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Im heruntergekommenen Hotel "Palace" besucht ein ordinärer Kiezganove Nacht für Nacht eine alternde Prostituierte, um sich gegen Geld, neben anderem, eine Geschichte erzählen zu lassen. Denn das kann sie hervorragend. Die Geschichten dieser modernen Scheherazade kreisen alle um die Frage der Identität: Was macht ein Menschenleben aus? Und warum ist die Erfindung oft realer als die Wirklichkeit? Der Schweizer Autor Charles Lewinsky sorgt mit seiner Sammlung aus bösen Märchen, raffinierten Short Storys und modernen Parabeln ein weiteres Mal für glanzvolle Überraschungen in der Gegenwartsliteratur.
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Seitenzahl: 211
N & K
Nagel & Kimche eBook
Charles Lewinsky
Zehnundeine Nacht
Nagel & Kimche
© 2008 Nagel & Kimche
im Carl Hanser Verlag München
Herstellung: Andrea Mogwitz und Rainald Schwarz
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann
Datenkonvertierung eBook:
Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg
eBook ISBN 978-3-312-00434-8
www.nagel-kimche.ch
Der Sultan wollte wissen, wie die Geschichte weiterging,
und beschloss deshalb, Scheherazade noch einen Tag länger
am Leben zu lassen.
Geschichten aus Tausendundeiner Nacht
Das Gebäude war einmal ein Hotel gewesen. Nie ganz so vornehm, wie es sich zu seinen besten Zeiten gab, aber immerhin. Die Leuchtbuchstaben an der Fassade hatte man abmontiert. Ihre Umrisse waren lesbar geblieben: PALACE.
Man konnte hier immer noch leben, auch wenn es nicht danach aussah.
Vor Jahren, bei einer Auseinandersetzung, an die sich manche Bewohner noch erinnerten, war die große Scheibe des Haupteingangs zu Bruch gegangen. Man hatte den Rahmen mit Brettern zugenagelt, und seither gab es nur noch die alte Lieferantenpforte hinten im Hof. Nicht leicht zu finden, aber wer hierhergehörte, kannte den Weg, und Fremde waren nicht erwünscht. Man öffnete die Metalltür, die immer nur angelehnt war, und durchquerte die Küche, wo Linien aus grünem Schimmel die Umrisse längst abtransportierter Herde an die Wand zeichneten. Von dort kam man, auf dem Weg, den früher die Kellner genommen hatten, in den Speisesaal, wo das Skelett eines Kronleuchters von der Decke hing. Die geschliffenen Glasprismen hatte jemand sorgfältig abgelöst. Käufer finden sich für alles.
Dann ging man durchs Foyer, wo an den Säulen Fahrräder lehnten, keins davon vollständig. Ein mit leeren Flaschen gefüllter Kinderwagen wartete schon seit Jahren auf den Abtransport. Auf dem verwaisten Tresen des Portiers standen, sorgfältig in Reih und Glied ausgerichtet, mehrere Paar ausgetretener Schuhe. Ein Kugelschreiber baumelte ohne Mine an seiner Metallspirale. Meldescheine wurden hier schon lang nicht mehr ausgefüllt. Trotzdem waren die Zimmer auf den vier Etagen fast alle vermietet.
Im Treppenhaus lag noch ein verblichener roter Läufer. Manche der Messingstangen, mit denen er einmal befestigt gewesen war, hatten sich gelöst. Man musste die Füße sorgfältig setzen, um nicht zu stolpern. Der Aufzug war defekt.
Die Flure sahen auf allen Etagen gleich aus. Immer zwischen zwei Türen ein helleres Viereck an der Wand. Jemand hatte in diese leeren Rahmen abgehängter Bilder mit sorgfältiger Kinderschrift hineingeschrieben, was dort einmal zu sehen gewesen war: Florenz, Paris, der Strand von Rio de Janeiro.
Manche Gäste lebten nur für ein paar Tage im Palace, andere schon seit Jahren. Man konnte den Unterschied an den Türen erkennen. Wer hier länger zu Hause war, hatte meist mehrere Schlösser angebracht.
Die Miete zahlte man in bar. Die Männer, die das Geld einsammelten, kamen immer zu zweit.
