Zeitschrift Polizei & Wissenschaft -  - E-Book

Zeitschrift Polizei & Wissenschaft E-Book

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Beschreibung

Kompetentes Handeln basiert allgemein auf der Kombination praktischer Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnisse. Grundlage hierfür ist die Kommunikation und Diskussion zwischen Wissenschaftlern und Praktikern. Dies gilt ganz besonders für eine moderne Polizei. Die Zeitschrift Polizei & Wissenschaft bietet die Möglichkeit zur wissenschaftlichen Kommunikation polizeirelevanter Themenbereiche. Sie versteht sich als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Polizei. Durch ihre interdisziplinäre Ausrichtung werden unterschiedlichste wissenschaftliche und praktische Perspektiven miteinander vernetzt. Dazu zählen insbesondere die Bereiche Psychologie, Rechtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft, Medizin, Arbeitswissenschaft und Sportwissenschaft. Aber natürlich wird auch polizeirelevantes Wissen der Disziplinen genutzt, die nicht klassisch mit dem Begriff Polizei verknüpft sind, wie z.B. Wirtschaftswissenschaften, Sprachwissenschaften, Informatik, Elektrotechnik und ähnliche. Polizei & Wissenschaft regt als breit angelegtes Informationsmedium zur Diskussion an und verknüpft Themenbereiche. Sie erscheint vierteljährlich und geht mit ihrer interdisziplinären Interaktivität über einen einseitigen und fachlich eingeschränkten Informationsfluss hinaus. Dazu nutzt sie die Möglichkeiten des Internets und fördert durch die Organisation von Veranstaltungen auch eine direkte Kommunikation.

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Inhalt

Inhaltsangabe

Dietrich Pülschen & Simone Pülschen

Sexueller Kindesmissbrauch – Mythenakzeptanz von Studierenden der Polizei

Nick Tübben, Anne-Marie Steingräber, Niels Brinkmann, Felix Finkeldey, Slava Migutin, Philipp York Herzberg, Clemens Lorei, Niels Hanssen & Robert-Jacek Gorzka

Beiträge zur Einsatzpsychologie – Zielsuchtechniken und Umgang mit Fehlschüssen bei professionellem Schusswaffengebrauch

Peter-Georg Albrecht

Zivilgesellschaftliche Koordination in der kommunalen Ordnungs- und Sicherheitspolitik?

Nadine Ahlig, Helmut Kleinschmidt & Nathalie Lumpé

Frauen in polizeilichen Führungsfunktionen – Eine systematische Literaturübersicht

Marcel Müller

Die Pandemie als Wegbereiter mobiler Arbeitsformen in der Polizei

Hubertus Buchstein & Lisa Klingsporn

Otto Kirchheimer, kriminologische Schriften

Impressum

Content

Content

Dietrich Pülschen & Simone Pülschen

Child sexual abuse – myth acceptance within a sample of police students

Nick Tübben, Anne-Marie Steingräber, Niels Brinkmann, Felix Finkeldey, Slava Migutin, Philipp York Herzberg, Clemens Lorei, Niels Hanssen & Robert-Jacek Gorzka

Contributions to operational psychology – target search techniques and dealing with misses in professional firearms use

Peter-Georg Albrecht

Civil society coordination in municipal regulatory and security policy?

