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Leben wir noch artgerecht? Wir wohnen in anonymen Ballungszentren, schuften in Großbetrieben ohne Bezug zu den Früchten unserer Arbeit, müssen oft dem Job zuliebe auf unsere familiären und heimatlichen Bindungen verzichten - droht uns der Verlust unserer Menschlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes? In den so genannten zivilisierten Ländern westlicher Prägung ist nahezu jeder Vierte psychisch krank; stressbedingte Beschwerden, Depressionen und Burnout-Syndrom sind auf dem Vormarsch. Kein Wunder, findet Evolutionsforscher Prof. Franz M. Wuketits - verlangen doch Beruf und Alltag vom Einzelnen eine Flexibilität, die der menschlichen Natur gar nicht entspricht. Unsere Seelen werden "entwurzelt" - mit unabsehbaren Folgen für den Einzelnen wie für die Kollektive. Eine "artgerechte Menschenhaltung" muss her! Wuketits fordert von Gesellschaft, Politik und Ökonomie, die - teils bahnbrechenden - wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte über das Wesen und die Bedürfnisse des Menschen ernst zu nehmen. Jeder kritische Leser wird in diesem Buch sein eigenes Unbehagen angesichts der Entwicklung unserer Gesellschaft formuliert finden, aber auch anhand konkreter und leicht nachvollziehbarer Beispiele mögliche neue Wege für unsere Zukunft erkennen. Letztlich muss jedem klar werden, dass die Strukturen, die es "aufzubrechen" und neu zu gestalten gilt, auch unserer eigenen Einsicht und Initiative bedürfen. "Wir können nicht in die Steinzeit zurückkehren - aber uns überlegen, wie wir dem 'Steinzeitmenschen in uns' wieder gerecht werden können!" Prof. Dr. Franz M. Wuketits
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Seitenzahl: 260
Franz M. Wuketits
Zivilisation in der Sackgasse
Plädoyer für eine artgerechte Menschenhaltung
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Franz M. Wuketits
Zivlisation in der Sackgasse
Plädoyer für eine artgerechte Menschenhaltung
E-Book (epub): ISBN 978-3-86374-071-9
(Druckausgabe: ISBN 978-3-86374-054-2, 1. Auflage 2012)
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Lektorat: Friederike Lutz, München
Endkorrektorat: Dr. Thomas Wolf, MetaLexis
Gestaltung Umschlag: Kathrin Steigerwald, Hamburg
Gestaltung Innenteil: Sebastian Herzig, Mankau Verlag GmbH
eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim
Was man haßt, ist die Gewalt in der vierten oder fünften Hand. Es ist das Vorzimmer einer Behörde, das schlechte Stimmung erzeugt.
Voltaire
Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muß.
Johann Wolfgang von Goethe
Das auffälligste Kennzeichen für das Pathologische unserer Spezies ist der Gegensatz zwischen ihren einzigartigen technologischen Leistungen und ihrer ebenso einzigartigen Unfähigkeit, ihre sozialen Probleme zu meistern.
Arthur Koestler
INHALT
Vorwort
Einleitung: Wozu dieses Buch?
1.DER GEBORENE NOMADE
Unsere „äffische“ Abkunft
Jäger und Sammler
Afrika und die Besiedlung der Erde
Vorteile der Sesshaftigkeit
2.DAS GEBORENE KLEINGRUPPENWESEN
Wie viele Menschen verträgt ein Mensch?
Ich und der Rest der Welt
Wir und der Rest der Welt
Das kleine vertraute Band
3.DIE ZIVILISATION – EIN IRRTUM DER EVOLUTION?
Vom Nutzen und Nachteil zivilisierten Lebens
Die Kosten der Zivilisation oder die „Verhausschweinung“ des Menschen
Unsere Natur ist nicht zu beschwindeln
Die Zivilisation ist uns einfach passiert
4.DIE VERMASSUNG DES INDIVIDUUMS
Der Massenmensch – Fiktion und Wirklichkeit
Masse und Einsamkeit
Utopien der Menschenzüchtung
Das Elend des Individuums in der verwalteten Welt
5.EINE FATALE BESCHLEUNIGUNG
Ein Jahrhundert verändert die Welt
Das Ende der Langsamkeit
Der Beginn des Geschwindigkeitswahns
Die Stunde der Planer und Macher
6.EINE BESINNUNG AUF DAS „MENSCH-SEIN“
Was will ein Mensch?
Strategien der Entmündigung – gestern und heute
Mythos Globalisierung
Gegenstrategien
7.ARTGERECHTE MENSCHENHALTUNG
Was anderen Tieren zusteht, steht auch Menschen zu
Eine Rebellion ist überfällig
… wobei jede kleine, stille Revolte helfen kann
Habe Mut, dich deiner Gefühle zu bedienen!
Glossar
Literaturverzeichnis
Personen- und Sachregister
In den zivilisierten Ländern westlicher Prägung sind, verschiedenen Quellen zufolge, bis zu fünfundzwanzig Prozent der Menschen psychisch krank. Auch wenn sich eine „psychische Erkrankung“ oft nicht sehr präzise bestimmen lässt – durch Stress bedingte Krankheiten, Depressionen und das Burnout-Syndrom sind deutlich auf dem Vormarsch. Viele Menschen sind in der heutigen maßgeblich vom ökonomischen Imperativ bestimmten Lebenswelt überfordert. Berufs- und Alltagsleben verlangen vom Einzelnen oft ein Tempo und eine Flexibilität, die dem Menschen als Gattung nicht entsprechen. Die neuerdings viel gebrauchte Metapher vom globalen Dorf verwischt die Tatsache, dass der individuelle Mensch als reales Subjekt nicht global, sondern nur in seinem eigenen kleinen Mikrokosmos zu existieren vermag.
