Zikaden singen nicht - Leo Frank-Maier - E-Book

Zikaden singen nicht E-Book

Leo Frank-Maier

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Beschreibung

Zypern in den siebziger Jahren. Seit 1964 sind hier UN-Truppen stationiert. Ted Parker, Polizeioffizier aus England, wird mit einem Sonderauftrag auf die Mittelmeerinseln entsandt. Er soll sich – nebenbei, wie man sagt – auch für Insekten interessieren, und ganz besonders für die Liebesgewohnheiten der Zikaden ... Ein eigenartiger Auftrag, ist da doch auf Zypern auch ein ungeklärter Mord geschehen, und das Erstaunliche dabei ist, dass die Zeugen aussagen, die Zikaden hätten gezirpt. Jedes Kind auf Zypern weiß indes, dass Zikaden nur singen, wenn die Sonne scheint! Einige Zeit später macht Ted Parker, an seiner Seite seine bildhübsche Freundin Betty aus London, eine interessante Entdeckung, die offensichtlich etwas mit dem sowjetischen Geheimdienst zu tun hat. Kurze Zeit darauf verunglückt er rätselhafterweise tödlich. Jo Heller, österreichischer Polizeioffizier, aber schon seit längeren bei den UN-Truppen auf Zypern, macht sich so seine Gedanken, als er von Ted Tods hört. Da begegnet er Betty, und Jo teilt mit dem lieben Verblichenen die Ansicht, dass sie ein bildhübsches und wunderbares Mädchen ist. Aber etwas scheint mit ihr nicht zu stimmen ... "Zikaden singen nicht" ist nach "Die Sprechpuppe" der fulminante zweite Roman des auch der "James Bond von Linz" genannten österreichischen Staatspolizisten und Kriminalautors Leo Frank. Atemlose Spannung garantiert!Leo Frank (auch Leo Frank-Maier, gebürtig eigentlich Leo Maier; 1925–2004) ist ein österreichischer Kriminalautor, der in seinem Werk die eigene jahrzehntelange Berufserfahrung als Kriminalbeamter und Geheimdienstler verarbeitet. In seiner Funktion als Kriminalbeamter bei der Staatspolizei Linz wurde Leo Maier 1967 in eine Informationsaffäre um den Voest-Konzern verwickelt. Man verdächtigte ihn, vertrauliches Material an ausländische Nachrichtendienste geliefert zu haben, und er geriet unter dem Namen "James Bond von Linz" in die Medien. Es folgte eine Strafversetzung nach Wien, wo er nach wenigen Monaten wiederum ein Angebot zur Versetzung nach Zypern annahm. Zwischen 1967 und 1974 war Leo Maier Kripo-Chef der österreichischen UN-Truppe in Nikosia. Auf Zypern begann er seine ersten Kriminalromane zu schreiben und legte sich den Autorennamen Leo Frank zu. Doch dauerte es noch einige Jahre, bis 1976 sein erster Roman "Die Sprechpuppe" publiziert wurde. 1974 kehrte er – in der Voest-Affäre inzwischen voll rehabilitiert – nach Linz zurück. Er leitete verschiedene Referate (Gewaltreferat, Sittenreferat, Mordreferat), bevor er 1980 zum obersten Kriminalisten der Stadt ernannt wurde. Mit 59 Jahren ging er in Pension und zog in seine Wahlheimat Bad Ischl, wo er 2004 verstarb.-

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Leo Frank-Maier

Zikaden singen nicht

SAGA Egmont

Zikaden singen nicht

Copyright © 1977 by F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Copyright © 2017 Leo Frank-Maier og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711518595

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Vorwort

Am 6. April 1974 lag eine riesige Torte im Kommandoraum des Hauptquartiers der UN Friedenstruppe auf Zypern. Alles, was Rang und Namen hatte, stand um die Riesentorte, ordensgeschmückt. Was war geschehen? Die UNO feierte den zehnten Jahrestag ihrer Präsenz auf der Insel. Die Vereinten Nationen hatten es geschafft: Zehn Jahre lang war Blutvergießen vermieden worden. Wenigstens in größerem Ausmaße. Ein Anlaß zum Feiern!

Der Force Commander der UN, der indische General Prem Chand, schnitt die Torte an. Mit einem Schwert, made in England, Marke Wilkinson.

Alle Herumstehenden, die Wichtigen und die Wichtigmacher, sie alle wußten: Es war eine gute Arbeit der UNO. Und manche spürten: Da war ein kleiner Schönheitsfehler.

Der Schönheitsfehler ging die UNO nichts an. Er fand sich in den Unterrichtsprogrammen der Griechen und Türken. In den Elternhäusern, Kindergärten, Jugendorganisationen, in den Schulen, bei den Streitkräften wurde, trotz UNO, nur eines gelehrt: Haß.

Haß wurde gelehrt, gepredigt, auf beiden Seiten. Bei den Inseltürken und Inselgriechen, seit zehn Jahren.

Die Saat war reif.

Am 15. Juli 1974, knapp elf Wochen nach den UNO-Feierlichkeiten, putschte eine Generation irrsinniger, fanatischer Offiziere gegen Makarios. Erfolgreich und erfolglos zugleich. Makarios floh mit Hilfe der Briten.

Nicos Samson, ein politischer Überzeugungsmörder, übernahm formell die Staatsgewalt. Die Saat war aufgegangen.

Sechs Tage später landeten die Türken in Armeestärke an der Nordküste. Das große Morden begann.

Das große Morden, das Griechen und Türken zehn Jahre lang ihre Kinder gelehrt hatten. Die Kinder von 1964 waren erwachsen und bewaffnet. In logischer Konsequenz begannen sie das zu tun, wozu man sie zehn Jahre lang erzogen hatte.

Wir schreiben heute 1977.

Drei Jahre nach der großen Torte.

Der Verfasser war wieder auf Zypern, erlebte dort Putsch und Krieg. Vieles hat sich geändert, eines nicht: Die Kinder werden immer noch zu Haß und Mord erzogen.

Die kleine Weltbühne auf der winzigen Insel Zypern ist ein weitgehend ignorierter Spiegel der Weltgeschichte: So lange wir unsere Kinder nicht zum Frieden erziehen, wird es Kriege geben.

Was sagt die UNO dazu?

