ZeitGeist GeZeiten - Jürgen Petersen - E-Book

ZeitGeist GeZeiten E-Book

Jürgen Petersen

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Beschreibung

Was ist die Wahrheit in unserer Wirklichkeit? Der Protagonist Frank, ein Mitt-Dreißiger aktueller Prägung, durchlebt Geschichte, Kultur und Landschaft im Verlauf von fiktiven Gesprächen mit Familienangehörigen, geschichtlichen Personen und einer Stadtkunstführerin. Er geht dabei der Frage nach, was aus dem Zeitgeist als epochemachend in die Geschichte eingehen könnte. Acht Novellen, überschrieben mit Ertragen, Empören, Ausblenden, Ausleben, Rückführen, Ausgrenzen und, als Zyklus neu beginnend, wieder mit Ertragen und Empören; mit Wahrheiten der Vergangenheit, Zweifeln der Gegenwart und Hoffnungen und Erwartungen an die Zukunft, als Zyklus gesetzt, da die Zukunft als Gegenwart zur Wirklichkeit wird und sich danach die Wahrheit als bewertete Vergangenheit manifestiert.

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Aufrichtigkeit, Direktheit, Natürlichkeit und Stolz; das sind die Ideale der Jugend.

nach Friedrich Maximilian Klinger (1752-1831) Verfasser der Komödie »Sturm und Drang«1)

ZEITGEIST GEZEITEN

E

RTRAGEN

E

MPÖREN

A

USBLENDEN

A

USLEBEN

R

ÜCKFÜHREN

A

USGRENZEN

E

RTRAGEN

II

E

MPÖREN

II

Q

UELLENANGABEN UND

A

NMERKUNGEN

Ertragen

1

»Welch eine Verschwendung!« Kann man bei einer Beerdigung davon sprechen, dass sie gut verlaufen ist? Geht das? Bisher keine Tränen, tapfer. Und jetzt dies. Unter den Augen von Lynn brach er in Tränen aus.

»Welch eine Verschwendung!« Es brach erneut aus ihm heraus. Einen geliebten, wenn auch zum Ende hin sehr gebrechlichen Menschen einfach in die Erde zu versenken. Verabschieden, hinablassen, bepflanzen. Weisheit und Erfahrung unwiederbringlich verloren. Geist, der mit sich und anderen gerungen, sich mit vielen und vielem versöhnt hat, aus dem Dasein gelöscht. Die Evolution, sie hat nichts vorgesehen, um Bewusstsein weiterreichen zu können.2) Für Frank war das Verschwendung.

2

Die anderen Trauergäste waren schon am Ausgang des Friedhofs angelangt oder passierten gerade die kleine Friedhofskapelle. Nur er, wütend auf des geliebten Urgroßvaters Schicksal, war am offenen Grab zurückgeblieben — und eben Lynn.

Sie mochte diesen lichten, zum Himmel offenen Friedhof von Rohrbach. Anders als den für sie düsteren, jegliche Hoffnung und Freude begrabenden Bergfriedhof der Stadt. Dort hatten die letzten beiden Beerdigungen stattgefunden, an denen sie teilnehmen musste.

Die Dezembersonne wärmte ihr Gesicht. Auf diesem Friedhof konnte der Blick durch und über die Kronen der Bäume hinaus wandern, entlang den den Augen schmeichelnden Hügeln der Bergstraße. Der Wind spielte leicht mit ihrem weiten schwarzen Kleid. Darf man auch das? An einer Beerdigung in Schwarz verführerisch aussehen? Sie zog die kurzgeschnittene Jacke mit einer Hand enger um sich. Mit der anderen nahm sie Frank am Arm und schob ihn vom Grab hin zum Weg. Sie würden den Anschluss an die anderen Trauergäste verlieren.

»Gelebt, gelernt, gearbeitet, — geliebt, ertragen, gekämpft, — und glücklicherweise wieder geliebt. Mein Urgroßvater hat mir viel über sein Leben erzählt.« Frank blickte auf. »Einiges aus seiner Jugend ging ihm zeitlebens nicht mehr aus dem Kopf.« Frank stolperte über die Ecke einer Grabumrandung. Sie fasste erneut seinen Arm.

