Erziehen und Gesellschaft - Jürgen Petersen - E-Book

Erziehen und Gesellschaft E-Book

Jürgen Petersen

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Beschreibung

Der Umgang der Menschen untereinander ist eine Frage des Charakters. Wir erleben woanders kaum mehr Charakterlosigkeit als bei der Nutzung von Kommentarfunktionen in digitalen Medien. Sich im Internet frei und anonym bewegen zu können lädt ein, sich gegenüber Mitmenschen absichtlich unwahr oder gar infam zu verhalten, ohne dafür die Verantwortung tragen zu müssen. Freiheit ist aber nur mit Verantwortung erträglich und kann nur gelebt werden, wenn jeder bereit ist, für die Ergebnisse seines Willens und Verhaltens die Konsequenzen zu tragen. Darauf beruht der Zusammenhalt der Gesellschaft. Neben Wissen und Können sind Temperament und Charakter entscheidend für verantwortungsvolles Handeln. Die Möglichkeit von Einhegung des Temperamentes und Charakterbildung durch Erziehen stehen im Mittelpunkt dieses Essays. Erziehungs- und Entwicklungsziel für alle Heranwachsenden muss es sein, dass sie die Möglichkeiten, die in ihnen angelegt sind, für ein »glückendes Leben« verwirklichen können. Unter dem Imperativ »Das Denken erweitern« ergeht die Aufforderung, sich vom Mainstream zu lösen, um allen Mitgliedern unserer Gesellschaft, auch den mehr praktisch als abstrakt veranlagten, würdige Lebens- und Arbeitsperspektiven zu eröffnen.

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Freiheit bedeutet Verantwortlichkeit.

George Bernhard Shaw

Die jungen Menschen tragen in der Zukunft unsere Gesellschaft. Ihre Erziehung kann gelingen, nicht gelingen oder nur teilweise gelingen. Wie immer es ausgeht, Erziehen nicht versucht zu haben wäre der größere Vorwurf.

Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage

Erziehen und Gesellschaft — Übersicht

Teil 1 Mensch und Sozietät

Teil 2 Erziehen zur Freiheit

Teil 3 Das Denken erweitern

Quellenangaben

Vorwort zur zweiten Auflage

Dies ist eine im Teil 3 »Das Denken erweitern« vollständig überarbeitete Auflage des Essays »Erziehen zur Freiheit«, herausgegeben 2013 bei sina Verlag & Druck Jever, ISBN 978-300-045854-5.

Gründe für die Neuauflage sind die inzwischen vollständig ausgearbeiteten Leitlinien für ein erneuertes Denken zu Ziel und Inhalt von Bilden und Erziehen sowie das Postulieren einer »Struktur der aufbauenden Verantwortung«. Letztere wurde entwickelt, um für von unserer Gesellschaft benachteiligte Heranwachsende beziehungsweise junge Erwachsene bessere Ausgangsvoraussetzungen für ihr Erwerbsleben zu schaffen, als es der im Mainstream verankerte Bildungsbetrieb heute zulässt.

Gegenüber der Auflage von 2013 ist in Teil 1 die Einführungsfolge der Begriffe verändert worden. Dies und andere textliche Änderungen sollen den Lesefluss erleichtern.

Die zweite Auflage erscheint nun im Self-Publishing-Verlag TWENTYSIX. Dies ist dem Wandel im Verlagswesen geschuldet.

Den kunsthandwerklich tätigen Verlegerinnen Frau Sina Jostes, sina edition Jever, und ihrer Nachfolgerin, Frau Monika Elwert, gebührt nachträglich mein Dank für die Ermutigung zur und die Herausgabe der ersten Auflage.

Im Oktober 2016

Jürgen Petersen

Erziehen und Gesellschaft - Übersicht

Teil 1 Mensch und Sozietät

Kapitel 1: Von Marina Weisband bis Freiheit

Zeitgemässe Demokratie; Internet mit Kommentarfunktion; Netzneutralität; Verhalten in der Anonymität; Bildung und Erziehung; Freiheit und Verantwortung

Kapitel 2: Von Autonomie bis Sozietät

Molekulare Autonomie; Möglichkeiten und geglücktes Leben; Tugenden; Rückbezüglichkeit; Operationelle Geschlossenheit; Grenzen des Wahrnehmens und Verstehens; Ethik; Meine-Deine Wirklichkeit; Beziehung als Abgleichen von Wirklichkeiten; Sozietät und Rangordnung

Kapitel 3: Von Temperament bis Charakter

Kommunikation; Soziale Kompetenz und Teamfähigkeit; Temperament; Neigung; Freiheitsrahmen; Charakter und seine Dimensionen; Ordnung als Wesen des Menschseins; Erziehen als Prägung von Charakter

