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Sybille und ihre Freunde Matthias, Heidel und Kay sind beste Freunde. Sie verbringen, wann immer es geht, ihre Zeit in Gemeinschaft. Sie haben Spaß und Freude am Leben. Zusammen machen sie aber auch die Erfahrung, dass Jungsein nicht immer ganz einfach ist. ZEIT DER BEWÄHRUNG von Lise Gast ist eine erfrischende Familiengeschichte, die sich sowohl heiter als auch ernst mit den Schwierigkeiten des Erwachsenwerden beschäftigt. -
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Seitenzahl: 198
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Lise Gast
SAGA Egmont
Zeit der Bewährung
Copyright © 1972, 2018 Lise Gast und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
All rights reserved
ISBN: 9788711510070
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
„Aufstehen! Aber leise! Mutter ist krank!“
Das war Matthias. Seit Vater nicht mehr lebte, hatte er das Wecken übernommen, nicht gern zwar, aber einer mußte es ja tun. Wecken, Feuer im Herd, Frühstück. Mutter hatte das nie gemacht; sie saß abends immer noch so lange in ihrer Werkstatt, daß jeder in der Familie einsah: Das konnte sie nicht auch noch tun. So ging Matthias jeden Morgen herum und klopfte, nicht gerade sanft. Vor allem am Zimmer der Mädchen — schließlich hätte Annette ja auch ein einziges Mal …
Annette warf sich wütend im Bett herum. Diese Aufsteherei, jetzt, da es morgens noch dunkel war und kalt! Und wenn Mutter krank war, mußte man vor der Schule noch … Ihr schwante, was kam. Annette war übrigens morgens immer schlecht gelaunt. Ganz gleich, ob man sie weckte oder ob man sie nicht weckte, ob in der Schulzeit oder in den Ferien. Niemand, der sie nur am Tag kannte — Schulfreundinnen oder Lehrer —, hätte das von ihr geglaubt. Annette, die reizende, liebenswürdige, das Glanzstück der Familie.
„Ist ja bloß heute. Morgen und übermorgen haben wir schulfrei“, tröstete Heidel mit noch geschlossenen Augen. Heidel — getauft war sie Adelheid, aber niemand in der Familie rief sie so — kam das Aufstehen eigentlich viel härter an als die größere Schwester, die beim ersten Pochen hellwach war. Heidel fand schwer aus den Träumen und der Wärme des Schlafes, aber sie war sofort bereit, Freundlichkeit und Trost um sich zu verbreiten. Alles ging doch viel leichter, wenn man Frieden hielt und sich gegenseitig ein wenig half. „Meine Klappern sind wieder nicht da, wahrscheinlich hast du sie“, fauchte Annette als Antwort, während sie unter ihrem Bet rumorte. „Ohne Klappern kann ich nicht ins Bad!“
Heidel schob ihr die eigenen zu. „Nimm meine, ich dusch’ später. Ich muß sowieso noch —“ Heidel überlegte. Was war das Nötigste? Sie fand immer, man tat besser von selbst etwas, um zu helfen, sonst bekam man es von den anderen zugeschoben. Freiwillig war es leichter. Also: den Abfalleimer hinuntertragen und ausleeren, das machte niemand gern.
Außer Kay, und der sollte es nicht, weil er allzu leicht die Treppe damit hinunterfiel. Aber auch heute hatte er sich wieder einmal den Eimer geholt, und schon war es passiert: holterdiepolter — der Eimer überschlug sich und entleerte seinen Inhalt über die Stufen. Kay brüllte. Heidel, die ihm nachgelaufen war, machte sofort kehrt und holte Schaufel und Handfeger. Sie begann, die Treppe Stufe für Stufe abzufegen, und dabei sprach sie tröstend auf Kay ein.