»Was hat er dir denn erzählt, was du schon verstehen und begreifen konntest? Er war bei deiner Geburt über Siebzig! Und ehe man nicht mindestens ein paar Jahre herangewachsen ist, begreift man doch nichts wirklich.«

»Meine Familie sprach immer davon, dass ich, sobald ich überhaupt laufen konnte, vor diesem großen Mann stand: Arme hoch und ausgebreitet, Kopf in den Nacken. Ich wollte zu ihm auf den Arm. Dort oben war immer eine Oase der Ruhe. Ich habe es wohl genossen, alles von oben überblicken zu können anstatt zwischen Menschenbeinen nach einem Ausblick zu suchen.«

»Was hat er dir nun erzählt? Bei deinem emotionalen Ausbruch muss ja einiges dahinterstecken.«

»Er hat nicht nur erzählt. Er hat erzählt und dabei aufmerksam gemacht. Wir waren häufig im ganz normalen Alltag zusammen. Er ging regelmäßig spazieren, er hatte seine Gewohnheit und er nahm mich oft mit. Auch später, als ich schon älter war. Ich begleitete ihn gerne.«

»Trotzdem — was steckt noch dahinter? Was hat dich von ihm so beeindruckt? Komm, wir müssen etwas schneller gehen.« Sie schob ihn zum Hauptweg Richtung Tor.

»Wie sagt man es kurz und treffend? Er war vorbildlich in seiner Aufrichtigkeit. Keine Schnörkel, kein Herumreden. Menschen waren für ihn Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihren Gewohnheiten. Aber etwas aus der Vergangenheit ließ ihm keine Ruhe.«

Frank war durch sein Erzählen gefasster geworden. Sie näherten sich dem Ausgang. Leise knirschte der Kies unter ihren Füßen.

»Frank« — so sprach mein Urgroßvater hin und wieder — »trägt man mit Schuld, wenn man bei Unrecht in der Nähe ist, es aber nicht verhindert? Wenn man sich nicht imstande fühlt, es zu verhindern? Es geschieht etwas um dich herum und du musst es ertragen.« Nach einer Pause: »Frank, es geschah damals viel Unrecht. Ich war damit konfrontiert, sah aus unmittelbarer Nähe die Menschen mit den gesenkten Blicken, denen dies angetan wurde. Ich befand mich nicht in der Lage, es zu verhindern. Ich war damals vierzehn, als es nicht mehr zu übersehen war, und sechzehn, als es mich unmittelbar als Augenzeuge betraf wie nie zuvor. Ich musste es ertragen.«

»Ich glaube«, ergänzte nun Frank nach einer Pause seinerseits, »er sprach zwar zu mir, aber er sprach eigentlich durch mich hindurch. Seine Seele war noch immer in Not.«

3

»Da seid ihr ja endlich.« Die Trauergesellschaft hatte sich schon größtenteils aufgelöst. »Wisst ihr denn, wo das Kaffeehaus ist?« Frank kannte sich noch aus, aus seiner Jugend. Lynn bewunderte ihn, wie er im Ort sicher durch die engen steilen Gassen bis zur Schnellstraße fuhr. Es war für Frank von da aus nicht mehr schwierig, die richtige Ausfahrt zu finden und gleich hinter der Brücke links das Kaffeehaus zu erreichen.

Franks unvollständige Erzählung und seine Andeutungen beschäftigten Lynn. »Bleib eben noch sitzen.« Sie legte ihre Hand auf seinen Unterarm. »Was war das, was deinen Urgroßvater so sehr erschüttert hatte? Was hatte er gesehen? Wo war er dabei gewesen?«

Frank gab sich einen Ruck und setzte sich auf. »In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war er wie häufig bei seinen Großeltern. Die wohnten damals in der Bahnhofstraße. Es gab ein großes Aufmarschieren auf der Straße, aber seine Großeltern blieben mit ihm zu Hause.«

»Du sprichst jetzt von der Reichsprogromnacht?«

»Ja. Er hat die Vorgänge nicht unmittelbar erlebt, sondern erst später ihre Auswirkungen gesehen: die zerstörten und geplünderten Geschäfte in der Hauptstraße, als er mit seiner Großmutter zur Heiliggeistkirche ging, dann die ausgebrannte orthodoxe Synagoge auf dem Nachhauseweg vom Gottesdienst.«

Lynn zog ihre Hand zurück. »Lass uns hineingehen zu den anderen. Vielleicht haben wir später nochmals die Gelegenheit, uns mit deinem Urgroßvater zu beschäftigen. Er läuft uns ja nicht mehr davon,« setzte sie nachdenklich hinzu.