Kapitel 4: Von Wille bis Verantwortung

Selbstprägung; Wille und Kulturwesen; Persönliche Reife; Erziehen; Stufen der Reife; Erziehungs- und Reifeprozess; Verantwortung

Kapitel 5: Von Sozietät bis Charakterbildung

Sozietät; Identität; Ordnungsbedürfnis; Übersicht und Orientierung; Charakterbildung als Erziehungsziel; Digitale Mehrfachidentität als Störfaktor; Voraussetzungen zur Charakterbildung ungenügend

Kapitel 6: Von Lebensweise bis Kommunikation

Lebensweise; Stufen der Verantwortung; Selbstverantwortung; Prozessverantwortung; Projektverantwortung; Wissen zur Übersicht und Orientierung; Fähigkeit zur Kommunikation für sich, für Prozesse und Projekte

Kapitel 7: Von Wirklichkeit bis Gemeinschaft

Abgleich von Wirklichkeiten; Bilder im Kopf; Schulkarriere; Robustheit von Aufgaben; Ausgangswirklichkeit; Kulturtechniken; Können auf Abruf; Hierarchie des Wichtigen; Konsens in der Gemeinschaft

Kapitel 8: Von Humanistisch bis Standardisiert

Selbstbildung als Aufgabe; Mitwirkung am eigenen Entwicklungsprozess; Wissen als Ästhetisches Phänomen; Bildungsstandards; Der normierte Standardmensch; Kompetenz als Sammelbegriff; Formalisiertes Erziehen und Einheitsedukation

Teil 2 Erziehen zur Freiheit

Kapitel 9: Von Besitzen bis Verhalten

Zusammenfassung der Charakterbildung; Schlüsselsituationen; Besitzen und Besitzen wollen; Meinen und Kommunizieren; Bereitschaft und Reflektion; Begegnen und Verhalten

Kapitel 10: Von Respektieren bis Respektiert werden

Respekt; Achtung; Souveränität; Selbstverständnis; Vertrauen; Missbrauch; Missachtung; Zweierbeziehung; Ausgrenzung; Mobbing; Zivilcourage; Selbstsicherheit

Kapitel 11: Von Erziehungsberechtigt bis Verpflichtet

Eltern; Familie; Erziehungsberechtigte; Staat; Erziehungsprozess; Hierarchie des Wichtigen; Verantwortungsebenen; Der Einzelne als Vorbild; Menschen der Tat; Grundedukation; Verpflichtung der Sozietät

Kapitel 12: Von Evolution bis Freiheit

Evolution und Gruppe; Autonom und sozial; Lerne zu handeln; Freiraum der Sozietät; Was Freiheit bedeutet; Reif für Verantwortung; An Freiheit gehindert; Zur Freiheit verpflichtet

Teil 3 Das Denken erweitern

Kapitel 13: Von Mainstream zu Bildung neu denken

Denkschemata des Mainstream; Wissen als »Abfragewissen« deklassiert; Handlungskompetenzen ohne Wissensbezug; Wie wichtiges Wissen und Können von Unwichtigem trennen?

Das Denken erweitern: Leitlinien, um Bilden und Erziehen neu zu denken; Beziehung ist Kommunikation; Leben ist Wirtschaften; Wissen ist Teilhabe

Kapitel 14: Von Perspektivlosigkeit zu würdigen Arbeitsstrukturen

»Menschen der Tat« in unserer Wissens– und Informationsgesellschaft; »Risiko-Schülerinnen« und »Risiko-Schüler«; Theorielastiger Unterricht und abstrakte Gedankenwelt; Trotz langer Beschulung Alimentierung und Perspektivlosigkeit

Das Denken erweitern: »Struktur der aufbauenden Verantwortung«; Plädoyer für eine Grundedukation im geschützten Raum; Für die »Menschen der Tat« eine würdig verschränkte Arbeitswelt

Kapitel 15: Von »Ich-Verantwortung« zurück zu Marina Weisband

Teil 1

Mensch und Sozietät

Kapitel 1 Von Marina Weisband bis Freiheit
Von Marina Weisband bis Freiheit
Zeitgemässe Demokratie; Internet mit Kommentarfunktion; Netzneutralität; Verhalten in der Anonymität; Bildung und Erziehung; Freiheit und Verantwortung

