Zielgleicher und zieldifferenter inklusiver Unterricht - Cathrin Grotjohann - E-Book

Zielgleicher und zieldifferenter inklusiver Unterricht E-Book

Cathrin Grotjohann

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Beschreibung

Lehrkräfte werden in der schulischen Inklusion ad hoc mit den Herausforderungen des zielgleichen und zieldifferenten Unterrichtens konfrontiert. Sie stehen vor der komplexen Aufgabe, einerseits Bildungsstandards des Regelsystems zu fordern und andererseits die individuelle Perspektive auf alle Lernenden zu wahren. Und dann ist da noch die Sache mit dem Nachteilsausgleich! Dieses Praxisbuch soll Lehrkräften Sicherheit im täglichen Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit Schwierigkeiten im Lernen und emotional-sozialen Verhalten vermitteln. Es geht darum, Nachteile dieser Lernenden zu erklären, passgenaue Maßnahmen auszuloten und Handlungsmöglichkeiten für die Umsetzung im Unterricht vorzustellen.

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Die Autorinnen

 

Cathrin Grotjohann und Solveig Haugwitz sind Sonderpädagoginnen im Hochschuldienst. Sie lehren im weiterbildenden Masterstudiengang Sonder- und Inklusionspädagogik am Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung und Rehabilitation der Universität Rostock.

Cathrin Grotjohann, Solveig Haugwitz

Zielgleicher und zieldifferenter inklusiver Unterricht

Umgang mit Nachteilsausgleich

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-040760-2

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-040761-9

epub:     ISBN 978-3-17-040762-6

Inhaltsverzeichnis

1           Was ist das Anliegen des Buches?

2           Wie arbeiten Sie sinnvollerweise mit dem Buch?

3           Einführende Überlegungen zum Thema schulische Inklusion

3.1        Vor welchen Herausforderungen stehen Lehrkräfte in einem inklusiven Bildungssystem?

3.2        Welche Aufgabenfelder ergeben sich in der inklusiven Schule?

3.3        Die Besonderheiten schulischer Inklusion in der Grundschule

3.4        Die Besonderheiten schulischer Inklusion in der Sekundarstufe

4           Schülerinnen und Schüler in heterogenen Lerngruppen

4.1        Heterogenität im Überblick

4.2        Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten

4.3        Kinder und Jugendliche mit Schwierigkeiten in der emotional-sozialen Entwicklung und im Verhalten

5           Wie gelingt zielgleicher Unterricht? Differenzierung, Individualisierung und Nachteilsausgleich

5.1        Was ist zielgleicher Unterricht?

5.2        Wie bekommen wir alle unter einen Hut? Differenzierung und Individualisierung im zielgleichen Unterricht

5.3        Wie nutzen wir den Nachteilsausgleich im zielgleichen Unterricht?

5.3.1    Nachteilsausgleich – Was ist damit gemeint?

5.3.2    Was kann Nachteilsausgleich leisten und was nicht?

5.3.3    Nachteilsausgleich festlegen – Ein Vorgehen Schritt um Schritt

5.3.4    Gesetzliche Grundlagen und Empfehlungen in den Bundesländern – Ein Überblick

5.4        Wie fangen wir es nun an? Handlungsmöglichkeiten und Fallbeispiele zur Gewährung von Nachteilsausgleich bei Lernschwierigkeiten

5.4.1    Nachteilsausgleich für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und/oder Rechtschreiben

5.4.2    Nachteilsausgleich für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Rechnen

5.4.3    Nachteilsausgleich bei sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Schwerpunkt Lernen im zielgleichen inklusiven Unterricht

5.5        Was unterstützt wen und wobei? Handlungsmöglichkeiten und Fallbeispiele zur Gewährung von Nachteilsausgleich bei Schwierigkeiten in der emotional-sozialen Entwicklung und im Verhalten

5.5.1    Nachteilsausgleich für Schülerinnen und Schüler mit AD(H)S

5.5.2    Nachteilsausgleich bei Störungen des Sozialverhaltens

5.5.3    Nachteilsausgleich für Schülerinnen und Schüler mit Ängsten

5.5.4    Nachteilsausgleich für Schülerinnen und Schüler mit schulaversivem Verhalten

6           Zieldifferente Lernanforderungen im inklusiven Unterricht

6.1        Was ist zieldifferenter Unterricht?

6.2        Welche didaktischen Grundsätze gelten für den Unterricht bei sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Schwerpunkt Lernen?

6.3        Inklusive Rahmenpläne – eine echte Herausforderung!

6.4        Handlungsmöglichkeiten im zieldifferenten Unterricht der Grundschule

6.5        Handlungsmöglichkeiten und Fallbeispiele zur Gestaltung eines zieldifferenten Unterrichtes in der Sekundarstufe

7           Schulentwicklungsbezogene Aspekte – ein stabiles Fundament errichten

7.1        Von der Förderkonzeption zur Förderplanung

7.1.1    Wie gelingt effektive Förderplanung?

7.1.2    Der Förderplan für Paul entsteht – ein Leitfaden

7.1.3    Förderplanbeispiele – Ein Sammelsurium

7.2        Allein wird das nichts! – Netzwerkarbeit in der inklusiven Schule

7.2.1    Wer macht was im multiprofessionellen Team?

7.2.2    Kooperatives Lehren im inklusiven Unterricht

7.2.3    Kollegialer Austausch und Beratung

7.3        Bausteine für die Gestaltung von schulinternen Fortbildungen zum Thema zielgleicher/zieldifferenter Unterricht und Umgang mit Nachteilsausgleich

Literaturverzeichnis

1

Was ist das Anliegen des Buches?

