Zehntausend Jahre sind ein Tag - Ines Gramlich - E-Book

Zehntausend Jahre sind ein Tag E-Book

Ines Gramlich

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Beschreibung

Ina fliegt nach Griechenland, um sich ein Haus zu kaufen. Von einem inneren Impuls getrieben, so scheint es. Oder kommt sie jetzt nur an, wo sie hingehört? Eine Heilerin sagt ihr eine magische Zeit voraus. Ina wird ihren Vater finden. Georgios war ein "Partisanenkind", nach dem Griechischen Bürgerkrieg zur kommunistischen Erziehung und Ausbildung ins östliche Deutschland geschickt. Zwei Frauen liebte er: die Griechin Spiridula und die Deutsche Barbara. Aus diesen Beziehungen entstammen seine beiden Kinder, die Halbgeschwister Konstatin und Ina … Erinnerungsstücke an Griechenland und das deutsche Dresden seit dem Zweiten Weltkrieg wechseln einander ab, unterbrochen durch die aktuelle Coronazeit – Phasen der Zerrissenheit, des Verdrängens, der Traumatisierung, aber auch Aufklärung.

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Seitenzahl: 99

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2023 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99130-270-4

ISBN e-book: 978-3-99130-271-1

Lektorat: Dr. Annette Debold

Umschlagfotos: Vangelis, Demid, Wirestock | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildung: Fotostudio Navratil in Kempten (Konzept: Ines Gramlich)

www.novumverlag.com

Vorwort

Alle handelnden Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären zufällig.

Einleitung

Gedankenverloren ging Ina am 17.07.2019 den kopfsteingepflasterten Weg am Bekleidungsgeschäft Kaufhof vorbei. Sie spazierte durch die Innenstadt Kemptens, der sogenannten Metropole des Allgäus, auch wenn sie der Ort in keiner Weise an eine Metropole erinnerte. Ihre Gedanken waren bei ihrer Tochter Ella in Wien. Obwohl es erst zehn Uhr morgens war, breitete sich eine Schwüle über der Stadt aus. Plötzlich wäre sie fast mit einer jungen Frau zusammengestoßen, die sich auf einmal nach Ina umdrehte. Ina spürte eine seltsame Energie, die von dieser Frau ausging. Die Frau kam langsam auf sie zu und sprach sie an. Ina bemerkte, dass die Frau schwanger war. Sie sprach schnell, zu schnell, als würde sie parallel zu ihren gerade aufkommenden Gedanken sprechen, schnell im Rhythmus eines Stakkato. Und sie war Ausländerin, vermutlich Südeuropäerin. Beim Sprechen flatterte ihr buntes Sommerkleid. Die fremde Frau sprach schnell, und Ina hatte Mühe, sie zu verstehen.