Ach ja, immer passierte etwas Unvorhergesehenes, wenn Mutter einmal ausfiel. „Aber das kriegen wir schon hin, das wäre ja noch schöner“, brummte Heidel vor sich hin, und aus dem Brummen wurde unversehens eine Melodie:
„Die früheste Stunde am Morgen
ist größer als Lust und Schmerz,
werft von euch Kummer und Sorgen …“
Heidel sang viel. Sie hatte erfahren, wie gut und hilfreich es sein kann, zu singen, wie sehr manche Melodien einen aufmunterten und gute Laune gaben.
„… schenkt dem Tage ein frohes Herz.
Werft von euch Kummer und Sohohohorgen …“
So, das war getan. Aufatmend betrat Heidel die Küche. Dort knisterte schon das Feuer im Herd, na also! Matthias langte eben die bunten Teller vom Bord.
„Laß, ich mach’ es schon. Annette ist noch im Bad, da kann ich doch nicht hinein.“
Heidel mochte den großen Bruder gern. Wie er so dastand, in Rollkragenpulli und Jeans, sah er vornehmer aus als mancher im guten Anzug, fand sie. Nicht einmal die Brille tat seinem Aussehen Abbruch.
„Geht’s ihr schlecht?“ fragte sie.
„Ach, wie immer. Wenn sie liegenbleibt, wird es schnell vorbeisein. Sie ist halt überfordert, und das dürfte nicht sein …“
Matthias war sechzehn. Er hatte nach Vaters Tod die Schule verlassen und war zu einem Glasermeister in die Lehre gegangen, einem übrigens sehr netten Lehrherrn. Glaser wird es immer geben müssen, hatte Matthias gedacht; immer werden Lausejungen Scheiben einwerfen, und Neubauten brauchen schließlich auch Fenster.
„Und später heiratest du dann eine Prinzessin“, meinte Heidel damals. Sie dachte dabei an ’Die drei Schwestern mit den gläsernen Herzen’ — dieses Märchen hatte sie gerade am abend vorher Kay vorgelesen. Kay hatte furchtbar gelacht, er wollte immer lustige Märchen hören.
Jetzt kam der kleine Bruder zum Frühstück. Er mußte genau so zeitig aufstehen wie die Großen, weil sie ihn mitnahmen und im Kindergarten ablieferten. Heidel schöpfte ihm eine Portion Haferflocke rei auf den Teller und goß kalte Milch darüber. „So, nun verbrennst du dich nicht. Bist du eigentlich gewaschen?“
„Mhm“, machte Kay. Das klang nicht sehr glaubhaft. Aber Matthias war schon wieder draußen; so tat Heidel, als sei sie überzeugt davon, daß es stimme.
„Hier, nimm Marmelade dazu, Hagebutten. Schmeckt wunderbar.“
Kay war fünf, der Nachkömmling der Familie, und wurde dementsprechend behandelt. Er eignete sich aber auch sehr zum Verwöhnen, sah aus wie ein Posaunenengel, blond, süß und rund. Er futterte zufrieden seinen Brei.
Jetzt kam auch Annette herein, sah den Frühstückstisch an und stellte nach einem Augenblick Überlegen ihren Teller unbenutzt weg.
„Ich mach’ Mutter was zurecht“, sagte sie. Wenig später duftete es stark und bitter nach Kaffee, und Annette ordnete auf einem kleinen Tablett liebevoll Thermosflasche und Tasse, bestrichenen Zwieback, Zucker, Milch und Marmelade an und ging damit zu Mutters Zimmer hinüber. Unhörbar öffnete sie die Tür, schob sich hinein und stellte das Tablett auf den Schemel vor Mutters Bett. Die merkte nichts, schlief fest.
Annette sah sie ein paar Augenblicke lang an, zärtlich, ein wenig traurig. Heute mittag ist sie wieder mobil, dachte sie. Sie kannte Mutter doch. Sie kannte ihre Mutter vielleicht am besten von allen Geschwistern, was niemand ahnte. Vielleicht war sie ihr ähnlicher als die kräftige und einfache Heidel, auch als der grüblerische Matthias. Annette nickte der Schlafenden zu und glitt wieder hinaus.