Mit diesem Praxisbuch möchten wir Lehrerinnen und Lehrer erreichen, die sich für ihre Lernenden stark machen und denen daran gelegen ist, keine Schülerin und keinen Schüler zurückzulassen. Es soll Lehrkräften Hilfestellungen an die Hand geben, damit sie die Herausforderungen des zielgleichen und zieldifferenten Unterrichts noch besser meistern, an bereits Bekanntes anknüpfen, Erfahrungswissen einbringen und Neues ausprobieren können. Ansprechen möchten wir besonders die Lehrerinnen und Lehrer, die sich sehr um eine inklusive Beschulung bemühen, an einigen Stellen jedoch nicht genau wissen, wie diese in der täglichen Unterrichtsarbeit umgesetzt werden kann.

Wir nehmen Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in den Schwerpunkten Lernen und emotional-soziale Entwicklung in den Blick, gehen der Frage nach, wie zielgleicher und zieldifferenter inklusiver Unterricht gelingen kann, und betrachten den Umgang mit Nachteilsausgleich genauer. Das Puzzleteil Nachteilsausgleich mag im Gesamtkontext schulischer Inklusion zwar klein erscheinen, dennoch kann es einiges zum Gelingen beitragen.

Das sichere Erkennen und Beschreiben von Nachteilen, die aufgrund einer Beeinträchtigung bei Lernenden entstehen und das Ausgleichen dieser Nachteile durch passgenaue Maßnahmen im weiterhin zielgleichen Unterricht wird zukünftig zu den Kernkompetenzen von Lehrkräften in der inklusiven Schule gehören müssen. Zudem sollten sich alle Lehrerinnen und Lehrer an Regelschulen gut gerüstet fühlen, gerade für Schülerinnen und Schüler mit deutlichem Unterstützungsbedarf im Lernen, ein qualitativ hochwertiges zieldifferentes Lernangebot vorhalten zu können.

Mit unseren Überlegungen zur inklusiven Unterrichtsgestaltung verbinden wir ausgewählte Handlungsmöglichkeiten, die ein gemeinsames Lernen unterstützen, wohl wissend, dass noch nicht an jeder Schule inklusionsförderliche Rahmenbedingungen in ausreichendem Maße vorhanden sind. Durchdachte Förderkonzeptionen, ausgereifte Förderbedingungen und positive Einstellungen der Lehrkräfte betrachten wir als Grundpfeiler des Gelingens. Im Bündel von Maßnahmen zur Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in inklusiven Settings sehen wir die personelle Ressource von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen als unabdingbar an.

Wenn es uns also gelänge, bei den Lehrerinnen und Lehrern die Lust zu wecken, sich der Heterogenität ihrer Schülerschaft mit mehr Freude, mit mehr Enthusiasmus und – bedingt durch die Nutzung unseres Buches – mit mehr Sachkenntnis zu stellen, hätten wir unser eigentliches Ziel erreicht.

Getragen wurden wir dabei von folgendem inspirierenden Gedanken:

»Die Aufgabe der Schule ist es, das Gelingen zu ermöglichen, nicht das Misslingen zu dokumentieren.« (Otto Herz)

2

Wie arbeiten Sie sinnvollerweise mit dem Buch?

Das vorliegende Praxisbuch bietet einen Einblick in ausgewählte Aspekte schulischer Inklusion und versteht sich als eine Verbindung aus empirischer Forschungslage und handlungsorientierten Empfehlungen für den Unterricht.

In den Kapiteln 3 und 4 betrachten wir die Herausforderungen (Kap. 3), vor denen Lehrkräfte in einem inklusiven Bildungssystem stehen, und die Schülerinnen und Schüler in der heterogenen Lerngruppe (Kap. 4). Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf in den Schwerpunkten Lernen und emotional-soziale Entwicklung werden in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen gerückt und deshalb ausführlicher beschrieben.

Die Frage »Wie gelingt zielgleicher Unterricht?« bildet ein Kernstück des Buches. Kapitel 5 befasst sich ausführlich mit der Suche nach ausgewählten Antworten und geht in diesem Zusammenhang auf die Schwerpunkte Differenzierung und Individualisierung (Kap. 5.2) sowie Umgang mit Nachteilsausgleich (Kap. 5.3) ein. Es werden Fallbeispiele angeführt und Maßnahmen der Unterstützung für konkrete Lernschwierigkeiten und Störungsbilder im Bereich des Verhaltens entwickelt.

Die Besonderheiten von zieldifferentem Unterricht werden im Kapitel 6 näher beleuchtet. Anhand bewährter Konzepte und Methoden erhalten Lehrkräfte Empfehlungen für den Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Schwerpunkt Lernen in der Grundschule (Kap. 6.4) und im Sekundarbereich (Kap. 6.5).