Die Evolutionsgeschichte des Menschen umfasst einen Zeitraum von rund fünf Jahrmillionen, für die Entwicklung der technischen Zivilisation im heutigen Sinn reichte praktisch ein Jahrhundert. Zweifelsohne ist der Mensch ein sehr anpassungsfähiges Lebewesen, diesem Umstand verdankt er seinen bisherigen Evolutionserfolg. Aber auch seiner Anpassungsfähigkeit sind Grenzen gesetzt. Die längsten Etappen seiner Evolution verbrachte der Mensch als Jäger und Sammler in kleinen Gruppen, heute leben die meisten Menschen in anonymen Massengesellschaften. Sie flüchten in Millionenstädte, die längst aus allen Fugen zu geraten drohen, arbeiten in Großkonzernen, ohne den „Sinn“ ihrer (obendrein häufig unzulänglich bezahlten) Leistung noch zu erkennen, gehen familiärer Bindungen verlustig und fühlen sich nutzlos und ausgebeutet zugleich. Politik und Wirtschaft nehmen auf das Individuum und seine Bedürfnisse anscheinend überhaupt keine Rücksicht mehr. Das Ergebnis sind „entwurzelte Seelen“. (Wer will, kann hier auch das häufig strapazierte Wort „Identitätsverlust“ verwenden.)
Diese Tendenzen wurden inzwischen natürlich vielerorts erkannt. Das vorliegende Buch soll daher keine Zivilisationskritik im herkömmlichen Sinne sein. Es weist vielmehr den fundamentalen Widerspruch zwischen dem auf, was der Mensch seiner eigenen Natur zufolge ist und was die heutige Zivilisation von ihm verlangt. Vor allem aber zeigt es Wege aus dem Dilemma auf, in welches sich der Mensch in den letzten Jahrzehnten hineinmanövriert hat. Nicht zuletzt soll es die wahre Bedeutung des Individuums und der Individualität hervorkehren. Allerorten sind heute Organisations- und Kontrollmenschen am Werk, an Profit und Kapital orientierte Planer und Macher, die nichts anderes im Sinn haben, als den Einzelnen zu entmündigen und der Möglichkeiten seines Wohlbefindens zu berauben. Ihnen gilt es die Stirn zu bieten – und zwar gerade im Interesse des individuellen Wohlergehens. Schließlich kann es auch einer Gesellschaft nur dann gut gehen, wenn es ihren Individuen gut geht.
Diejenigen von uns, die Sympathien zu Tieren hegen, machen sich längst Gedanken über deren Wohlbefinden und Wohlergehen. Sie plädieren für eine „artgerechte“ Haltung insbesondere unserer Heim- und Nutztiere. Ich plädiere analog dazu für eine „artgerechte Menschenhaltung“. Das bedeutet zuallererst, dass wir die – teils bahnbrechenden – Erkenntnisse über den Menschen ernst nehmen müssen, Erkenntnisse, die in den vergangenen Jahrzehnten in Disziplinen wie Evolutionsbiologie, Verhaltensforschung, Soziobiologie oder Anthropologie über unsere Art zusammengetragen wurden. Solang gesellschaftliche, politische und ökonomische Strukturen an diesen Erkenntnissen vorbeigehen, ist ein weiterer Verlust von „Menschlichkeit“ (im doppelten Sinn des Wortes) vorprogrammiert – mit unabsehbaren Folgen für den Einzelnen wie für die Kollektive. Wir können natürlich nicht in die Steinzeit zurückkehren. Zu überlegen ist aber, wie wir die heutige Lebenswelt gestalten wollen, um dem „Steinzeitmenschen in uns“ gerecht zu werden. Dazu soll dieses Buch einige Impulse liefern.
Es ist ein Sachbuch, gedacht für einen breiten Kreis kritischer Leser, die ihr eigenes Unbehagen darin formuliert finden und dazu ermuntert werden sollen, neue Wege in der Entwicklung unserer Zivilisation zu erkennen. Ich werde sowohl meine Analyse und Kritik als auch meine „Verbesserungsvorschläge“ anhand konkreter Beispiele vortragen, die gut nachvollziehbar sind. Letztlich soll jedem Einzelnen klar werden, dass die Strukturen, die es „aufzubrechen“ gilt, auch seiner eigenen Einsicht und Initiative bedürfen. Man kann dieses Buch auch als einen längeren Essay lesen. Es bietet keine „letzten Wahrheiten“ an, sondern greift Probleme auf, die vielen von uns gleichsam unter den Nägeln brennen, aber nicht „mit einem Schlag“ gelöst werden können. Doch bekanntlich beginnt auch eine Reise von tausend Meilen mit einem ersten Schritt.
Auf den akademischen Fachjargon werde ich daher weitgehend verzichten; wo die Einführung von Fachbegriffen vonnöten ist, sind diese im Text und später im Glossar in aller gebotenen Kürze und Präzision erklärt. Das Glossar verfolgt obendrein den Zweck, dem Leser anhand bestimmter Begriffe weiterführende Informationen zu liefern und einige Begriffe in dem hier speziell verwendeten Sinn zu erklären. Längst unüberschaubar geworden ist die Literatur zu den in diesem Buch angesprochenen Wissensdisziplinen. Das Literaturverzeichnis, nach einzelnen Kapiteln des Buches gegliedert, enthält daher nur diejenigen Arbeiten, auf die ich im Text direkt Bezug genommen oder die ich als Hintergrundinformation benutzt habe. Interessierten Lesern können sie als weiterführende Lektüre dienen.