Leo Frank

Ein Menschenleben ist voll von Zufälligkeiten. Menschen planen und organisieren seit Tausenden von Jahren. Doch der Zufall regiert die Welt. Eingeplante Zufälle gibt es nicht.

Die nachstehende Geschichte handelt von einer Reihe solcher Zufälle. Und jede Ähnlichkeit mit lebenden oder inzwischen verstorbenen Personen ist rein zufällig.

221030 B

Rabov an zentrale

Geraet radmet eingetroffen. – leiter tech befuerchtet nebenerscheinungen bei erprobung. – radmet beeinflusst eventuell lokale insekten. – sendet umgehend letzte erkenntnisse ueber singzikaden. – cicada plebeja scop. – insbesondere verhaltensaenderung bei magnetron einfluss. –

Ende. –

233015 B

Zentrale an rabov

Hier keine erkenntnisse ueber verhaltensaenderung von zikaden bei einfluss magnetron. – erprobung aufschieben bis eintreffen spezieller genehmigung. –

Ende. –

Major Robert D. Parker von den »Princess Patricias Royal Husars« sah auf seinen Terminkalender und seufzte. Ob er es wollte oder nicht, es war bereits der 3. Dezember, und spätestens am 23. hatte er sein Kommando im Verteidigungsministerium zu übergeben. Und bis dorthin mußten die Akten aufgearbeitet sein. Der Papierkrieg war ihm schon immer ein Greuel gewesen, aber so schlimm hatte er es sich doch nicht vorgestellt, damals vor drei Jahren, als er in die Abteilung kam. Er war gerade zum Major befördert worden, und die Einberufung ins Ministerium war sehr ehrenvoll für ihn. Als Truppenoffizier war für ihn die Einberufung in den Stab ein Lebensziel gewesen, aber nun, ehrlich gesagt, war er froh, daß er sich wieder davonmachen konnte.

Seine erste Enttäuschung damals war gewesen, daß er in eine Abteilung der Mitteleuropäischen Sektion versetzt wurde, obwohl er in seinem Gesuch seine arabischen und türkischen Sprachkenntnisse sehr wohl einzufügen gewußt hatte. Er entstammte einer alten britischen Offiziersfamilie und war in den ehemaligen Garnisonen von Kairo und Limassol groß geworden. Als er im 2. Weltkrieg zu den P. P. Royal Husars kam, diente er als Leutnant in Nordafrika, und auch nach dem Krieg bis 1947 war sein Regiment in Palästina stationiert. Der Mittlere Osten war ihm also wohlvertraut, fast eine zweite Heimat, konnte man sagen. Welcher Idiot ihn dann also in die Sektion Mitteleuropa gesteckt hatte, war für ihn unergründlich. Ebenso die Motive hierfür. Wenn es überhaupt Motive dafür gegeben hatte! Vielleicht besetzte irgendein vertrottelter Oberst in der Personalabteilung die Posten nach den Anfangsbuchstaben der Namen oder nach der Schuhgröße oder Kragenweite, Details, die ja auch alle im Personalakt vermerkt waren. Etwas anderes konnte sich Major Parker nicht vorstellen. Aber nach so vielen Dienstjahren in der Armee hatte man sich das Wundern längst abgewöhnt.

Robert »Bob« Parker stapelte die Akten auf seinem Schreibtisch sorgfältig aufeinander, es wurde ein ansehnlicher Aktenstoß daraus. Dann lehnte er sich zurück und betrachtete den Papierberg verächtlich. Bis zum 23. mußte er das Zeug los sein, und man konnte es schließlich nicht fressen. Harte Tage standen ihm also noch bevor.

Es klopfte an der Tür. Eine Ordonanz kam herein, Sergeant Smith, er brachte in einer Kuriermappe neues Papier, neue Akten, aber nichts Schlimmes, wie Major Parker mit einem Blick feststellen konnte. Er bestätigte die Übernahme auf einem Protokoll. Es waren nur interne Mitteilungen und Zirkulare, der übliche Bürokram, das man »nach Kenntnisnahme und Fertigung« wieder weiterleiten konnte. Dicke Schwarten über politische und militärische Vorgänge, Studien, technische Mitteilungen und solches Zeug mehr.

Er würde es nicht mehr lesen! Ganz sicher würde er diesen Mist nicht mehr lesen, nur unterschreiben und weiterleiten. Schließlich interessierten ihn die Vorgänge in Mitteleuropa nicht mehr sonderlich, sein Job hier war ja schon so gut wie beendet.

Während Sergeant Smith absalutierte, erhellte sich das Gesicht des Majors. Aha, einmal etwas Erfreuliches in der Dienstpost. Seine Versetzungs- und Marschpapiere. Er studierte sie sorfgältig: Dienstantritt am 3. Januar 1968 in den Head Quarters der 24. Light Infantry Batallions, Standort »Camp Kitchener« bei Limassol, Zypern. Weitere Verwendung nach Verfügung des Commanders Britcon. Da stand noch etwas in Klammern: Der Neuzugeteilte hat mit einer Verwendung als Ops Info im UN HQ Nicosia zu rechnen. Aha, das war wichtig. Ops Info, das war der Informationsoffizier im Stab des Hauptquartiers der Vereinten Nationen. Traditionsgemäß seit 1964 immer ein Britischer Offizier. Und ein Dienstposten für einen Oberstleutnant. Eine gute Nachricht also.

Bob Parker wußte um seine bevorstehende Versetzung seit Wochen, aber hier hatte er es nun schriftlich. Na, Gott sei Dank, das war also geschafft. Er las noch die Transportbestimmungen. Ein Scheck war dabei, über 142 Pfund Sterling. Die Art der Reise war ihm überlassen. Das war gut, er konnte also fliegen oder mit einem Schiff fahren. Eine Schiffsreise war billiger, er könnte ein paar Pfund sparen. Er würde gleich ein Reisebüro aufsuchen, hoffentlich ging ein geeignetes Schiff. Mit der Zeit müßte es klappen. Großartig, er würde über die Weihnachtsfeiertage und Neujahr an Bord eines Schiffes sein. Das löste viele Probleme. Großartig war das. Wenn er mit seinen Akten früher fertig werden könnte, war eine Abreise vielleicht schon am 20. möglich. Nicht vielleicht, sicher war das möglich.

Der Aktenstoß schien ihm auf einmal gar nicht mehr so unfreundlich. Ein paar Nächte durcharbeiten, und er würde es schaffen. Major Parker konnte flott arbeiten, wenn es sein mußte.