Die im Kapitel 7 betrachteten Punkte Förderplanung (Kap. 7.1), schulisches Netzwerk und Arbeit im multiprofessionellen Team (Kap. 7.2) sowie Fortbildung (Kap. 7.3) sind unter dem Gesichtspunkt der Schulentwicklung gefasst. Fortbildungsbausteine zur inklusiven Schulentwicklung runden das Praxisbuch ab.

Folgende Piktogramme sollen der besseren Orientierung und Lesbarkeit dienen:

   Mit diesem Zeichen werden Begriffe geklärt, Definitionen gegeben und fachlich besonders relevante Inhalte hervorgehoben.

   Fallbeispiele sollen helfen, den fachlichen Inhalt anhand einer konkreten Schülerin oder eines konkreten Schülers zu erklären.

   Praxisbeispiele oder Hinweise illustrieren Gesagtes und ermöglichen einen Transfer in Schule und Unterricht.

3

Einführende Überlegungen zum Thema schulische Inklusion

3.1      Vor welchen Herausforderungen stehen Lehrkräfte in einem inklusiven Bildungssystem?

Das Thema Inklusion stellt im Kontext von Schule und Bildung derzeit eine der größten Herausforderungen für Lehrkräfte dar. Schulische Inklusion gehört in fast allen Lehranstalten Deutschlands bereits zum pädagogischen Alltag. Das Grundverständnis, die einzelne Schülerin oder den einzelnen Schüler verstärkt in den Mittelpunkt des pädagogischen Handelns zu rücken und die Einbeziehung aller Kinder und Jugendlichen zum pädagogischen Alltag werden zu lassen, wächst bei zunehmend vielen Lehrerinnen und Lehrern. Dennoch fehlt Kolleginnen und Kollegen nach eigenen Angaben zuweilen das notwendige Rüstzeug, um die neuen Aufgaben, die im Zuge der Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems auf sie zukommen, bewältigen zu können. Ein großer Teil der Verantwortung liegt hier im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften. Mittlerweile sind inklusive Inhalte zu einem festen Bestandteil der Hochschulausbildung angehender Lehrerinnen und Lehrer aller Lehrämter geworden. Die Lehrerbildungsgesetze der Bundesländer enthalten hierzu verbindliche Angaben. Auch in der zweiten und dritten Phase der Lehrerinnen- und Lehrerbildung werden den Lehrkräften aller Schularten – wenn auch nicht verpflichtende – Angebote unterbreitet, die ihnen ermöglichen sollen, ihr diesbezügliches Wissen zu erweitern.

Um schulische Inklusion überblicksartig zu betrachten, darf sie als neu zu malendes Bild verstanden werden. Selbstverständlich sind nicht alle Elemente dieses Bildes von Grund auf anders zu denken. Bewährte organisatorische Strukturen von Institution Schule und wertvolle Erfahrungen im didaktisch-methodischen Bereich fließen ein. Einige Aspekte ändern sich dennoch und es bleibt unabdingbar, sich mit diesen intensiver auseinanderzusetzen, soll Inklusion zu einem Leitbild von Schulentwicklung werden.

In der inklusiven Schule lernen Kinder und Jugendliche unabhängig von ihren individuellen Lernvoraussetzungen und ihren schulischen Leistungen in heterogenen Lerngruppen der Regelschule. Alle Lernenden werden gemäß ihrer Stärken und Schwächen individuell gefördert und gefordert. Das Bild einer solchen inklusiven Schule entstehen zu lassen, fordert von Regelschullehrkräften, Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen und weiteren am Prozess beteiligten Professionen, Inklusion vor allem als Chance zu betrachten und sich neuen Aufgaben zu stellen. Der äußere Rahmen des Bildes von schulischer Inklusion setzt mit den gesetzlichen Perspektiven und den aktuell im jeweiligen Bundesland geltenden Rechtsvorschriften relativ feststehende Handlungsvorgaben. Diese Richtlinien gelten für alle im Schulsystem Agierenden.

Das Innere des Bildes kann aus verschiedenen Einzelaspekten zusammengefügt werden, deren Ausgestaltung, Zusammensetzung, Nuancierung und Priorisierung in der Verantwortung einer jeden inklusiven Schule liegt. Während des Zeichnens ergeben sich unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten, die von Professionalität geprägt sein sollten. Kreativität, Innovation und regionale Gegebenheiten dürfen und sollten einfließen. Das Ergebnis des Prozesses inklusiver Schulentwicklung wird für jede inklusive Schule ein anderes, jeweils eigenes Bild ergeben.

Bestimmend wirkt im äußeren Rahmen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK), die seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt und in deren Zuge man sich dazu verpflichtet hat, ein inklusives Bildungssystem zu etablieren. Alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderung haben demnach das Recht, am Unterricht einer Reglschule teilzunehmen. Das Ziel ist es, ein Schulsystem zu entwickeln, das allen Kindern und Jugendlichen, ganz gleich, ob mit oder ohne Behinderung, gerecht werden kann.