Noch ein paar Worte zur Gliederung des Buches. Die beiden ersten Kapitel geben einen knappen Abriss unserer Naturgeschichte und der Grundprinzipien, die unsere gesellschaftliche Entwicklung bestimmt haben und nach wie vor unsere sozialen Beziehungen maßgeblich beeinflussen. Das dritte Kapitel befasst sich kritisch mit unserer Zivilisation und zeigt, wie ihre Erfordernisse mit unserer Natur zusammenprallen. Im vierten Kapitel widme ich mich dem geplagten Individuum in unseren Massengesellschaften und einer zunehmend verwalteten und überregulierten Welt. Von der fatalen Beschleunigung, die unsere Zeit kennzeichnet und den Einzelnen überfordert, handelt das fünfte Kapitel, während das sechste Kapitel zur Besinnung auf das „Mensch-Sein“ einlädt (auf melodramatische Effekte werde ich dabei allerdings weitgehend verzichten). Schließlich gebe ich im siebenten Kapitel dem Impuls, der mich dieses Buch zu schreiben veranlasst hat, besonderen Ausdruck und plädiere für eine artgerechte Menschenhaltung.
Ich darf dieses Vorwort mit einer kleinen Episode schließen. Vor ein paar Monaten war ich zu einem Vortrag an der Universität Klagenfurt eingeladen. Auf dem Weg vom Bahnhof zu meinem Hotel und dann zur Universität plauderte ich locker mit meiner Gastgeberin, einer jungen Biologin. Beiläufig bemerkte sie, ihr Vater – Dr. Martin Bertha, ein Arzt – habe gelegentlich gesagt, dass man für eine artgerechte Menschenhaltung plädieren müsse. Unmöglich konnte der gute Mann vom vorliegenden Buch etwas geahnt, geschweige denn gewusst haben. Im Übrigen hatte Frau Aenne Glienke von der Agentur für Autoren und Verlage schon im Vorfeld meiner Überlegungen zu diesem Buch die artgerechte Menschenhaltung ins Spiel gebracht. Das Thema also liegt anscheinend in der Luft. Manchen Lesern werde ich wohl aus der Seele sprechen. Es mag ihnen helfen, ihre eigenen Gedanken zu ordnen, manches in unserer heutigen Lebenswelt aus einer in gewisser Hinsicht vielleicht ungewohnten, aber erhellenden Perspektive zu betrachten und ihr Kritikvermögen zu stärken. Sollte das gelingen, dann ist der Zweck dieses Buches erreicht.
Franz M. Wuketits
Wien, im November 2012
Der Mensch ist aus seiner gewohnten Welt hinausgeworfen in eine fremdartige Umgebung.
Das selbstverständliche Vertrautheitsgefühl mit den umgebenden Menschen und Dingen ist verloren gegangen.
Otto Friedrich Bollnow
Es steht wohl außer Frage, dass Menschen so gut wie in jeder Epoche der Geschichte an ihrer Zeit etwas auszusetzen hatten, mit ihren Lebensumständen unzufrieden waren und sich eine „bessere Welt“ wünschten. Jedes Zeitalter hat seine Mahner und Warner, seine Kritiker und Spötter.
In seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen, entstanden in den Jahren zwischen 1873 und 1876, schrieb Friedrich Nietzsche (1844 bis 1900) Folgendes:
Und nun schnell ein Blick auf unsere Zeit! Wir erschrecken, wir fliehen zurück: wohin ist alle Klarheit, alle Natürlichkeit und Reinheit jener Beziehung von Leben und Historie, wie verwirrt, wie übertrieben, wie unruhig flutet jetzt dies Problem vor unsern Augen! Liegt die Schuld an uns, den Betrachtenden? Oder hat sich wirklich die Konstellation von Leben und Historie verändert, dadurch, dass ein mächtig feindseliges Gestirn zwischen sie getreten ist?
(Nietzsche 1983, S. 43)
Was die heutige Zeit betrifft, würde wohl mancher diese Zeilen nahezu unverändert übernehmen. Allerdings glaubt vermutlich kaum jemand, dass ein „feindseliges Gestirn“ zwischen unsere Gegenwart und Vergangenheit getreten sei. (Freilich gebrauchte auch Nietzsche dabei bloß eine Metapher.)
In der heutigen Zeit – ich meine damit die letzten paar Jahrzehnte – können wir allerdings Phänomene beobachten, für die es in der ganzen Menschheitsgeschichte keine Präzedenzfälle gibt. Der Verlust der historischen Kontinuität ist eines dieser Phänomene. In keiner Epoche war man auf Reformen und Innovationen so versessen wie jetzt. Alles muss verändert, umgebaut, modernisiert, erneuert werden. Ob es sich dabei um das Bildungssystem oder das Postwesen handelt, um Bahnhöfe oder Flughäfen, um Einkaufszentren oder Freizeitanlagen, um Dörfer und Städte – im Abstrakten wie im Konkreten soll möglichst kein Stein auf dem anderen bleiben. Wie Thomas Bernhard (1931 bis 1989) in seinem Stück Heldenplatz den Professor Schuster sagen lässt:
… überall wird alles vernichtet überall wird die Natur vernichtet die Natur und die Architektur alles Bald wird alles vernichtet sein die ganze Welt wird bald nicht mehr wiederzuerkennen sein
(Bernhard 1988, S. 85)
Ja, alles soll in neue Formen gegossen und, wie es so schön heißt, den heutigen Bedürfnissen angepasst werden.