Die Fremde sagte: „Ich sehe sieben Risse in der Aura. Links, das Auralicht! Ich muss mit dir sprechen. Ist das o. k. für dich?“ Sie nahm spontan Inas linke Hand. Wieder war da diese unerklärliche Energie, die von ihr ausging. „Ich muss mit Ihnen sprechen, wenn es für Sie o. k. ist!“, wechselte sie spontan nun ins distanzierte „Sie“. „Ich bin Heilerin aus einem Dorf in der Nähe von Augsburg und gehe gleich zu einer Klientin. Aber ich muss mit Ihnen sprechen. Können wir uns ungestört in ein Café setzen und sprechen?“ Ina überlegte und lud sie auf einen Kaffee ein. „Dieser Tag ist für Sie ein Glückstag!“ Der Satz, fand Ina, war etwas zu viel. Sie war immer noch ein wenig irritiert. Aber irgendetwas hielt sie davon ab, weiterzugehen. Sie stand vor dieser Frau, als würden beide sich kennen, hörte ihr zu und stand nur da, fast wie in Trance. Das eben Gehörte setzte sich in ihr fest, als würde eine neue Synapse freigeschaltet, obwohl sie nur diese Frau beobachtete und dachte: „Wo ist sie geboren? Wer ist sie? Eine Roma, die im Sommer bettelnd unterwegs ist. Den Eindruck macht sie aber nicht“, korrigierte sich Ina. Und sie ist schwanger. Sie sagte ihren Namen, Letizia, und dass sie auf Kreta geboren sei. Ihre Mutter sei da eine sehr bekannte Heilerin. Wie von unbekannter unsichtbarer Hand gezogen, gingen sie und die Frau ins „Residenz-Café“. Immer noch leicht irritiert saß sie neben dieser mysteriösen Unbekannten. Sie bestellte für sich Cappuccino und für Letizia heiße Schokolade mit Sahne darauf. Letizia erzählte – immer noch schnell – von sich und warum sie gerade Ina angesprochen hatte. „Du wirst dir das heutige Datum merken“, sagte sie, im Sprechen immer schneller werdend. „Ich sprach dich an, weil das Auralicht sieben Risse hat, in der linken Aura. Eine Person entzieht dir Kraft. Du hast das Herz eines Mannes berührt. Er wird sich melden. Mit ihm wirst du glücklich. Aber deine Tochter macht dir Sorgen. Sie hat Probleme, findet ihren Weg nicht. Ihre Beziehung zu einem Mann tut ihr nicht gut. Du musst dich von dem Drama deiner Ahninnen lösen. Bist du bereit, noch mehr Gutes und auch Schlechtes zu erfahren? Dann bitte gehe zu deiner Bank, bezahle mich mit dem Geld, damit du noch Weiteres erfahren kannst. Wenn es dir nicht hilft, was ich dir erzähle, und du nicht bereit bist, gebe ich dir dein Geld zurück, denn es ist mein Name, mein Ruf, den ich zu verlieren habe. Von dem Geld kaufe ich Blumen für dich und Kerzen. Es kostet mich Kraft, für dich zu beten. Und das Baby in meinem Leib.“ Zärtlich strich sie über ihren gewölbten Bauch.

Ina entschloss sich, Letizia zu bezahlen, wie sie es für ihre Vorhersagen verlangt hatte. Auf dem Weg zu ihrer Hausbank dachte sie: „Bin ich so naiv, oder was ist mit mir los?“

An der vereinbarten Stelle trafen sie sich wieder. Letizia sprach für Ina in nicht verständlicher Sprache ein Gebet. Sie gab Ina auch eine Aufgabe: Sie solle drei Kerzen kaufen für die drei anwesenden Personen – Letizia, Ina und Letizias ungeborenes Kind –, Weihrauch, eine Rose und Kürbiskerne.

Letizia war mit ihren Anweisungen noch nicht fertig, da läuteten die Glocken des Kirchturmes des ehemaligen Klosters. Sie lächelte in sich hinein, wartete, bis das Geläut aufhörte, und gab Ina noch einen Hinweis: Innerhalb der nächsten sechs Wochen könne sie Schnupfen, Ohrenschmerzen, Übelkeit, Erbrechen oder auch Nasenbluten bekommen, dann habe das Schlechte ihren Körper verlassen. „Und bitte erzähle niemandem innerhalb der nächsten sechs Wochen von unserer Begegnung, und bitte nimm dieses kleine Geschenk, es ist von Kreta. Es soll dich beschützen. Verliere es nicht!“ Es war ein kleines Zweiglein. Vorsichtig legte Ina es in ein Seitenfach ihres Portemonnaies.

Ina erinnerte sich an das Gespräch mit einer geheimnisvollen Frau vor vier Jahren in Istanbul. Sie wusste: Letizia war von dieser Frau geschickt worden, so wie diese es gesagt hatte.