Nadine Ahlig, Helmut Kleinschmidt & Nathalie Lumpé

Women in police leadership – a systematic review

Marcel Müller

The Pandemic as a Booster of Home Office in the Police Force

Hubertus Buchstein & Lisa Klingsporn

Otto Kirchheimer, Criminological writings

Impressen

Sexueller Kindesmissbrauch

Mythenakzeptanz von Studierenden der Polizei

Dietrich Pülschen & Simone Pülschen

1 Einleitung

Die Angaben zur Häufigkeit von sexuellem Missbrauch unterscheiden sich von niedrigen einstelligen Angaben bis hin zu 20 % (Jud, Rassenhofer, Witt, Münzer & Fegert, 2016, S. 1) und sind u. a. von der Definition von sexuellem Kindesmissbrauch abhängig. Zwei bundesweit durchgeführte Studien, mit Bezug zu Alter und Geschlecht repräsentativen Stichproben, legen Zahlen von 12,6 % (Häuser, Schmutzer, Brähler & Glaesmer, 2011) bzw. 13,9 % (Witt, Brown, Plener, Brähler & Fegert, 2017) offen. Die Anzahl der polizeilich erfassten Fälle von sexuellem Missbrauch bleiben seit einigen Jahren auf dem ungefähr gleichen Niveau, haben allerdings zum Jahr 2019 einen leichten Anstieg auf 15.936 Fälle erfahren, was einen Zuwachs von 9,1 % bedeutet (Bundeskriminalamt, 2020). Einen Zuwachs von 65 % zwischen den Jahren 2018 und 2019 verzeichnet laut Bundeskriminalamt (2020) die Herstellung, der Besitz und der Verbleib von kinderpornografischem Material. Sexueller Missbrauch von Kindern ist also bereits seit Jahren ein ernstzunehmendes Problem und PolizistInnen werden im Rahmen ihrer Tätigkeit immer wieder mit Verdachtsfällen konfrontiert.

Im Falle von sexuellem Kindesmissbrauch liegen häufig keine materiellen Beweise für einen Missbrauch vor, weshalb der Aussage des Kindes große Bedeutung zukommt (Niehaus, Volbert & Fegert, 2017, S. 1). Um überhaupt Anklage zu erheben und ein Strafverfahren einzuleiten oder evtl. Änderungen oder Widersprüche zu späteren Angaben in einem Strafprozess nachzuvollziehen, muss die Erhebung und Dokumentation der kindlichen Erstaussage professionell erfolgen (Niehaus et al., 2017, S. 1).

Als einer der folgenschwersten Fehler bei der Befragung von kindlichen Opferzeugen gilt der sog. „interviewer bias“ (Ceci, Hritz & Royer, 2016, S. 144). Duke, Uhl, Price und Wood (2016, S. 220) bezeichnen den „interviewer bias“ als Beispiel für den sog. „confirmation bias“ (den Bestätigungsfehler) in Befragungen, der die Tendenz einer Person bezeichnet, nur nach Informationen zu suchen, die einseitig die eigene Hypothese bestätigen und Informationen, die dazu führen würden, dass die eigene Hypothese verworfen wird, zu ignorieren (Nickerson, 1998, S. 175).

Zusammenfassung

Die Anhörung kindlicher Opferzeugen in Verdachtsfällen sexuellen Kindesmissbrauchs muss professionell erfolgen, da die Aussage des Kindes häufig das einizige Beweismittel ist. Fehler bei der Anhörung können dazu führen, dass keine Anklage erhoben werden kann, falsche Aussagen erstattet werden und es auf Grund suggestiver Befragung zu falschen Erinnerungen bei Kindern kommt. Ursächlich sein können Mythen über sexuellen Kindesmissbrauch, die das Befragungsverhalten beeinflussen können.

Um belastbare Anhaltspunkte für die Gestaltung des Lehrplans zu erhalten, wurden N=233 Erstsemesterstudierende der Polizei zur Akzeptanz von elf Mythen befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass sieben Mythen von mindestens einem Viertel der Befragten akzeptiert werden.

Sexueller Kindesmissbrauch, sexuelle Gewalt, Mythenakzeptanz, PolizeibeamtInnen, Bestätigungsfehler.

Abstract

In the majority of cases of sexual abuse against a child, the only evidence of sexual abuse is the statement by the victim describing the abuse that occurred. Therefore it is of great importance that interviewers conduct the forensic interview in a professional manner. A defining feature of many suggestive interviews is the interviewer bias. The interviewer’s biased belief is conveyed to the child through a variety of suggestive interviewing techniques that have been shown to produce false reports and false memories in children. Our study examines the acceptance of myths in a sample of N=233 future police officers in order to provide relevant indications for the training of police officers. The results show the acceptance of seven myths by more than one quarter of the interviewed.