Bob Parker war Junggeselle. Er hatte einen Horror vor jeder Art von häuslichem Herd, vor Familie und Kindern. Trotz seiner dreiundvierzig Jahre hatte er noch nie das Gefühl gehabt, einen Hausstand gründen zu müssen. Manchmal war er zwar nahe daran gewesen, aber wenn dann nichts daraus wurde, empfand er immer ein glückhaftes Gefühl der Erleichterung. Dieses Gefühl der Erleichterung überkam ihn auch jetzt wieder. Betty würde einsehen müssen, daß gegen einen Versetzungsbefehl der Armee nichts zu machen war. Er würde London verlassen, für ein oder zwei Jahre. Betty war Lehrerin, sie würde ihren Beruf nicht aufgeben wollen. Sie würde also in London bleiben, klar.

Wenn er schon am 20. abdampfte, ersparte er sich dieses lächerliche Getue an den Weihnachtsfeiertagen und am Silvesterabend. Einfach großartig war das. Manchmal hatte die Armee wirklich ein Einsehen mit ihren Kindern.

Er würde noch vor zwölf Uhr ein Reisebüro aufsuchen und gleich fix buchen. Und wenn ein geeignetes Schiff schon am 18. oder 19. ging, auch recht, mit dem Aktenkram würde er schon fertig werden. Am besten, er fing gleich an damit, nur keine Zeit vertrödeln.

Er nahm einen dicken Aktenband mit der Aufschrift: »Uranus«. Er hatte ihn gestern schon studiert. »Uranus« war das Kodewort für Kim Philby. Er suchte den Unterband mit der Aufschrift: »Persönliche Beziehungen in Mitteleuropa«. Dann nahm er den Band »Vienna« heraus und begann zu lesen.

Nach einer Viertelstunde ertönte von draußen ein diskreter Summton, es war Zeit für die Teepause. Mj. Parker würde heute keinen Tee trinken. Der Akteninhalt befriedigte ihn, der Akt war im kurzen Wege zu erledigen. Er nahm einen Erledigungsbogen und schrieb darauf folgenden Vermerk:

1. Kriminaldirektor Dr. Antevic ist nach überprüften Meldungen am 28. November 1967 in Wien nach einem Herzinfarkt gestorben.

2. Kriminalmajor Heller hat weder vor noch nach seiner Versetzung auf unsere Hinweise reagiert. Nach letzten Informationen trinkt er und scheint an staatspolizeilichen Vorgängen völlig desinteressiert.

3. Durch das Ableben des Dr. Antevic erscheint jede weitere hiesige operative Maßnahme gegenstandslos. Daher nichts weiter veranlassen, gegenständlichen Basisakt nach Kenntnis und Zustimmung des Ops. Leiters II einlegen.

Major Parker unterfertigte den Erledigungsbogen, nahm einen Rotstift und schrieb auf den Aktenumschlag in ein vorgezeichnetes Feld »Ops II«. Dann ordnete er den Gesamtakt, legte ein Gummiband darum und warf das Papierbündel in einen Aktenkorb mit der Aufschrift »erledigt«.

Er wollte gerade sein Büro verlassen, als die Sprechanlage surrte und er gebeten wurde, sich sofort beim Leiter der Sektion »Mittlerer Osten« zu melden. Das war außergewöhnlich. Sicher hing es mit seiner Versetzung nach Zypern zusammen. Bob Parker war nicht sehr erfreut darüber. Hoffentlich gab es keine Schwierigkeiten im letzten Moment. Er kannte die Leute von der Middle East Section gar nicht, hatte ja nie mit ihnen zu tun gehabt. Er informierte sich kurz an Hand der Stabsliste. Brigadier Henny war also der Mann, der ihn sehen wollte. Siebenter Stock, Zimmer 101. Bob erinnerte sich. Brigadier Henny war der kleine rundliche Schnauzbart, der bei Parties immer dieselben Witze erzählte.

Bob nahm den Aufzug.

Der Brigadier erwartete ihn schon. Er war sehr freundlich.

»Sie sind also unser neuer Mann in Nicosia, Major Parker.«

Bob war erleichtert. Es war nichts dazwischen gekommen. Der Brigadier erkundigte sich, wann Bob abzureisen gedenke.

»So bald wie möglich, Sir, noch vor den Feiertagen.« Der Brigadier schien erfreut. Er wollte, daß Bob eine kurze Information lesen sollte, gleich hier im Büro, der Brigadier würde ihm nachträglich dazu etwas erklären. Bob studierte ziemlich verständnislos zwei ganz kurze Nachrichten, offenbar Funknachrichten, er las von einem Rabov und einer Zentrale, von einem Projekt Radmet und Magnetron-Einflüssen. Und von Singzikaden, was die ganze Sache für ihn noch unverständlicher machte. Er las die wenigen Zeilen zweimal durch und sah dann den Brigadier ratlos an.

»Verstehe kein Wort, Sir.«

Der Brigadier paffte eine Zigarre.

»Tja, Major«, sagte er dann. »Es handelt sich hier um eine Meldung von unseren russischen Freunden aus Nicosia. Nach Moskau. Und die Antwort darauf. Unsere Boys konnten die Funknachricht vorige Woche dechiffrieren.« Der Brigadier lächelte anerkennend. »Tüchtige Burschen, unsere Signals. Leider ist auch der Klartext für uns ziemlich unverständlich. Jedenfalls erproben die Roten irgend etwas in Zypern. Irgendein technisches Projekt.« Der Brigadier schien unwillig, Technik war offenbar nicht seine starke Seite. Er kaute an seiner Zigarre herum.

»Ich möchte«, sagte er dann, »daß Sie sich den Text genau einprägen.«

Bob nickte.

»Es wird eine ihrer Aufgaben sein, hier Klarheit zu schaffen, Major.«

»Yes, Sir«, sagte Bob.

Eine Pause entstand. Der Brigadier paffte und starrte in eine Ecke. Bob wußte nicht, ob er etwas sagen sollte. »Ich werde mein Bestes versuchen«, meinte er schließlich ein wenig schüchtern.

Der Brigadier nickte gedankenverloren.

»Scheint ziemlich wichtig zu sein«, sagte er dann und erhob sich. Bob stand erleichtert auf.