Abb. 3.1: Herausforderungen auf dem Weg zu einem inklusiven Bildungssystem

Welcher Inklusionsbegriff im Kontext Schule zugrunde gelegt wird, ist noch nicht hinreichend geklärt. Die Diskussion um die Frage, ob Inklusion und Integration unterschiedliche Ideen des Herangehens beinhalten, bestimmt den aktuellen Diskurs nach wie vor. Vorherrschend werden drei Positionen unterschieden: zum einen, dass zwischen Inklusion und Integration zu unterscheiden ist (Schnell & Sander, 2004), zum anderen, dass es keinen grundlegenden Unterschied zwischen Inklusion und Integration gibt (Preuss-Lausitz, 2019), und nicht zuletzt, dass es völlig irrelevant sei, diese Frage zu diskutieren (Jantzen, 2018), sondern es vielmehr darauf ankäme, wie der gemeinsame Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderungen gestaltet wird (Lambrecht, 2020). Insofern scheint es sinnvoll, Inklusion als Transformationsprozess zu verstehen, »… in dem durch Teilhabe statt durch Fürsorge die Verankerung in der eigenen Generation möglich wird« (Sasse 2014, S. 119).

Schulische Inklusion umfasst die Institution Schule, den Unterricht selbst und auch das berufliche Arbeitsfeld der Lehrkräfte verschiedener Professionen und hat sich zu einer Notwendigkeit entwickelt, weil die Akzeptanz der Verschiedenheit von Kindern und Jugendlichen gesellschaftlicher Konsens geworden ist (Sasse & Schulzeck, 2021).

Nach wie vor wird diskutiert, ob einem engen oder einem weiten Inklusionsbegriff gefolgt werden soll. Im weiten Verständnis von schulischer Inklusion wird diese weitgehend mit Integration gleichgesetzt. Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf werden gemeinsam zielgleich oder zieldifferenziert unterrichtet. Qualifikations- und Allokationsfunktion von Schule werden nicht in Frage gestellt. Die Erlangung eines Schulabschlusses wird für alle angestrebt. Zu diesem Zwecke werden auf der Basis einer multiprofessionellen Kooperation individuelle Hilfen entsprechend des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfes der Kinder und Jugendlichen realisiert. Gemäß dem weiten Verständnis von Inklusion erfahren die Lernenden ein hohes Maß an Gemeinschaft und Wertschätzung unabhängig vom Leistungsstand. Der Unterricht wird binnendifferenziert im Sinne einer Adaption von Lernzielen und Unterrichtsmethoden durchgeführt. Maßnahmen der äußeren Differenzierung greifen nur in Ausnahmefällen.

Der enge Inklusionsbegriff nimmt die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den Blick. Die separate Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischen Förderbedarfen wird als diskriminierend erachtet, »weil die Betroffenen durch die Trennung von ›normal‹ entwickelten Gleichaltrigen wesentlicher Erfahrungs- und Bildungsmöglichkeiten beraubt würden« (Schöning & Fuchs, 2016, S. 12).

»Welcher Akzentuierung von Inklusion man sich auch anschließen mag, geht es im Kern doch immer um die Aufgabe, jedem Einzelnen gerecht zu werden« (Schöning & Fuchs, 2016, S. 15).

Mit ihren Empfehlungen reagiert die Kultusministerkonferenz (KMK, 2011) auf die ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen inklusiven Unterrichts und nimmt so ihre Aufgaben zur Bildungskoordination und -entwicklung in Deutschland wahr. Darüber hinaus ermöglicht dieses Gremium einen Erfahrungsaustausch und bemüht sich um Konsensbildung in länderübergreifenden Themenbereichen. Die KMK veröffentlicht Empfehlungen zur inklusiven Bildung von Kindern und Jugendlichen und gibt Hinweise zur Umsetzung der schulischen Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen.

Die Schulgesetze, die Lehrerbildungsgesetze und die Vorgaben zur Ausgestaltung der sonderpädagogischen Förderung sind in den Bundesländern auf ein inklusives Bildungssystem ausgerichtet und unterliegen einer ständigen Aktualisierung. Dies betrifft auch weitere, im Zusammenhang mit Inklusion stehende Gesetze, Verordnungen und Erlasse.

Bei der Gestaltung des Bildinneren ist die Schule selbst gefragt. Hier gilt es, sich mit einzelnen ausgewählten Punkten intensiver zu beschäftigen und gemeinsam das Bild von schulischer Inklusion zu schaffen, das zur eigenen Schule passt.

Die in Abbildung 3.1 genannten Punkte zur Bildgestaltung folgen weder einer Reihung noch erheben sie einen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr gibt es große Überlappungen, denn alle Schulentwicklungsthemen stehen in einem inneren Zusammenhang. Beginnt sich ein Rad zu drehen, drehen sich die anderen Rädchen mit. In der intensiven Auseinandersetzung mit einem ausgewählten Schwerpunkt werden weitere Aspekte zu akzentuieren sein. Will eine Schule beispielsweise ihr Schulprogramm um förderkonzeptionelle Gedanken erweitern, wird dies zu einem intensiveren Nachdenken über Unterrichtskonzepte und Methoden führen, was wiederum die Gedanken möglicherweise zur Gestaltung von zielgleichem und zieldifferentem Unterricht lenkt. Um sonderpädagogische Unterstützungsbedarfe besser zu verstehen, wird ein Kollegium die eigenen diagnostischen Kompetenzen hinterfragen und sich mit Nachteilsausgleich befassen.