Child sexual abuse, child forensic interviewing, myth acceptance, police officers, interviewer bias.

Die größten Strafverfahren zu sexuellem Kindesmissbrauch in der deutschen Rechtsgeschichte, der sog. Montessori - Prozess und die sog. Wormser Missbrauchs-prozesse, verdeutlichen eindrücklich, warum der „interviewer bias“ als folgenschwerster Fehler bei der Befragung von Kindern gelten kann. Im Rahmen der mehrjährigen Verhandlungen beider Strafprozesse wurden alle Angeklagten freigesprochen (Köhnken, 2000, S. 4). Grund dafür waren fragwürdige Befragungsmethoden, die bei den potenziellen Opfern vermutlich zu falschen Erinnerungen und Konfabulation geführt hatten (Schade & Harschneck, 2000). Wie umfangreiche Forschung im Anschluss an diese Prozesse zeigt, war die „unumstößliche Überzeugung“ der Befragenden, ein Missbrauch habe stattgefunden, „nachweislich realitätsfremd“ (Schulz-Hardt & Köhnken, 2000, S. 60). Leittragende sind in solchen Fällen u. a. die betroffenen Kinder, deren Beziehung zu ihren ehemaligen Bezugspersonen nachhaltig zerstört werden und die über die Entstehung von falschen Erinnerungen mit den gleichen Folgen zu kämpfen haben, wie die Kinder, die tatsächlich einen sexuellen Missbrauch erlebt haben (Niehaus et al., 2017, S. 48).

Mit den zentralen Fragen, wie es zu einer solch massiven suggestiven Beeinflussung von Kindern kommen kann und wie gerade der Bestätigungsfehler zu vermeiden ist, der u. a. zu einer suggestiven Beeinflussung von Kindern führen kann, beschäftigt sich die rechtspsychologische Forschung seit den 1980er Jahren besonders intensiv. Dazu werden sowohl die Voraussetzungen auf der Seite des Kindes als auch auf Seiten der befragenden Person beleuchtet.

Dieser Beitrag stellt die befragende Person in den Mittelpunkt der Ausführungen und beschäftigt sich damit, inwieweit diese und andere falsche Annahmen, im Folgenden als Mythen bezeichnet, weiterhin aktuell sind und einen Einfluss auf die Haltung von befragenden oder gesprächsführenden Personen im Verdachtsfall eines sexuellen Missbrauchs haben. Bevor konkret auf den Inhalt falscher Annahmen im Zusammenhang mit einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch eingegangen wird, sollen zunächst beispielhafte Befunde zusammengetragen werden, die die Bestätigungsneigung beim Testen sozialer Hypothesen verdeutlichen. Abschließend werden Befunde einer eigenen Erhebung unter N=233 Studierenden der Polizei, die nach ihrer Zustimmung bzw. Ablehnung zu elf Mythen zu sexuellem Kindesmissbrauch befragt wurden, präsentiert.

2 Bestätigungsneigung beim Testen von Hypothesen

In den 1990er Jahren wurden mehrfach Studien durchgeführt, die zeigen, inwieweit eine im Vorfeld einer kindlichen Befragung falsch informierte befragende Person die Aussage von Kindern beeinflusst:

Bruck, Ceci, Melnyk und Finkelberg (1999b) lassen befragende Personen ein Gespräch mit jeweils vier Kindern führen, von denen die drei ersten zu befragenden Kinder an einer Geburtstagsfeier teilgenommen hatten und das jeweils vierte Kind lediglich Bilder einer Geburtstagsfeier ausgemalt hatte. Die befragenden Personen (N=30) wurden darüber informiert, dass sie die Kinder (N=120) zu einem stattgefundenen Ereignis befragen sollten. Sie waren nicht informiert, um welches Ereignis es sich handelt. Im Lauf der Studie zeigte sich, dass ein Großteil der befragenden Personen fälschlicherweise davon ausging, alle Kinder hätten an der Geburtstagsfeier teilgenommen. Diese falsche Annahme mündete in einer Bestätigungsneigung im Frageverhalten der befragenden Person, die wiederum dazu führte, dass 60 % der Kinder, die lediglich die Bilder der Feier ausgemalt hatten, am Ende falsche Angaben machten (und zwar in Richtung eines tatsächlichen Besuchs der Geburtstagsfeier). 85 % der befragenden Personen gingen am Ende davon aus, dass alle Kinder an der Geburtstagsfeier teilgenommen hätten.

Im Anschluss an die oben benannten Strafprozesse beschäftigen sich auch Schulz-Hardt, Köhnken, Höfer, Möhlenbeck und Amann (2000) (zitiert nach Schulz-Hardt und Köhnken (2000) mit der Frage, wie es zu Selbstbestätigungsmechanismen beim Testen einer bestimmten Hypothese kommen kann und welche Auswirkung dies nach sich zieht. Sie wählen dabei explizit den Kontext des sexuellen Kindesmissbrauchs und führen in diesem Zusammenhang zwei Pilotstudien durch:

Um die Übernahme der Missbrauchsannahme zusätzlich zu erschweren, wurde den Krankenschwestern mitgeteilt, dass mehrere Tonbänder genutzt würden und nur eines davon aus einem Ermittlungsverfahren stamme, worüber die Durchführenden aber selbst auch nicht im Bilde wären. In diesem Fall hielten mehr als 2/3 der Krankenschwestern den Erzieher für schuldig. Einige Teilnehmende der Studie äußerten im Zusammenhang mit der Begründung ihres Urteils auf Nachfrage, dass man bei der Möglichkeit, dass ein Missbrauch vorliege, von der Schuld der potenziellen Täterin/des potenziellen Täters ausgehen müsse und die Unschuld sich dann ja weiterhin herausstellen könne.

Diese Befunde zeigen exemplarisch, wie beeinflussbar die Urteilsbildung von befragenden Personen ist und wie die Befragung von Kindern durch eine (falsche) Annahme der gesprächsführenden Person beeinflusst werden kann. In der Fachliteratur hat sich dafür der Begriff des konfirmatorischen Hypothesentestens etabliert.

Vom Schemm und Köhnken (2008) sprechen vom konfirmatorischen Hypothesentesten, wenn Personen sich beim Testen einer sozialen Hypothese von einer falschen Annahme leiten lassen und neben der zu testenden Hypothese keine alternative Hypothese bzw. Gegenhypothese aufstellen und prüfen. Im Rahmen eines solchen Vorgehens wird beispielsweise

•die Aussagekraft von Informationen unterschätzt und eine Information vorschnell als Beweis für die Bestätigung einer Hypothese gewertet (Trope, 1978; Tversky & Kahneman, 1974),

•ausschließlich nach Informationen gesucht, die die Hypothese bestätigen (Devine, Hirt & Gehrke, 1990),

•eine gegenläufige Information einfach ignoriert (Bruck, Ceci, Melnyk & Finkelberg, 1999a).

Der Prozess des Testens einer sozialen Hypothese beginnt mit der Auswahl einer bestimmten Hypothese. Pyszczynski und Greenberg (1987, S. 307) gehen davon aus, dass die am plausibelsten erscheinende Hypothese ausgewählt wird und subjektive Plausibilität unterschiedlich bedingt sein kann. Sie gehen davon aus, dass die Erklärung für das infrage kommende Phänomen (bspw. „Ein sexueller Missbrauch hat stattgefunden“) sehr schnell und ohne Aufwand ausgewählt werden können muss. In der Regel handelt es sich dabei um Informationen, die erst kürzlich mental aktiviert waren, aktuell noch präsent sind und sich dadurch von anderen möglichen Erklärungen abheben. Bei der Auswahl einer Hypothese spielen weiterhin unterschiedliche individuelle Erfahrungen und Wissen sowie soziokulturelle Einflüsse und die individuelle Sozialisation eine Rolle. Hier ist es ebenso die Existenz von Mythen über sexuellen Kindesmissbrauch, die die Auswahl einer Hypothese beeinflussen kann.

Tabelle 1: Übersicht der eingesetzten Mythen

Nr.

Mythos

Quelle

 

1

Kindesmissbrauch wird durch soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit, Armut und Alkoholismus verursacht.

 

2

Die meisten sexuell missbrauchten Kinder werden von Fremden oder ihnen kaum bekannten Männern missbraucht.

 

3

Bei einem sexuellen Kontakt zwischen einem Kind und einem Erwachsenen, der ohne Druck oder Zwang und ohne versuchten oder vollzogenen Geschlechtsverkehr stattgefunden hat, ist es unwahrscheinlich, dass dies für das Kind ernsthafte psychische Konsequenzen hat.

Collings (1997) in der dt. Übersetzung von Bienstein et al. (2014)

 

4

Sexueller Kindesmissbrauch findet meist in armen, chaotischen, instabilen Familien statt.

 

5

Nicht der sexuelle Kontakt mit einem Erwachsenen an sich könnte das Kind schädigen. Was es schädigen könnte, ist das soziale Stigma, das das Kind erfährt, sobald das Ereignis öffentlich gemacht wird.

 

6

Frühreife Kinder und Jugendliche verführen Erwachsene zu sexuellen Handlungen.

 

 

7

Sexueller Missbrauch geht von einem bestimmten Tätertypus aus.

 

8

Sexueller Missbrauch findet unter der Anwendung von Gewalt statt, welche eindeutige physische Spuren hinterlässt.

 

9

Sexueller Missbrauch ist selten.

Selbstentwickelt in Anlehnung an theoretische Befunde

 

10

Kindliche Opfer sexualisierter Gewalt können ihre Missbrauchserfahrung nicht sprachlich ausdrücken.

 

11

Zeigen Kinder sexualisiertes Verhalten, so kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat.

 

3 Befunde zu den eingesetzten Mythen im Zusammenhang mit sexuellem Kindesmissbrauch

In der eigenen empirischen Untersuchung werden Studierenden der Polizei elf unterschiedliche Mythen zur Einschätzung vorgelegt (s. Tabelle 1), deren theoretischer Hintergrund im Folgenden erläutert wird.

3.1 Sexueller Kindesmissbrauch: Zahlen und Formen

Der Begriff „sexueller Missbrauch“ wird hier als Oberbegriff für sexuelle Handlungen an Kindern und Jugendlichen durch Bezugs- und Betreuungspersonen verwendet (Jud et al., 2016, S. 9) und nach Leeb, Paulozzi, Melanson, Simone und Arias (2008, S. 14) wie folgt definiert: „Als sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen wird jeder versuchte oder vollendete sexuelle Akt und Kontakt von Bezugs- und Betreuungspersonen am Kind aufgefasst, aber auch sexuelle Handlungen, die ohne direkten Körperkontakt stattfinden“.

Nach Leeb et al. (2008, 14 ff.) zählen zu den Handlungen ohne Körperkontakt, Kinder sexuellen Aktivitäten auszusetzen, indem sie bspw. Missbrauchsabbildungen oder sexuelle Handlungen anderer Personen anschauen müssen oder auch, indem sie zum Ziel von Voyeurismus gemacht werden. Dazu zählt weiterhin das Erstellen von Film- oder Fotoaufnahmen, die das Kind in sexualisierter Form darstellen oder das Kind sexueller Belästigung aussetzen, wie etwa durch verbale Übergriffe oder durch Beobachtung des Kindes in sexualisierter Form. Mit Blick auf Mythos 8 kann hier ganz klar konstatiert werden, dass diese Formen der Gewaltausübung keine körperlichen, wohl aber psychische Schäden verursachen und dem Spektrum der sexuellen Gewalttaten zugerechnet werden (siehe dazu auch die Befunde zu den Folgen sexuellen Missbrauchs unten im Text).

Der Vollständigkeit halber sei noch aufgeführt, dass es sich bei Handlungen mit Körperkontakt um penetrative Handlungen (vaginale oder anale Penetration mit Penis, Finger oder Gegenständen und alle Kontakte zwischen Mund, Genitalien und Anus) und Handlungen mit missbräuchlichem sexuellem Kontakt (absichtsvolles Berühren, auch durch die Kleidung, von Genitalien, Anus, Leistengegend, Brust, Oberschenkelinnenseite und Pobereich). Hierzu zählen auch Berührungen zwischen dem Kind und einer anderen Person, die von TäterInnen erzwungen werden (Leeb et al., 2008, S. 14). Alle hier aufgeführten Handlungen im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen (und weitere) sind im 13. Abschnitt des StGB „Straftatbestände gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ aufgeführt. Ein Kind ist jede Person bis zur Vollendung ihres 14. Lebensjahres. Mit Blick auf Mythos 6 sei hier festgehalten, dass auch wenn Kinder ihre Einwilligung gegeben haben, wie Beschuldigte es zur eigenen Entlastung hin und wieder behaupten, dies rechtlich ohne Belang und ausnahmslos unwirksam ist (Burgsmüller, 2015, S. 54).

Wie die Zahlen zu sexuellem Kindesmissbrauch in der Einleitung zeigen, ist sexueller Missbrauch kein seltenes Phänomen, sodass auch Mythos 9 aufgeklärt werden kann. Neben den Zahlen, die in Studien berichtet werden, muss außerdem davon ausgegangen werden, dass das sog. Dunkelfeld (die Differenz zwischen den aufgedeckten Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs und der tatsächlichen Häufigkeit des Vorkommens) sehr groß ist (Jud et al., 2016, S. 56).

3.2 Sexueller Kindesmissbrauch: Risikofaktoren und Folgen

Beginnend mit Blick auf Mythos 1 und 4 können folgende Befunde herangezogen werden: Die Forschung zu Risikofaktoren im Zusammenhang mit sexuellem Kindesmissbrauch ist vielfältig. Assink et al. (2019, S. 462) beklagen, dass diese Forschung häufig nicht differenziert genug dargestellt wird und es somit immer wieder zu fehlerhaften Empfehlungen auch für polizeiliches Handeln gekommen ist. Die Probleme liegen darin begründet, dass oft nicht zwischen Zusammenhängen, Risikofaktoren und kausalen Risikofaktoren unterschieden wird.