Der Brigadier schüttelte ihm die Hand. Bob war entlassen.

»Einzelheiten über Rabov erfahren sie in Nicosia. Cleverer Bursche, Oberst im KGB, jetzt zweiter Sekretär an der Botschaft. War früher in Berlin, der alte Gauner.« Der Brigadier schien befriedigt. »Und vergessen Sie nicht die Zikaden, studieren Sie alles über Zikaden«, sagte er noch.

»Yes, Sir.« Bob hatte es eilig hinauszukommen.

Bob war lange genug im Intelligence Service und daran gewöhnt, komische Aufträge zu bekommen. Dieser war so ziemlich einer der dümmsten, soweit er sich erinnern konnte. Zikaden. Was gingen ihn die blöden Viecher an? Er wußte praktisch nichts über Zikaden, außer daß sie im Sommer einen Höllenlärm machen konnten mit ihrem schrillen Gezirpe. Er würde sich ein Buch über Zikaden besorgen, man konnte nie wissen.

Robert D. Parker war ein gutaussehender Mann, dem man den Berufsoffizier eigentlich nicht ansah, dazu trug er das Haar zu lang. Als Junggeselle konnte er es sich leisten, stets nach der Mode gekleidet zu sein, was ihm abfällige Bemerkungen bei seinen Kollegen, aber Bewunderung bei der Damenwelt eintrug. Ihm war letzteres wichtiger. Er war etwa einsfünfundachtzig groß und beneidenswert schlank. Sein Haar hatte einen Schimmer ins Rötliche, wahrscheinlich ein Erbe seiner irischen Großmutter. Bemerkenswert war sein prachtvolles Gebiß, das seinem Gesicht einen anziehenden Ausdruck verlieh, sobald er lächelte oder lachte. Bob wußte das und lächelte ziemlich häufig. Das brachte ihm den Ruf eines freundlichen Menschen ein, und tatsächlich mochten ihn die meisten Menschen gut leiden, abgesehen von ein paar Kollegen, denen es nicht paßte, daß ihre Frauen von ihm schwärmten. Aber auch das hatte sich in den letzten Jahren sehr gemildert. Bob erschien fast überall in Begleitung Betty Walkers und schien sohin als Frauenliebling weitgehend entschärft. Er war ein guter Hockey- und Cricketspieler und konnte die ordinärsten Witze erzählen, ohne daß ihm jemand böse war.

Als er das Reisebüro verließ, lächelte er. Alles schien in Ordnung. Er hatte für den 18. Dezember gebucht und würde eine angenehme Reise haben, erster Klasse auf Sms brigant mit Zwischenlandungen in Gibraltar, Malta und Athen. Er suchte eine Fachbuchandlung auf und fragte nach einem Buch über Zikaden. So etwas gab es tatsächlich, und die Verkäuferin war weniger erstaunt, als Bob angenommen hatte. Bob wunderte sich darüber, wie billig so ein Buch war. Er würde es dem Ministerium gar nicht in Rechnung stellen, schließlich war er kein schäbiger Kleinkrämer.

Alles lief also bestens. Blieb noch die Sache mit Betty. Sein Lächeln erstarb, und er war ein wenig bekümmert. Er überlegte, wie sie es wohl aufnehmen würde. Am besten, er bereitete sie telefonisch vor. In solchen Dingen war Bob feige wie die meisten Männer. Er haßte Tränen und Szenen und ging ihnen am liebsten aus dem Weg.

Nun, auch das würde er hinkriegen. Er dachte an die Reise, und das stimmte ihn wieder fröhlich.

Die Lehrerin Betty Walker von der Kensington-Elementary-School lächelte ihr freundliches Lehrerinnenlächeln und beobachtete die lieben Kleinen, wie sie trödelnd das Klassenzimmer verließen.

»Good bye, Miss Walker.«

»Good bye, Tommy.«

»Good bye, Miss Walker.«

»Good bye, Evelyne.«

Betty Walker lächelte und nickte freundlich. Gerne hätte sie die kleinen Fratzen in ihre kleinen Ärsche getreten, sie war nervös und wollte endlich allein sein. Schließlich war der letzte Schüler draußen, das freundliche Lächeln auf Betty Walkers Gesicht verschwand schlagartig. Sie ließ sich in ihren Sessel fallen und zündete sich eine Zigarette an. Ein doppelter Whisky wäre jetzt eine feine Sache, dachte sie.

Betty Walker, 26 Jahre alt, war eine ausnehmend hübsche Blondine aus Yorkshire mit vollen weiblichen Kurven. Der geschlechtsbetonte Typ, nach dem sich die Männer aller Altersklassen auf der Straße umdrehen. Makelloser heller Teint, dunkelblaue Augen, ein regelmäßiges, selbstbewußtes Gesicht. Von ihrem linken Ohrläppchen zum linken Mundwinkel lief eine haardünne Narbe, die aber nur bei genauer Betrachtung zu sehen war und sie bestimmt nicht verunstaltete. Eine Narbe, die von einem Rasiermesserschnitt stammen konnte, von einem Schnitt, mit dem Zuhälter in Paris oder Amsterdam ihre unfolgsamen Straßenmädchen zu bestrafen pflegen. Nun, alle Bekannten Bettys wußten, daß die Narbe von einem Unfall stammte. Aus der Zeit, als Betty als Studentin in Frankreich und Deutschland gewesen war. Oder sie glaubten wenigstens, es zu wissen. Zumindest hatte es Betty so erzählt.

Seit drei Jahren war Bettina Walker Lehrerin an der Kensington Schule und hatte einen ausgezeichneten Ruf. Sie war so gut wie verlobt mit Major Parker vom Verteidigungsministerium. Für ihre Kollegen und Kolleginnen war die bevorstehende Heirat nur eine Frage der Zeit. Und jetzt dieser Telefonanruf von Bob Parker! Mit der Neuigkeit, daß Bob nach Zypern versetzt wurde. Und noch vor den Weihnachtsfeiertagen müßte er London verlassen. Der arme Bob. Er war ganz traurig am Telefon gewesen.

