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Beschreibung

Die Zeitschrift für Medienwissenschaft steht für eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen. Sie stellt Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso her wie zu verschiedenen Disziplinen und bringt unterschiedliche Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. Restitution. Dekolonialisierung. Kritik kolonialer Archive und Sammlungen: All das setzt zuerst ein Hören - Hinhören, Zuhören - voraus. Der Heftschwerpunkt »Sound | Archive« stellt daher Fragen nach Zugängen zu und Praktiken im Umgang mit Klangarchiven und -beständen, nach Bedingungen von Aufzeichnungen, Bearbeitungen, Distributionen und Zirkulationen kolonialer Tonaufnahmen. Im Hörbarmachen verstummter Stimmen, verrauschter Klänge und ungehörter Geschichten legen die Beiträge des Heftes im Sonischen eine vielstimmige Handlungsmacht frei, die sie vom kolonialen Rand her begreifen. So setzen sie den Gewaltakten kolonialer Eroberungen, wie sie in den Regeln und Praktiken der Archive fortgeschrieben werden, andere Formen klanglicher Quellenkritik und medialer Historiographie entgegen.

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Seitenzahl: 278

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2/2024GESELLSCHAFT FÜR MEDIENWISSENSCHAFT (HG.)

 

EDITORIAL

Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen.

Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler*innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibstile und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben.

Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA , das von einer Gastredaktion konzipiert wird. Unter EXTRA erscheinen aktuelle Aufsätze, die nicht auf das Schwerpunktthema bezogen sind. DEBATTE bietet Platz für theoretische und / oder (wissenschafts-)politische Stellungnahmen. Die Kolumne WERKZEUGE reflektiert die Soft- und Hardware, die Tools und Apps, die an unserem Forschen und Lehren mitarbeiten. In den BESPRECHUNGEN werden aktuelle Veröffentlichungen thematisch in Sammelrezensionen diskutiert. Die LABORGESPRÄCHE setzen sich mit wissenschaftlichen oder künstlerischen Forschungslaboratorien und Praxisfeldern auseinander. Von Gebrauch, Ort und Struktur visueller Archive handelt die BILDSTRECKE. Aus gegebenen Anlässen konzipiert die Redaktion ein INSERT.

Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunktthemas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezensionen und Tagungsberichten für die Website. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf www.zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Web-Extras, Blog-Beiträge sowie genauere Hinweise zu Einreichungen.

MAJA FIGGE, MAREN HAFFKE, TILL A. HEILMANN, KATRIN KÖPPERT, FLORIAN KRAUTKRÄMER, ELISA LINSEISEN, JANA MANGOLD, GLORIA MEYNEN, MAJA-LISA MÜLLER, BIRGIT SCHNEIDER, THOMAS WAITZ

INHALT

 

 

Editorial

SOUND | ARCHIVE

UTE HOLL / EMANUEL WELINDER

Sound | Archive Einleitung in den Schwerpunkt

JAKOB CLAUS

Stimmen hören Wissenspraktiken und restitutive Optionen kolonialer Tondokumente

ANETTE HOFFMANN

Akustische Fragmente

REBECCA HANNA JOHN

Call and response Robert Lachmanns orientalistisches Archiv und Jumana Mannas dekoloniale Kritik

JONATHAN THOMAS

Koloniale Expansion und faschistische Herrschaft durch Phonographie in Italienisch-Ostafrika

WILLIAM FOURIE

Exzentrische Hermeneutik und die Artikulation von Geschichte im kolonialen Klangarchiv

BUDHADITYA CHATTOPADHYAY

Archive hörbar machen (Postdigitale) Emanzipation kolonialer Archive

Ein Gespräch zwischen MIGUEL BUENROSTRO und VANESSA ENGELMANN

Das Archiv aufführen Über Zuhören als situierte Praxis, Improvisation und künstlerische Forschung im Kontext der Arbeit mit und in Soundarchiven

BILDSTRECKE

Vorgestellt von Anette Hoffmann

«Hören Sie mich?»

LABORGESPRÄCH

TULI MEKONDJO / FREDERIKE MOORMANN / LUKA MUKHAVELE und ANGELIKA WANIEK im Gespräch mit HENRIETTE GUNKEL und KATRIN KÖPPERT

Satelliten fliegen. Masten senden. Hörner rufenEin Gespräch über (post-)koloniale Infrastrukturen elektrischer Telekommunikation zwischen Namibia, Mosambik und Deutschland

DEBATTE

 

Medienpraxis und Lehre (Teil II)OLIVER RUF   Ästhetische Medienpraxis

 

Medienwissenschaft und Bildung (Teil III)KATJA GRASHÖFER / PETRA MISSOMELIUS Medienbildung braucht Medienwissenschaft

WERKZEUGE

HANNES BAJOHR   Große Sprachmodelle. Machine Learning als Lese- und Schreibermöglichung

BESPRECHUNGEN

VERA TOLLMANN   Ein Forschungsstand: Bildbegriffe, Bildpolitiken, Bildpraktiken

AUTOR*INNEN

BILD- UND SOUNDNACHWEISE

IMPRESSUM

SOUND | ARCHIVE

Skizze aus Harry Ferdinand Olson: Elements of Acoustical Engineering (1940, 201)