Voraussetzung für eigenständige und gut reflektierte Schulentwicklungsprozesse ist eine intensive Auseinandersetzung mit den einzelnen Inhalten. Nicht alle als wichtig erachteten Schwerpunkte werden auf einmal zu bearbeiten sein. Schulentwicklung heißt auch, Prioritäten festzulegen und Qualifikationen auf die einzelnen Teammitglieder zuzuschneiden.

An vielen Stellen inklusiver Schulentwicklung haben Lehrkräfte bereits Erfahrungen sammeln können und bringen daher beste Voraussetzungen für innovative und kreative Gestaltungsprozesse mit. Nicht alles ist neu und anders, aber es geht darum, bewährte Instrumente pädagogischer Praxis für die Umsetzung in der inklusiven Schule zu prüfen und zu vertiefen. So bedarf es zu einigen Fragen im Zusammenhang mit dem zielgleichen und zieldifferenten Unterricht und mit dem passgenauen Einsetzen von Nachteilsausgleich möglicherweise weiterer Auseinandersetzung. Hierfür finden sich in diesem Buch einige Lösungsvorschläge.

Weitere Themen müssten über die in diesem Praxisbuch betrachteten Inhalte hinaus näher beleuchtet und aufgearbeitet werden, z. B. Themen wie diagnostische Kompetenzen oder Leistungserhebung und -feststellung in der inklusiven Schule.

3.2      Welche Aufgabenfelder ergeben sich in der inklusiven Schule?

Mit den Aussagen zu den verschieden gelagerten Herausforderungen (Kap. 3.1) wurde bereits deutlich, dass die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems die Lehrkräfte aller Schularten vor Aufgaben stellt, die sich inhaltlich verändern.

Hierbei unterscheiden sich die Aufgabenfelder der Lehrkräfte in den verschiedenen Professionen an der einen oder anderen Stelle voneinander, aber unter dem Strich sind an einer inklusiven Schule alle tätigen Kolleginnen und Kollegen, gleich ob Regelschullehrkraft oder sonderpädagogische Lehrkraft, mit den Kindern und Jugendlichen befasst, die an der jeweiligen Schule lernen. Alle sind für ihre Schülerschaft mitverantwortlich und daran interessiert, sie bestmöglich zu unterrichten, zu beraten, zu unterstützen und zu begleiten. In diesen Prozess sind alle unterschiedlich eingebunden und bringen sich im Rahmen ihres Tätigkeitsfeldes mit ihrer Expertise ein. Sinnvoll erscheint es, die Aufgaben der einzelnen Beteiligten genau zu kennzeichnen, um ein Agieren aus der eigenen Profession heraus zu ermöglichen. Im Kapitel 7 werden beispielsweise die Verantwortlichkeiten der Regelschullehrkräfte, der Sonderpädagogin oder des Sonderpädagogen, der unterstützenden pädagogischen Fachkräfte, der Schulbegleitung und der Schulsozialarbeit betrachtet (Kap. 7.2). Um eine möglichst effektive Unterstützung aller Lernenden zu erwirken, ist es ratsam zu beleuchten, welche gemeinsamen Aufgaben zu erfüllen sind und an welchen Stellen es einer deutlichen Spezialisierung bedarf. Diese arbeitsteilige und ressourcenorientierte Betrachtungsweise richtet sich danach, in welchem Zusammenhang pädagogische Aufgaben zu erfüllen sind. Geht es um die Durchführung des inklusiven Unterrichtes, werden diese hauptsächlich für Regelschullehrkräfte und sonderpädagogische Lehrkräfte arbeitsteilig zu bestimmen sein. Geht es um die individuelle Förderung aller Schülerinnen und Schüler, sind alle am Bildungs- und Erziehungsprozess Beteiligten einzubeziehen und deren Aufgaben festzuschreiben. Eine Klarheit bezüglich der in der inklusiven Schule zu erfüllenden Aufgabenfelder fördert eine Spezialisierung der beteiligten Fachkräfte und trägt dazu bei, spezifisches Fachwissen zu entwickeln, zu erweitern und effektiv zum Einsatz zu bringen.

Zu den wesentlichen Aufgabenfeldern, die Lehrkräfte in der inklusiven Schule zu erfüllen haben und deren Inhalte sich in diesem Zuge verändern, gehören Unterricht und Vermittlung, Kooperation und Zusammenarbeit, Förderplanung und eigene Professionalisierung (Melzer, Hillenbrand, Sprenger & Hennemann, 2015). Diese Beschreibungen finden sich auch in den von der Kultusministerkonferenz (2019) getroffenen Aussagen zu Kompetenzen und Standards für die Lehrerbildung mit Blick auf inklusive Bildung wieder. Lehrerinnen und Lehrer sind demnach in erster Linie für das Lehren und Lernen zuständig (KMK, 2019). Sie planen, organisieren und reflektieren Lehr- und Lernprozesse sowie deren individuelle Bewertung und systemische Evaluation. Für Regelschullehrkräfte erweitert sich das Aufgabenfeld des Unterrichtens vor allem um die Berücksichtigung spezifischer Förderbedarfe und um die multiprofessionelle Kooperation (Neumann, Grüter, Eckel & Lütje-Klose, 2021). Im inklusiven Setting verändert sich dieses Aufgabenfeld darüber hinaus vor dem Hintergrund der stärkeren Berücksichtigung der individuellen Lernausgangslage jedes einzelnen Schulkindes.