Die Jungpolitikerin Marina Weisband1) verfasste im Jahr 2013 im Alter von 24 Jahren ihr Buch »Wir nennen es Politik«. Sie hatte in der »Piratenpartei« bis 2012 für etwa ein Jahr das Amt der Politischen Geschäftsführerin inne. Sie stellt in ihrem Buch mit dem Untertitel »Ideen für eine zeitgemässe Demokratie« fest, dass wir heutzutage in fast allen Lebensbereichen die Möglichkeit haben, uns selbständig zu informieren, freie Entscheidungen zu treffen und unsere Meinungen direkt zurückzumelden. Für viele sei es zur Gewohnheit geworden, überall und jederzeit Berichte zu lesen oder selbst Kommentare zu hinterlassen. In ihrem Buch hebt sie hervor, dass eine bestechende Eigenschaft von Nachrichten über das Internet darin liegt, sie kommentieren zu können. Die junge Generation, der sich Marina Weisband selbst zurechnet, gehe mit der Gewohnheit durch die Welt, Fragen zu stellen und Berichte zu kommentieren.

Im weiteren Verlauf ihres Buches beschreibt Marina Weisband ihre Erfahrungen über den Umgang miteinander und stellt fest, dass die Voraussetzung zum gelingenden politischen Miteinander Bildung sei. Bildung, sagt sie weiter, müsse unbedingt besser werden. Ihre Schilderungen des menschlichen Umganges im Einzelnen — und während ihrer Amtszeit insbesondere auch mit ihr persönlich — lassen den Schluss zu, dass sie, wenn sie Bildung sagt, eigentlich eher Kritik am Verhalten der Mitmenschen übt als an deren Wissen. Damit spricht sie im Kern mehr von Erziehung als von Bildung.

Der Umgang zwischen Menschen untereinander ist eine Frage des Charakters jedes Einzelnen und wir erleben nirgendwo mehr Charakterlosigkeit auf engstem Raum als gerade bei der Nutzung von Kommentarfunktionen in digitalen Medien. Sich im Internet anonym bewegen zu können, lädt ein, sich gegenüber Mitmenschen absichtlich unwahr oder gar infam zu verhalten, ohne dafür die Verantwortung tragen zu müssen.

Netzneutralität ist ein modernes Schlagwort. Sie wird als ultimatives Argument gegen vermeintliche Unfreiheit eingesetzt. Freiheit steht hierbei für ein ungebundenes Ausleben aller Neigungen. Im realen Lebens- und Berufsumfeld, also außerhalb der Cyberwelt, sanktioniert die Gesellschaft Verhalten, das für die Sozietät schädlich ist. Im Netz sanktioniert sie bisher kaum.

Forderungen nach Netzneutralität, Netzanonymität und Freiheit in der virtuellen Welt sind durchaus berechtigt. Aber über die negativen Auswirkungen des Netzes wird - außer unter der sozialen Problematik der Vereinzelung und der Sucht - wenig gesprochen. Sie werden stattdessen schweigend ertragen. Dass es sich beim Internet bislang um einen weitgehend rechtsfreien Raum handelt, wo Verantwortlichkeit wenig bedeutet, und um eine Sphäre des Lebens, wo es gerade auf den Charakter des Menschen ankommt, darüber wird geschwiegen.

Die Bedeutung von Charakter für die verantwortungsvolle Nutzung von sozialen Netzwerken, in denen sich zum Beispiel viele Heranwachsende bewegen, wird kaum thematisiert. Man ist der Meinung, es lässt sich sowieso nicht steuern. Über die sehr weitgehende Möglichkeit von Charakterbildung durch Erziehen während des Heranwachsens wird nirgendwo diskutiert. Marina Weisband hat letztlich »eine Lanze gebrochen« für Charakterbildung und Erziehung.

»Freiheit« und »Verantwortung« sind Begriffe, die wie zwei Seiten einer Münze zusammengehören. Freiheit ist nur mit Verantwortung erträglich. Freiheit kann nur gelebt werden, wenn jeder bereit ist, für die Ergebnisse seines freien Willens, das heißt für die Ergebnisse seines Denkens und Verhaltens, die Konsequenzen zu tragen. Es muss gesellschaftstragendes Erziehungs- und Entwicklungsziel sein, alle jungen Menschen zu befähigen, das eigene Leben zu »meistern«. Denn ihr Handeln prägt zukünftig ihr eigenes Lebens- und Berufsumfeld mit. Und die Herangewachsenen werden es sein, die unsere Demokratie in Zukunft gestalten.

Aktuell gibt es immer wieder Diskussionen darüber, wie frei und selbstbestimmt der Mensch überhaupt sein kann. Deswegen soll zu Beginn der Frage nachgegangen werden, wie viel Freiheit dem Menschen bei seiner molekularen und genetischen (Vor-)Bestimmtheit tatsächlich bleibt, wie viel neurobiologischer Anteil bei ihm Freiheit ausmacht und welche Bedeutung dies für sein Leben, vor allem für sein Entwicklungspotential »von klein auf«, haben könnte.