SOUND | ARCHIVE

Einleitung in den Schwerpunkt

Irgendwo zwischen Tempel und Friedhof sei das Archiv zu verorten, schreibt Achille Mbembe, «a religious space because a set of rituals is constantly taking place there, rituals that […] are of a quasi-magical nature, and a cemetery in the sense that fragments of lives and pieces of time are interred there».1 Mbembe formulierte seine Überlegungen 2002 nach den ernüchternden Erfahrungen mit der Truth and Reconciliation Commission (Wahrheits- und Versöhnungskommission) in Südafrika zum Konnex von Archiv und Macht, wie ihn Jacques Derrida hinsichtlich kolonialer Archive ebenfalls dort vorgetragen hatte.2 Wenn Mbembe eine insistierende Resilienz des Kolonialen in Archiven und Archivordnungen über alle politischen Umbrüche hinaus konstatiert, fordert er einerseits dazu auf, die verschiedenen Archive mit ihren konkreten Kulturtechniken und Praktiken zu untersuchen. Andererseits verweist er auf das Archiv im Singular eines Dispositivs, das in der Fragmentierung von Körpern und von historischer Zeit die Gewalt dieser Operationen zugleich verstellt, vergräbt, verschwinden lässt oder löscht. Das gilt insbesondere für jene kolonialen Archive, deren Gegenstände in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit analogen technischen Medien erzeugt wurden. Hier erweist sich Mediengeschichte, ganz im Sinne Walter D. Mignolos, als dunkle Seite der Moderne.3

Zu den grundlegenden medialen Verfahren der Kolonialisierung im 19. Jahrhundert gehören neben Statistik und früher Formen maschineller Datenverarbeitung vor allem Fotografie und Kinematografie, für deren Mechanismen des Schießens von Einzelbildern die Fragmentierung des lebendigen Körpers in der Zeit, wie Mbembe sie in seinem Text zum Archiv beschreibt, konstitutiv ist.4 Allerdings waren auch Medien der Akustik – Phonographie, Radio und später das Tonband – in ihren spezifischen Formen der Bearbeitung, z. B. im Speichern, Filtern, Mischen, Montieren, und in ihren entsprechenden Infrastrukturen der Übertragung und Zirkulation von Anfang an engagiert in den Formationen kultureller Differenz und kolonialer Subjektivierung. Das galt insbesondere für Forschungen der anthropologischen Phonetik und Linguistik. Mit technischen Medien und Messungen wurde Alterität durch rassifizierende medizinische und forensische Verfahren erzeugt – galten dann jedoch als Verfahren von deren Entdeckung.5 Unter dem Vorwand, sogenannte vanishing cultures6 zu retten, wurden im 19. Jahrhundert ethnografische Expeditionen zur Sammlung von audiovisuellen Daten unternommen, deren Archivierung und Auswertung möglicherweise die Kulturen, nicht aber die Leute vor Genoziden gerettet hat. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Erwägungen richten sich die Beiträge dieses Heftschwerpunkts gegen die Vorstellung des Archivs als Repositorium, als Ort der einfachen Speicherung und Lagerung von Dokumenten, und begreifen es vielmehr als Ort der Produktion von Machtbeziehungen.

Ann Laura Stoler hat im Kontext ihrer Studien zu kolonialen Archiven geraten, deren Dokumente nicht einfach gegen den Strich ihrer Ordnungen, sondern vielmehr sehr genau entlang ihrer strategischen Formierung zu untersuchen: «along the archival grain».7 Nur dann lässt sich das Archiv nicht einfach als Tempel, als Fundgrube oder Grab der Geschichte verstehen, sondern als Ort der Produktion von Wissen: «[W]e are just now critically reflecting on the making of documents and how we choose to use them, on archives not as sites of knowledge retrieval but of knowledge production.»8 Die Arbeit im Archiv ist immer auch Arbeit am Archiv und an der eigenen Wahrnehmung, wie Arlette Farge sie als Bildung der Sinne beschrieben hat.9

Klangarchive werfen dabei ein besonderes Problem auf, das aber auch ein ästhetisches ist: Die Erfahrung, aufgenommene und reproduzierte Klänge zu hören, die Faszination und das Vergnügen, Musik, Rhythmen und Gesänge oder Alltagsgeräusche und insbesondere die partikularen und unverwechselbaren Stimmen von Vorfahren und Angehörigen in Archiven vernehmen zu können, lässt die Bedingungen, unter denen jene Stimmen und Klänge erzeugt wurden, leicht in den Hintergrund treten. Technische Verfahren, soziale Umstände, administrative und politische Prozeduren der Aufnahmen lassen sich höchstens am Rande vernehmen und müssen erst im Detail rekonstruiert werden. Das gilt für Aufnahmen aus ethnografischer Feldforschung ebenso wie für solche, die im Zuge phonetischer oder linguistischer Forschungen aufgezeichnet wurden, häufig in Gefangenenlagern, auf die mehrere Beiträge in diesem Heft eingehen. Das Affektive der Stimmen aus der Vergangenheit, die Übertragungen von Rhythmen oder Klängen tendieren dazu, die medialen Prozeduren der Dokumentation zu überdecken oder, mit Mbembe gesprochen, zu vergraben.

Allerdings dokumentieren die Aufnahmen nicht nur, sie sind stets mit handfester Appropriation verbunden. Seit der Erfindung der Klangaufzeichnung und der damit – wie bereits von Kolonialmächten – behaupteten technischen Überlegenheit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Entwicklung integraler Lautsprechersysteme in den Zwanzigerjahren gehört der Einsatz akustischer Effekte (sonic warfare) nach Steve Goodman nicht nur zu Politik und Kriegsführung, sondern auch zur alltäglichen Regelung von Massen, Aufstandsbekämpfung sowie Raum- und Grenzkontrolle.10 Notorisch hat Francis Ford Coppola in seinem Film Apocalypse Now (USA1979) den strategischen Einsatz insbesondere der Stimmen der Ahn*innen, die im Vietnam-Krieg mit PA-Anlagen (public-address-Anlagen) aus Helikoptern übertragen wurden, inszeniert. Das Verfahren wurde auch schon, das dokumentiert der Beitrag von Jonathan Thomas in diesem Heft, von faschistischen italienischen Truppen im zweiten Italienisch-Äthiopischen Krieg geplant. Die fragmentierte und abgetrennte Stimme wird nicht nur zum Gegenstand im phonetischen Labor, sondern auch zur Waffe im kolonialen Krieg.