Beide Frauen gingen nun ein kurzes Stück nebeneinanderher. Als Letizia beim Gebet Inas Hände hielt, fühlte es sich an, als würden kleine intensive Blitze durch ihre Fingerkuppen, Finger, Handgelenke und Arme hindurchschießen. Ina spürte, dass Letizia alles gegeben hatte, denn sie sah plötzlich ungemein blass aus. Das Übertragen der Energie hatte sie sehr erschöpft. Ina machte sich ernsthaft Sorgen, war Letizia doch schwanger und es lag mittlerweile eine unerträgliche Hitze über der beschaulichen Stadt. Selbst Ina wurde nun leicht übel. Die Energien des Gebets arbeiteten schon gegen Inas krank machende Energien. Letizia wollte Inas Telefonnummer haben, doch Ina hatte ihre Festnetznummer nicht im Kopf und ihr Handy nicht dabei. Also vereinbarten sie, sich gleich noch einmal am Busbahnhof zu treffen, damit Ina ihr die Nummer geben konnte. Ina eilte nach Hause, schnappte sich das Handy und notierte schnell die Festnetznummer. Dann eilte sie zum Busbahnhof, um Letizia nochmals zu treffen. Es wurde 12.40 Uhr, 13 Uhr, 13.20 Uhr, aber Letizia kam nicht.

Während Ina auf Letizia wartete, erinnerte sie sich an drei Dinge – Glück, Liebe, Gesundheit. Es schien ihr, als würde sie die Energie Letizias spüren.

Nach der Energieübertragung fuhr sie mit dem Bus heim – beeindruckt, verwirrt, hoffnungsvoll, in einem einzigen großen Gefühl. Sie wusste, sie hatte sich für den Mann entschieden und den Wunsch, sich auf diesen Mann ganz einzulassen, wenn es an der Zeit war. Und sie hatte endlich ihre Aufgabe erkannt, die Dramen ihrer Ahninnen aufzulösen – ihre Mutter, Großmutter, Urgroßmutter, alle ihre Ahninnen waren bei ihr.

***

Deutschland, Flughafen München, März 2020

Nun war sie im Münchener Flughafen. Vor sechs Monaten war hier kein Durchkommen gewesen. Jetzt war er wie ein Geisterflughafen menschenleer aufgrund der Covid-19-Pandemie. Es herrschte eine seltsame Stimmung, und irgendwie tat sie gut, diese ungewöhnliche Stille. Diese seltsame Atmosphäre schien niemanden zu stören, die Reisenden erweckten den Eindruck, sie zu genießen. Am Zoll ging es auch ziemlich entspannt zu. Die gleiche Prozedur wie immer, nur dass das Personal Masken trug. Ina wartete auf den Flug nach Athen. Warum gerade Griechenland? Sie reiste nur mit einem kleinen Koffer und Rucksack. In diesem war jetzt bloß Platz für Lippenstift und Wimperntusche. Das kleine Schminktäschchen für die Reise war diesmal im Koffer, damit im Handgepäck, ihrem alten Rucksack, mehr Platz war. Der Rucksack barg für Ina etwas ganz besonders Wertvolles, den kleinen Zweig von Letizia, und würde sie von nun an auf jeder ihrer Reisen begleiten.

Die drei Monate Quarantäne in Europa waren vorbei – vorerst. Die Nerven aller Menschen lagen blank. Das soziale Leben hatte sich grundlegend verändert. Und sie flog nach Griechenland, um ein Haus zu kaufen.

Die Mönche auf Athos beteten in dieser Zeit unaufhörlich, Tag und Nacht, für Griechenland und forderten alle Griechen auf, ein Kreuz mit Olivenöl an ihre Haustüren zu zeichnen und es ihnen gleichzutun – so lange, bis Corona vorbei war. Die Pandemie hatte nun alle Länder auf der Erde erreicht …

***

Griechenland, Kalavryta, 13.12.1943

Georgios sah viele Männer in Uniform der deutschen Wehrmacht die Hauptstraße hinaufrennen. Mit ihren Gewehren schossen sie wild in die Luft, aber auch auf an der Straße stehende Männer, die ihrer Arbeit nachgehen wollten, schossen sie.