4

»Ihr lasst euch ja viel Zeit,« wurden sie begrüßt. »Wenn man es nicht besser wüsste, dann könnte man hinsichtlich eurer Beziehung auf falsche Gedanken kommen.« Die gedrückte Stimmung, wie sie noch beim Gang aus der Kapelle geherrscht hatte, war wie weggeblasen. Kaffeeduft erfüllte die große Halle des Kaffeehauses. Die Tische waren besetzt. Die Luft schwirrte, voll der Gespräche, der Scherze und des Gelächters. Urgroßvater verschwand heute zum zweiten Mal, erneut zurückgelassen. Die Lebenden nahmen sich ihr Recht.

»Wer nimmt wen mit? Wir treffen uns im großelterlichen Haus.«

Es war früher Abend, gerade noch hell. Die Sicht war klar. Von der Dachterrasse aus reichte sie über Schwetzingen und die Rheinebene hinaus bis zu den Pfälzer Bergen.

Eine Hand legte sich auf die seine. Ihre Wärme, dachte er, dringt sicher durch meine Hand hindurch bis zum glatten, runden Rohr des Geländers, das mich vor einem Sturz in die Tiefe bewahrt. »Bis da hinten, wo du mit dem restlichen Licht gerade noch die Berge erkennen kannst, bis dahin bin ich häufig in Begleitung von Freunden mit dem Fahrrad gefahren.« Lynn sah Franks verträumten Blick. »Das erste Mal mit vierzehn.«

5

Die Verwandtschaft und weitere verbliebene Trauergäste hatten sich in die tiefer gelegenen Räume zurückgezogen. Nur leises Gemurmel drang zu Lynn und Frank auf die Terrasse. Die von schlanken, hohen Stämmen getragenen Baumkronen, blattlos in Augeshöhe, bewegten sich leise, vom Abendwind immer wieder neu angestoßen. Ein Rest der Tageswärme war hängen geblieben in der windgeschützten Ecke, in der sie standen. Der Lärm vereinzelt fahrender Autos auf der gewundenen Hangstraße erreichte sie hier oben nur noch gedämpft.

6

»Vierzehn? War das nicht das Alter, das du heute Vormittag erwähnt hattest? In Zusammenhang mit deinem Urgroßvater?«

»Mit vierzehn Jahren haben sie einen damals vom nationalsozialistischen Jungvolk zur Hitlerjugend umgemeldet. Es gab zwar zu dieser Zeit noch keinen Zwang dafür, aber viele Eltern hielten es für richtig oder opportun.«

»Und was war die Meinung der Älteren dazu?«

»Manche erklärten das später so, was für uns heute schwer nachvollziehbar ist: sie erlebten die erste Zeit nach 1933 als eine Mischung von politischer oder rassistischer Verfolgung und gleichzeitiger, noch fortbestehender bürgerlicher Normalität. Kinder wurden nicht gefragt. Sie hatten zu tun, was man ihnen sagte. Und nationalsozialistisches Gruppenleben, das war Abenteuer und Gemeinschaft. Wenn man hineinpasste.«

»Und was hat nun deinen Urgroßvater so betroffen gemacht?«

»Zum einen: er passte nicht hinein. Mein Urgroßvater war zwar damals schon körperlich groß für sein Alter, aber er war nicht sportlich und behände genug. Zum anderen lag es wohl auch an seiner Großmutter, einer bekennenden Christin, die sich nicht einschüchtern ließ. Vieles von dem, was so geredet wurde, machte für sie keinen Sinn. Oder sie hielt es schlicht für Unrecht. Für sie war es schwer, dieses Unrecht, das andere traf, zu ertragen.«

»Und dann kam das November-Progrom von 1938, so wie du es mir heute im Auto erzählt hast?«

»Ja. Das war wohl ein entscheidender Auslöser. Urgroßvater wurde aufmerksam auf die Vorfälle. Ändern konnte er ja nichts. Um sich herum erlebte er Konformität und Zustimmung. Das war wohl auch im elterlichen Hause so. Sein um mehrere Jahre älterer Bruder war freiwillig bei der Wehrmacht.«