Bemerkenswert ist, dass auch Michel Foucault, wenn er das Archiv grundsätzlich als Regel aller «Aussagensysteme (Ereignisse einerseits und Dinge andererseits)» begreift, ausgerechnet von der Stimme ausgeht, um davor zu warnen, ein Archivdokument «als die Sprache einer jetzt zum Schweigen gebrachten Stimme» zu behandeln, «als deren zerbrechliche, glücklicherweise aber entzifferbare Spur».11 Diese Spur ist nur deshalb lesbar, die Stimme nur deshalb vernehmlich, argumentiert Foucault, weil administrative und historische Formationen des jeweils Sagbaren sie erst aus allem Lärm und Geräusch evakuiert haben.12 Nicht die Stimme gelte es zu studieren, sondern die Praktiken und Prozeduren des Archivs, die sie als subjektivierte erzeugten. Medienarchäologisch also wären Techniken und Kulturtechniken der Isolierung, der Aufzeichnung und Registratur, der Aussageformen – Formulare, Klassifikationen und Verzettelungen der Dokumente ebenso wie Formen des Ablegens, Vorlegens und Vorenthaltens – in ihrer Materialität zu untersuchen. Solchen historischen Medientechniken und -praktiken nachzugehen haben sich die Autor*innen dieses Schwerpunkts zur Aufgabe gemacht. In ihrer Quellenkritik folgen sie zuerst der programmatisch formulierten Aufforderung: «The first move in any critical discourse on sound is to denaturalize and de-essentialize it.»13 Diese Denaturalisierung und De-Essentialisierung wird in allen Beiträgen nicht nur begrifflich und diskursiv vorgenommen, sondern ist auch als Experiment an und mit der eigenen Wahrnehmung zu verstehen.

Foucaults Archivbegriff scheitert an Medienarchiven, weil er dem Schriftlichen und dem Verhältnis von Wörtern, Dingen und Ereignissen verpflichtet bleibt. «Für Tonarchive oder Filmrollen wird Diskursanalyse unzuständig», schreibt Friedrich Kittler nachsichtig.14 Entscheidende Aspekte des analogen Klangarchivs lassen sich eben nicht einfach in Wörtern, Buchstaben oder Ziffern fassen, sondern bleiben als elektronisches Schwingungs- oder Vibrationsgeschehen sprachloser Überschuss: Als Sonisches oder Sound kann dieser auch in jeder Hinsicht affektiv werden. Mit Sound ist einerseits das gemeint, was vom Klang in der symbolischen Ordnung von Notationen und Partituren, so unkonventionell sie sein mögen, nicht angeschrieben werden kann und den Rastern der Registrierung entgeht.15 Sound taucht sowohl im Archiv wie auch in den Notationen immer als etwas Exzessives auf. Andererseits wird Sound, auch in den folgenden Beiträgen, ebenso im Sinne von noise, Geräusch, Krach und Lärm verstanden – als Störung, die nach Michel Serres zugleich auf die Medialität der Kanäle hinweist und damit auf Konstellationen von Medientechniken, Medienumgebungen, Übertragungsformen und konkreten Körpern, in denen Subjektivität und Soziales erzeugt werden.16

Die Schwierigkeiten im Umgang mit frühen Phonogrammaufnahmen im Kontext der Anthropologie, Linguistik oder experimentellen Phonetik erweisen sich dabei als aufschlussreich: In der Klassifikation von Tondokumenten wurden Unterscheidungen von Sprache, Rezitation oder Gesang so systematisch diskutiert wie, zuletzt, kontingent getroffen.17 Andererseits wurden neue Parameter der Anschreibbarkeit entwickelt.18 Die Klassifikationen der Stimmen und Tondokumente sind nicht nur zu denaturalisieren. Sie sind mit Mignolo als Resultat einer «colonial matrix of power» zu identifizieren, bestehend aus «four interrelateddomains: control of the economy, of authority, of gender and sexuality, and of knowledge and subjectivity».19 Wenn Klassifizierungen der frühen Tonaufnahmen in Formulare eingetragen werden, folgen sie, wie Britta Lange in ihrer Studie zeigt, einem solchen Raster, in dem genau der Sound der Tonaufnahmen als akustischer Überschuss und Irritation der Matrix kassiert ist.20 Wenn die folgenden Beiträge eigensinnige Konzepte des Hörens entwerfen, dann, um in den Aufnahmen jene in der Klassifikation kassierten Elemente zu rekonstruieren. Dazu lassen sich diese Formen des Hörens über phonetische, linguistische und semantische Raster hinaus auf ein Zuhören in der Dauer der Zeit und auf eine dichte Beschreibung des Gehörten ein. Über alle kulturellen Unterscheidungen von Klang und Geräusch, Stimme und Körnung, Ton und Störung hinaus können sie dazu die von Jonathan Sterne unterschiedenen Praktiken des hearing und des listening sowie eine spezifische Form des Hinhörens, das audiling, produktiv machen.21 Die zuhörenden Interventionen gegen die Ordnungen des Soundarchivs, wie sie in den folgenden Beiträgen entwickelt werden, finden jedoch auf ganz unterschiedlichen Ebenen statt – derjenigen des Klangs, der Semantik, der Speicherung, der Übertragung, der Zirkulation – und zuletzt auch in Formen der elektronischen oder digitalen Bearbeitung von Klangmaterial aus dem Archiv. Medienspezifik ist hier bereits impliziert, wenn bestimmte räumliche oder frequenzielle Klangstrukturen schon bei der Aufzeichnung durch die Beschränkung von Bandbreiten oder durch Filter ein- oder ausgeschlossen werden. Prozesse kolonialisierender Differenzproduktion sind damit wesentlich an technisch implementierte Verfahren delegiert. In Klangarchiven ist auf Rauschunterdrückung, noise cancelling, genauso zu achten wie auf andere Formen der Unterdrückung.

Im Zwischenraum von symbolischer Ordnung und akustisch evozierten Gestalten liegen auch die von Mbembe thematisierte begrabene Latenz kolonialer Klangarchive und ihr konstitutiv Gespenstisches. Der Archivar Verne Harris notiert in seiner Studie zu Archivgespenstern, mit denen er sich auskennt: «Content can be available but unreadable for long periods of time – while the archival trace might be literal if not material, the meaning remains spectral.»22 Auch Philip Scheffner hat in seinem Film The Halfmoon Files (DE2007) solche Gespenster in der deutschen Kolonialgeschichte aufgetrieben und seinen Film selbst als ‹ghost story› bezeichnet.23 In Kooperation mit der Historikerin Britta Lange führt Scheffner das, was von den Stimmen Kriegsgefangener aus dem Ersten Weltkrieg noch hörbar werden kann, systematisch zurück auf archivarische Praktiken und Produktionsformen. Lange wiederum dokumentiert in ihrer Studie Gefangene Stimmen im Berliner Phonogramm-Archiv nicht nur die kolonialen Techniken der Klangaufzeichnung, sondern auch ihre eigenen Medien- und Archivpraktiken.24 Jenseits der Architekturen, Infrastrukturen und Materialitäten des Archivs geht es um eine Auseinandersetzung mit diesen Gespenstern als akustische Hantologie, in der hörbar wird, was Archivordnungen löschen.25 Dazu gehören Spuren der Vernichtung in Prozeduren des Archivs, Akte des Durchstreichens, Überschreibens und Löschens. In Kolonialarchiven sind das immer konkrete Gewalterfahrungen.

Inzwischen migrieren mit allen anderen auch die Soundarchive, werden digitalisiert, in der Cloud abgelegt, d. h. auf gigantischen Servern, die jene Landschaften, in denen vor 150 Jahren die ersten ethnografischen Expeditionen audiovisuelle Aufnahmen durchführten – ‹to save vanishing cultures› –, nach der ersten Landnahme durch Siedler*innen noch einmal unbewohnbar machen.26 Auch das lässt sich nach Douglas Kahn immer mithören, aber es muss auf Dauer geschehen, um das Archiv als Registratur zu unterlaufen.27

Das Archiv, so Mbembe mit dem Hinweis auf die Dringlichkeit historischer Forschungen, fresse die Zeit. Er nennt das «Chronophagie», ein Fressen der Zeit zwischen Latenz und Gespenstischem.28 Dagegen müssen sich Forscher*innen im Klangarchiv unweigerlich Zeit nehmen, damit Dokumente erschallen, sonisch, und damit realisiert werden können. Im Hinblick auf Zeitlichkeit antworten die folgenden Archivpraktiken erstens auf die zeitkritischen Aufzeichnungen im Archiv, von deren Rasterung nicht zuletzt die Pegeltöne am Beginn historischer Aufzeichnungen zeugen. Zweitens gehen sie auf Fragen der Störung als Lärm, Geräusch oder Sound ein, auf Nebengeräusche wie Lachen oder Husten, um die Bedingungen des Archivs zu rekonstruieren. Beim Geräusch oder Rauschen als Sound oder Lärm kann es sich um die Störung der Archivordnung oder aber um eine Information über eine technische Umgebung, eine Umwelt oder einen Kanal handeln. Das Verhältnis von Störung und Signal ist außerdem historisch nicht stabil und zugleich sozial geprägt, wie Sterne in seinem Kapitel «The Social Genesis of Sound Fidelity» nachweist.29 Daraus ergibt sich drittens die Frage, was von einer Klangaufnahme hörbar gemacht, was transkribiert werden kann – ein archivstrategisches und zugleich medientechnisches Problem, denn in technischen Anordnungen wie Mikrofoncharakteristiken sind kulturelle Diskriminierungen bereits implementiert.

All diese Aspekte haben Konsequenzen auch für Fragen der Restitution. Es ist offensichtlich nicht damit getan, Tonträger oder migrierte Tondokumente aus dem Archiv dorthin zurückzuschicken, wo sie aufgenommen wurden. Vielmehr muss eine größere Ökologie medialer Infrastrukturen, Praktiken und Prozeduren geteilt werden. Das setzt nicht nur medienhistorische Expertise, sondern einen dichten Dialog zwischen Forscher*innen des Globalen Südens und des zerfaserten Nordens voraus. Wie unsere Schwerpunktausgabe auch zeigt, ist dieser Dialog, trotz aller Bemühungen, nicht so leicht herzustellen. Die versammelten Beiträge skizzieren detaillierte Gegenprogramme zur kolonialen Archivierung. Die ersten Beiträge von Jakob Claus, Anette Hoffmann, Rebecca Hanna John und Jonathan Thomas rekonstruieren mediale Verfahren in Klangarchiven als Sound| Archives. Die darauffolgenden Beiträge von William Fourie, Budhaditya Chattopadhyay wie auch das Gespräch zwischen Vanessa Engelmann und Miguel Buenrostro gehen auf zeitkritische und frequenzlogische Praktiken und eine Dekolonialisierung des Klanglichen ein, also auf Verhandlungen durch künstlerische Interventionen. Diese lassen sich in die Tradition der Praktiken eines living archive stellen, wie Stuart Hall sie vorgeschlagen hat.30 Geräusche – und auch das Schweigen – von Geistern und Gespenstern in Tempeln und Friedhöfen sind auf diese Weise zum Gegenstand lebendiger Auseinandersetzung geworden.

JAKOB CLAUS setzt sich in seinem Beitrag mit phonographischen Aufnahmen der Hamburger Südsee-Expedition (1908 – 1910) aus dem Berliner Phonogramm-Archiv auseinander, einerseits in kritischer Befragung des eigenen Hörens kolonialer Tonaufnahmen, andererseits um zu untersuchen, inwiefern sich ein akustisches Aufschreibesystem als Dispositiv kolonialer Wissensproduktion erweist. Claus zeigt, dass vermeintlich technische Anleitungen zur Handhabung der phonographischen Aufnahmeapparatur zugleich epistemische Strategien sind. Wenn etwa der Musikethnologe Erich Moritz von Hornbostel, von 1906 bis 1933 Leiter des Berliner Phonogramm-Archivs, im medientechnischen Vergleich mit der Kamera die Komplexität und Empfindlichkeit des Phonographen hervorhebt, setze er, so Claus, mit der Anweisung zur Erstellung von Tonaufzeichnungen nicht nur medientechnische Standards, sondern begründe eine epistemische Struktur anthropologischer Vermessung als Normierung. Das verdeutlicht sein Beitrag am Beispiel der Stimmpfeife als Test- und Pegelton. In einem beispielhaften close listening macht Claus vor allem auf die Hörbarkeit der technischen Aufnahmeapparatur aufmerksam, die sich im Fall digitalisierter Kopien der Originalaufnahmen zusätzlich auf die Geräusche des Medienwechsels erstreckt. Insofern können die Prozeduren der Aufnahme und Verfertigung solcher wissenschaftlichen Artefakte womöglich auch einen als dekolonial zu bezeichnenden Zugang zum Akustischen eröffnen. Eine medienwissenschaftliche Analyse archivierter Tondokumente erlaubt es, die Produktion eines bestimmten Hörens durch Aufnahmeverfahren, Infrastrukturen und Distribution von Klangmaterial offenzulegen.

ANETTE HOFFMANN untersucht in ihrem Beitrag, der zugleich einen Ausblick auf ihre umfassenden Forschungen zu Tonaufnahmen in deutschen Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs aus dem Berliner Lautarchiv gibt, deren mediale, epistemische und hegemoniale Bedingungen.31 Dabei entwickelt Hoffmann das methodische Verfahren des close listening, das sich auch als historiografisches counter listening gegen die im Interesse wissenschaftlicher Phonetik und Linguistik hergestellten Aufnahmen fassen ließe. In diesem Sinne bezeichnet Hoffmann erstens Dokumente aus kolonialen Klangarchiven dezidiert als Fragmente, als unzusammenhängende Teile einer kolonialen Geschichte, deren Kontext überhaupt erst wiederhergestellt werden muss. Wenn sie zweitens den semantischen Gehalt der Sprechakte und Gesänge freilegt, der in der Klassifikation linguistischer oder experimentalphonetischer Archive nicht vorkommt, und in dichter Kooperation mit Native Speakern das Gehörte übersetzt und rekontextualisiert, wird ein Gewaltzusammenhang wahrnehmbar, der in der kolonialen Ordnung des Archivs gelöscht wurde. Insofern begreift Hoffmann drittens jede historische Sprachaufnahme als ‹Echo› der kolonialen Aufnahmesituation. In diesen ‹Echos› legt sie sowohl singuläre ungehörte Botschaften frei als auch ganze Diskursformationen, die sich in der Vernetzung mehrerer Archive und Aufnahmen, die sie rekonstruiert, zusammensetzen. Diese diskursiven Netzwerke nennt Hoffmann ‹Repertoires›. In ihrer Vielstimmigkeit widersetzen sie sich der kolonialen Geschichtsschreibung und ihren Narrativen, darunter nicht zuletzt der Held*innenerzählung vom technischen Gerät als Garanten einer behaupteten technischen und kulturellen Überlegenheit.

Auch die Untersuchung von REBECCA HANNA JOHN nimmt ihren Ausgang in einem deutschen Gefangenenlager des Ersten Weltkriegs, wo der junge Übersetzer Robert Lachmann bei Aufnahmen mit Kriegsgefangenen assistierte, bevor er sich mit seiner Studie Musik des Orients von 1929 als Musikethnologe qualifizierte. In seiner Begrifflichkeit ist er, wie John zeigt, dem Orientalismus zuzurechnen, der nach Edward Said eine Allianz von wissenschaftlichen und imperialen Strategien des Kolonialismus darstellt. John allerdings schlägt vor, Lachmann als Forscher eines empathischen ‹Dazwischen› zu verstehen, der 1935 an die Jerusalemer Hebrew University eingeladen wurde, auf diese Weise aus Nazideutschland flüchten konnte und in seinen Arbeiten in den Dreißigerjahren in Palästina nunmehr selbst aus der Position des Geflüchteten ein Konzept des Hörens ‹mit Sympathie› entwickelt hat. In seinem Jerusalemer Archiv für außereuropäische Musik und in seinen Radioprogrammen für den 1936 gegründeten britischen Radiosender Palestine Broadcasting Service (PBS) versammelte Lachmann jüdische, muslimische, christliche und säkulare Gesänge und Instrumentalmusik aus Palästina quer zu der vom Sender verordneten sozialen und politischen Trennung in eine ‹arabische› und eine ‹hebräische› Sektion. Weil er sich so gegen binäre und ethnonationalistische Narrative stellte, musste Lachmann sich scharfer Kritik auch aus zionistischen Kreisen stellen. Johns eigener, vielstimmiger Text antwortet auf den 1936 ergangenen Hilferuf des jüdischen Musikethnologen mit dem 2015 gedrehten Film A Magical Substance Flows Into Me (PS / DE / GB2016), der palästinensischen Künstlerin Jumana Manna. Manna nimmt in Lachmanns Jerusalemer Archiv Spuren der Geschichte palästinensischer Musik auf. Zugleich kontert sie Lachmanns musikethnologische Klassifizierungen durch filmische Strategien der Vermischung und Überlagerung. Manna interessiert sich für transkulturelle Formen kollektiver musikalischer Praktiken und verweist damit auf die Ordnung des Archivs, die sich gerade im unhörbaren Ausschluss von hybriden und – im Sinne Lachmanns – ‹unreinen› musikalischen Formen manifestiert. Lachmanns Konzept eines ‹sympathisierenden Hörens› als Grundvoraussetzung jeder Verständigung ist damit schließlich dank Mannas Film realisiert. Historisch wurde es weder im PBS noch an der Hebrew University eingelöst.

JONATHAN THOMAS geht in seinem Text dem Einsatz des Phonographen in den italienischen Eroberungs- und Kolonialisierungsfeldzügen zwischen 1935 und 1941 in Äthiopien nach. Phonographie und Radio, argumentiert Thomas, wurden vom faschistischen Italien eingesetzt, um mit der akustischen die territoriale Raum- und Landnahme vorzubereiten. Einerseits verbreitete das Regime über Lautsprecheranlagen oder Radiosender Aufnahmen italienischer Propagandalieder in Afrika, um eine kollektive faschistische Identität in der Kolonie herzustellen. Andererseits dienten koloniale Aufnahmen Indigener Sprachen, Lieder und Gesänge, die von großen Schallplattenlabels produziert und in Italien vertrieben wurden, der Konstruktion und Exotisierung eines kolonialen, subalternen ‹Anderen›. Thomas zeigt, inwiefern in einer technizistisch begründeten Strategie ästhetischer Überwältigung eine Überlegenheit Italiens behauptet werden sollte. In der medientechnischen Produktion und Zirkulation von Aufnahmen wurde ein ‹phonographischer Imperialismus› realisiert, welcher der kriegerischen Eroberung und Expansionspolitik Italiens vorausging. Thomas’ Beitrag zeigt zugleich, wie die medientechnische Außenseite des Archivs dabei zum Verschwinden gebracht wird.

Hier schließt der Beitrag von WILLIAM FOURIE an. Ausgehend von der im kolonialen Kontext entstandenen Sammlung der International Library of African Music (ILAM) in Makhanda (Südafrika), eine der bis heute weltweit größten Sammlungen afrikanischer Musik und Musikinstrumente, stellt Fourie Status und Materialität von Klangdokumenten aus dezidiert dekolonialer Perspektive zur Diskussion. An der unterschiedlichen Erzeugung von – im Sinne von Clifford Geertz – ‹dichten› oder aber ‹dünnen› Klangereignissen durch Archivierung markiert Fourie die Differenz von kolonialen und dekolonialisierenden Archivpraktiken. Der Gründer der ILAM, Hugh Tracey, hatte bereits 1954, im Jahr der Gründung des Archivs, eine Verbindung zwischen der Ausbeutung von Menschen und Bodenschätzen einerseits und der Aneignung von kulturellem Erbe, Liedern, Gesängen und Tänzen unter dem Gesichtspunkt kolonialer Herrschaft andererseits gesehen. Die Verdinglichung, die Stimmen und Musik als Tonaufnahmen erfahren, wenn sie auf diese Weise gesammelt, fixiert und konserviert werden, entsteht laut Fourie aus einer spezifisch westlichen Hermeneutik des reduzierenden ‹dünnen› Hörens. Sie spreche nur der*dem westlichen Archivar*in eine Autor*innenschaft zu. Dagegen bringt Fourie eine Praxis der ex-centric hermeneutics in Anschlag, die Sound nach Nina Sun Eidsheim nicht als Objekt, sondern als komplexes Vibrations- oder Schwingungsgeschehen sowie als eine technische, kulturelle und soziale Praxis begreift, die Klang zum ‹dichten Ereignis› werden lässt. Mit dem Projekt des Künstlers und Musikethnologen Noel Lobley, der Archivmaterial der ILAM in den unmittelbar benachbarten Townships aufführt, verweist Fourie auf Möglichkeiten einer dekolonialisierenden Archivpraxis, die zugleich Autor*innenschaft und Deutungshoheit an eine Vielzahl von Hörenden und Kommentierenden restituiert. Damit werde die koloniale Historiografie des Archivs transformiert und zugleich jenseits des Archivs als akustische Verdichtung und Verflechtung realisiert.

Von Transformationen, die künstlerische Praxis in Archivsammlungen bewirken kann, geht auch der Beitrag von BUDHADITYA CHATTOPADHYAY aus. Bestürzt von der Stille der Archivobjekte, die der Autor gemeinsam mit anderen Künstler*innen des Globalen Südens bei einem Besuch des Berliner Phonogramm-Archivs wahrnahm, begann er, gegen jede Ordnung des Archivs und dessen etablierte Infrastrukturen mit akustischen Objekten zu experimentieren. Chattopadhyay verweist auf die extraktivistische Logik, die den verschiedenen Aufnahmen eingeschrieben ist, auf deren gewaltvolle Produktionsbedingungen und auf die wissenschaftliche Verwertung zu Dokumentation, Vermessung, Kontrolle und Überwachung kolonialer Subjekte. Entlang seiner eigenen künstlerischen Arbeit entwickelt Chattopadhyay ein Konzept musikalischer Bearbeitung von Archivobjekten, das in deren elektronischer Transformation neue Formen der Hörbarkeit und des Hörens und mithin neue Formen kritischer und kollektiver Ästhetiken ermöglicht. Durch digitale Verfahren des Samplens, Hackens und Re-Synthetisierens von Archivklängen in Live-Performances erweckt Chattopadhyay nicht nur die im Archiv begrabenen Dokumente zu neuem akustischem Leben, sondern er schafft auch eine neue Öffentlichkeit und ein neues Archiv, indem er Archivklänge hörbar und Aufzeichnungen zugänglich macht, sie in neue Kontexte und künstlerische Narrative einfügt und damit kolonialen Ordnungssystemen entzieht.

Fragen von Grenzen, Migration und Migrationsbewegungen beschäftigen VANESSA ENGELMANN im Gespräch mit dem mexikanischen Künstler und Filmemacher MIGUEL BUENROSTRO. In seinem Projekt Cosmoaudiciones greift Buenrostro Gloria Anzaldúas Konzept der Borderlands auf, um Grenzen nicht als Orte, sondern als Möglichkeiten unterschiedlicher transgressiver Formen von Bewegungen, Überkreuzungen und Verflechtungen zu verstehen.32 Dabei geht es ihm um ein Hören und Hörbarmachen der Grenze, um Narrative von Migrant*innen, die diese als Subjekte wahrnehmbar machen und sie gerade nicht in Kontexte der Objektivierung oder Kommerzialisierung stellen. Mit Carlos Lenkersdorfs Konzept der Cosmoaudiciones wird, so Buenrostro, ein Verhältnis zur Welt denkbar, das relationales Zuhören als Form einer situierten Ethik und als Möglichkeit grenzüberschreitender Begegnungen versteht. Zentral sind für Buenrostro dabei nicht so sehr die Materialitäten unterschiedlicher Tonaufnahmen, sondern Fragen der Performativität jenseits der Ordnungs- und Klassifikationssysteme des Archivs. Gegen eine koloniale Historiografie schlägt Buenrostro eine listening positionality vor, welche die Klänge aus dem Archiv, die in einer Geschichte kolonialer Gewalt zum Schweigen gebracht wurden, als relationale Konstellationen begreift und auf diese Weise gegen universalisierende Ordnungssysteme in Anschlag bringt. Ähnlich wie Fourie will Buenrostro die Tonaufnahmen aus dem Archiv herauslösen, wieder in Zirkulation bringen und dabei die Performativität der gespeicherten Klänge in den Vordergrund stellen. Die dabei entstehenden Gegennarrative legen Leerstellen offen, stellen Kategorisierungen infrage und ermöglichen neue ästhetische wie epistemische Formen, die grenzüberschreitend und vielstimmig sind.

UTE HOLL, EMANUEL WELINDER

Wir möchten der Redaktion der ZfM für die organisatorische Unterstützung und den fachlichen Austausch herzlich danken. Den kenntnisreichen Gutachter*innen des Peer-Review-Verfahrens verdankt dieses Heft konstruktive Kritik und eine Vielzahl produktiver Vorschläge. Auch möchten wir den zahlreichen Autor*innen, deren exzellente Texte aufgrund der thematischen Fokussierung nicht für den Schwerpunkt berücksichtigt werden konnten, für ihre Vorschläge und Einsendungen ebenso danken wie für ihr Verständnis. Die Arbeit an dieser Einleitung erfolgte im Rahmen des Forschungsprojekts The (In)Audible Past (Projektnummer 10001HL_204588), das durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert wird.

 

 

1Achille Mbembe: The Power of the Archive and its Limits, in: Carolyn Hamilton u. a. (Hg.): Refiguring the Archive, Dordrecht 2002, 19–27, hier 19.

2Vgl. Jacques Derrida: Archive Fever in South Africa, in: Hamilton u. a. (Hg.): Refiguring the Archive, 38. Zu Aufnahmen, die im Zuge der Arbeit der Truth and Reconciliation Commission erstellt wurden, vgl. Antjie Krog: Country of My Skull. Guilt, Sorrow, and the Limits of Forgiveness in the New South Africa, New York 1999.

3Vgl. Walter D. Mignolo: The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options, Durham 2011.

4Vgl. Allan Sekula: The Body and the Archive, in: October, Bd. 39, 1986, 3–64, doi.org/10.2307/778312; Fatima Tobing Rony: The Third Eye: Race, Cinema, and Ethnographic Spectacle, Durham 1996; Ute Holl: Kino, Trance und Kybernetik, Berlin 2002; Keith Beattie: Constructing and Contesting Otherness: Ethnographic Film, in: ders.: Documentary Screens: Nonfiction Film and Television, London 2004, 44–62; Lorena Rizzo: Photography and History in Colonial Southern Africa, London 2020; Ariella Aïsha Azoulay: Potential History: Unlearning Imperialism, London, New York 2019.

5Vgl. William Pietz: The Phonograph in Africa: International Phonocentrism from Stanley to Sarnoff, in: Derek Attridge, Geoffrey Bennington, Robert Young (Hg.): Post-Structuralism and the Question of History, Cambridge u. a. 1987, 263–285; Erika Brady: A Spiral Way: How the Phonograph Changed Ethnography, Jackson 1999; Burkhard Stangl: Ethnologie im Ohr. Die Wirkungsgeschichte des Phonographen, Wien 2000; Anette Hoffmann: Kolonialgeschichte hören. Das Echo gewaltsamer Wissensproduktion in historischen Tondokumenten aus dem südlichen Afrika, Wien, Berlin 2020; Britta Lange: GefangeneStimmen. Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Lautarchiv 1915–1918, Berlin 2019.

6Vgl. Margaret Mead: Visual Anthropology in a Discipline of Words, in: Paul Hockings (Hg.): Principles of Visual Anthropology, Den Haag, Paris 1975, 3–12.

7Vgl. Ann Laura Stoler: Along the Archival Grain: Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense, Princeton, Oxford 2009.

8Dies.: Colonial Archives and the Arts of Governance, in: Archival Science, Bd. 2, 2002, 87–109, hier 90, doi.org/10.1007/BF02435632.

9Vgl. Arlette Farge: Der Geschmack des Archivs, Göttingen 2011.

10Vgl. Steve Goodman: Sonic Warfare: Sound, Affect, and the Ecology of Fear, Cambridge (MA), London 2010.

11Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt / M. 1981 [1969], 14.

12Vgl. zur Evakuierung von geschichtsmächtigen Stimmen aus Lärm, Geschrei und Gerücht: Arlette Farge, Michel Foucault: Le désordre des familles. Lettres de cachet des Archives de la Bastille au XVIIIe siècle, Paris 1982.

13Gavin Steingo, Jim Sykes: Remapping Sound Studies in the Global South, in: dies. (Hg.): Remapping Sound Studies, Durham, London 2019, 1–36, hier 3.

14Friedrich Kittler: Grammophon – Film – Typewriter, Berlin 1986, 13.

15Vgl. z. B. Julia Kursell: «Musik der Rede»: Geräuschnotationen in der russischen Avantgarde, in: Anne Thurmann-Jajes u. a. (Hg.): Sound Art: zwischen Avantgarde und Popkultur, Köln 2006, 51–60; Gerd Grupe: Notating African Music: Issues and Concepts, in: The World of Music, Bd. 47, Nr. 2, 2005: Notation, Transcription, Visual Representation, 87–103.

16Vgl. Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt / M. 1987.

17Vgl. die Studien zu den berüchtigten Afrikanisten Carl Meinhof und Giulio Panconcelli-Calzia am Hamburger Kolonialinstitut von Ulrike Kiessling im Kontext des vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts The (In)Audible Past sowie z. B. Carl Meinhof: Die Geheimsprachen Afrikas, in: Globus. Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, Bd. 66, Nr. 8, 1894, 117–119.

18Vgl. dazu Jonathan Sterne über Carl Stumpf und Erich Moritz von Hornbostel in Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham, London 2003, 328 ff.

19Mignolo: The Darker Side of Western Modernity, 8.

20Vgl. Lange: Gefangene Stimmen.

21Vgl. Sterne: The Audible Past, 96 f.

22Verne Harris: Ghosts of Archive: Deconstructive Intersectionality and Praxis, London, New York 2021, 61.

23The Halfmoon Files, Regie: Philip Scheffner, DE 2007.

24Vgl. Lange: Gefangene Stimmen.

25Vgl. Jacques Derrida: DemArchiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997.

26Das beschreibt Sean Cubitt z. B. für British Columbia, wo Franz Boas Aufzeichnungen erstellte, in Sean Cubitt: Finite Media: Environmental Implications of Digital Technologies, Durham 2016.

27Vgl. Douglas Kahn: Earth Sound Earth Signal: Energies and Earth Magnitude in the Arts, Berkeley u. a. 2013.

28Mbembe: The Power of the Archive and its Limits, 23.

29Vgl. Sterne: The Audible Past, 215–285.

30Vgl. Stuart Hall: Constituting an Archive, in: Third Text, Bd. 15, Nr. 54, 2001, 89–92.

31Vgl. Anette Hoffmann: Knowing by Ear: Listening to Voice Recordings with African Prisoners of War in German Camps (1915–1918), Durham, London 2024, doi.org/10.1215/9781478059028.

32Vgl. Gloria Anzaldúa: Borderlands / La Frontera: The New Mestiza, San Francisco 2007 [1987].

Abb. 1 Screenshot der Hörsituation im ICE (Aufnahme Jakob Claus, 2023, Orig. in Farbe)

JAKOB CLAUS

STIMMEN HÖREN

Wissenspraktiken und restitutive Optionen kolonialer Tondokumente

In der Recherche zu den medialen Praktiken der Wissensproduktion der deutschen Kolonialethnografie in Ozeanien bin ich früh auf die phonographischen Aufnahmen der Hamburger Südsee-Expedition gestoßen. Die historischen Aufnahmen haben mich nach einer Anfrage an das Berliner Phonogramm-Archiv als Downloadlink von 136MP3-Dateien zusammen mit Katalogeinträgen und jeweils knappen Beschreibungen der einzelnen Aufnahmen erreicht. Obwohl ich nach einem Zugang zu den Aufnahmen gefragt hatte, war ich von der unkomplizierten Handhabung doch überrascht. Ist der barrierearme Zugang zu (digitalisierten) Archivalien und historischen Aufnahmen nicht eine oft formulierte Forderung an (Kolonial-)Archive? Als einem an einer deutschen Universität Forschenden wurde mir niedrigschwellig Zugang zu den Aufnahmen ermöglicht, bevor ich den physischen Ort des Archivs überhaupt betreten hatte.

Die Tondokumente habe ich zum ersten Mal im Februar 2023 im ICE zwischen Hamburg und Berlin gehört (vgl. Abb. 1) und war von den vielschichtigen auditiven Ebenen, den Stimmen und dem Rauschen schlicht überfordert. Die aufgenommenen Stimmen, Gesänge und mir unverständlichen Worte, die Spuren der Archivierung und medientechnischen Übersetzungs- und Lagerungsprozesse der Wachszylinder haben sich bis zu den Digitalisierungstechniken in die Dateien eingeschrieben. Sie sind hörbar und situieren meine Hörerfahrung innerhalb dessen, was Ann Laura Stoler «koloniale Rekursionen» nennt.1 Diese sind markiert «by the uneven, unsettled, contingent quality of histories that fold back on themselves and, in that refolding, reveal new surfaces, and new planes.»2 Zugleich sind die Aufnahmen als Dokumente kolonialer Wissensproduktion befragbar, insbesondere in Hinblick auf die nicht offensichtlichen Einschreibungen, die als «enduring fissure»3 verstanden werden können und damit das Kolonialarchiv wie auch das Hören der Aufnahmen selbst bestimmen. Denn auch wenn die komplexen und gewaltvollen Aufnahmesituationen kaum abschließend aufgearbeitet und kritisiert werden können, wie Britta Lange, Anette Hoffmann und Mèhèza Kalibani darlegt haben,4 bleibt doch die Möglichkeit einer Auseinandersetzung, die über die kritische Rekonstruktion der historischen Aufnahmekonstellation hinausgeht.

Dieser Beobachtung folgend werde ich meine Begegnung mit einer 1909 auf der Insel Murilo in Mikronesien entstandenen Tonaufnahme analysieren und die medientechnische Konstellation ihrer Entstehung während der deutschen Kolonialherrschaft nachvollziehen. Dabei rekonstruiere ich – ausgehend von der medienhistorischen Einordnung ethnografischer Phonographie und Archivpraktiken 5 – zunächst die epistemischen Bedingungen der Aufnahmedispositive und frage nach den Stimmgeber*innen und aufgenommenen Sprecher*innen. In einem zweiten Schritt beleuchte ich die Archivpolitiken und Medienwechsel zwischen Wachszylinder und digitaler Datei, um die Ordnung kolonialer Soundarchive kritisch zu befragen und darin die Materialität und Objektbiografie der angeführten Aufnahme in den Vordergrund zu rücken. Mit Daniela Agostinho analysiere ich dies als «archival encounter», womit sie die Überlagerung multipler Vergangenheiten und Kontinuitäten im Kolonialarchiv bezeichnet, um diese beschreibbar zu machen.6