Laut KMK unterstützen beispielsweise in einer Grundschule »Lehrerinnen und Lehrer […] das Kind, seinen eigenen Lernweg zu finden, und beziehen es in Entscheidungsprozesse ein. Unter der Maxime der Mitverantwortung und der Partizipation gestalten Kinder ihr Von- und Miteinanderlernen, das Schulleben und ihren Alltag. So entsteht eine Grundschule, in der Kinder gemeinsam lernen, Unterschiedlichkeit als Bereicherung empfinden und Alltagskompetenz erwerben« (KMK, 2015, S. 26). Benachteiligungen einzelner Lernender kann mit Hilfe individueller Förderprozesse begegnet werden.

»Unter individueller Förderung werden alle Handlungen von Lehrerinnen und Lehrern und von Schülerinnen und Schülern verstanden, die mit der Intention erfolgen bzw. die Wirkung haben, das Lernen der einzelnen Schülerin/des einzelnen Schülers unter Berücksichtigung ihrer/seiner spezifischen Lernvoraussetzungen, -bedürfnisse, -wege, -ziele und -möglichkeiten zu unterstützen« (Kunze & Solzbacher, 2008, S. 19).

Die Umsetzung der individuellen Förderung erfolgt in der Zusammenarbeit im multiprofessionellen Team (Kap. 7.2).

Die Erziehungsaufgabe der Lehrkräfte ist sowohl mit dem unterrichtlichen Geschehen als auch mit dem gesamten Schulleben verbunden. Vornehmlich geht es um ein soziales Miteinander aller und darum, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.

Das Aufgabenfeld Erziehen ist für die Lehrkräfte im inklusiven Setting häufig verknüpft mit den Herausforderungen, die mit der inklusiven Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen einhergehen (Kap. 4.3).

Wichtig ist und bleibt es, Lösungsansätze für Schwierigkeiten und Konflikte in Schule und Unterricht zu finden (KMK, 2004). Es wird künftig eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Begriff der Erziehung und mit unterschiedlichen Erziehungsansätzen sowie eine aktive Reflexion des eigenen Erziehungsverhaltens geben müssen, um in der inklusiven Schule präventiv wirksam werden und intensive Förderbedarfe möglichst verhindern zu können.

Das Beurteilen ist Bestandteil fast jeder Unterrichtsstunde. Dazu gehört es, Entwicklungsstände zu erfassen, Lernvoraussetzungen zu erheben, Lernbedürfnisse wahrzunehmen und Lernfortschritte zu erkennen. Die Erkenntnisse aus solchen Beobachtungen tragen dazu bei, Lernprozesse nachhaltig zu entwickeln und zu fördern.

Die Schülerinnen und Schüler bringen sehr unterschiedliche Lernvoraussetzungen mit. Diese richtig einzuschätzen und bei der Planung und Durchführung des Unterrichtes entsprechend zu berücksichtigen, erfordert ein hohes Maß an Diagnose- und Beurteilungskompetenz.

Erziehungsaufgaben in der Schule gestalten sich in enger Zusammenarbeit mit den Eltern. Lehrkräfte beraten und beurteilen im Unterricht und setzen in diesem Zusammenhang pädagogisch-psychologische und diagnostische Kompetenzen ein.

Der Beruf der Lehrerin und des Lehrers ist untrennbar mit der Aufgabe des eigenen lebenslangen Lernens verbunden. Fachwissen, aber auch die pädagogischen Fähigkeiten und Fertigkeiten sollten stetig weiterentwickelt werden. Niemand bleibt auf der Stelle stehen, sondern setzt sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinander, wendet diese in der unterrichtlichen Praxis an und evaluiert sie. Wichtig erscheint es hierbei, die gewonnenen Einsichten auf die Gegebenheiten der eigenen Schule zu übertragen und neue Strukturen gemeinsam mit dem pädagogischen Team zu etablieren und kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Aus den beschriebenen Kompetenzen und Standards ergeben sich inhaltliche Schwerpunkte im Hinblick auf Unterrichts- und Förderprozesse. Der Umgang mit Diversität und Heterogenität werden als Bedingungen von Schule und Unterricht betrachtet und fließen in das Aufgabenspektrum von Lehrkräften ein. Ebenso gilt es, das Aufgabenfeld von Diagnostik, Beurteilung und Beratung für die Diagnose und Förderung individueller Lernprozesse sowie für Leistungsmessungen und Leistungsbeurteilungen mitzudenken.

Sonderpädagogische Lehrkräfte nehmen innerhalb der Entwicklung hin zu einem inklusiven Bildungssystem stärkere Veränderungen hinsichtlich ihrer Aufgabenfelder wahr. Während sie an den Förderschulen hauptsächlich unterrichtende Tätigkeiten wahrnahmen, sind es nunmehr unterstützende und beratende Aufgaben. In der Ausbildung von Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen werden zusätzlich zur sonderpädagogischen Expertise auch fachdidaktische Kompetenzen in mindestens einem Fach im Regelschullehramt erworben. Somit ist ein Einsatz als Lehrerin oder Lehrer im Fachunterricht nach wie vor gegeben. Die sonderpädagogische Expertise kommt in der inklusiven Schule in folgenden Bereichen zum Tragen:

  Formulierung und Überprüfung von individuellen Förderplänen,

  individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Unterstützungsbedarfen,

  Entwicklung und Durchführung von besonderen Fördermaßnahmen im Unterricht,

  Entwicklung und Durchführung von besonderen Förderangeboten, die über den Unterricht in der Klasse hinausgehen und

  Feststellung von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf (Neumann, Grüter, Eckel & Lütje-Klose, 2021).