Betty Walker war ganz und gar nicht traurig, wenn sie sich auch diesen Anschein gab und von den Kolleginnen bedauert wurde. Sie war nicht traurig, nur ein wenig irritiert. Niemand von ihren vielen Freunden wußte, daß sie sich aus Männern eigentlich überhaupt nichts machte. Und Bob war schließlich auch ein Mann. Aber das war ihr streng gehütetes Geheimnis, und niemand wußte davon, auch der arme Bob selbst nicht. Natürlich hätte sie ihn geheiratet, schließlich war sie im richtigen Alter dazu. Was jetzt werden würde, konnte niemand voraussagen. Betty hatte wenig Lust, nach Zypern zu gehen, sie hatte wenig Lust, London zu verlassen. Denn in London war Katja, ihre Freundin, die sonst niemand kannte, auch Bob nicht. Katja, deren Existenz sie geheimhielt. Sie hatte allen Grund dazu. Diese geheime Freundschaft bestand nun immerhin schon sieben Jahre.

Betty blickte auf die Uhr. In einer halben Stunde würde sie Katja anrufen und sie dann besuchen, ihr Bobs Neuigkeit mitteilen. Ihr Verlangen nach einem Whisky wurde größer, aber sie mußte sich gedulden. Einfach in eine Bar gehen und einen Whisky bestellen, das ging nicht, schließlich mußte sie auf ihren Ruf achten, und man lebte in Kensington, nicht in Paris oder Amsterdam. Oder Hamburg. Katja würde wie immer eine Flasche im Eisschrank haben. Betty freute sich auf Katja und die Flasche. Die ehrenwerte Lehrerin Bettina Walker war schon seit drei Wochen nicht mehr bei Katja gewesen und wie immer, wenn sie Katja längere Zeit nicht sah, bekam sie dieses eigenartige Ziehen in ihren Schenkeln und Unterleib, dieses schmerz- und lustvolle Gefühl, welches sie erstmalig vor 7 Jahren verspürte, damals in Hamburg, als ihr Katja zum ersten Mal begegnete. Damals, als sie betrunken und mit einer blutenden Wunde auf der linken Wange in ein Spital eingeliefert wurde und die Sekretärin der Sowjetischen Handelsmission, Katharina Jelusowa, plötzlich auftauchte, ihre Schulden bezahlte und für eine tadellose Operations sorgte.

Dieses Gefühl war in all den Jahren eher stärker geworden. Und Männer bedeuteten für Betty eigentlich gar nichts mehr.

Bettina Walker vefließ die Schule und ging zu einer Telefonzelle. Sie sah wieder auf ihre Uhr, es waren noch fünf Minuten zur verabredeten Zeit. Sie würde also noch fünf Minuten warten. Denn Katja liebte Pünktlichkeit und konnte leicht böse werden.

Betty und Bob hatten beschlossen, ihren letzten Tag gemeinsam zu verbringen. Bob hatte schon gepackt, und seine Koffer standen im Vorzimmer von Bettys kleiner Wohnung. Er würde die letzte Nacht in London bei Betty schlafen und morgen früh zeitig mit dem Taxi zum Hafen fahren. Alles war geregelt.

Es hatte den ganzen Tag über geregnet. Sie hatten die meiste Zeit im Bett verbracht, wie schon so viele Sonntage zuvor in den letzten drei Jahren. Nun war es spät am Nachmittag, und sie waren beide leicht betrunken. In ein oder zwei Stunden würden sie sich etwas anziehen und in ihre Stammkneipe gehen, um ein paar Bissen zu essen. Das war alles, was sie heute noch vorhatten.

Es war warm in der Wohnung, überheizt. Betty lag auf ihrem Bett, mit einem Handtuch zugedeckt, und war eingeschlafen, zumindest hatte sie die Augen geschlossen. Bob lag auf der Couch und trank ab und zu einen Schluck aus der Whiskyflasche. Kleine Schlucke, denn der Whisky war warm, und er war zu faul, um aus der Küche frisches Eis zu holen. Er blätterte gelangweilt in seinem Fachbuch über Zikaden, sah sich verständnislos die Abbildungen an und kam sich ziemlich dumm vor dabei. Was es alles gab in seinem Beruf! Einer alten Gewohnheit folgend unterstrich er mit einem Bleistift die wichtigen Stellen und hakte die Seiten ab. »Bei der cicada plebeja scheint die Begattung hauptsächlich in den Morgenstunden zu erfolgen«, las er. Und weiter: »Über die Annäherung der Geschlechter ist nichts Näheres bekannt. Die Kopulation, kommt auf die Weise zustande, daß das Männchen sich dem Weibchen von der Seite her nähert und seine Hinterleibsspitze unter die des Weibchens schiebt. Das Kopulationsglied dringt dann von unten her in die Basis des weiblichen Legeapparates ein und erreicht die Mündung des Samenbehälters. Siehe Abbildung 27.«

Bob Parker betrachtete die Abbildung 27 und dann Betty. Sie war anscheinend wirklich eingeschlafen. Braves Mädel, mußte er denken. Keine Vorwürfe, keine Sentimentalitäten, als er ihr von seiner Versetzung erzählt hatte. Natürlich hatte er ihr gesagt, daß er nicht lange bleiben würde und sie in den Ferien zu Besuch kommen müsse. Er hatte Tränen befürchtet und Gefühlsausbrüche. Aber nichts dergleichen. Betty war ok., keine Frage.

Bob legte das dumme Zikadenbuch weg und zündete sich eine Zigarette an. Er dachte nach über Betty und daran, daß er sie vermissen würde. Eigentlich war sie genau der Typ Frau, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen konnte. Sie war gescheit und doch unerhört sexy. Oh ja, Bob würde sie vermissen.

Er betrachtete ihre Schenkel und bemerkte wieder einen dieser dunkelroten Flecken, die eigentlich verdächtig nach Spuren sexueller Exzesse aussahen. Nun, von ihm stammten diese Flecken bestimmt nicht. Und er hatte sie immer wieder bemerkt, in den vergangenen drei Jahren, aber nie gefragt. Ob da ein anderer Mann war? Unvorstellbar. Er kannte Betty und ihr Leben, und es war einfach ausgeschlossen, daß sie noch einen Liebhaber hatte. Einfach ausgeschlossen!

Er sah, wie sie sich im Halbschlaf streckte und dabei ihre Schenkel etwas öffnete. Es erregte ihn. Er sagte leise:

»Darling?«

Betty hatte ihren Bob aus halbgeschlossenen Augen beobachtet, wie er in seinem Buch blätterte und dabei mit einem Bleistift die Buchseiten abhakte und verschiedene Stellen unterstrich. Sie dachte dabei an Katja und daran, wie wohl alles weitergehen würde. Wie üblich hatte Katja alles ganz genau wissen wollen, was Bob betraf, auch alles über seine Versetzung nach Zypern. Und wie üblich hatte Betty so genau wie möglich berichtet, und Katja hatte sich Notizen gemacht. Betty hatte sich seit Jahren abgewöhnt, daran zu denken, daß sie etwas Verbotenes tat. Die Überlegung, daß ihre Verbindung zu Katja und ihre Berichterstattung über alles, was sie aus Bobs beruflichem Leben erfahren konnte, einmal entdeckt werden und ihr schaden könnte, war ihr natürlich früher oft gekommen. Aber sie hatte nie auch nur eine Sekunde erwogen, ihre Verbindung mit Katja abzubrechen. Im Gegenteil, sie konnte sich ein Leben ohne Katja nicht mehr vorstellen.

Und eigentlich war es ja auch harmlos, eher lächerlich.

Katja hatte ihr gestern aufgetragen, alles über dieses Zikadenbuch zu berichten und herauszufinden, was Bob damit vorhatte. Nun, das war wohl keine große Angelegenheit und bestimmt kein Staatsgeheimnis.

Betty streckte sich und beschloß so zu tun, als würde sie gerade aufwachen. Sie hörte Bob sagen:

»Darling?«

»Ja, mein Lieber?«

»Tust du alles für mich auf der Welt?«

»Alles, mein Gebieter!«

»Holst du mir auch Eis aus der Küche?«

»Auch das, mein Gebieter.«

Betty ging in die Küche, das Handtuch um ihre Hüften gewickelt. Sie bewegte sich dabei so, wie Bob es gerne hatte. Sie kannte ihren Bob. Sie kam mit zwei frischen Gläsern und viel Eis.

»Wie steht’s mit dir«, sagte sie, »wirst auch du immer alles für mich tun?«

»Alles«, sagte Bob und hob die Hand, »ich schwöre.«

»Dann hol’ mir ein Bier«, sagte Betty, »ich muß jetzt ein Bier haben, ich könnte sterben für ein Bier.«

Major Bob Parker schaute ein wenig hilflos.

»Es ist keins mehr da«, erklärte sie, »du mußt in die Kneipe gehen und welches holen. Das Leben ist hart.«

Bob murrte und schlüpfte in einen Pullover.

»Vorschlag«, sagte Betty. »Bring ein paar Sandwiches mit, und wir gehen heute nicht mehr raus. Ich mag mich nicht mehr anziehen.«

»Great!« jubelte Bob.

Er nahm eine Einkaufstasche und trollte sich. Sie war einfach großartig, seine Betty.

Die großartige Betty horchte eine Weile, bis seine Schritte verklungen waren. Dann nahm sie aus ihrer Handtasche ein Stück Papier und notierte Herausgeber, Verlag und Autor des Zikadenbuches. Sie notierte auch die Seiten und Absätze, die Bob unterstrichen hatte. Den Zettel steckte sie in ihre Puderdose. Dann warf sie sich aufs Bett und zündete sich eine Zigarette an. Morgen würde Bob weg sein. Morgen würde sie Katja anrufen.

Der 3. Dezember 1967 war ein Tag wie jeder andere im Polizeikommissariat Wien 12. Vielleicht noch ein wenig trüber und eintöniger als sonst, denn es regnete seit Tagen, und die tiefhängenden Wolken über der Stadt ließen keine andere Farbe aufkommen als jenes deprimierende Vorstadtgrau, daß die Menschen traurig und böse macht. Niemand kann es beweisen, aber wohl auch niemand bestreiten, daß dies speziell für beamtete Menschen in düsteren Amtsräumen zutrifft. In der Kriminalbeamten-Abteilung des Kommissariats brannten um acht Uhr noch die altmodischen Deckenbeleuchtungen, 15 Watt-Birnen, sie verbreiteten ein abscheuliches Licht, aber keine Helligkeit.

Das kleine Zimmer des leitenden Kriminalbeamten war womöglich noch düsterer als die anderen. Das geschlossene Fenster zu einem finsteren Lichthof war von Tauben verdreckt, und es stank nach Kohlengas. Der amtliche Kohlenofen aus den Tagen Josefs II. rauchte mehr als er brannte. Das war schon immer so gewesen.

Der leitende Kriminalbeamte saß an seinem Schreibtisch und füllte das Dienstbuch aus: »Inspektor Horeschovsky auf Urlaub, Inspektor Wachal krank, Meier und Grüner zur Zentralstreife abkommandiert. Dorotheumsüberwachung Inspektor Tillic, Hauptdienst Gruppe 2.«

Der leitende Kriminalbeamte hörte das Knarren des hölzernen Fußbodens auf dem Gang, das gedämpfte Murmeln der Kriminalbeamten, die sich im Dienstzimmer zum Frührapport versammelten. Er wußte, es war punkt acht, Zeit für den Rapport.

Der zweiundvierzigjährige Kriminalmajor Josef Heller war seit zweiundzwanzig Jahren Kriminalbeamter, aber erst seit zehn Monaten auf diesem Kommissariat. Er haßte es, wie er seit zehn Monaten sein ganzes Leben haßte. Und dieses Gefühl des Hasses war eigentlich das einzige, zu dem er überhaupt noch fähig war. Dabei hatte er dieses Gefühl bis vor zehn Monaten überhaupt nicht gekannt. Im Gegenteil, er war immer ein eher fröhlicher Mensch gewesen, oberflächlich, ein wenig leichtsinnig. Den Annehmlichkeiten des Lebens sehr zugetan. Und vielleicht war es gerade das, was ihn in seinem Beruf so erfolgreich werden ließ. Neunzehn Jahre lang war er der Sonny-Boy der Staatspolizei in der Nachrichtenabteilung gewesen. Liebkind seiner Vorgesetzten. Sicherlich auch sehr tüchtig. Wann immer ein kniffliges Problem zu lösen war, Joschi Heller schaffte es. Oh ja, er war sehr erfolgreich in seinem Beruf gewesen. Zu erfolgreich, wie er heute wußte.

»Gestern zwei Festnahmen wegen Geheimprostitution am Gaudenzdorfer Platz von der Gruppenstreife«, las der diensthabende Gruppeninspektor. Dann sah er den Major an. Eine Pause entstand.