Plötzlich hörte er unendlich viele Schüsse, Gewehrsalven, die nicht aufhören wollten. Sein Großvater, Vater, zwei Brüder wurden erschossen; die sich gerade auf dem Kirchplatz aufhielten, fielen dem Kugelhagel zum Opfer. Er stand wie erstarrt hinter einem Baum am Kirchplatz, als er seine Brüder, Vater und Großvater für immer verlor. Sein Glück war, dass er zu spät kam, um am Gottesdienst teilzunehmen. In dieser Zeit des Widerstandes gegen die Besatzer hielt der Pfarrer mehrere Gottesdienste ab, um den Bewohnern Mut und Trost zuzusprechen.

Alles ging sehr schnell. In der entstandenen Panik bemerkte er nicht gleich, dass ihn jemand fest an der Hand wegzog. Es war eine Frau, seine Lehrerin.

Die Frauen des Ortes nahmen die anderen Kinder schnell an die Hand und versuchten sich in die Dorfschule zu retten und dort einzuschließen. Auf einmal brach Feuer aus. Es musste von einem der Männer gelegt worden sein. Es stank nach Rauch, und alle bekamen Panik. Plötzlich war die Schultür auf. Ein Schuss fiel. Sie rannten und rannten. Seine Großmutter Inessa hielt ihn an der Hand. Wieder fiel ein Schuss. Er traf seine Großmutter. Schreie, die nicht hörbar waren. Die Großmutter ließ sich auf ihn fallen: „Du musst leben, Junge. Bleib unter mir liegen, bis alle weg sind, und bewege dich nicht.“ Als die Fremden weg waren, kroch er langsam unter der Großmutter hervor. Auch seine Mutter kam in diesem Massaker um. Er vermutete, dass keiner von seiner Familie mehr lebte. Aber da kam eine Person aus dem Schulgebäude – es war seine Schwester Dimitra.

Was an diesem Tag geschah, war eine „Sühnemaßnahme“ der Wehrmacht, da Partisanen, bewaffnete Kämpfer, die nicht zu den regulären Streitkräften gehörten, 78 Wehrmachtsoldaten im Oktober gefangen und anschließend getötet hatten.

***

Später nahmen Partisanen, die die wenigen Überlebenden fanden, ihn und seine Schwester mit. Sie gaben ihnen zu essen und saubere Kleidung. Übernachten konnten sie in dem Haus einer Familie, die die Partisanen in ihrem Freiheitskampf unterstützte. Fast alle Männer waren tot. Kalavryta, der Ort seiner Kindheit, wurde der Ort der Witwen.

Jahre später, als er acht war, beschlossen seine neue Familie und die Partisanen, ihn zu seinem Wohle und für Griechenland in ein fremdes Land zu schicken, wo er zur Schule gehen und im kommunistischen Sinne erzogen und ausgebildet werden sollte. Er war einverstanden, andere Kinder wurden aber gewaltsam von ihren Eltern getrennt. Nicht jede kommunistisch überzeugte Familie willigte freiwillig ein, ihre Kinder wegzugeben. Doch Widerspruch gegen die Entscheidung der Kommunisten war unmöglich. Wer nicht dafür war, wurde einfach erschossen.

***

Am Tag seiner Abreise herrschte ein großes Durcheinander am Bahnhof. Der kleine Bahnhof war von Menschen überfüllt. Seine Schwester Dimitra verlor er in diesem Tumult. Nun war er allein und hatte große Angst.

Er erinnerte sich: Er hörte wieder Schüsse. Es kam erneut zu einem Überfall. Doch er wollte nicht wissen, was geschah. Er hatte schon genug Grausamkeiten gesehen. Das Geschehen blendete er komplett aus. Er drehte sich nicht um.

***

Die Reise sollte für Georgios und die anderen Kinder und Jugendlichen bis Athen und von da über Dresden nach Berlin führen. Dresden eine Stadt, von der er noch nie zuvor gehört hatte.

***

Die Wirren des Krieges zerrissen Familien. Nachbarn, die vorher Freunde waren, wurden zu Feinden. Hass auf der einen Seite nährte Hass auf der anderen. Der Griechische Bürgerkrieg hatte im März 1946 begonnen und endete am 9. Oktober 1949 – Georgios mittendrin.