Die „heutigen Bedürfnisse“ sind eine bloße Konstruktion, erfunden von unseren Planern und Machern, die damit ihren eigenen Innovationswahnsinn legitimieren wollen. Das gelingt ganz gut, weil die meisten Menschen diesen Wahnsinn mitmachen und – betäubt von einer dubiosen Fortschrittsideologie – gar nicht wahrnehmen (und nicht wahrnehmen sollen!), dass jene Bedürfnisse nicht ihre eigenen sind.
Das zweite Phänomen ist ein nie dagewesener Größenwahn: Eisenbahnzüge sollen immer schneller, Flugzeuge immer größer, Straßen immer breiter und Bauwerke immer höher werden. Niemand will an Grenzen, die Begrenztheit des Menschenmöglichen denken, alles scheint machbar. Wem aber die Superlative letztlich nutzen sollen, weiß keiner so recht. Auch lässt sich nicht schlüssig begründen, warum alles mit stets höherer Geschwindigkeit erledigt werden und alles kürzer dauern soll.
Damit sind wir beim dritten Phänomen: der Beschleunigung. Der Ausspruch „Alles zu seiner Zeit“ hat heute keine Gültigkeit mehr, weil sich niemand Zeit lassen, Zeit nehmen darf. Der Münchener Philosoph und Pädagoge Karlheinz Geißler, der viel Zeit in dieses Problem investiert hat, spricht treffend von einem „Tempodrom“. Er schreibt Folgendes:
Ungeduld, Unruhe, nervöse Erregung und Gereiztheit wachsen überall dort, wo nicht schnell genug informiert, wo zu langsam gegessen und zu zögerlich verstanden und reagiert wird. Redet ein Gesprächspartner zu langsam, setzt man ihn unter Zeitdruck und vervollständigt die von ihm begonnenen Sätze gleich selbst. Langsamesser, Genießer müssen mit vorwurfsvollen Blicken rechnen und es über sich ergehen lassen, in immer kürzer werdenden Abständen von der Bedienung mit forderndem Unterton gefragt zu werden, ob es ihnen denn wirklich auch schmeckt. Eltern beschimpfen ihre Kinder, die das Lernpensum nicht schnell genug absolvieren, und ermahnen sie, doch nicht ständig so „rumzutrödeln“.
(Geißler 2012, S. 8)
In diesem Tempodrom finden Ruhe und Wohlbefinden keinen Platz. Aber man spricht ja heutzutage auch weniger von Wohlbefinden als von Wellness, das – in Verbindung mit Fitness – schon auf der sprachlichen Ebene jenen Ungeist charakterisiert, dem wir überall begegnen und der uns auf Schritt und Tritt gefährlich überwölbt. Ein kleines Beispiel. Das Kaffeehaus (als Österreicher weiß ich, wovon ich rede) ist ein Ort, der zum Verweilen, zum Lesen, zum Austausch mit Gleichgesinnten und Andersdenkenden einlädt. Jene Lokale aber, die sich Coffee to go nennen (und in unseren Städten neuerdings wie Pilze aus dem Boden sprießen und das gute alte Kaffeehaus mancherorts schon verdrängen), sind das genaue Gegenteil, Symptom eines Zeitalters, das niemandem mehr Muße gönnt. Coffee to go bedeutet ja letztlich doch nichts anderes als „Nimm den Kaffee und verschwinde (nachdem du ihn bezahlt hast)!“
Und noch ein viertes Phänomen ist hier zu nennen: die Regulierungswut. Wo man auch hinschaut, erblickt man heute Verbotsschilder und Warnhinweise, Aufforderungen zum Gehen und Stehen, zum Anstellen und Vortreten … Jedes kleinste Detail unseres Alltagslebens muss in den Augen des Gesetzgebers geregelt werden, vermeintlich im Interesse unserer eigenen Sicherheit und Gesundheit. In Wahrheit geht es freilich um nichts anderes als die Entmündigung des Individuums. Dieses Bestreben ist nicht neu, nimmt aber heute bizarre Dimensionen an, weil die entsprechende Technologie (beispielsweise in Form von Überwachungskameras) verfügbar ist und ständig verbessert beziehungsweise ausgeweitet wird.
Nimmt man diese vier Phänomene zusammen – und wir werden in diesem Buch noch auf weitere eingehen –, erhält man das Spiegelbild einer Zivilisation, die sich auf Kosten des Einzelnen entfaltet, und das mit Riesenschritten. Es ist eine Zivilisation, die den Bedürfnissen des Individuums nicht mehr gerecht wird. Selbstverständlich wurde das Individuum zu allen Zeiten von den jeweils Herrschenden unterdrückt. Aber man sollte meinen, dass zweihundert Jahre nach der Aufklärung und über sechzig Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte der einzelne Mensch tatsächlich mehr zählt als etwa im Mittelalter. Das aber ist mitnichten der Fall. Bloß die „Vorzeichen“ haben sich geändert. An die Stelle der einst allein selig machenden Kirche mit ihrem Totalitätsanspruch in allen Belangen des Lebens sind inzwischen Ökonomen getreten, die mit Politikern eine unheilige Allianz bilden und den Einzelnen nicht mehr sein lassen, was er sein will.