»Seine Großeltern, das war wohl seine Zuflucht?«

»In gewisser Weise ja. Aber dort, von der Bahnhofstraße aus, erlebte er dann das, was ihn so nachhaltig erschüttert hatte. Von den so genannten Judenhäusern gab es zwei in der unmittelbaren Nachbarschaft, eines in der Häusser– und eines in der Bunsenstraße. Seit dem 1. September 1941 mussten dann alle Bewohner den gelben Judenstern tragen. Aber ein Jahr zuvor, am 22. Oktober 1940, fand überfallartig die erste, großangelegte Massendeportation statt, auf Initiative der Gauleiter von Baden und der Pfalz. Die Deportation von über 6500 jüdischen Einwohnern erregte weniger öffentliches Aufsehen als etwa die lärmend-aggressiven Ausschreitungen der SA-Trupps während des November-Progroms zwei Jahre zuvor.«

Lynn wartete, bis er fortfuhr.

Frank zitierte aus dem Gedächtnis. »… am Hauptbahnhof versammelten sich Zuschauer stumm und eher bedrückt, als mit Planen und Sitzbänken versehe Lkw´s eintrafen, die festgenommenen Juden mit ihrem Handgepäck herunterstiegen und auf den Bahnsteig Ia (östlich der heutigen Stadtbücherei zwischen Poststraße und Kurfürsten-Anlage) geführt wurden. Der bereitgestellte Zug verließ Heidelberg kurz nach 18 Uhr.«3) Drei Tage und vier Nächte dauerte der Transport der 399 Menschen in das Internierungslager Gurs am Nordrand der Pyrenäen.«

»Das konnte dein Urgroßvater aber doch nicht alles wissen?«

»Nein. Davon wusste er das Meiste nicht. Aber dass das, was da ablief, hier betroffene Zuschauer und neugierige Gaffer, dort geduckt laufende, auf den Boden schauende Menschen mit ihren Koffern, nicht richtig sein konnte, das Gespür hatte er mit seinen sechzehn Jahren schon.«

»Er hat also dabei zugesehen?«

»So war es. Mit ihm seine Großmutter und unter anderen auch Pfarrer Maas von der evangelischen Stadtgemeinde. Dieser und weitere Aktive der Stadtgemeinde waren von der radikalen Maßnahme völlig überrascht. Sie fühlten sich hilflos bei »… den erschütternden Abschieden in den Abendstunden dieses furchtbaren Tages, dieses Schandtages und jüdischen Passionstages.«4) Diese Beschreibung der Situation stammt nicht von meinem Urgroßvater, sondern von Pfarrer Maas selbst.«

»Die Frage nach Schuld oder Unschuld, die hat dein Urgroßvater dann dir gestellt: trägt man, wenn man bei Unrecht in der Nähe ist, es aber nicht verhindert, Mitschuld? So hast du das heute Vormittag gesagt.«

»Ich glaube, die wahre Seelennot liegt darin, dass du den Menschen körperlich gegenüberstehst. Sie sind räumlich anwesend und du versäumst deine Verantwortung, deinen Einsatz für einen Mitmenschen, aus welchen vordergründig entschuldbaren Gründen auch immer. Du spürst das Unrecht als Mensch in dir, aber du handelst nicht. Und von da an bleibt der Vorwurf: du hast nicht gehandelt. Urgroßvater musste vielleicht kein Unrecht selbst erdulden, aber er musste sein Leben lang sich selbst ertragen. Und selbst im hohen Alter war seine Seele noch immer in Not.«

7

Die anderen kamen die Treppe hoch. Die Schiebetür ging auf. Sechs, acht, zwölf Menschen drängten auf einmal auf die Terrasse.

»Für einen Beerdigungsabend ist die Situation, wie ihr hier oben so eng beieinander steht, erstaunlich romantisch,« gab jemand zum Besten.

Frank lachte und gab seiner Halbschwester einen Kuss auf die Wange. »Sich immer nur anlässlich von Beerdigungen, Hochzeiten und Taufen zu sehen, ist eindeutig zu selten.« Lynn pflichtete ihrem geliebten Bruder bei.

Empören

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