Zehn Minuten später waren alle fertig zum Aufbruch. Matthias ging voran, Kay an der Hand mehr zerrend als führend, unter dem anderen Arm Mutters Bügeleisen, das repariert werden sollte. Dahinter Annette, die vorsichtig um Pfützen und Schlammkuhlen des Feldwegs herumtrippelte — sie trug noch die ’guten’ Sommerschuhe —, und schließlich Heidel im Trab. Sie hatte noch schnell die drei jungen Wolfshunde im Kälberstall gefüttert, dabei war ihr einer ausgerückt und unter eine Kuh gelaufen — Heidel sprudelte es atemlos und in Stichworten hervor und brachte eine Wolke warmen Kuhstalldunst mit sich.
Die Bergerkinder hatten einen weiten Schulweg. Mutter war damals mit einem raschen Entschluß aus der Stadt hierhergezogen, auf den Aussiedlerhof ihres Bruders. Dort war das obere Stockwerk des Hauses freigeworden, und die Wohnung reichte gerade für sie und die vier Kinder. Außerdem war sie billig, und Mutter konnte hier töpfern. Sogar einen Brennofen hatte sie aufstellen können, so daß sie zum Brennen nicht aus dem Haus mußte. Dies alles sprach dafür, daß sie hierhergezogen waren. Anderes sprach dagegen. Die Wohnung war durch die vorherigen Mieter ziemlich abgewohnt, vieles kaputt, und die Wege waren weit. Doch immerhin brauchte Mutter selbst kaum aus dem Haus, wenn die Kinder jeden Tag in der Stadt waren.
„Einkaufen können die Mädchen“, hatte Matthias bestimmt und dabei sein Gesicht ’Bis-hierher-undnicht-weiter’ aufgesetzt. Annette wollte protestieren, aber bei diesem Gesicht zog sie es vor zu schlucken und zu schweigen. Heidel konnte ja einkaufen, bitte. Sie war jedenfalls kein Dienstbote, sie, Annette Berger. Also war die Einkauferei an Heidel hängengeblieben, die das gar nicht so übel fand. Sie sah sich gern in Läden um, verglich Preise und ergatterte Sonderangebote. So hatte sich bald alles eingespielt, und auch an den langen Schulweg waren sie rasch gewöhnt.
Freilich, im Winter im Stockdunkeln loszugehen, war kein Vergnügen — schon jetzt im Herbst war es ungemütlich. Wenigstens goß es heute nicht.
„Vielleicht gibt’s bald Schnee“, sagte Kay erwartungsvoll und hob das Gesicht. Annette lachte kurz durch die Nase.
„Schnee? Matsch! Ist ja erst Oktober.“
„Aber nicht mehr lange.“ Heidel stand dem kleinen Bruder bei. „Jetzt noch zwei Tage Oktober — einen sogar bloß, Allerheiligen ist schon November. Und Ende November fängt die Adventszeit an, und zu Advent gehört Schnee.“
„Und da darf man schon …“
„Von Weihnachten reden, ja, man darf. Ab elften November. Da ist Sankt Martin, du weißt doch, wenn wir mit Laternen laufen und singen ’Sankt Martin, Sankt Martin …’ Aber erst wollen wir nochmal in die Halde, ehe es Winter wird. Vielleicht morgen und übermorgen? Da hast du doch auch frei, Matthias?“ „Ja, habe ich. Gut, gehen wir in die Halde, dort ist allerlei zu tun, Zäune ausbessern und den Schuppen einwintern und —“
„Reparieren und einwintern und — und — und. Wir könnten eigentlich auch mal zwei Tage dort faulenzen“, sagte Annette. Sie war übrigens inzwischen wie ausgetauscht und bester Laune. So grillig sie aufwachte, so vergnügt wurde sie, wenn sie, tipp topp in Schale, der Schule zumarschierte; im Mantel, die weiße Katzenmütze auf dem Kopf, die Ohren und Stirn umschloß und in zwei lange Schwänze auslief, die man sich um den Hals legen konnte. In diesem Rahmen sah ihr feines und schmales Gesicht mit dem halbmondförmigen Muttermal auf der linken Wange besonders anmutig aus und beinah erwachsen. Ein Gesicht, das man glatt für achtzehn halten konnte, und sie war vierzehn.
„Vierzehn ist kein Alter“, sagte sie mitunter.
„Vierzehn ist schauderhaft, das muß man so bald wie möglich hinter sich bringen. Zwanzig ist schön.“
„Wart’s ab“, brummte Matthias. Und Annette lachte: „Als ob du’s schon hinter dir hättest! Tschüß, ich geh’ zu Sybille.“
Sybille war Annettes Schulfreundin. Sie wohnte mit ihren Eltern im ersten Hochhaus der Stadtrandsiedlung, in einem richtigen ’Wollkratzer’, wie Kay sagte. Er meinte natürlich Wolkenkratzer; da er sich darunter aber wohl nichts Rechtes vorstellen konnte, andererseits mit geerbten Pullovern die Erfahrung gemacht hatte, daß Wolle scheußlich kratzen kann, erfand er den Wollkratzer.
Es war ein modernes und vornehmes Hochhaus mit Aufzug und Müllschlucker und Balkons, die vor den Wohnzimmern klebten wie Schwalbennester. Heidel, die Sybille auch manchmal besuchte, fand es gruselig, von dort oben aus schwindelnder Höhe hinunterzugucken. Wer wußte denn, ob der Balkon auch fest genug hing! Heidel hatte zwar keine Angst, eine Kuh aufzuhalten, die wild muhend auf sie zuraste — Kühe können ganz schön rasen, Kopf tief und Schwanz hoch —, aber auf so einem angepappten Balkon fühlte sie sich nicht übermäßig behaglich. Außerdem, so meinte sie, schwanke der ’Wollkratzer’. Matthias hatte ihr einmal erklärt, daß Hochhäuser wirklich schwanken und daß sie es sogar müssen — so betrachtete sie ihn lieber von unten und verspürte kein Verlangen, mit der Schwester hineinzuschlüpfen. Annette war’ s zufrieden. Sie drückte auf den roten Knopf neben der Glastür und schwebte gleich darauf im Fahrstuhl aufwärts. Schon allein dieses Schweben lohnte den Besuch, fand sie.
Sybille wartete schon. Ihre Eltern, beide berufstätig, waren bereits aus dem Haus. Sie riß die Flurtür auf und zog Annette mit sich in die kleine Eßnische im Wohnzimmer. Dort war zum Frühstück gedeckt, aber nicht mit Haferflockenbrei und Milch, o nein. „Du, wir schwänzen heute die erste Stunde, das ist sowieso nur Chor“, sagte Sybille sofort und nahm der Freundin die Mappe aus der Hand, „da können wir gemütlich frühstücken.“
Annette hatte nichts dagegen. Da stand die kleine Porzellankanne mit Tee auf dem Stövchen, das mit seinem glimmenden Licht die Wärme und Gemütlichkeit des Zimmers noch unterstrich, und Sybille war eben am Toaströster beschäftigt. Wupp, sprangen zwei goldbraun geröstete Scheiben Weißbrot in die Höhe. Sybille legte sie auf die Teller und steckte neue nach.
„Setz dich, die mögen ohne uns im Chor jubilieren. Kein ein merkt was.“
’Kein ein’ — das war so einer von Sybilles Ausdrükken; sie sprach noch immer etwas norddeutsch, denn ihre Eltern ’s-tammten aus Hamburch’.
„Danke. Ja. Herrlich. Ich bin ganz durchfroren!“ Annette warf Mantel und Mütze auf die Couch. Ihre schwarzen Fransenhaare hatten gerade die richtige Zerwehtheit, wie sie mit einem raschen Blick in die Fensterscheibe feststellte.
„Du siehst großartig aus“, sagte Sybille denn auch prompt. „Ihr habt’s gut, den ganzen Tag im Freien. Ich dagegen, armes Kind, mitten in den Auspuffgasen der Stadt!“
Annette lachte. „Red nicht geschwollen. Hier oben pufft kein Auto, und ihr wohnt ganz am Rande der Stadt. Außerdem haben wir jetzt zwei Tage schulfrei, und du kommst mit zu uns — du kommst doch, ja? Oder haben deine erwachsenen Leute etwa etwas Besseres vor, wobei du unentbehrlich bist? Wir wollen in die Halde, hat Matthias gesagt, und du mußt mit, diesmal wirklich. Deine Eltern brauchen es ja nicht zu wissen.“
„Nein. Ich meine: nichts Besseres vor. Wenn ihr in die Halde geht … Sag mal, richtig mit Übernachten? Mit Kochen? Wunderbar. Habt ihr aber auch wirklich Platz für mich?“
„Ich sag’ dir ja, oben sind fünf Betten — na, viereinhalb. Und in das halbe kommt Kay. Matthias schläft unten, den brauchen wir oben nicht, das ist klar. Unten im Kochraum ist ein Sessel, der läßt sich lang ausziehen; in dem kann man ganz gut schlafen. Oben —“
Sybille hatte inzwischen die leeren Tassen von Vater und Mutter aufs Tablett gestellt und trug sie hinaus. Dann kam sie mit einer frischen Tasse wieder herein, stellte sie vor Annette und schenkte ein. Es war richtiger, dunkelgoldener, echter Erwachsenentee. Annette schnupperte.
„Riecht wunderbar, ein bißchen rauchig.“
„Ja, und nach Orangen. Eine neue Sorte. Mami sucht dauernd nach neuen Sorten. Und richtig verpackt müssen sie sein, damit sie ja nichts an Gerüchen von außen annehmen.“
Sie setzte sich und schaufelte Zucker in ihre Tasse. Annette trank ihren ohne, wie’richtige’ Teetrinker.
„Hast du Latte schon fertig?“ ’Latte’, das hieß natürlich Latein. Annette nickte. Sie deutete mit ihrem Toastbrot hinüber zu ihrem Ranzen.
„Kannst es abschreiben. Matthias hat’s durchgesehen. War aber schon vorher richtig, kein einziger Fehler. Aber er will die Schularbeiten immer sehen, tut sich furchtbar wichtig damit.“
„Laß ihn doch. Ich wär’ froh, ich hätte einen großen Bruder, der mir Latte machte. Wenn ich Vater frage, winkt er bloß ab: Laß mich zufrieden. Und Mutter kann kein Latein. Aber ich muß natürlich aufs Gymnasium.“
„Matthias wird sich hüten, mir die Schularbeiten zu machen“, sagte Annette kauend, „schimpfen tut er wenn ich nicht wie gestochen schreibe, und bei jedem Fehler — du lieber Himmel, dieses Theater! Und immer wieder dasselbe: ’Sei froh, daß du in die Schule gehen darfst!’ Ich kann’s schon auswendig.“
„Er hat wahrscheinlich Heimweh nach der Schule“, sagte Sybille, die Matthias gut leiden konnte und ihn ein wenig bewunderte, was sie selbst nicht wahrhaben wollte. „Ich hätte keins, das kann ich dir sagen.“ „Ich auch nicht.“ Annette kaute gedankenvoll und mit Genuß. „Matthias war sehr gut in der Schule, einer der Besten. Hatte in Latte immer Einsen. Ja, für ihn war es bestimmt nicht leicht, abzugehen und in die Lehre zu müssen.“
„Ich denke, er wollte?“
„Nur weil er meinte, wir könnten doch nicht alle auf der Schule bleiben. Und es gibt ja noch den zweiten Bildungsweg, Abitur durch Abendkurse. Ist aber viel schwerer, sagen alle. Na, mal sehen. Es ist schon gut, daß er verdient; Mutter sagt, wir kämen nie und nie mit Vaters Rente hin, wenn er nicht — und sie nicht …“ Annette brach ab. Sybille fragte lieber nicht weiter. Es war ihr peinlich, weil sie merkte, daß es Annette peinlich war.