Unsere Natur ist freilich nicht zu beschwindeln. Längst regt sich in vielen von uns das Gefühl, um etwas betrogen zu werden, worauf wir ein Anrecht haben: ein selbstbestimmtes, einigermaßen gutes Leben und ansonsten unsere Ruhe. Natürlich kann ein „gutes Leben“ in der Regel nur mit Arbeit, für die man bezahlt wird, erreicht werden. Doch zielt die heutige Arbeitswelt zunehmend darauf ab, den Einzelnen auszubeuten. Gewiss, in manchen Epochen unserer Geschichte war das nicht anders – wenn man an die Sklaverei denkt, muss man sagen, es war weitaus schlimmer –, aber im 20. Jahrhundert machte sich, einmal abgesehen von den beiden Weltkriegen, doch eine Tendenz zur Verbesserung unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen bemerkbar. Davon ist im Allgemeinen nichts mehr zu spüren. Zwar hat sich der Umgangston geändert (politisch korrekte Sprache!), was aber doch nur jene Brutalität gleichsam abfedern soll, die dem Einzelnen heute allerorten ins Gesicht schlägt. In den Tiefen unserer Seele bleiben die Reaktionen darauf nicht aus. In den Industrieländern westlicher Prägung nehmen psychische Erkrankungen stark zu. Der Erwartungsdruck, dem der Mensch in seinem beruflichen, aber auch privaten Umfeld, ja selbst in seiner Freizeit ausgesetzt ist, drückt manchem schwer auf sein Gemüt. Die moderne Leistungsgesellschaft, die sich auch durch Beziehungsarmut und Einbußen des Kommunikationsvermögens kennzeichnet, fordert ihren Tribut.
Mit anderen Worten, unsere Zivilisation macht uns allmählich krank. Psychologen und Psychotherapeuten haben Konjunktur. Aber niemand, der sich „ausgebrannt“ fühlt, sollte das seine (berufliche) Umgebung wissen lassen. Sonst gilt er schnell als nicht mehr „voll einsatzfähig“, wird als „Versager“ abgestempelt und läuft Gefahr, seinen Arbeitsplatz zu verlieren und nicht mehr in die „Arbeitswelt“ zurückkehren zu können. Ein wahrer Teufelskreis, in den wir uns da mit unserer Zivilisation neuerdings hineinmanövriert haben! Herkömmliche psychologische Erklärungen und darauf gegründete Therapien, die dem Einzelnen helfen sollen, bleiben aber meist nur an der Oberfläche und dienen bloß der Symptom-Bekämpfung. Man muss der Sache schon auf den Grund gehen, was heißen will, die Natur des Menschen ergründen. Unsere psychische Grundausstattung, erworben in vielen Jahrmillionen, ist auf die Erfordernisse dieser Zivilisation nicht zugeschnitten. Wir Menschen sind Resultate langer stammesgeschichtlicher Entwicklungsprozesse, in und mit denen unser affektiver beziehungsweise emotionaler „Haushalt“ ausgeprägt wurde – in einer Welt aber, die gänzlich anders ausgestattet war als die, in der wir heute leben. Wir haben sie uns selbst geschaffen, ohne dass wir je auch nur ahnten, wohin sie uns bringen wird. Sicher gab es schon vor Jahrzehnten warnende und mahnende Stimmen weitblickender Denker; aber die sind heute entweder weitgehend in Vergessenheit geraten oder man will sie nicht mehr hören.
Man verstehe mich nicht falsch. Ich will die Welt und das Leben unserer prähistorischen Ahnen keineswegs romantisieren oder verherrlichen. Das wäre auch gänzlich unangebracht. Aber unser Handeln, Denken, Fühlen und Wollen heute sind nicht unmaßgeblich geprägt von jenen in Äonen zementierten Verhaltensweisen, die unsere Vorfahren im Dienste ihres Überlebens zu entwickeln hatten. Nach wie vor geht es freilich in erster Linie bloß um das Überleben, doch sind die Rahmenbedingungen dafür in kürzester Zeit völlig andere geworden. Der heutige Mensch befindet sich in einem undurchsichtigen Geflecht institutioneller und ökonomischer Erfordernisse, welche die Möglichkeiten seines Überlebens entscheidend mitbestimmen und in gleichem Maße seinen eigenen Handlungsradius einschränken.
Wie ich bereits bemerkt habe, sind vor allem die letzten Jahrzehnte durch eine enorme Entwicklungsbeschleunigung unseres Lebens auf verschiedenen seiner Ebenen gekennzeichnet. Das hängt natürlich mit den modernen Kommunikationstechnologien zusammen, die uns erst in den 1990er Jahren in vollem Umfang zugänglich wurden und die von vielen heute gleichsam wie Rauschdrogen konsumiert werden. Kommunikation und Information, lebenswichtige Elemente unserer Existenz, haben inzwischen eine ins Perverse gesteigerte Qualität erreicht. Nie in der langen Evolutionsgeschichte unserer Gattung hatten so viele Menschen einen so direkten und schnellen Zugang zu so viel Information wie heute, doch nie war die Gefahr einer sehr raschen massenhaften Verdummung so groß wie derzeit. Die Massenmedien (die nicht umsonst so bezeichnet werden) überfluten uns mit sinn- und nutzloser „Information“. Das wäre an sich noch nicht schlimm, würden nicht viele Menschen jeden beliebigen Unsinn glauben und jeder noch so bedeutungslosen Meldung in jedem beliebigen Boulevardblatt allein deswegen Bedeutung zuordnen, weil sie „in der Zeitung steht“. In noch höherem Maße gilt das für das Internet. Die ungeheuren Kommunikationsmöglichkeiten, die uns die moderne Technologie in die Hand gibt, führen letztlich zu einer nie dagewesenen Kommunikationsarmut. Unserer Spezies, die auf Mitmenschlichkeit im kleinen Kreis angelegt ist, werden sie nicht gerecht. Aber vielleicht auch ist diese Spezies, durch ihr eigenes Zutun, zur Verdummung verurteilt …
Ich bitte den Leser um Geduld, auf alle hier angesprochenen Kennzeichen unserer Gegenwart wird noch ausführlich zurückzukommen sein, und ich werde es nicht bei bloßen Andeutungen bewenden lassen.