Die Prinzessin hatte ein Doppelzimmer, was nicht viel bedeutete. Es war nur wenig größer als die andern, lag aber zur Straße und nicht zum Hinterhof hin und war dadurch ein bisschen heller. Ihr war das egal. Tagsüber schlief sie meistens. Sie hatte ein eigenes Badezimmer, und das war wichtig in ihrem Beruf.
Die Möbel hatte sie sich im Lauf der Jahre selber angeschafft oder schenken lassen, mit so wenig Interesse, dass nicht mehr als das Nötigste zusammengekommen war. Ein Bett natürlich, breit genug für zwei, aber doch so schmal, dass man darin auch allein sein konnte, ohne dass einem etwas fehlte. Ein Nachttisch mit Marmorplatte. Zwei Stühle, auf denen Besucher ihre Kleider ablegen konnten. Ein Schrank und darauf der große Koffer, den sie irgendwann einmal packen würde, um wegzufahren und nicht wiederzukommen.
An den Wänden hatte sie Ansichtskarten befestigt, Landschaften mit Wasserfällen und Sonnenuntergängen. Wenn jemand die bunten Bilder von der Wand genommen und umgedreht hätte, wäre ihm aufgefallen, dass keine Grüße auf den Karten standen. Sie hatte sie sich selber mitgebracht, in der Zeit, als sie sich noch Urlaube leisten konnte. Aber niemand drehte die Postkarten um.
Auch der Teppich stammte von einer Reise. Manchmal erinnerte sie sich daran, wie bunt er einmal gewesen war. Er vertrug das Sonnenlicht nicht, und das konnte sie verstehen.
Es war kein schönes Zimmer. Der Teppichboden hatte Brandlöcher, und die Decke war voller Wasserflecken. Einmal hatte sie einen Eimer mit weißer Farbe gekauft, um sie neu zu streichen. Sie hatte sich nie aufraffen können, mit der Arbeit zu beginnen. Der Eimer stand seither im Bad und war im Weg. Die Farbe darin war längst eingetrocknet.
Das Fensterbrett war, von irgendeinem Vormieter her, verbreitert, so dass man auch daran essen konnte. Über ihren Teller hinweg hätte sie auf die Straße sehen können, aber sie ließ die Vorhänge meist geschlossen. Es gab da nichts Sehenswertes.
Sie kannte das Palace noch aus seinen besseren Tagen, die auch nicht gut gewesen waren. Die Lage war damals für ihren Beruf günstig, nicht nur wegen der Nähe zum Bahnhof, sondern vor allem wegen der vielen Lokale im Quartier, wo sich immer genügend Kunden fanden.
Damals.
Aus den rotplüschigen Bars waren unterdessen ganz gewöhnliche Kneipen geworden, voller Betrunkener, die ihr knappes Geld lieber in die nächste und die übernächste Flasche investierten. Und an jeder Ecke lauerte die Konkurrenz der kleinen Mädchen, die für die Hoffnung auf den nächsten Schuss in jedes Auto stiegen. Die guten Zeiten waren längst Vergangenheit.
Die Zeiten, in denen man noch von einer Zukunft hatte träumen können.
Damals.
Damals war sie schwanger geworden, es war länger her, als sie sich gern eingestand. Sie hatte Pläne geschmiedet, vom Aussteigen und Auswandern und von einem neuen Leben. Hatte den großen Koffer gekauft. Dann hatte sie das Kind wegmachen lassen und sich eingeredet, es sei am besten so.
Es war nicht am besten gewesen, aber wer sich an alte Hoffnungen erinnert, ist selber schuld. Man träumt dann nur schlecht.
Die Prinzessin war älter geworden, das ließ sich nicht verleugnen. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, war ihr das eigene Gesicht nicht mehr vertraut, und doch konnte sie sich mit jedem Tag weniger davon überzeugen, dass es einmal anders gewesen war. Vielleicht lag es am Spiegel. Er hing schon lang da und hatte blinde Flecken.
Vielleicht lag es auch an ihr.
«Du hast müdes Fleisch», hatte ihr ein Kunde einmal gesagt, und sie hatte ihm nicht widersprochen.
Sie war müde.
Die Freier waren weniger geworden, und die paar, die noch den Weg durch den Lieferanteneingang fanden, suchten bei ihr nicht mehr dasselbe wie früher. Keine Aufregungen und Abenteuer, sondern Beruhigung und Trost. Je gewöhnlicher sie waren, desto mehr brauchten sie die Bestätigung, besondere Menschen zu sein, mit Schicksalen, wie sie außer ihnen nie jemand hatte erdulden müssen. Die Prinzessin hielt sie in den Armen und half ihnen dabei, sich zu belügen. Sie erfand ihnen Wirklichkeiten, in denen sie sich zu Hause fühlen konnten. Erzählte ihnen all die Geschichten, die sie gern hören wollten.
Das Erzählen ersparte ihr manch anderes, und darum gab sie sich Mühe damit.
Trotzdem waren irgendwann kaum noch Kunden übriggeblieben. Nur einer, nicht der angenehmste, kam regelmäßig. Meistens bezahlte er sogar. Es war ihr eigener Fehler, das gestand sie sich ein. Sie hätte sich mehr bemühen müssen. Attraktiver bleiben. Aber sich Geschichten auszudenken war einfacher.
Ihre erste Begegnung war ein Zufall gewesen. Er hatte Geschäfte im Hotel, so wie er überall Geschäfte hatte, und jemand hatte ihm von ihr erzählt. Wohl nicht allzu viel Gutes, aber das passte ihm gerade. Er hatte selber einen schlechten Ruf und war stolz darauf. Auch seine besten Zeiten waren vorbei.
Außerdem brauchte er jemanden, der sich vieles gefallen ließ.
Beim ersten Mal besuchte er sie wie einer, der das gar nicht nötig hat. Der einer Laune nachgibt, weil er sich das leisten kann. Aber schon bald kam er so selbstverständlich zu ihr, wie man nach Hause kommt. An den Ort, wo man hingehört.
Die wichtigsten Dinge, die man so braucht, hatte er bei ihr deponiert. Eine Zahnbürste, einen Pyjama und seinen billigen Whisky. Er hätte sich auch den teuersten leisten können, aber an den anderen war er nun mal gewöhnt.
Manchmal blieb er sogar die ganze Nacht.
Er nannte sie Prinzessin, weil man ihn im Kiez den König nannte, eine Bezeichnung, die er trug wie die Narbe einer siegreich beendeten Schlägerei. Seine Erklärung dafür, wie er zu diesem Beinamen gekommen war, blieb nicht immer dieselbe. Sie machte ihn nicht darauf aufmerksam. Es war nicht ratsam, ihm zu widersprechen.
Er schlug sie nicht allzu häufig, und wenn, tat es ihm hinterher leid, und er machte es wieder gut. Das half ihr, die Miete zu bezahlen.
Er kam auch nicht deswegen, zumindest nicht immer, sondern um sich Geschichten erzählen zu lassen. Passend zu seiner Laune und nie zweimal die gleiche.
Sie nahm sich immer wieder vor, sich die Geschichten vorher auszudenken, aber meistens vergaß sie es. Zum Glück war er gar nicht so schwer zufriedenzustellen.
Solang sie nur erzählte.
«Es war einmal ...», sagte die Prinzessin.
«Hast du etwas zu essen da?», fragte der König.
«Tut mir leid.»
«Egal», sagte der König. «Ich kann mir ja nachher eine Pizza bestellen.»
«Es war einmal ein Mann», fing die Prinzessin noch einmal an, «der wollte sich umbringen. Er ging also zum nächsten U-Bahnhof und stellte sich an den Rand des Bahnsteigs, ganz am Anfang, dort wo die Züge gerade erst aus dem Tunnel kommen und deshalb noch viel Geschwindigkeit haben. Das Sterben würde dann schneller gehen, hatte er sich ausgerechnet.»
«Wenn ich einmal fällig bin», sagte der König, «will ich das nicht vorher wissen. Einfach umfallen, und, peng, das war’s. Am besten im Bett mit einer Frau. Ein letzter Schuss, und dann ist Schluss. Hast du wenigstens ein Stück Schokolade?»
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