Beratungsprozesse erfahren in der inklusiven Schule einen höheren Stellenwert als bislang. Sie beziehen sich sowohl auf die Zusammenarbeit mit den Lernenden und deren Eltern als auch auf die am Bildungsprozess beteiligten Fachkräfte wie Lehrerinnen und Lehrer, pädagogisches Fachpersonal oder Kolleginnen und Kollegen außerschulischer Einrichtungen.

Jede Lehrperson steht vor der Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler individuell in ihrem Lernprozess zu unterstützen und zu beraten. Hierbei müssen Lernprozesse transparent gestaltet und individuelle Rückmeldungen zu Lernergebnissen vermittelt werden.

Der Beratungskompetenz wird allein schon aus dem Grund künftig eine höhere Bedeutung zukommen, als dass deutlich mehr Personen an unterschiedlichen Schnittstellen miteinander kooperieren und alle aufgefordert sind, sich entsprechend ihrer Expertise in Beurteilungsprozesse und Förderplanung als auch in Prozesse der Konfliktbewältigung einzubringen.

Eine strikte Trennung der Aufgaben in der inklusiven Schule wird in Anbetracht von Überlappungsbereichen nur schwerlich möglich sein. Jedoch erscheint es, auch in Anbetracht zur Verfügung stehender Ressourcen, notwendig, die Rollen und Aufgaben im multiprofessionellen Team zu klären, um einen Modus effektiver Arbeitsteilung zu etablieren.

Die vorangegangene kurze Beschreibung der Aufgabenfelder macht deutlich, dass in jedem einzelnen Bereich immer neue Herausforderungen im Zusammenhang mit der Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems auf alle Fachkräfte zukommen. Abhängig davon, welche Brille man bei der Auseinandersetzung mit den schulischen Aufgabenfeldern in einem inklusiven Bildungssystem aufsetzt, ob die Brille der Regelschullehrkraft oder die sonderpädagogische Brille, unterscheiden sich die Schwerpunkte punktuell voneinander. Die unterschiedlichen Professionen sind unterschiedlich häufig und unterschiedlich intensiv mit den einzelnen Schwerpunkten befasst. Ziel sollte es sein, dass sich die am Prozess beteiligten Fachkräfte mit ihrer Expertise so einbringen, dass sie Erfahrungen von eigener Entlastung bei geteilter Verantwortung sammeln können.

3.3      Die Besonderheiten schulischer Inklusion in der Grundschule

Unter Grundschule oder Primarstufe wird die erste Stufe im deutschen Schulsystem verstanden und meint dabei zumeist die Klassen eins bis vier. In den Bundesländern Berlin und Brandenburg kann die Grundschule bis zur 6. Klasse geführt werden.

Deutschlandweit ringen die Kollegien der Grundschulen in bemerkenswerter Weise um eine Schulprogrammentwicklung, die alle jungen Schulkinder in ihrer Individualität in den Blick nimmt. Das Lernen in heterogenen Gruppen und der Einbezug aller Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf stehen im Mittelpunkt der pädagogischen Anstrengungen. Empirische Ergebnisse zeigen, dass die Zielstellung der UN-Konvention, eine steigende Zahl von Schülerinnen und Schülern mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf an Regelschulen zu unterrichten, in Deutschland durchaus erreichbar ist, wenngleich dieser Prozess auch nur langsam vorankommt und in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich verläuft (Hollenbach-Biele & Klemm, 2020). Für die meisten Grundschulen steht nicht mehr die Frage im Raum, ob sie sich zu einer inklusiven Grundschule entwickeln, sondern wie dieser Prozess inhaltlich ausgestaltet werden kann. Dass die Schulen dabei jeweils eigene Wege gehen, hängt von den Gegebenheiten im jeweiligen Bundesland, den regionalen Bedingungen und sozialen Faktoren ab. Eine Vereinheitlichung wird es an dieser Stelle nicht geben können. Vielmehr gilt es, möglichst allen Schülerinnen und Schülern die erfolgreiche Teilhabe am Bildungsprozess zu ermöglichen, jedwede Ausgrenzung zu vermeiden und die Lernfreude der Kinder und das Vertrauen in ihre Leistungsfähigkeit zu stärken.

Die Gestaltung des Überganges von der Kindertagesstätte in die Grundschule stellt eine besonders sensible Schnittstelle in der Bildungsbiographie der Kinder dar. Damit dieser Transitionsprozess gelingen kann, ist die Kooperation von Erzieherinnen und Erziehern, Lehrkräften und Eltern wesentlich (Hanke, Backhaus & Bogatz, 2013). Die in der Kindertagesstätte angelegte Bildungsdokumentation liefert den Lehrkräften im Anfangsunterricht wertvolle Hinweise für eine anschlussfähige individuelle Förderung der Schulanfängerinnen und -anfänger.