Aber wozu eigentlich dieses Buch? Die Antwort darauf kann schon aus dem Vorwort herausgelesen werden. Ergänzend dazu sei hier noch betont, dass es mir auch darum geht, die Tragweite des modernen Evolutionsdenkens aufzuzeigen. Wenn wir unsere lange Evolutionsgeschichte und die Prozesse, die sich dabei abgespielt haben, ernst nehmen, dann lässt sich schließlich die große Frage beantworten, warum wir Menschen so sind, wie wir sind. Und es lässt sich plausibel machen, dass die heutige Zivilisation diesem unseren „So-Sein“ immer weniger gerecht wird.
Der Mensch war für alle Klimate und für jede Beschaffenheit des Bodens bestimmt; folglich mussten in ihm mancherlei Keime und natürliche Anlagen bereit liegen.
Immanuel Kant
Rund sieben Milliarden Menschen bevölkern heute die Erde. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung weltweit um derzeit über 80 Millionen Menschen pro Jahr. Menschen tummeln sich vorwiegend in Ballungszentren, in Millionenstädten und sogenannten Megastädten, aber man findet sie auch nach wie vor in kleinen Siedlungen; sie bewohnen warme und kalte Regionen und vermögen selbst unter unwirtlichsten Bedingungen (zum Beispiel in der Nordpolregion) zu überleben. In den Jahrmillionen ihrer Evolution haben sich Menschen beziehungsweise „Menschenartige“ allmählich auf allen Kontinenten ausgebreitet und sind heute die einzige Primatenart mit weltweiter Verbreitung. Nur in der Antarktis haben sie sich nicht auf Dauer niedergelassen (Spuren hinterlassen haben sie allerdings auch dort). Dabei begann alles sehr bescheiden. Unsere ältesten Ahnen blieben zunächst auf den afrikanischen Kontinent beschränkt und lebten dort ziemlich unauffällig in Uferwäldern, wo sie sich von Pflanzen und kleineren Tieren ernährten. Später gewann vor allem die Jagd auf größere Tiere an Bedeutung. Schließlich, gemessen mit evolutionären Zeitmaßstäben erst vor Kurzem, wurden Menschen sesshaft und begannen Siedlungen zu bauen – und es wurde ein Prozess in Gang gesetzt, für den es in der Evolutionsgeschichte keine Präzedenzfälle gibt.
Das vorliegende Kapitel soll Lesern ohne nennenswerte anthropologische und evolutionsbiologische Vorkenntnisse wichtige Hintergrundinformation liefern. Es behandelt – in sehr gedrängter Form – die Herkunft und Entwicklung des Menschen und die Lebensweise unserer steinzeitlichen Ahnen. Wer aber über die Evolution des Menschen bereits hinreichend unterrichtet ist, kann dieses Kapitel getrost überschlagen. Allerdings liefert es Grundlagen für Argumente, die in späteren Kapiteln des Buches noch ihre Rolle spielen werden.
Der heutige Mensch, Homo sapiens, ist eine von rund dreihundertfünfzig heute noch lebenden Arten der Säugetierordnung Primaten („Herrentiere“). Seine nächsten Verwandten sind Schimpanse, Bonobo (Zwergschimpanse), Gorilla und Orang-Utan. Spätestens seit Charles Darwin (1809 bis 1882) ist an der „äffischen“ Abkunft des Menschen ebenso wenig zu zweifeln wie daran, dass der Mensch „in seinem Körperbau immer noch die unaustilgbaren Zeugnisse seines niedrigen Ursprungs erkennen läßt“ (Darwin 1871 [1966, S. 274]). Aber, so ist gleich hinzuzufügen (und Darwin wusste es bereits sehr gut), auch in seinem Verhalten und Handeln, seinem Denken, Fühlen und Wollen schleppt der Mensch nach wie vor seinen „äffischen“ Ursprung mit sich herum. Der Affe sitzt ihm fest im Nacken, er kann seine eigene Herkunft und Vergangenheit nicht einfach abstreifen. Das ist aus evolutionsbiologischer Sicht eigentlich nicht weiter aufregend, weil auch alle anderen Arten ihre stammesgeschichtlichen „Bürden“ nicht abwerfen können. Aber uns Menschen betrifft dieser Umstand in besonderem Maße; und manchen macht er betroffen, denn es ist nach wie vor nicht jedermanns Sache, seine Spezies bloß als ein Glied in der langen „Tierkette“ zu wissen.
Noch bevor Darwin – auf der Basis umfassender Befunde aus verschiedenen ihm zugänglichen wissenschaftlichen Disziplinen – den Menschen in die Evolution der Tierwelt einreihte und seine enge Verwandtschaft mit dem Schimpansen und dem Gorilla herausstellte, hatten schon zwei andere Naturforscher Klartext gesprochen: der Engländer Thomas H. Huxley (1825 bis 1895) und der Deutsche Ernst Haeckel (1834 bis 1919). Beide waren, im Gegensatz zu Darwin (dem zurückhaltenden „Revolutionär“), sehr beredte und streitbare Geister; Huxley war Darwins großer Fürsprecher und Verteidiger in seiner Heimat („Darwins Bulldogge“), Haeckel sorgte für die Verbreitung der Ideen Darwins in Deutschland. Beide erschütterten den in unserer Geistesgeschichte tief verwurzelten Glauben an die „Sonderstellung“ des Menschen in der Natur. Daran halten noch viele unserer Zeitgenossen fest. Nimmt man aber die Ergebnisse der modernen Anthropologie und Primatenforschung ernst, dann muss man zugeben, dass sich die Grenzen zwischen dem Menschen und seinen nächsten Verwandten mehr und mehr verwischen.