Vier Kinder und kein Vater mehr. Sie, ja, sie war die einzige und hatte noch beide Eltern. Ein einziges Kind kostet nicht so viel wie vier. Natürlich. Aber andererseits war es doch gut für Frau Berger, daß sie vier Kinder hatte; vor allem so einen großen Sohn, der half schon enorm. Nicht nur mit seinem Verdienst, auch sonst. Sobald zu Hause eine Lampe ausfiel oder der Abfluß verstopft war oder Kartoffeln in den Keller gebracht werden mußten — immer war es Matthias, der die Sache erledigte.
„Deine Mutter hat’s schon gut mit ihm“, sagte sie aus diesen Gedanken heraus, „Matthias ist doch fast schon ein richtiger Mann.“
Annette nickte und nahm noch einen Toast. „Sicher. Wenn er die Schule fertiggemacht und dann studiert hätte, würde er noch lange Geld kosten, und jetzt verdient er schon selbst. Aber ich werde studieren“, fuhr sie fort, und sie sagte es so, als hätte sie festgestellt: Nach Donnerstag kommt Freitag. Ganz überzeugt, ohne die geringste Frage, ob etwas dazwischenkommen könnte. „Medizin. Und ich werde eine berühmte Ärztin, Chirurgin wahrscheinlich, und stehe in der Zeitung. ’In den erfahrenen Händen der bekannten Fachärztin Dr. Annette Berger …’“
„Also heiratest du nicht?“ fragte Sybille sofort. Sie selbst war fest entschlossen zu heiraten. Zu heiraten und viele Kinder zu bekommen, nicht nur ein Einzelkind, wie sie es war. Mindestens fünf — und ein großes Haus in einem Garten wünschte sie sich, mit Hollywoodschaukel und Sandkasten für die Kleinen und …
„Kann ich doch trotzdem“, meinte Annette.
„Aber —“
„Es gibt viele verheiratete Ärztinnen. Unsere ist es auch und hat drei Kinder, und was für schreckliche. Den Jüngsten bringt sie manchmal mit, na, vielen Dank. Jetzt aber los, du wolltest noch Latein abschreiben.“ Während Sybille sich mit Heften und Federmäppchen an den Tisch setzte, schlenderte Annette im Zimmer umher, studierte die Titel der Buchrücken auf dem Regal, spielte mit dem Gluttöter, der in Form eines kleinen Phantasietieres im Messingaschenbecher hockte, und fuhr zusammen, als sie einem etwa spannenlangen Drachen aus Metall auf den Schwanz gedrückt hatte und dieser unvermutet eine Flamme aus dem Maul spie, mindestens fünf Zentimeter lang.
„Huch!“ Sie sprang zurück. Sybille lachte.
„Fein, nicht? Eine Neuerrungenschaft, Tischfeuerzeug mit Gas. Hat ein Mandant meinem Vater geschenkt. Vater sagt, es wäre Kitsch, aber schön ist es doch. Und sicher sehr teuer.“
„Ein Mandant?“
„Vater ist doch Anwalt, seine Kunden heißen nicht Kunden, sondern Mandanten. Oder Klienten. Oder beides, ich weiß da keinen Unterschied.“
„Du, den Drachen nehmen wir mit in die Halde. Geborgt, meine ich natürlich. Und dann erschrecken wir die anderen damit, ja?“
„Ja, gut. Aber jetzt komm, ich bin fertig. Ob wir über die Herbstferien — kurz genug sind sie ja, andere haben zwei Wochen — was aufkriegen? Das wäre gemein.“ Sie packte ihre Schultasche, ging dann zum Bücherbrett und nahm einen Becher herunter.
„Mein Frühstücksgeld. Ich krieg’ immer zwanzig Pfennig, damit ich mir in der Pause was kaufen kann. Willst du auch?“
Sie hielt der Freundin den Becher hin.
„Darfst du denn das?“
„Was?“
„Na, mehr rausnehmen als zwanzig Pfennig. Ich meine, für mich?“
„Och ja, sicher. Wenn ich es Mutter nachher sage — und sie zählt auch nicht nach. Sie tut immer alles Kleingeld hier rein, damit ich mir morgens etwas rausnehmen kann.“
Sie zählt auch nicht nach, dachte Annette. Und wenn wir zum Einkaufen geschickt werden und wissen nicht auf den Pfennig genau, was alles gekostet hat, regt Mutter sich wer weiß wie auf. Dabei kommt es doch auf zwanzig Pfennig wahrhaftig nicht an …
Sie zögerte trotzdem, sich etwas herauszunehmen. Sybille schüttelte ungeduldig den Becher, fischte dann einen Fünfziger heraus und gab ihn Annette. „Hier, nimm. Wir kaufen uns was für die Halde — oder warte, hier ist noch eine Mark. Wenn ich zwei Tage bei euch bin —“
„Wirklich? Prima. Da kaufen wir Kaugummi und Brause. Das Wasser in der Halde schmeckt nämlich nicht, es riecht abscheulich, ungefähr wie hartgekochte Eier. Aber wenn man Brausepulver reintut — halt, halt, der Drache! Wir wollten doch den Drachen mitnehmen!“
„Richtig. Komm her, hier hab’ ich Seidenpapier, da wickeln wir ihn ein.“
„Vorsicht, wenn du dabei auf den Schwanz drückst —“
„Dann spuckt er Feuer, und meine Schulmappe geht in Flammen auf. Na, schade wär’s nicht drum, aber — so, ich hab’ was druntergeschoben. Jetzt kann er nicht losgehen. Nun aber marsch, marsch!“
Sie bekamen keine Schularbeiten auf. Auch die Lehrer fanden, daß man Feste — in diesem Falle Ferien — feiern sollte wie sie fallen, und entließen die Schülerinnen sogar schon eine Stunde eher. Annette und Sybille beeilten sich heimzukommen, und Sybille zog sich rasch um.
„Das älteste, was du hast“, rief Annette. „In der Halde kommt es nicht drauf an, wie man aussieht.
Bloß nicht immer sagen müssen: Ich kann nicht mitmachen, ich hab’ die guten Sachen an.“
„Hoffentlich hält das Wetter“, sagte Sybille besorgt, als sie wenig später von der großen Straße ab in den Feldweg einbogen. „Es sieht nach Regen aus. Können wir auch bei Regen in die Halde?“
„Natürlich. Aber bei Sonne ist’s schon schöner!“
Frau Berger saß an der Töpferscheibe, als die beiden Mädchen anrückten; es ging ihr also wirklich wieder besser.
„Himmel, ist es denn schon Mittag?“ fragte sie erschrocken.