Weitere Fragen, die sich daran anschließen, sind: Wie könnte, wie sollte eine Entwicklung aussehen, die die vorhandenen Freiheitsgrade des Menschen schon beim Heranwachsen und dann darüber hinaus nutzt? Welche Verantwortung hat bei diesem Entwicklungsprozess gar der Heranwachsende selbst? Auf welche Verantwortung im Lebens- und Berufsumfeld sollte er vorbereitet sein? Welcher Weg sollte ihm deshalb aus erzieherischer Sicht gezeigt werden? Welchen Anteil können persönliches Temperament, persönlicher Wille und persönlicher Charakter an diesem Prozess haben beziehungsweise welche Bedeutung kommt ihnen tatsächlich bei diesem Prozess zu?

Es geht danach darum, wie erfolgversprechendes Erziehen zu Verantwortung und damit zu persönlicher Freiheit aussehen könnte. Was wären Erziehungsgrundsätze, falls sich aus diesen Überlegungen überhaupt welche ergeben? Wie wären sie in unserer Gesellschaft umsetzbar und was können sie auf Dauer gesehen für die Entwicklung unserer Gesellschaft bedeuten?

Dies sind wahrhaft viele Fragen, die in den nachstehenden Kapiteln behandelt werden sollen. Die abschließende Frage wird dann sein: Wenn alles Denkbare für das Erziehen zu Verantwortung durchgesprochen ist, gibt es dann noch Weiteres zu Bedenken? Zum Beispiel in welchem Zustand befindet sich die Sozietät, wenn die Herangewachsenen aktiv und eigenverantwortlich in sie eintreten? Hat die Sozietät alles dafür getan, um für die Erwachsenen ein Leben und Arbeiten in Würde zu ermöglichen? Sollte das nicht der Fall sein, dann müssten die notwendigen, ausstehenden Veränderungen zusammengetragen, aufgeführt und erläutert werden.

Denn es wäre schlimm, wenn die Sozietät vom Heranwachsenden Einordnung verlangt, aber am Ende des Erziehungsprozesses findet sich der Herangewachsene in einer Sackgasse wieder. Die Sackgasse heißt Alimentierung. Dies ist dann eine Situation, in der er die Möglichkeiten, die in ihm angelegt sind, entweder nur unter Wert oder vielleicht gar nicht einbringen kann. Dann müssen wir, die Erwachsenen von heute, uns rechtfertigen, warum wir das uns von der Jugend entgegengebrachte Vertrauen so missbraucht haben.

Kapitel 2 Von Autonomie bis Sozietät
Von Autonomie bis Sozietät
Molekulare Autonomie; Möglichkeiten und geglücktes Leben; Tugenden; Rückbezüglichkeit; Operationelle Geschlossenheit; Grenzen des Wahrnehmens und Verstehens; Ethik; Meine-Deine Wirklichkeit; Beziehung als Abgleichen von Wirklichkeiten; Sozietät und Rangordnung

Der Mensch ist molekular konstituiert und er sucht lebenslang nach seinem Glück. Aristoteles nannte Tugend als den Weg zur Glückseligkeit und verstand unter »Glückseligkeit« ein »geglücktes Leben«. Der Neurologe Raphael M. Bonelli2) hält ein »geglücktes Leben« dann für erreicht, wenn ein Mensch die Möglichkeiten verwirklicht hat, die in ihm angelegt sind. In diesem Essay wird diese Formel als Imperativ aufgefasst. Erziehe so, dass jeder Herangewachsene die Voraussetzungen für ein weiterhin glückendes Leben in sich trägt.

Es geht in diesem und dem nächsten Kapitel um die Frage, ob das, was »Möglichkeiten verwirklichen« suggeriert, nämlich sich frei für oder auch gegen seine Möglichkeiten entscheiden zu können, ob dem Menschen bei seiner grundlegenden molekularen Konstitution diese Freiheit überhaupt gegeben ist. Wenn sie dem Menschen gegeben ist, dann muss es gemeinsame Zielsetzung sein, dass alle Heranwachsenden die besten Chancen erhalten, im Sinne von Bonelli ein für sich geglücktes Leben erreichen können.

Über die Tugenden selbst, die seit der Antike unter den vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß bekannt sind, soll hier nicht gesprochen werden, da den Menschen in unserer heutigen Zeit und Gesellschaft diese Tugenden als Worte durchaus bekannt, aber als Begriffe in ihrer Bedeutung und ihrem gesellschaftlichen Wert nicht gleichermaßen verständlich sind.