»Was ist?« fragte der Major.

»Chef«, sagte der Gruppenleiter, »wenn wir nicht aufhören mit den Prostitutionsstreifen, werden wir Schwierigkeiten mit dem Koat 15 haben. Die Huren weichen aus in den 15. Bezirk, und die Kollegen dort sind schon sauer.«

Die Prostitutionsstreifen waren Anordnung des Stadthauptmannes, jeder wußte das. Ein sehr ambitionierter Mann, der Herr Stadthauptmann. Es ging über die Kompetenz des Majors, die Streifen zu stoppen. Auch das wußten alle. Der alte Gruppeninspektor hatte aber natürlich recht. Die Huren wurden von den ständigen Streifen aufgescheucht und gingen zwei Straßen weiter in den Nachbarbezirk. Die Streifen waren keine Lösung. Und die Prostitution in Wien war so alt wie die Stadt selber, hatte ihre Tradition.

Alle sahen ihn an. Er mußte irgendeine Entscheidung treffen. Teufel, was gingen ihn die blöden Huren an! Er müßte sagen: Die Streifen werden fortgesetzt, Anordnung des Stadthauptmannes.

»Die Streifen werden fortgesetzt«, sagte er. Die Kriminalbeamten sahen ihn an. Sie hielten ihn nun für einen Duckmäuser, er wußte es. »Die nächsten Streifen sind negativ, klar?« sagte er. Nun murmelten die Kriminalbeamten zustimmend.

»Eine Woche lang täglich Hurenstreifen ohne Festnahmen«, fügte er hinzu. »Ich hoffe, ich bin verstanden worden.« Alle brummten und nickten zustimmend. Zweiundvierzig Kriminalbeamte und eine weibliche Kriminalbeamtin. Eine Woche lang würde der Major die Prostitutionsstreifen im Dienstbuch austragen, eine Woche lang würden die eingeteilten Kriminalbeamten statt auf diese Streife anderswo hingehen, in ein Kaffeehaus, ins Dampfbad, oder einfach nach Hause zu ihren Familien. Der Major würde täglich dem Stadthauptmann berichten, daß alles in Ordnung sei. Die Strichmädchen würden wieder zu ihren Stammplätzen zurückkehren, die gewohnte Ordnung im Gaudenzdorfer Viertel wieder hergestellt werden. Alles würde wieder so sein, wie es immer gewesen war.

Der Gruppeninspektor fuhr mit seinem Bericht fort: Automateneinbrüche in der Schönbrunnerstraße, Auslageneinbrüche am Matzleinsdorferplatz. Der Major hörte nicht hin. Er sah in die gelangweilten, ausdruckslosen Gesichter seiner Beamten.

Ausdruckslose Gesichter.

Jüngere Männer, ältere Männer, schäbige Anzüge, gelangweilte Atmosphäre. Regen klatschte ans Fenster.

Die 15 Watt-Birne brannte traurig und flackerte ein wenig. Es roch nach nassen Kleidern, Zigarettenrauch, nach Dreck und Vorstadt.

Was für ein Scheiß-Beruf, dachte der Kriminalmajor. Was für ein elender, trauriger, hoffnungsloser Beruf. Er dachte das oft in den letzten Monaten, wenn er überhaupt etwas dachte. Er zündete sich eine Zigarette an. Er rauchte zu viel in letzter Zeit.

»Wieder Diebstähle im Theresienbad, Damensauna«, las der Gruppenleiter. Er machte eine Pause. Der Kriminalmajor sah seine weibliche Kriminalbeamtin an: Vierzig Jahre, fett, häßlich, eine tüchtige Kriminalbeamtin. Derselbe Gesichtsausdruck wie ihre männlichen Kollegen: gelangweilt, enttäuscht. Zwanzig Dienstjahre, seit zwanzig Jahren mit dem Häßlichen des Lebens konfrontiert. Der Major schaute sie an. Eine Sauna würde ihr gut tun, dachte er.

»Negativ«, sagte die Kriminalbeamtin. Sie zuckte leicht die Schultern. »Es muß eine von den jungen Fratzen sein, ich kann schließlich nicht jeder auf die Finger schauen.« Sie war schon dreimal diese Woche in der Sauna gewesen, sie hatte keine Lust mehr.

Der Major nickte kaum merklich, der Gruppenleiter fuhr fort:

»Abhängig seit drei Tagen: Rosemarie Swoboda, fünfzehn Jahre alt, Schülerin, 165 cm groß, dunkelblond, war bekleidet mit blauem Mantel, hellbraunem Pullover …«

Sie wird mit irgendeinem Kerl herumziehen, dachte der Major. Mit irgendeinem Strolch. Irgendwann wird sie irgendwo wieder auftauchen. Vielleicht gescheiter, vielleicht wissend, daß das Leben anders ist als in den Schundheftchen, in den Kinos. Vielleicht schwanger, vielleicht geschlechtskrank. Irgendwann wird sie wieder auftauchen. Was wollte sie wohl? Davonlaufen? Flüchten aus ihrer Umgebung? Es gelingt keine Flucht. Wer in der Vorstadt geboren ist, bleibt in der Vorstadt. Der Major war froh, daß er keine Kinder hatte. Gottseidank, das fehlte ihm gerade noch.

Der Gruppenleiter war fertig. Eine leichte Bewegung entstand, ein Sessel wurde gerückt, Zigaretten ausgedrückt. Der Major sah auf seinen Notizblock.

»Kinodienst entfällt heute«, sagte er. »Judotraining fällt morgen ebenfalls aus.« Ein paar murmelten erfreut. »Grüner und Krizek um zehn Uhr im Inspektorat. Weiß auch nicht, warum, irgendeine Personalsache.« Er war nicht neugierig. »Um neun Uhr kommt ein Scheich vom Sicherheitsbüro wegen der gefundenen Damenkleider im Theresienpark. Wer hat den Akt?«

»Ich«, sagte einer, Inspektor Baier.

»Erkennungsdienst?« fragte der Major.

»Negativ«, sagte Inspektor Baier.

»OK. Noch eine Frage?« Der Major erhob sich.

»Chef«, – es war Inspektor Tillic, der Personalvertreter –, »Chef, wir haben gehört, Sie kommen weg vom Koat. Sie kommen zur UNO nach Zypern. Wissen Sie schon, wann? Und wer Sie ablösen wird im Koat? Schließlich geht uns das ja auch was an.«

Alles blickte auf den Major. Heller war überrascht. Er hatte ein Gesuch für eine Zuteilung zur UNO-Friedenstruppe nach Zypern gemacht, schon vor vielen Monaten, noch bevor er zum Koat mußte. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, das Gesuch schon fast vergessen.

»Ich weiß nichts davon«, sagte er. »Nichts Konkretes. Daß ich von hier weg will, wenn’s geht, weiß ja jeder. Woher kommt denn das Gerücht, Tillic?«

»Der Zentralvorstand der Personalvertretung wurde informiert«, sagte Tillic. »Und der Holzer vom Inspektorat soll sie ablösen.« Ein paar brummten unwillig. Kriminalhauptmann Holzer war als junger und sehr ehrgeiziger Mann bekannt.

»So, so«, sagte der Major. »Der Holzer.« Er hatte Mühe, seine Freude, seine Hoffnung zu unterdrücken. Die Leute von der Personalvertretung wußten immer alles zuerst. Vielleicht war was dran. »Ich sage euch Bescheid, wenn ich was weiß.«

Er ging auf sein Zimmer. In zehn Minuten war Rapport beim Stadthauptmann. Die Kriminalbeamten gingen in ihre Büros, Der Arbeitstag im Koat begann. Es war acht Uhr zwanzig. Der Tag begann im Koat 12 wie in allen Polizeikommissariaten der Stadt Wien. Und es regnete und war kalt und unfreundlich an diesem 3. Dezember 1967.

Es war ein paar Tage später. Joschi Heller saß auf einem Hocker in seiner Mansardenwohnung. Es war ein heilloses Durcheinander in dem kleinen Raum. Wäsche lag herum, frisch gebügelte und schmutzige Anzüge, Mäntel hingen über den Sesseln, ein offener Schrank war schon halb ausgeräumt. Zwei Koffer lagen am Boden.

Josef Heller saß in der Mitte des Zimmers, eine halbvolle Flasche Rotwein am Boden neben sich, aus der er von Zeit zu Zeit einen Schluck nahm. Er war vergnügt, trotz des Durcheinanders um ihn herum. Er war fröhlich, zum ersten Mal seit zehn Monaten. Er würde Österreich verlassen, morgen würde er nach Zypern fliegen, zur UNO Polizeitruppe. Alles war in Ordnung. Tillic hatte recht gehabt. Die Gewerkschaftsleute wissen eben alles zuerst. Zwei Jahre würde er wegbleiben. Vielleicht länger. Wer konnte schon wissen, was in zwei Jahren war. Auf zwei Jahre lautete jedenfalls der Vertrag. Der konnte verlängert werden. Zwei Jahre waren eine lange Zeit. Joschi Heller wußte nicht, was für ein Leben ihn in Zypern erwartete, aber er war vergnügt. Nur weg von dieser Stadt, von diesem Land, von diesen Menschen!

Er hatte ein eigentümliches System, sich Überblick zu verschaffen in dieser Unordnung um ihn herum. Alle Dinge, die für ihn jetzt überflüssig waren, die er verschenken, wegwerfen wollte, schmiß er in eine Ecke. Es häuften sich dort Bücher, Briefe, Schuhe, Kleider, ein Berg von Krawatten, – unglaublich, was sich in so einem Haushalt anhäuft, mußte er denken. Haushalt, – nun freilich, man konnte es so nennen. Eine Junggesellenbude eben, seit seiner Scheidung vor zwei Jahren. Die Bude eines alternden Junggesellen. In den letzten zehn Monaten hatte er sich ziemlich gehen lassen, die Wohnung war in einem verwahrlosten Zustand. Überall lagen leere und halbleere Flaschen herum, gefüllte Aschenbecher, Stöße von alten Zeitungen.

Erstaunlich, was zehn Monate aus einem 42jährigen Mann machen können, wenn er sich gehen läßt. Von dem ehemaligen feschen, sportlichen Burschen war nicht mehr viel übriggeblieben. Er hatte Fett angesetzt. Sein Gesicht war aufgedunsen vom Alkohol, die Augen gerötet. Die Haut fast grau, wie eben von Menschen, die selten an die frische Luft kommen. Dem Joschi Heller war das alles gleichgültig. Er wußte es natürlich. Schließlich sah er sein Gesicht jeden Tag beim Rasieren. Und seine Maßanzüge aus besseren Zeiten wurden immer enger. Aber es war ihm eben alles ziemlich wurscht. Er betrachtete eine silberne Zigarettendose, ein ziemlich großes und schweres Ding. Es war ein Geschenk von Barbara, seiner geschiedenen Frau. Er hatte sie nie benützt, er verabscheute solchen Schnick-Schnack. Er warf die Dose in die Ecke zu dem übrigen Kram.

»Mitzi«, sagte er dann, schon zum zweiten Mal, »verscheuer das Zeug oder mach damit, was du willst. Morgen kannst du hier einziehen, die Miete für drei Monate ist vorausbezahlt. Mit dem Besitzer habe ich gesprochen, alles o.k. In drei Monaten mußt du dir selber helfen.«

In einer Ecke auf einer Couch lag eine junge Frau und betrachtete ihn aufmerksam.

»O.k.«, sagte sie und verzog ein wenig das Gesicht. Sie haßte es, mit Mitzi angesprochen zu werden. Sie hieß Maria oder Mary, aber mit dem Joschi Heller war über solche Dinge ja nicht zu reden. »Ich muß dann bald gehen«, sagte sie noch, »mein Dienst fängt um fünf an.« Sie war Kellnerin in einem Lokal gleich um die Ecke.

Es war ihm recht. Er hatte heute noch etwas vor, was für ihn wichtig war. Er trank wieder einen Schluck und schlichtete ein paar Hemden in einen Koffer. Eigentlich überflüssiges Zeug, dachte er. In Zypern durfte er nur Uniform tragen, hatte man ihm gesagt. Die Uniform hing an einem Ständer, taufrisch vom Schneider, die Majorabzeichen glänzten golden. Von Zeit zu Zeit warf er einen besorgten Blick auf diese Uniform. Er haßte Uniformen, seit zwanzig Jahren hatte er keine mehr getragen. Nun, es hatte eben alles seinen Preis.