Sybille winkte ab. „Nein, nein, wir haben eine Stunde eher ausgehabt. O bitte, drehen Sie doch weiter, ich möchte so gern zuschauen.“
„Aber ich muß doch Mittagessen machen.“
„Bitte, bitte nicht aufhören! Mittagessen machen wir! Nicht wahr, Annette? Ich sehe so gern zu!“
Frau Berger lächelte und gab nach. Sie trennte sich sowieso nicht gern von ihrer Arbeit, töpferte viel lieber, als der Hausarbeit nachzugehen. Dunkel, schmal und zart saß sie in einem halblangen, ganz unmodern gemusterten Rock an der Drehscheibe, die sie mit bloßen Füßen antrieb. In den Händen knetete sie einen faustgroßen Klumpen Ton, klatschte ihn dann mitten auf die Scheibe. Und nun fing sie an, ihn mit nassem Daumen oder Zeigefinger seitlich zu berühren, während er sich drehte und dabei zusehends seine Form veränderte. Er wuchs und wurde ein schlanker kleiner Turm, er bekam mitten hinein eine Vertiefung, er wurde —
„Eine Vase?“ fragte Sybille gespannt.
„Oder ein Milchkrug“, lächelte Frau Berger, „was möchtest du? Was brauchst du mehr?“
„Ich?“
„Ja, ich mache ihn doch für dich.“
„Oh!“
„Also, wenn es ein Milchkrug werden soll, bekommt er noch eine Schnauze und einen Henkel. Aber Blumen hineinstellen kann man dann auch. Wie man gerade Lust hat.“
Frau Berger sah zu Sybille hin und lächelte ihr zu. Sie mochte Sybille Frey gut leiden und freute sich immer, wenn Annette sie mitbrachte. Jetzt, da sie ihr zunickte, sah Frau Berger plötzlich sehr jung und reizend aus — sonst lag allzu oft ein Schatten von Traurigkeit über diesem eigentlich noch sehr mädchenhaften Gesicht. Sybille nahm das wahr, ohne es recht zu begreifen; trotzdem tat es ihr weh.
„Sie können das wunderbar“, sagte sie in dem Bestreben, Frau Berger eine Freude zu machen, außerdem fand sie es wirklich. „Wie gezaubert. Meine Mutter kann sowas nicht. Meine Mutter —“ Sie brach ab. Frau Berger blickte auf. Ihr kleines Kunstwerk drehte sich weiter, sie senkte den Blick wieder und fügte ein paar leichte Rillen ein.
„Deine Mutter kann dafür anderes“, sagte sie behutsam. „Sie hilft deinem Vater in der Kanzlei.“
„Ja. Immerzu. Nie ist sie daheim. Und —“
„Dafür habt ihr eine schöne Wohnung. Annette hat mir manchmal davon erzählt. Und wir —“, sie warf einen raschen entschuldigenden Blick ringsum. Sybilles Augen folgten.
Es war das Eckzimmer der Wohnung, aus den beiden Fenstern sah man nach Osten und Norden. Jetzt, da die Bäume wenig Laub trugen, war der Blick frei, weit und hell, selbst an einem so bedeckten Tag wie heute. Das Zimmer schien noch nicht fertig eingerichtet zu sein, jedenfalls hingen keine Gardinen an den Fenstern, und das hohe Regal an der Innenwand hatte keinen Vorhang. Unter den Fenstern entlang zog sich eine alte, ungestrichene Schulbank. In der Ecke hinter Frau Bergers Schemel lag Ton auf Zeitungspapier. Nein, wohnlich war es hier nicht; dafür war es eben eine Werkstatt, sagte sich Sybille.
„So, die Vase brenn’ ich morgen mit. Morgen wird der Ofen angemacht. Aber jetzt —“
„O nein, hören Sie bitte nicht auf! Wir kümmern uns um das Mittagessen!“ bat Sybille. „Nicht wahr, Annette, wir tun es? Was soll es denn geben? Sie brauchen es nur zu sagen!“
„Suppe ist noch da, von gestern. Aber die reicht nicht. Vielleicht könnt ihr sie mit einer Tüte Fertigsuppe verlängern“, sagte Frau Berger etwas zögernd.
„Und dann backen wir Waffeln hinterher! Dürfen wir, ja? Solche, wie Sie neulich hatten! Nur das Rezept müßten wir kriegen!“