Der erste Untersuchungsansatz baut darauf auf, dass gemäß dem Neurowissenschaftler Francisco Varela3) der Mensch, der als Ganzes Autonomie besitzt, molekular aus Teilbereichen konstituiert ist, die alle auch schon Autonomie besitzen. Autonomie bedeutet etwas Lebendes im Gegensatz zu unbelebter Materie, zu natürlichen oder von Menschen geschaffenen Artefakten. Autonomie kommt überall in der Natur in zahlreichen konkreten, lebenden Formen vor. Autonomie lässt sich nicht in weitere Vorgänge präzisieren. Die Teile des Lebendigen spezifizieren sich gegenseitig zur gemeinsamen Lebensform und legen sich als Teile gleichzeitig im selben Vorgang gegenseitig fest.

Autonomie führt aber noch weiter. In unserem Nervensystem führen Sinneseindrücke zu motorischen Veränderungen, die ihrerseits als Wahrnehmung sofort wieder Sinneseindrücke hervorrufen. Der Prozess von Sinneseindruck zu Motorik und sofort wieder zurück zu Sinneseindruck, immerfort im Kreis, nennt Francisco Varela rückbezüglich. Rückbezüglichkeit ist jedoch für uns Menschen kaum fassbar, denn wir rationalisieren nach Ursache und Wirkung. Dies begrenzt unser Denken und unsere Wahrnehmung.

Das Nervensystem, so Francisco Varela weiter, ist von operationeller Geschlossenheit. Dies bedeutet, dass es zwar nach außen wahrnehmbare Ergebnisse für den Menschen hervorbringt, sich aber in seinen Einzelabläufen eben nicht nach Auslöser und Ergebnis wahrnehmbar unterscheiden lässt. Unser Nervensystem beinhaltet die autonome Geschlossenheit von Zellmembran und Zelldynamik. Die Membran ermöglicht in ihren Grenzen, dass Moleküle produziert werden, die wiederum Grenzen der Membran bilden, auch dies ein fortwährender, rückbezüglicher Kreislauf.

In der Gesamtkonstitution des Menschen sind weitere Bereiche operationeller Geschlossenheit vorhanden. Der Mensch selbst ist als Ganzes ein solcher Bereich und, wie oben aufgeführt, autonom.

Wir Menschen sind in unserem Verständnis der Autonomie und deren Vorgänge eingeschränkt. Wir versuchen normal rational unsere Welt und Umwelt, aber auch uns selbst nach Ursache und Wirkung zu erklären. Für rückbezügliche Prozesse, also ohne klärendes Ursache-Wirkung-Prinzip, ist unser Vorstellungsvermögen beschränkt. Solche Prozesse lassen sich mit dem, wie wir rational denken, nur schwer fassen. Sie sind aber äußerst bestimmend bei der Aneignung von Erkenntnissen, die, während wir sie handelnd erkennen, sich schon wieder weiterentwickelt haben. Dies macht uns das Leben und Zusammenleben schwer. Hier einige Beispiele.

Diskussionen sind rückbezüglich, wenn niemandem mehr klar ist, wer womit angefangen hat und wie und in welcher Reihenfolge die nachfolgenden Aussagen getroffen wurden. Rückbezüglich gestalten sich dann viele Dispute, wenn es darum geht, wer oder was die Ursache eines guten oder schlechten Sachverhaltes ist. Rückbezüglich wird so ein Streit um Recht haben oder Recht behalten wollen mit Argumenten, die Vergangenes beweisen, wodurch die Argumentation sofort wieder neues »Vergangenes« produziert.

Rückbezüglichkeit beziehungsweise das Verharren im Kreislauf von gesuchter Ursache und zu verantwortendem Ergebnis verursachen viel Streit und Kummer. Sie lassen Verantwortung und Vertrauen erodieren, weil Zweideutigkeit verbleibt. Sie versperren den rettenden Ausweg des »Nach-vorne-Schauens« zur Lösung des Problems. Die Gedanken sind blockiert für neues, zukunftsfähiges Handeln. Sobald sich jedoch der Mensch der rückbezüglichen Situation bewusst wird, vermag er den Kreislauf zu durchbrechen und es eröffnen sich ihm neue Räume von Denken und Handeln.

Mit der molekularen Autonomie, die von der Ebene der Zellstruktur aggregiert ist bis hinauf zum selbstbestimmten Wesen des Menschen als Ganzes, geht eine Schlussfolgerung einher, die für die weitere Betrachtung wesentlich ist.