Zur Erklärung nutzen die Autoren folgendes Beispiel: Wenn die Tendenz besteht, dass Kinder, die dissoziales Verhalten zeigen, eher Opfer eines sexuellen Missbrauchs werden, dann sagt das aus, dass dissoziales Verhalten und Missbrauch korrelieren. Es wird damit aber keine Aussage über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge getroffen, und somit darf keinesfalls geschlussfolgert werden, dass Kinder, die dissoziales Verhalten zeigen, einen sexuellen Missbrauch erlebt haben. Auch die Schlussfolgerung „Je mehr dissoziales Verhalten eines Kindes, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass es sexuell missbraucht wird. “ist nicht statthaft. Bei einem Risikofaktor dürfte davon gesprochen werden, wenn ein Kind zu einem Messzeitpunkt 1 dissoziales Verhalten zeigt, dann besteht zum Messzeitpunkt 2 eher die Möglichkeit, dass dieses Kind Opfer eines sexuellen Missbrauchs wurde als ein Kind, das kein dissoziales Verhalten zeigt. Ein Risikofaktor darf nur dann als kausaler Risikofaktor betrachtet werden, wenn sich zeitgleich mit einer Zunahme des Risikofaktors zwischen Messzeitpunkt 1 und 2 auch die Wahrscheinlichkeit eines sexuellen Missbrauchs systematisch erhöht. Ausschließlich mit Vorliegen eines solchen kausalen Risikofaktors wäre es möglich, eine zuverlässige Vorhersage zu treffen. Weiterhin ist es so, dass unterschiedliche Studien gezeigt haben, dass es eher die Kumulation mehrerer Risikofaktoren ist, die das Risiko erhöht, dass ein Kind Opfer eines sexuellen Missbrauchs wird (Cicchetti, Toth & Maughan, 2000; MacKenzie, Kotch & Lee, 2011). Eine Aussage, wie sie für den 1. und auch 4. Mythos formuliert ist, ist so nicht statthaft und würde – im Falle einer Mythenakzeptanz – den Blick stark verengen und möglichweise beim Vorliegen entsprechender Fallkonstellationen zu einer vorschnellen Urteilsbildung führen.

Die Mythen 3 und 5 werden im Folgenden gemeinsam behandelt, da in beiden Mythen die Aussage steckt, dass sexueller Missbrauch (oder die Art des sexuellen Übergriffs) ein Kind nicht schädigen würde. Bei der Akzeptanz dieser Mythen würden PolizeibeamtInnen eher nicht in ihrer Urteilsbildung in Richtung eines stattgefundenen sexuellen Missbrauchs beeinflusst. Wenn aber die Vorstellung besteht, dass einem Kind durch einen Missbrauch kein Schaden zugefügt wird, könnten Ermittlungen womöglich dahingehend beeinflusst werden, dass sie nicht mit der notwendigen Sorgfalt und mit Nachdruck durchgeführt und TäterInnen nicht verurteilt werden. Bereits im Jahr 2003 zeigte eine Befragung unter N=33 PolizistInnen, dass von den Befragten 21 PolizistInnen solchen Annahmen zustimmen (Hofmann, Wehrstedt & Stark, 2003). Wie bei Mythos 7 bereits konstatiert, handelt es sich bei einem sexuellen Missbrauch um ein „belastendes, potenziell traumatisches Lebensereignis und damit einen Risikofaktor“ für die kindliche Entwicklung (Goldbeck, 2015, S. 147). Ausschlaggebend für die Bewältigung von Seiten der Kinder sind die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten. Ebenso entscheidend sind u. a. die Art, Dauer und Intensität des Missbrauchs, die soziale (und ggf. auch therapeutische) Unterstützung, der Zeitpunkt der Offenbarung und viele weitere Faktoren (Goldbeck, 2015). Langandauernde, sich wiederholende Missbrauchserfahrungen durch Bezugspersonen in der Kindheit erhöhen die Gefahr einer Traumatisierung (Fischer, Riedesser & Fischer, 2020; Glaesmer, Matern, Rief, Kuwert & Braehler, 2015; Stermoljan & Fegert, 2015). Stermoljan und Fegert (2015, S. 254) gehen davon aus, dass in einem solchen Fall Kinder meist das grundlegende Gefühl von Sicherheit sowie die Überzeugung, eine wertvolle und achtenswerte Person zu sein, verlieren. 75 % der TäterInnen stammen aus dem sozialen Umfeld der Kinder und sind ihnen bekannt. Finkelhor und Browne (1985, S. 530) betonen, dass im Falle eines sexuellen Missbrauchs die kognitive und emotionale Orientierung der Kinder nachhaltig beeinflusst wird und eine Traumatisierung durch die Beeinträchtigung des kindlichen Selbstkonzepts, der Sicht auf die Welt und des Umgangs mit den eigenen Gefühlen (in Abhängigkeit von den eigenen Bewältigungsmöglichkeiten) ausgelöst wird. Es sei insbesondere das Gefühl von Machtlosigkeit, das das kindliche Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zur Lebensbewältigung immens erschüttere.