Selbstverständlich kann niemand leugnen, dass sich der Mensch allein schon in anatomischer Hinsicht (aufrechter Gang, stark vergrößertes Gehirn) von den übrigen Primatenarten durchaus unterscheidet (und natürlich auch von allen anderen Säugetierarten, vom großen Rest des Tierreichs ganz zu schweigen). Und in praktisch allen kognitiven Leistungen (Denkvermögen, Lernen, Sprache) ist der Mensch sämtlichen anderen Arten weit überlegen. Aber wie der Neurobiologe Gerhard Roth betont, lässt sich daraus keine wirkliche Einzigartigkeit ableiten,
denn beim Menschen gibt es nichts, was nicht in einigen Vorstufen bei nichtmenschlichen Tieren bereits vorhanden ist. Vielmehr zeichnet sich der Mensch durch eine Kombination von Merkmalen aus, die für seine Lebens- und Überlebensbedingungen äußerst vorteilhaft waren wie der aufrechte Gang, der Handgebrauch, eine hohe allgemeine Intelligenz und schließlich eine besonders effektive Form sprachlicher Kommunikation.
(Roth 2010, S. 393 f.)
Außerdem bleibt festzuhalten, dass die „menschliche Eigenart“ schon deswegen nichts Einzigartiges ist, weil sich jede Spezies in einer mehr oder weniger großen Anzahl von Merkmalen von allen anderen unterscheidet. So gesehen könnte auch der Blauwal – wenn er denn könnte – eine Sonderstellung in der Natur für sich reklamieren, nämlich wegen seiner enormen Körpergröße und seines ebenso enormen Körpergewichts. Und wie einzigartig müsste sich, wenn er sich darauf besinnen könnte, der australische Koala oder Beutelbär mit seinem unverwechselbaren Aussehen vorkommen, welches noch von seiner spezifischen Ernährungsweise (dem Fressen von nährstoffarmen, für die meisten Pflanzenfresser unbekömmlichen Eukalyptusblättern) flankiert wird …
Es sollte überflüssig sein zu bemerken, dass weder Darwin noch irgendein anderer ernsthafter Evolutionsforscher behauptet hat, der Mensch stamme von einer der heutigen Affenarten ab. Vielmehr war stets von gemeinsamen Vorfahren die Rede. Aus heutiger Sicht ist davon auszugehen, dass sich die Evolutionslinien des Schimpansen, des Gorillas und des Menschen vor etwa acht bis fünfeinhalb Jahrmillionen getrennt haben und die zum Orang-Utan führende Linie noch einige Millionen Jahre früher ihren Anfang nahm. Funde von entsprechenden Fossilien aus neuerer Zeit legen nahe, dass Menschen – Hominini im Sprachgebrauch der modernen Paläoanthropologie – also ein stammesgeschichtliches Alter von über fünf Millionen Jahren aufweisen. Charakteristisch für Menschen war dabei von Beginn an der aufrechte Gang, die Bipedie, also die Fortbewegung auf nur zwei – den hinteren – Extremitäten. Der Erwerb des aufrechten Ganges kann freilich nicht über Nacht erfolgt sein, sondern muss sich – hier fast wörtlich gesagt – schrittweise vollzogen haben, wie in der Entwicklung eines Kindes, allerdings in viel größeren Zeiträumen. Prähistorische Primaten, die sich ähnlich den heutigen Schimpansen zumindest vorübergehend allein auf den hinteren Extremitäten fortbewegen konnten, haben wohl die Anfänge dieser Lokomotionsform markiert. Im Übrigen ist es natürlich schwer, Menschen von anderen prähistorischen Primaten scharf abzugrenzen. Wir haben es hier mit fließenden Übergängen zu tun. Aber die Hominisation oder Menschwerdung im engeren Sinn erfolgte offenbar mit der Entwicklung der zweibeinigen Fortbewegungsweise. Ein weiteres ihrer charakteristischen Merkmale ist die auffallende Vergrößerung des Gehirns, die vor allem auf dem Niveau der Gattung Homo (siehe unten) beschleunigt einsetzte und vermutlich durch eine maßgebliche Verbesserung der Ernährungssituation gefördert wurde. Das Gehirn nämlich benötigt im Vergleich zu seiner Größe beziehungsweise seinem Volumen sehr viel Energie. Man muss aber umgekehrt auch davon ausgehen, dass der Mensch mit der Vergrößerung seines Gehirns und mithin einer Steigerung seiner kognitiven Leistungen seine Ernährungssituation verbesserte. Denn er war imstande, immer effizientere Techniken der Nahrungsbeschaffung und schließlich Nahrungszubereitung (Kochen, Garen) zu entwickeln.
