tochter nehmen? Sie auf so brutale Weise aus dem Leben reißen, wie es bei Aïcha geschehen ist?«
Als sie den Namen des Mädchens aussprach, glaubte sie für einen kurzen Moment ein Flackern in den Augen der Schwester wahrzunehmen. Aber schon Sekunden später hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Der Vater sah sie noch immer an.
»Allah allein weiß, wer unschuldig ist.«
»Also war Aïcha nicht unschuldig?«
»Sie haben uns die Nachricht überbracht. Wir würden nun gerne unter uns sein.«
»Wo finden wir ihren älteren Bruder, Lamine?«
»Er ist unterwegs. Ich suche ihn nicht. Sie suchen ihn. Viel Erfolg.«
Isaakson, der in einer Ecke des Raumes stand, erhob die Stimme: »Wir sind hier, um den Mord an …«
»Psst …«
Er brach ab, aber Zara spürte, dass er sie diesmal nicht verstehen würde. Auch sie hätte gerne noch Fragen gestellt, aber sie wusste, dass es nichts bringen würde.
Sie stand auf, nickte den vieren zu und verließ das Zimmer, Isaakson folgte ihr dicht. Sie drängelten sich an den Soldaten vorbei, die vor der Tür Stellung bezogen hatten, und gingen die Etagen hinunter. Dicht bewacht von den Männern.
Draußen sah sie hinauf, und sie sah an den Fenstern, in den Wohnblocks rundherum, Dutzende offene Fenster. Daraus schauten Männer, ausschließlich junge Männer. Einige pfiffen, andere zeigte ihnen die Faust oder den erhobenen Zeigefinger. Eigentlich ein muslimisches Gottesbekenntnis, doch die radikalen Islamisten hatten das Zeichen für sich vereinnahmt, auch der IS nutzte es in Propaganda-Videos.
Sie konnte nicht weiter darüber nachdenken. Sie brauchte Zeit.
»Warten Sie«, wies sie den Leiter der Gendarmerie an. Er und seine Männer bezogen Stellung um den Kleinwagen, während Zara einstieg und wieder ihr Notizbuch herausholte.
Sie spürte Isaaksons Blick von der Seite, nachdem er eingestiegen war. Das musste ihr jetzt egal sein.
Sie beschrieb kurz die Szene, die Zitate des Vaters. Die Szene mit der Enthauptung aus seinem Traum. Mit einer Machete.
Sie steckte das Buch wieder ein und sagte leise aus dem offenen Fenster: »Zur Moschee.«
Dann ließ sie den Motor an, während sie beobachtete, wie die Soldaten und Gendarmen zu ihren Wagen liefen, die Waffen stets im Anschlag.
Ein gellendes Pfeifkonzert ging auf sie nieder, als Zara anfuhr.
9. Juli 2018 Online-Ausgabe Marseille
Marseille (mit AFP).
In der Felsenlandschaft der Calanques östlich von Marseille ist eine Tote gefunden worden.
Die vierzehnjährige Aïcha Sissoko ist verblutet, nachdem ihr zahlreiche Messerstiche beigebracht wurden.
Quellen der Polizei sprachen gegenüber AFP außerdem von Würgemalen am Hals des Teenagers. Die Tat wurde demnach mit äußerster Brutalität ausgeführt.