Mit diesen Ausführungen wird auch zur Aufklärung von Mythos 8 beigetragen, der sich auf das Vorliegen von eindeutigen physischen Spuren im Falle eines sexuellen Missbrauchs bezieht. Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass sexueller Missbrauch gerade in Konstellationen mit bekannten TäterInnen gravierende psychische Folgen für die kindliche Entwicklung mit sich bringen kann, wofür die Ausübung körperlicher Gewalt nicht notwendig ist. Das unterstreicht auch die Definition von sexuellem Missbrauch, die bestimmte Taten ohne Körperkontakt als sexuellen Missbrauch ausweist.

3.3 Sexueller Kindesmissbrauch: TäterInnen

Auch für Mythos 2 zeigt die Forschung, dass die Aussage, Kinder würden meist von Fremden oder ihnen kaum bekannten Männern missbraucht, nicht haltbar ist. Viele Studien zeigen, dass die TäterInnen überwiegend aus dem sozialen Nahraum stammen und lediglich ein Viertel der TäterInnen den Kindern unbekannt ist (Maschke & Stecher, 2018; Stadler, Bieneck & Pfeiffer, 2012). In der Untersuchung von Hofmann et al. (2003) unter N=33 PolizistInnen fand dieses Item kaum Zustimmung.

Mit Blick auf Mythos 7 soll hier weiter differenziert werden. Einige Studien schlüsseln die Angaben zu den TäterInnen weiter auf und hier können beispielhaft zwei Studien angeführt werden. Eine repräsentative Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) zeigt, dass in Fällen sexuellen Missbrauchs mit Körperkontakt die männlichen Familienangehörigen mit 49,1 % in der Überzahl sind (Stadler et al., 2012, S. 37). Der Onkel wird mit 10,3 % am häufigsten benannt, der Stiefvater ist in 9,9 % der Täter und auf den biologischen Vater entfallen 8,6 % der Gesamtnennungen. Bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die 2016 ihre Arbeit aufgenommen hat und die sämtliche Formen sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland (Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, 2020) untersucht, haben sich bis Januar 2019 1.690 Betroffene gemeldet. 682 der 914 der ausgewerteten Anhörungen beziehen sich auf den Kontext Familie. Als Täter wurden in 225 Fällen der biologische Vater, in 79 bzw. 77 Fällen der Stiefvater/Lebensgefährte bzw. der Onkel benannt. In 38 Fällen wurden Frauen als Täterinnen benannt (Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, 2019). Von einem bestimmten Tätertypus auszugehen, würde der Vielzahl der möglichen Konstellationen kaum gerecht.

3.4 Umgang und Gespräche mit Kindern im Verdachtsfall eines sexuellen Kindesmissbrauchs

Wie die großen Strafprozesse im Zusammenhang mit sexuellem Kindesmissbrauch der deutschen Rechtsgeschichte und weitere Beispiele aus dem Ausland zeigen, sind es insbesondere zwei falsche Annahmen, die bei der Entstehung eines Missbrauchsverdachts bedeutsam sind. Es handelt sich dabei um die falschen Überzeugungen, dass Auffälligkeiten im Verhalten des Kindes spezifische Anzeichen für einen stattgefundenen Missbrauch seien (Niehaus et al., 2017, S. 53) und dass Kinder von sich aus nicht über einen Missbrauch sprechen (können) (Niehaus et al., 2017; Steller, 2008), Missbrauchserfahrungen explizit verneinen oder auch Aussagen zurücknehmen (Volbert, 2015)1. Diese falschen Annahmen sind als Gründe für die Anwendung suggestiver Befragungsmethoden in die Kritik geraten. Die erste Annahme deckt sich mit der Aussage des 11. Mythos. Die zweite Annahme findet sich im 10. Mythos wieder.