Nach dem Ende der Grundschulzeit ist der Übergang in die weiterführende Schule mit einer ebensolchen Sorgfalt zu gestalten und zu begleiten und macht auch an dieser Schnittstelle eine enge Zusammenarbeit der Lehrkräfte der verschiedenen Schularten unerlässlich.

Ein großer Vorteil der inklusiven Grundschule liegt darin, dass die Kinder, die gemeinsam eine Kindertagesstätte besuchten, meist in einer Klasse zusammen lernen können. So macht kein Kind die Erfahrung von Aussonderung durch den Besuch einer Förderschule. Niemand wird ausgeschlossen. Soziale Kontakte bleiben bestehen, werden weiterentwickelt und bilden die Basis dafür, zu einer Lerngemeinschaft zusammenzuwachsen. Die damit einhergehende Heterogenität der Schülerschaft bildet sich besonders auf der Ebene der Lernvoraussetzungen, die die jungen Schulkinder mitbringen, ab.

Die Grundschule trägt der Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler durch einen an deren Lernausgangslage orientierten individualisierenden und differenzierenden Unterricht Rechnung. Inhaltliche und didaktische Entscheidungen sowie Festlegungen hinsichtlich zielgerichteter Methoden, Sozialformen, Arbeitsweisen und Aufgabenformate treffen die Lehrkräfte auf der Basis der individuellen Voraussetzungen und Bedürfnisse der Lernenden (KMK, 2015).

Diese Forderung macht ein hohes Maß an individueller Förderung bereits im Anfangsunterricht notwendig. Die Festigung der Vorläuferfähigkeiten für den Start in das Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens ist Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit am Schulbeginn. Nicht alle Kinder verfügen gleichermaßen über die Grundlagen, die für einen erfolgreichen Lernbeginn notwendig sind. Ein rechtzeitig initiierter und zielgerichteter Förderunterricht kann die Chance bieten, möglichst vielen Kindern den Anschluss an das Lernen im zielgleichen Unterricht zu ermöglichen und benachteiligende Lernvoraussetzungen auszugleichen.

Die Grundschule hat die Aufgabe, die Inhalte in den Bereichen Lesen, Rechtschreiben und Rechnen zu vermitteln, die die Grundlagen für das weitere schulische Lernen darstellen. In den ersten Schuljahren wird das Fundament für den weiterführenden Bildungsweg gelegt.

Im Bemühen darum, jedes Kind in seiner Individualität anzunehmen und es auf seinem individuellen Lernweg zu begleiten und zu unterstützen, gibt es eine Vielzahl von Überlegungen zur Realisierung einer adäquaten individuellen Förderung. So entwickeln Lehrkräfte Lernarrangements, die von den individuellen Vorerfahrungen, den individuellen Fähigkeiten sowie den besonderen Interessen und Begabungen der Kinder ausgehen. Dabei gilt es, diesen hohen Ansprüchen und den Vorgaben der Rahmenpläne bzw. dem Erreichen von Bildungsstandards (Kap. 4.3) gerecht zu werden. Der besondere pädagogische Anspruch besteht darin, Schulschwierigkeiten rechtzeitig entgegenzuwirken und Auffälligkeiten im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung frühestmöglich zu identifizieren. Eine gut durchdachte und bedarfsorientierte Präventionsstrategie unter Verwendung systematischer effektiver Präventionsmaßnahmen sind in diesem Zusammenhang Kennzeichen einer inklusiven Grundschule.

Für die Umsetzung der vielschichtigen und weitreichenden Vorhaben stehen den Lehrkräften mittlerweile mannigfache Diagnose- und Fördermaterialien zur Verfügung. Bei der Fülle an Angeboten drohen Lehrkräfte mitunter Gefahr zu laufen, den Überblick zu verlieren oder Materialien zum Einsatz zu bringen, die ggf. am Ziel vorbeilaufen oder deren Wirksamkeit fraglich erscheint. Sicher täte man gut daran, die Schülerinnen und Schüler mit Förderprogrammen zu unterstützen, mit denen nachgewiesenermaßen Lernerfolge erzielt werden. Sollten Materialien noch nicht über entsprechende Nachweise verfügen, ist zu prüfen, welche Zielstellung das jeweilige Instrument verfolgt und ob diese mit dem pädagogischen Vorhaben deckungsgleich ist. Darüber hinaus bleibt nicht außer Acht zu lassen, dass jede Schule nur über eine gewisse Auswahl an Diagnose- und Fördermaterial verfügen kann, denn einerseits wächst das Angebot in diesem Bereich deutlich und andererseits bewegen sich die Schulen im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel.

Gelingt es den Grundschullehrkräften,

  eine Lerngemeinschaft zu gestalten, in der jedes Kind in seiner Individualität wertgeschätzt wird und einen Platz findet, in der es sich durch Auseinandersetzung mit den Positionen der anderen und durch gemeinsames Handeln entwickeln kann sowie

  Lerninhalte und -aufgaben zu bieten, die für jedes Kind mehrdimensional persönliche Anknüpfungspunkte, bewältigbare Herausforderungen, eine gute Basis für die Aneignung des Weltwissens und die Einübung in die Grundlagen ermöglichen (Hellmich & Blumberg, 2017),