Insgesamt hat man sich den Prozess der Menschwerdung als einen komplexen Vorgang der Wechselwirkung verschiedener Faktoren vorzustellen, die voneinander nicht zu trennen sind. Es ist also müßig darüber zu streiten, was den Menschen eigentlich zum Menschen gemacht hat. Sicher hat die Vergrößerung seines Gehirns – von ursprünglich etwa vierhundert Kubikzentimetern auf mehr als das Dreifache innerhalb von rund zwei Jahrmillionen – den Menschen zu ganz entscheidenden Innovationen befähigt. Das Gehirn ist der Sitz unserer Persönlichkeit, unseres jeweils spezifischen (individuellen) Denkens, Fühlens und Wollens. Aber der Prozess der Gehirnentwicklung ist in ein komplexes Faktorengefüge eingebettet. Er hängt mit anatomischen Änderungen ebenso zusammen wie mit ökologischen Anforderungen, klimatischen Umständen und sozialer Konkurrenz. Die Evolution des Menschen insgesamt war also kein geradliniger Vorgang, sondern ein sehr komplizierter Prozess, der sich auf vielen verschlungenen Pfaden vollzogen hat.
Wenig umstritten ist, dass Menschen in langen Etappen ihrer Evolution nomadisierend als Jäger und Sammler gelebt haben. Der aufrechte Gang erwies sich bei der Jagd zweifelsohne als erheblicher Vorteil. Als nicht geringer aber ist jener Vorteil einzustufen, den die von der Fortbewegung befreiten Vorderextremitäten dem Menschen boten. Unsere Hände sind universell brauchbare Instrumente. Wir können uns mit ihnen nicht nur festhalten, sondern sie erweisen uns bei der Handhabung von Gegenständen unschätzbare Dienste. Sie erlauben uns, die Feder zu führen, einen Stein mit Meißel und Hammer zu bearbeiten, Klavier zu spielen und vieles mehr. In Verbindung mit einem immer größer werdenden Gehirn und mithin wachsenden Intelligenzleistungen dienten die Vorderextremitäten dem prähistorischen Jäger und Sammler zur Herstellung von immer effizienteren Werkzeugen. Diese ermöglichten ihm, wie gesagt, die Nahrungsbeschaffung und später durch den Gebrauch des Feuers auch die Zubereitung von Nahrung und wirkten sich positiv auf die Bewältigung seines Lebens aus. In der Konkurrenz mit Raubtieren um Beute brachten Waffen wie Steinschleudern oder Speere dem Menschen entscheidende Vorteile. Während beispielsweise Löwen, Tiger, Wölfe oder Bären ihre Beute nur in direktem Kontakt zu ihr und mittels ihrer Pranken und Zähne schlagen können, vermag der Mensch mit Waffen, also gewissermaßen außerkörperlichen Organen, seine Beute aus der Distanz zu erlegen. Obendrein dienen ihm seine Waffen dazu, sich die Raubtiere einigermaßen vom Hals zu halten und so in der Konkurrenz mit ihnen um Nahrung Vorteile zu gewinnen.
Die lange Zeit beliebte These, dass der Mensch von Anfang an ein Jäger gewesen sei und die Jagd seine weitere Evolution gleichsam determiniert habe, ist allerdings nicht mehr haltbar. Vieles spricht dafür, dass die ältesten Hominini in (feuchten) Uferwäldern lebten, die ihnen ein relativ breites Nahrungsspektrum boten: neben verschiedenen Pflanzen beziehungsweise Früchten leicht zu fangende, im Wasser lebende Tiere (zum Beispiel Krebse). Temporär und saisonal bedingt werden sie ihre Biotope aber auch verlassen haben, um sich nach weiteren Nahrungsressourcen umzusehen. Es ist ein lange gehegtes, ein wenig romantisch verklärtes Bild: Ein vierbeiniger, auf Bäumen kletternder Affe stieg von den Bäumen herunter, trat aus dem Wald in die Savanne und richtete sich allmählich auf, womit er zum Menschen wurde. So einfach war es sicher nicht. Die Hominisation erfolgte in verschiedenen Etappen. Unsere ältesten menschlichen Ahnen waren der Bipedie zwar mächtig, beherrschten aber das Klettern noch sehr gut und begaben sich gern auf die Bäume zurück (wo sie auch, noch nicht mit wirkungsvollen Werkzeugen ausgerüstet, Schutz vor manchen Feinden fanden). Der Hang zum Klettern ist uns erhalten geblieben. Welches Kind klettert nicht – wenn man es denn noch lässt! – auch heutzutage gern auf einen Baum …
Kaum zu bestreiten ist jedoch, dass der Mensch während eines beträchtlichen Zeitraums seiner Evolutionsgeschichte, über zwei Millionen Jahre, nomadisierend als Jäger und Sammler gelebt hat. Er ist also der geborene Nomade. Besser sollte man vielleicht sagen: Halbnomade. Denn es liegt nahe, dass sich die steinzeitlichen Jäger und Sammler vorübergehend auch niedergelassen haben, und zwar vor allem an Orten, die ihnen ausreichende Nahrungsressourcen boten. Es wäre ja eine Verschwendung von Energie gewesen, herumzuwandern, wenn das zum Fressen Benötigte in unmittelbarer Umgebung zumindest saisonal verfügbar und das Aufspüren von Ressourcen in größerer Distanz mit Unwägbarkeiten verbunden war. Und man kann mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen: Nichts lag unseren steinzeitlichen Ahnen ferner, als überflüssige Anstrengungen zu unternehmen oder sich unnötigen Risiken auszusetzen. Ihr Leben war ohnedies hart genug. Die auf die Antike zurückgehende Vorstellung eines „goldenen Zeitalters“ irgendwann in grauer Vorzeit und die noch von Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778) vertretene und verteidigte Idee, dass im „Naturzustand“ alles gut gewesen sei und der Mensch in seinem Urzustand glücklich gelebt habe, sind schöne Märchen. Dagegen stellte bereits der Arzt und Philosoph Ludwig Büchner (1824 bis 1899), der populärste Vertreter des Materialismus seiner Zeit, treffend Folgendes fest: