Zodiac Love: Infinity in Our Hearts - Andreas Dutter - E-Book
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Zodiac Love: Infinity in Our Hearts E-Book

Andreas Dutter

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Beschreibung

Manchmal muss man für die Liebe nach den Sternen greifen ... »Zodiac Love: Infinity in Our Hearts« ist eine berührende, wunderschöne Second-Chance-Liebesgeschichte und Teil 3 der queeren New-Adult-Reihe »Zodiac Love« von Andreas Dutter.  Nach einigen schweren Enttäuschungen hat Robin der Liebe endgültig abgeschworen und konzentriert sich voll und ganz auf seinen Job im luxuriösen Royal Hotel in Cork. Doch eines Tages hängt dort ein Plakat, das den Star-Astrologie-Podcaster Brodie Merrick ankündigt – der Robin vor Jahren das Herz gebrochen hat. Jetzt wird Brodie nicht nur am University College Cork Astrologie-Seminare geben, er soll während seiner Lehrtätigkeit auch im Royal Hotel wohnen. Die Sterne meinen es offenbar gar nicht gut mit Robin … Immer tiefer verstrickt er sich in ein Netz aus Lügen, bis schließlich einfach alles auf dem Spiel steht: Robins Karriere, sein Ruf – und sein Herz ... In seiner queeren Liebesroman-Reihe»Zodiac Love« erzählt Own-Voice-Autor Andreas Dutter Liebesgeschichten zum Träumen, in denen die Astrologie eine wichtige Rolle spielt. Wer bin ich? Wer möchte ich sein? Können die Sterne mir dabei helfen, mich selbst besser zu verstehen? Und vor allem: Können Skorpion und Zwilling glücklich miteinander werden? Diese Fragen treiben Robin und Brodie im dritten Band der Reihe um.  Die New-Adult-Romane von Andreas Dutter sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Zodiac Love: Starlight in Our Dreams (Felix & Owen) - Zodiac Love: Hope in Our Universe (Quinn & Takeru) - Zodiac Love: Infinity in Our Hearts (Robin & Brodie)

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Seitenzahl: 530

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Andreas Dutter

Zodiac Love

Infinity in Our Hearts

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Nach einigen schweren Enttäuschungen hat Robin der Liebe abgeschworen und konzentriert sich voll und ganz auf seinen Job im luxuriösen Royal Hotel in Cork. Doch dann kommt eines Tages sein Ex, der charismatische und allseits beliebte Star-Astrologie-Podcaster Brodie Merrick, für einige Zeit im Hotel unter. Niemand weiß, dass er Robin das Herz gebrochen hat. Und nun soll ausgerechnet Robin sich um sein persönliches Wohlbefinden kümmern. Emotional überfordert verstrickt sich Robin in ein Netz aus Lügen, bis irgendwann alles auf dem Spiel steht: Robins Karriere, sein Ruf – und sein Herz …

Der dritte eigenständige New-Adult-Roman der queeren Zodiac-Love-Reihe von Own-Voice-Autor Andreas Dutter. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Content Note

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Danksagung

Liste sensibler Inhalte / Content Notes

Bei manchen Menschen lösen bestimmte Themen ungewollte Reaktionen aus. Deshalb findet ihr am Ende des Buches eine Liste mit sensiblen Inhalten.

Für alle, die diese Repräsentation gerade brauchen. Für alle, die für sie kämpfen. Für alle, die sie unterstützen.

Kapitel 1

Robin

Oft verstehe ich mich selbst nicht. Egal wie tief ich in mich reinhorche oder so. Ein Geburtshoroskop wird anhand der Daten rund um die Geburt (Tag, Monat, Jahr, Uhrzeit und Ort) und unter Berücksichtigung von Planeten, Sternzeichen und weiteren Details erstellt. Dadurch entsteht eine personalisierte Karte. Vielleicht kann sie mir helfen, einen Plan von mir selbst zu bekommen?

Wo landeten all unsere Wünsche? Wer führte über sie Buch? Und wer entschied, wem sie erfüllt wurden?

Wer auch immer dafür verantwortlich war, mich hatte diese Person offenbar nicht auf dem Schirm. Oder war ich ein zu schlechter Mensch? Denn wenn ich meine Freunde Felix und Quinn beobachtete, wie sie vor mir hergingen – wahrscheinlich mit einem Lächeln samt Grübchen und einem Strahlen in den Augen –, fühlte ich mich wie der Schatten, der ihnen folgte. Ein Schatten, der im Leben anderer präsent, aber nicht wirklich da war. Nicht greifbar.

»Robin?« Quinn warf einen Blick über seine Schulter, und das Sonnenlicht glitzerte auf seinem braunen Mittelscheitel. »Was meinst du? Ist der Besuch einer Horror-Bowling-Bahn am helllichten Tag ein No-Go?«

Breit grinsend wirbelte Felix herum und ging rückwärts weiter. »Sag ja nichts Falsches.« Seine Augen verformten sich zu leuchtend grünen Halbmonden.

Manchmal ermüdeten mich solche Gespräche. In meinem Kopf tobte fast ununterbrochen ein Kampf zwischen Licht und Dunkel. Was würde ich dafür geben, mir auch einmal über solche belanglosen Dinge Gedanken machen zu können.

»Keine Ahnung?« Meine Hände rutschten in meine Hosentaschen. »Muss jeder selbst entscheiden.«

Quinn und Felix schüttelten schmunzelnd ihre Köpfe und drehten sich wieder nach vorne. Ohne dass sie etwas sagen mussten, erahnte ich ihre Gedanken. Typisch Robin. Ständig wortkarg, und alles ist ihm egal.

»Ich finde«, Felix verschränkte die Arme hinterm Kopf, »der richtige Vibe dafür ist nachts.«

Sosehr ich mir wünschte, solche Belanglosigkeiten würden auch mein Leben dominieren und weniger all die kreisenden, runterziehenden Gedanken, die es sonst überschatteten … sosehr genoss ich – okay, ich versuchte, es zu genießen –, das mit anzuhören. Denn bald würde es ziemlich ruhig in meinem Leben werden. Meine Leute hatten nämlich fast alle zeitgleich beschlossen, Cork aus den unterschiedlichsten Gründen zu verlassen. Nicht für immer. Ein paar Wochen. Nur …

Versteht mich nicht falsch. Ich liebe Ruhe. Es ist sogar in meinen Top drei von Dingen, die ich liebe. Aber Ruhe bedeutete auch, all die bohrenden Fragen in meinem Kopf würden lauter. Waren kein Rauschen mehr, sondern, na ja, wieder ein Bohren.

»Aber die Horror-Bowling-Bahn liegt doch in einem abgedunkelten Raum. Würde ich dich niederschlagen und du dort aufwachen, wüsstest du nicht, wie spät es ist.« Quinns übergroßes Shirt mit dem Murphy’s & Okai’sClassy Outfittery For You-Logo flatterte im irischen Wind. Erst vor einem halben Jahr hatte er diesen Laden von seinem Vater übernommen und leitete ihn nun mit seiner besten Freundin Nala. Seitdem trug er dieses Oberteil beinahe öfter als sein geliebtes Prinzessin-Diana-Shirt. »Nicht, dass ich das vorhätte«, fügte Quinn hinzu, nachdem er von Felix einen skeptischen Blick geerntet hatte.

Ein wenig schmunzelte ich – natürlich nur innerlich. Ein Gedanken-Schmunzler vom imaginären Robin meiner Vorstellung. Bald würde ich das alles nicht mehr hören. Nicht mehr mitbekommen. Denn Felix und die anderen hatten alle in kleinen Grüppchen Reisen geplant. Felix und Owen wollten die Zeit nutzen, bis Owen einen Job hatte und Felix mit dem Studium fertig war. Ró durfte für ein paar Wochen an einem Seminar in Amerika teilnehmen, bei dem es um neue Erkenntnisse in der Medizin ging, was Transitions für trans Menschen betraf. Und Nala, Yoshi, Henry und Cara waren ohnehin schon weg, alle. Wenigstens Quinn blieb noch und vermittelte mir das Gefühl, die Cork-Gang nicht völlig zu verlieren.

»Normalerweise lasse ich mich nicht k.o. hauen, bevor ich meine Freizeit plane. Ich bleib dabei, Horror-Bowling wird nachts gemacht. Und –« Felix blieb abrupt stehen. Ich lief direkt in ihn hinein, roch sein holziges Vanille-Kamille-Moschus-Parfüm. Das letzte Mal, dass ich diesen Duft so intensiv wahrgenommen hatte, war bei unserem Date vor zwei Jahren gewesen.

»Hey, wieso bleibst du einfach stehen?« Ich warf einen Blick an Felix vorbei und erkannte nichts. Nichts bis auf eine Straßenlaterne voller Flyer, Harry-Styles-Graffiti und Haustier-vermisst-Plakaten.

Ich sah zu Quinn. »Weißt du, was mit ihm ist?«

Ein Wagen hielt in diesem Moment auf Höhe von Felix. Der dahinter bremste scharf ab und hupte, bis der Motor des ersten aufheulte und der Mann darin weitersauste. Benzingeruch stieg mir in die Nase. Ich pustete die Abgase weg. Da merkte ich erst, dass Quinn auch nicht reagierte.

»Was ist denn mit euch los? Warum seid ihr alle wie zu Eis erstarrt?« Genervt fing ich Quinns Blick ein und schob meinen Kopf vor seinen.

»Ähm.« Quinn blinzelte sich ins Hier und Jetzt zurück. »D-Da.«

Meine Augen folgten seinem Zeigefinger, und ich spähte in die Richtung, die er mir vorgegeben hatte. Was sollte dort sein? Eine Bushaltestelle vor einem Brunnen. Der Zeitungskiosk, vor dem jemand bunte Regenschirme an die Reisenden verkaufte. Ein Wegweiser, der den Weg zu meinem Arbeitsplatz, dem Royal Hotel Cork, zeigte. Eine Plakatwand, die den berühmten Astrologie-Podcaster Brodie ankündigte. Eine Gruppe Kinder, die ein Handy gegen einen Mülleimer gelehnt hatten und einen TikTok-Tanz nachmachten. Eine Straßenmusikerin, die dort seit Jahren saß und wie viele andere das Stadtbild Corks prägten. Und … Moment. Was?!

»Nein …« Schwindel überkam mich. Mein Sichtfeld schrumpfte, und ich taumelte ein paar Schritte zurück. »Das. Das. Das.«

»Das ist die beste Nachricht meines Lebens.« Felix tastete zur Seite und packte Quinns Hand. »Träume ich? Sag, Quinn, träume ich? Ist das echt Brodie? Er kommt nach Cork?«

Quinn nickte, was Felix natürlich nicht sah. »J-Ja. Beim Universum, er ist es. Das ist ja unfassbar.«

»Ja! Vor allem, da er genau jetzt kommt, wenn ich bald mit Owen verreise …« Felix’ freudige Stimme wurde zu einem Brummen. »Oh Mann. Aber vielleicht erwische ich ihn ja noch kurz vorher.«

Mein Magen drehte durch. Mir stieß es sauer auf. Weiter und weiter stolperte ich zurück, bis mich das Schaufenster eines Ladens aufhielt. Das Atmen fiel mir schwer. Als presste sich ein Geist gegen meine Brust. Das konnte nicht wahr sein. Unsichtbare Finger legten sich um meinen Hals und drückten zu.

»Robin?« Quinn wich einem Fußgänger aus. Er näherte sich mir mit geschockten Rehaugen, bis er vor mir hielt. »Was ist los?«

»Robby?« Felix erschien neben Quinn. »Geht es dir nicht gut?«

Ihre besorgten Blicke schnitten mir nur umso mehr die Luft ab. Nicht nur konnte ich das Mitleid in ihren Augen nicht ertragen. Mir wurde die Gesamtsituation zu viel. Da war zu viel von allem. Zu viel, was sie über mich herausfinden konnten. Zu viel, das mich bloßstellen könnte.

Einen Moment gönnte ich mir und rang nach Atem. »Nichts, sorry.« Räuspernd schüttelte ich den Kopf und richtete mich auf. »Zu wenig getrunken und die Hitze.«

Felix und Quinn sahen sich an. »Hitze? Du weißt schon, dass wir in Cork leben und es September ist?«

»Schon zu viel für mich.« Meine Mundwinkel hoben sich ein wenig. »Geht wieder. Ich drehe einfach um und werde mich ein wenig hinlegen, ja?«

»Willst du nicht mehr mit ins Milky’s?« Der vegane Milchreis im Milky Feather Café war zwar unschlagbar, und ich verpasste nur ungern, wie Felix seit zwei Jahren jedes Mal den falschen serviert bekam und sich dann nichts zu sagen traute, aber ich musste weg von hier. Alleine sein. Mein Gedankenkarussell zum Stillstand bringen.

»Nee, nächstes Mal.« Ich rückte meine Mütze zurecht und wandte mich um.

»Okay, dann schreib uns, wenn du zu Hause bist«, sagte Quinn.

»Genau, und ruh dich aus«, warf Felix hinterher.

Im Gehen hob ich meine Hand und winkte ihnen nach hinten zu. »Bye.«

Die Hauptstraße ließ ich hinter mir, und ich riss mich noch ein paar Seitengassen lang zusammen, bevor ich am River Lee ankam. Neben einer Brücke wandelte ich einen Trampelpfad hinunter und stieg voller Konzentration über die Stolpersteine zum Ufer. Dort angekommen, ließ ich mich ins Gras fallen und blickte in den grau gewordenen Himmel. Die Wolken hatten die Sonne verschluckt, passend zu meiner Stimmung. Sie zogen so rasch weiter, dass ich glaubte, in einem Zeitraffer festzustecken.

Meine Finger fühlten sich kalt auf meiner Haut an, als ich sie an meinen Hals legte. Mein Puls raste. Er hatte sich noch nicht beruhigt. Wie auch? Brodie wagte es tatsächlich, zurück nach Cork zu kommen.

Dieser … Dieser … Dieser …

Ja, was? Mir fiel kein Wort für ihn ein.

Ich atmete tief ein. Hielt die Luft an. Vögel sausten an mir vorbei. Dann atmete ich langsam aus. Der Fluss, der sich mitten durch Cork zog, rauschte heute lauter als sonst. Als ob sich etwas anbahnen würde, und ich fühlte es.

Quinns und Felix’ Gesichter verfolgten mich. Ihre Freude schnitt mein Herz entzwei.

»Wenn die wüssten«, wisperte Vergangenheits-Robin verschwörerisch aus dem tiefsten Winkel meines Unterbewusstseins.

Dann. Ja, dann. Was dann? Dann wäre ich wieder bemitleidenswert. Der arme Schwächling. Auf keinen Fall würden sie irgendetwas darüber erfahren.

Ein Grashalm kitzelte mich an meinem Ohr und holte mich in die Realität zurück. Ein wenig rutschte ich zur Seite und griff links und rechts von mir ins Gras. Packte zu. Spürte, wie sich meine Nägel in die vom nächtlichen Regen feuchte Erde bohrten, der Dreck sich unter ihnen festsetzte.

Brodie kam zurück nach Cork.

Ich riss den Boden neben mir auf und schmiss die Erdklumpen in hohem Bogen in den Lee. Wieso? Wieso bestrafte das Universum mich damit? Jetzt, wo ich doch gerade das Gefühl hatte, auf einem guten Weg zu sein. Langsam bewegte ich den Kopf von links nach rechts. Mein Hinterkopf rieb an einem winzigen Stein. Der sanfte Schmerz half mir, das Jetzt zu fühlen. Das konnte doch alles nicht wahr sein.

Über mir verschmolzen die Wolken zu Brodies Gesicht. Höhnisch blickte er auf mich hinab. Wie er es immer getan hatte. Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche und brachte Brodies imaginäre Wolkenfratze zum Verpuffen.

Nicht jetzt. Ich konnte das jetzt nicht.

Brodie in Cork. Quinn und Felix sowie alle anderen würden ausrasten. Quinn und Felix, die beide in glücklichen Beziehungen steckten und mich für ihre jetzigen Partner sitzen gelassen hatten. Sie alle jubelten ihm zu. Brodie, der mich mehr verletzt hatte, als jede Metapher es beschreiben könnte.

 

Später in meiner Einzimmerwohnung konnte ich endlich wieder ich sein. Kompromisslos. Ohne Angst vor Beurteilung. Vor Blicken. Vor Demütigung. Konnte die Maske vom Alltags-Robin ablegen. Warum ich sie aufsetzte? Weshalb sich Ich-sein wie die größte Überwindung anfühlte? Keine Ahnung. Also, klar hatte ich eine Ahnung, doch ich wollte darüber nicht nachdenken. Aber mit einem rastlosen Herzen und einem chaotischen Verstand wie meinem konnte ich nur bestehen, wenn ich stark war. Nein. Nicht einmal stark. Kalt. Stets auf einer Zwischenebene, nicht ganz in der Realität, nicht völlig gedankenversunken. So, dass nichts und niemand jemals wieder genug in der Hand gegen mich hatte, um mich in der Luft zerreißen zu können.

Mit Kopfhörern von der Außenwelt abgeschottet, dröhnte ich mich mit meiner Dark-Academia-Klaviermusik-Playlist zu und schwang den Pinsel. Meine Wandmalerei, an der ich seit über einem Jahr arbeitete, nahm langsam Form an. Auf einen Untergrund in dunklem Jadegrün hatte ich weitverzweigte Äste gemalt, an denen sich hier und dort kleine, vertrocknete Blätter befanden. An einigen Astenden hingen Bilderrahmen mit dicken, goldenen Rändern, in denen ich vergilbte Buchseiten voller Zitate und Gedichte, die ich liebte, verewigt hatte.

Mein Verdrängungsmodus lief auf Hochtouren. Alle Hebel waren umgelegt. Ich musste nur noch warten, bis ich die News über Brodie halbwegs verdaut hatte, dann konnte ich mich an einen Plan setzen, wie ich die nächste Zeit überstehen sollte. Schließlich konnte er nicht ewig in Cork bleiben. Ein Urlaub wäre möglich. Oder …

Mein Smartphone vibrierte schon wieder. Die Klaviermusik wurde unterbrochen und wechselte sich mit dem Handyklingeln ab. Ich verdrehte die Augen, stellte meine Malsachen weg und drückte an den linken Kopfhörer, um den Anruf anzunehmen.

»Ja?« Ich hob mein Handy vors Gesicht, und Yoshi erschien vor meinen Augen.

»Genervt, genervter, Robin. Kannst du nicht mal bei deiner besten Freundin einen freudigeren Ton anschlagen?«

Beste Freundin? Tolle beste Freundin, die seit Wochen auf Reisen war. Ich brauchte sie hier. Was ich ihr selbstverständlich nicht sagte, denn ich hatte sie ja auch dazu gedrängt, die Reise durchzuziehen und endlich etwas für sich zu tun. Ich wäre gerade ja selbst gern in Myanmar oder Japan gewesen. »Nein?«

Yoshi kicherte. »Wie geht’s dir? Wie geht’s den Leuten im Hotel?«

»Passt schon. Und Nerissa, Hughie und Amar geht’s auch ganz okay. Sie sorgen sich etwas um das Hotel, wie wir alle. Aber wie geht’s dir?«

»Versteh ich voll. Mit Lionel wird das so bald nicht besser. Richte schöne Grüße aus, auch an Fiona. Und, ahhh, Amars und Fionas Babys, liebe die so. Die sind so niedlich. Oh. Und zu mir. Na ja … Müde. Aber du bist ja nicht rangegangen, als es hier noch nicht mitten in der Nacht war, und ich musste mit dir reden.« Stimmt, der Zeitunterschied zwischen uns betrug aktuell ungefähr fünfeinhalb Stunden. Bei ihr musste es also nach Mitternacht sein. »Hast du gehört, dass Brodie in die Stadt kommt?«

Meine Finger verkrampften sich, ich drehte die Kamera etwas weg von mir und spuckte angepisst ein lautloses »Ahhhh!« aus. Gleich danach zeigte ich mich wieder.

»Rob?«

Ich räusperte mich. »Ja, hab ich.«

»Ich weiß, ich weiß, du magst seinen Podcast nicht.« Wie Yoshi das sagte. Amüsiert, als wäre es ein Running Gag. Als ginge es nur darum. »Aber du könntest nicht zufällig ein Autogramm besorgen?«

Zunächst schnaubte ich belustigt, ehe ich laut auflachte. Diese Vorstellung: Ich hole mir ein Autogramm von Brodie. Yoshi konnte es nicht wissen, aber da gab es eine Galaxie an Problemen, die sich bei diesem Gedanken auftat.

»Was ist daran so lustig?«

»Alles, Yoshi. Alles. Frag doch jemanden von den anderen, ja?«

»Von dir kann ich auch gar nichts haben.«

Ruhig bleiben. Yoshi ahnte nichts. Wie auch? Ich hatte all meine Sorgen unter einem Haufen Selbstmitleid versteckt.

»Mhm.« Ich kniff die Augen zusammen und rieb mir die Stelle zwischen meinen Brauen. Sorry, Yoshi.

»Na warte nur, wenn ich wieder nach Hause komme.« Ich wusste, sie war mir nicht böse. So wenig sie mich auch kannte, hatte ich sie noch am häufigsten hinter meine Maske blicken lassen.

»Weißt du schon, wann das sein wird? Die Leute im Hotel vermissen dich auch schon, Nerissa fragt oft nach dir.« Ich machte den Wasserhahn an und füllte meinen Wasserkocher. »Nicht, dass ich nicht ohne dich könnte.« Bitte, komm zurück.

»Natürlich kannst du nicht ohne mich. Ach, Issa, ich vermisse sie.« Yoshis Stimme hallte in meinen Kopfhörern nach. »Aber ja, nein, ich weiß noch nicht so genau. Bald.« Sie formte ihre Finger zu einem Kamm und strich damit durch ihre seidigen schwarzen Haare.

»Mach mir ja keinen auf junge Frau, die sich auf die Spuren ihrer Wurzeln begibt, ihre wahre Liebe findet und sich dort eine neue Heimat aufbaut. Wenn du nicht zurückkommst, hole ich dich.« Gut, das machte mich wohl weniger kühl und distanziert, als ich immer sein wollte, aber Yoshi bedeutete mir zu viel, um sie noch mehr auf Abstand zu halten. Egal, wie verletzlich ich dadurch wurde. Außerdem tat es gut, wenigstens irgendeiner Menschenseele einen Teil von mir offenbaren zu können.

»Keine Angst. Hab ich nicht vor. Ist echt toll hier. Nur … Die Corkerin in mir braucht dann doch Nebel, Regen und Felix’ vegane Burger.« Ich hörte, wie sie in die Hände klatschte. »Na ja, bevor ich mich wieder hinlege, werde ich noch etwas essen. Essen geht immer. PS: Hör endlich meine Lieder, die ich dir in die Playlist gepackt habe, und bewerte sie, sonst drehe ich durch.«

»Ja, okay. Bis dann.«

In dem Moment, in dem ich auflegte, begann es im Wasserkocher zu blubbern. Ich schüttete mir den Inhalt in eine Tasse mit einem Beutel Minztee, woraufhin sich der frische Kräuterduft in meinem Zimmer ausbreitete. Mit der Tasse bewaffnet, setzte ich mich an meinen Lieblingsort in der winzigen Einzimmerwohnung: meinen Erker. Dort erwartete mich ein ausladender Fenstersims samt Kissen. Ich platzierte die Kopfhörer neben mich auf einen Wagen, auf dem sich der Stapel meiner ungelesenen Bücher befand, und lehnte meine aufgeheizte Stirn gegen das kühle Fensterglas. Regentropfen schlugen dagegen. Sie flossen einer nach dem anderen nach unten wie in einem Wettrennen zum Fensterrahmen.

Der Minztee beruhigte meinen aufgewühlten Magen. Ich musste mir einen Plan zurechtlegen, nahm ich meinen Gedanken von zuvor wieder auf. Anders konnte ich die kommende Zeit nicht überleben. Würde ich Brodie auch nur einmal sehen, würde meine mühsam geflickte Welt auseinanderbrechen.

Ich holte mein Handy hervor und suchte nach Urlaubsorten. Musste ja nicht weit weg sein. Vielleicht Little Island, wo Quinns Vater nach seinem Schlaganfall auf Kur gegangen war und wohin er bald wieder reiste? Oder ein paar Tage in Cobh, das wir mit Quinn und seinem Freund Takeru besucht hatten, nachdem ihr erster Besuch dort beide total fasziniert hatte? Beziehungsweise Quinn und Henry. Takeru war nur Henrys Pseudonym für seine Astrologiekolumne gewesen, das er mittlerweile als offenes Pseudonym verwendete. Aber eigentlich wollte ich an keinen Ort, der mit Quinn und damit meinem unglückseligen Liebesleben in Verbindung stand.

Bei den Billigflügen entdeckte ich ganz oben Wien. Nein, auch Österreich brauchte ich nicht. Mit Felix hatte ich meine tägliche Dosis an Österreich an meiner Seite. Und einen weiteren Reminder, dass ich in der Liebe zuletzt immer Pech gehabt hatte. Außerdem stand Wien auch auf der Reiseliste von Felix und Owen. Sie wollten Felix’ Familie besuchen. Und wollte ich wirken, als folgte ich ihnen? Nein. Sicher nicht.

Wie wär’s mit Venedig? Ja, Venedig wollte ich schon immer mal sehen. Die Architektur, die kleinen, engen Gassen, die Kanäle … Vielleicht fände ich dort Inspiration für mein Wandgemälde? Oder zumindest einen heißen Gondoliere. Klang perfekt.

Dann musste ich nur noch um Urlaub bitten. Das sollte kein Problem sein, da ich mir so gut wie nie freinahm. Mit einem Klick öffnete sich die Mail-App. Der Bildschirm färbte sich eine Sekunde lang dunkelblau.

Hi, Lionel,

 

Robin hier, erinnerst du dich noch, als du gesagt hast, du bekommst Probleme, wenn ich meinen Urlaub nicht aufbrauche? Überraschung: Ich nehme mir jetzt Urlaub. Ein paar Wochen. Direkt ab nächsten Montag. Ich überlege noch genau, wie viel, spreche alles mit Nerissa, Amar, Hughie und den anderen ab und schreibe dir dann noch mal, damit du es bestätigen kannst. Danke.

 

Alles Gute,

Robin

Aufatmend schickte ich die Mail ab. Hoffentlich brauchte Lionel nicht wieder drei Tage, um auch nur einmal seine Mails zu checken. Echt, kein Wunder, dass das Hotel den Bach runterzugehen drohte mit diesem ›Management‹. Wie man mit so einer Arbeitsmoral in die Hotelbranche einsteigen konnte, war mir ein absolutes Rätsel.

Doch offenbar hatte Lionel vor, mich zu überraschen: Nach nur wenigen Minuten, in denen ich auf Social Media herumgescrollt hatte, hatte ich bereits eine Antwort-Mail im Postfach. Ehrlich überrascht öffnete ich seine Nachricht.

Lieber Robin,

 

du hast absolut recht, aber gerade jetzt geht das mit dem Urlaub leider gar nicht. Denn wie ich im Begriff war, dir mitzuteilen, als ich deine Mail entdeckt habe, habe ich es geschafft, den Astrologie-Podcaster Brodie zu überreden (sag es nicht), während seines Aufenthalts in Cork (bitte, bitte nicht) im Royal Hotel Cork zu wohnen. Es ist klar, dass das ein Erfolg werden muss. Ich muss dir ja nicht erzählen, in welchen Schwierigkeiten das Hotel steckt. Brodie wird uns auf Social Media verlinken, Beiträge erstellen und das Hotel wieder ins Gespräch bringen. Wir werden dafür sogar den jährlichen Maskenball wiederbeleben, nur dieses Mal mit Brodie zusammen, der seine Followerschaft zu diesem Anlass ins Hotel einladen wird. Wir werden uns also von unserer besten Seite zeigen und vor allem Brodie Tag und Nacht und mit allen Mitteln bei Laune halten. Natürlich kann ich diese Aufgabe nur meinem besten und erfahrensten Mitarbeiter zuteilen. (n.e.i.n) Du bist jung, du kennst diese Astrologieleute (woher kennt er meine Leute?) und kennst die Möglichkeiten des Royal wie kein anderer. Daher bitte ich dich, persönlich darauf zu achten, dass Brodie jederzeit bekommt, was er will (das bekommt er auch so). Das heißt aber auch, dein Urlaub kann erst nach Brodies Abreise beginnen. Ich bin sicher, du verstehst das und freust dich mit mir auf diese Chance. Schließlich ist dir das Hotel genauso wichtig wie mir.

 

Liebe Grüße,

Lionel(-Arsch)

Brodie würde bei mir im Hotel sein? Im Royal Hotel Cork? Und ich sollte so was wie sein persönlicher Butler werden?

Wieder lachte ich auf. Ich konnte nicht anders.

Nichts auf dieser Welt war es wert, Brodie zu begegnen. Oder?

Kapitel 2

Brodie

I-I-I-Infinity in Our Hearts, der Podcast, der deine Sternzeichen zum Funkeln bringt, by Brodie. Heute mit einer kurzen Unterbrechung in Form einer Ankündigung, bevor wir mit dem Thema Lieblingsstellung der Mondzeichen weitermachen. Ich reise für ein paar Wochen nach Cork! Also Rebel City, euer Lieblingsrebell kommt zu euch!

Meine Kopfhörer lagen warm in meinem Nacken, nachdem ich die Aufnahme abgeschlossen hatte. Klick. Ich lud die heutige Podcastfolge in die Cloud, damit Pietro sie sich runterziehen und schneiden konnte. Klick. Per Fernauslöser schaltete ich die Kamera aus, mit der ich gerade gleichzeitig eine Behind-the-Scenes-Aufnahme für meinen YouTube-Kanal und Material für Reels und TikToks erstellt hatte. Klick. Die Softboxen, die mein Gesicht ein bisschen weniger zombiemäßig aussehen lassen sollten, erloschen, und urplötzlich fühlte ich mich blasser. Klick. Der Laptop wurde dunkel. Der Lüfter hörte auf, überhitzt zu zischen.

Dann saß ich da. Allein in der grauen Stille. Ich umfasste meine Fledermaushalskette, und als ich die spitzen Flügelchen spürte, wie sie in meine Handfläche pikten, war die Stille nicht mehr ganz so schlimm.

Mam, Dad? Robin? Ich bin zurück.

Und hey, außerdem war ich in einem Luxushotel.

Nach und nach begann die Lautlosigkeit in meinem Kopf zu dröhnen. Das Nichts lag wie ein Bleimantel auf mir. Das war nicht gut. Bald würde mein Gehirn sie füllen. Nein. Ich wollte keinen Raum fürs Nachdenken zulassen, denn das machte mich nur nervös. Mit den flachen Händen schlug ich auf den Tisch vor mir, um die Ruhe wie einen Vogelschwarm aufzuschrecken und zu vertreiben. Danach holte ich mein Handy hervor und klickte auf die Sprachboxnachricht, die ich in der Tiefe unzähliger Unterordner versteckt hatte. Seit Jahren hörte ich sie mir beinahe täglich an. Genauer gesagt seit fast zehn Jahren.

»Hallo, mein Fledermäuschen.« Bäm. Sofort schossen mir Tränen in die Augen. Ich skippte vor. »Deine Mutter und ich freuen uns schon, dich wiederzusehen. Sei brav und vergiss nicht, genug zu trinken.«

Ich spulte noch ein Stück weiter vor. Zu hören war nichts als Rauschen. »Nimmt das noch auf?« Wieder nur Rauschen.

»Ja, du alter Mann.« Danach ein Lachen. Wellengeräusche.

»Dein Vater braucht dringend ein Hörgerät, mein Kleiner.«

»Hör nicht auf sie. Wir sehen uns bald. Wir lieben dich, Brodie.«

Ich vertrieb den Kloß im Hals mit einem Schluck Wodka aus dem gekühlten Glas, das auf dem Tisch vor mir stand. Gleich danach verdrängte ich sämtliche Gefühle und Erinnerungen und verbot mir, weiter meinen Gedanken nachzuhängen.

Vorsichtig stieg ich über die Kabel auf dem Fischgrätparkett und trat hinaus auf die Terrasse, die zur Suite im obersten Stock des Royal Hotel Cork gehörte.

Unter mir breitete sich Cork aus. In meinem Gesicht ein Grinsen. Scheiße. Wann hatte ich das letzte Mal ohne Kamera vor der Fresse gelächelt? Wenn irgendetwas das erreichen konnte, dann Irland. Das satte Grün, das dem Nebel sagte: Sei so grau, wie du willst, ich strahle.

Nicht ohne Grund färbte ich meine Haare seit Jahren grün. Ich wollte irgendeine Verbindung zu meiner Heimat. Und … ein Gefühl von Zuhause zu verspüren, sobald ich in den Spiegel sah, kam dem am nächsten. Auch wenn ich andernorts so tat, als schiene mir die scheiß Sonne aus dem Arsch. Mir war keine andere Wahl geblieben, als wieder hierher zurückzukehren – obwohl ich damit mein Versprechen gebrochen und damit mein Karma wahrscheinlich ein für alle Mal zerstört hatte.

Der Anblick des River Lee von hier oben ließ mich meine innere Zerrissenheit für einen Moment vergessen. Ich konnte nicht mehr anders. Ich musste raus. Zum jetzigen Zeitpunkt durften nur so wenige wie möglich wissen, dass ich bereits angereist war, also musste ich vorsichtig sein.

Auf dem Weg zur Zimmertür lief ich an meinem Bett vorbei. Obwohl das Wort Bett eine Untertreibung war. Es wirkte wie das eines Königs aus einem alten Film und war so gigantisch, dass ich darin eine Orgie hätte feiern können.

Feiern würde?

Keine Ahnung.

Vom Nachtkästchen mit der goldenen, geschwungenen Lampe nahm ich meine übergroße Sonnenbrille, setzte sie zusammen mit der Kapuze auf und verlieh damit meiner Umgebung einen leichten Sepia-Filter. Handy, Portemonnaie und Schlüssel packte ich ein, verließ meine Suite und nahm die Treppe nach unten.

Die Stimme meiner Managerin Pia kam mir in den Sinn: »Nicht einmal die Hotelangestellten dürfen wissen, dass du schon da bist, klar? Die Suite ist offiziell jetzt schon verfügbar, damit die Roadies reinkönnen und das Equipment aufgebaut werden kann. Einer von denen hat ja für dich eingecheckt. Der, der dich vom Flughafen abgeholt hat. Wir haben überall angekündigt, wann du kommst, wenn dich die Leute jetzt sehen, denken sie, du lügst online. Reiß dich zusammen. Nur ein einziges Mal. Sonst lassen wir dich nie wieder irgendwo alleine hin.« Die Hamburgerin verstand ihren Job, und sie ging für meinen Erfolg und ihr Ansehen über Leichen. Deshalb verstörte es mich manchmal, wenn sie ihre liebliche Engelsstimme aufsetzte und Honorare in schwindelerregender Höhe aushandelte. Ob sie so auch ihren erfolgreichen Mann dazu gebracht hatte, ihr den Ring an den Finger zu stecken, obwohl er in irgendeinem stinklangweiligen Finanzmagazin noch erklärt hatte, niemals zu heiraten? Na ja, konnte mir gleich sein. In meinem Kopf war nur Platz für: Fall ja nicht auf, sonst kannst du Pisser nur noch mit Nanny reisen.

Ein paar ältere Leute schwebten neben mir beinahe royal die Treppe hinab und sprachen dabei völlig gestelzt. Sie musterten meinen Hoodie, als schätzten sie ab, ob sie mich beim Personal als Dieb melden sollten. Ich zog mir die Kapuze tiefer ins Gesicht. Zumindest kannten mich solche Leute meistens nicht. Generell hatte ich nicht so oft das Problem, in der Öffentlichkeit erkannt zu werden. Ich bediente trotz meiner Reichweite eher die Astrologie-Nische und war kein Rockstar. In letzter Zeit wurde es etwas mehr, seit ich meinen Podcast parallel filmte und Videoclips online stellte – dadurch wurden wie von meiner Managerin vorausgesagt tatsächlich mehr Leute auf mich aufmerksam und teilten meine Pranks oder Storys, auch ohne Astrologie zu mögen. Pia hatte geplant, den Effekt mit diesen Plakaten und neuen Auftritten in der breiteren Öffentlichkeit noch weiter zu pushen und mich bekannter zu machen. Deshalb auch die Kooperation mit dem Hotel. Keine Ahnung, was ich davon halten sollte. Aber als sie ausgerechnet Cork vorgeschlagen hatte … wie hätte ich Nein sagen sollen?

Ich war viel zu lange nicht hier gewesen.

Versprechen hin oder her.

Ich betrat den hellen Marmorboden in der Lobby und bemerkte bei einem kurzen Blick aus dem Fenster, dass es zu regnen begonnen hatte. Klasse. Sofort zückte ich mein Handy und lehnte mich gegen eine beige Säule mit Goldstuck, um ein Taxi zu rufen. Zwei Angestellte eilten auf dem dunkelroten Läufer Richtung Rezeption, und ich zog meine Kapuze noch enger. Mein Puls geriet etwas ins Rasen, als eine von ihnen mich direkt ansah, und ich schickte ein Stoßgebet zu den Sternen, dass sie mich nicht erkannt hatte.

Gerade als ich in der Taxi-App meinen Auftrag bestätigen wollte, hielt mich etwas zurück. Was tat ich denn da? Ich wollte unbedingt heim nach Cork und rief mir dann wie ein Fremder ein Taxi? Weil es regnete? In Irland? Was war ich für ein reicher Esel geworden! Ich schüttelte über mich selbst den Kopf und machte mich auf den Weg nach draußen. Dabei wich ich einer Leiter aus, die unter dem gigantischen Kristallkronleuchter der Eingangshalle und neben einer riesigen Monsterapflanze stand. Kurz bevor ich den Ausgang erreichte, vibrierte mein Handy und erinnerte mich an meinen Taxiauftrag. Denn auch wenn ich den noch nicht bestätigt hatte, wäre er sonst für zehn Minuten reserviert. Wie ich das neue Update hasste. Ich blickte auf das Display. Dabei glitt mir die Brille von der Nase. Erschrocken wollte ich sie auffangen oder gegen meinen Körper drücken. Nichts da. Das verschissene Teil rutschte mir durch die Finger. Ich kniete mich hin. Exakt in diesem Moment kam jemand in Hoteluniform herein. Nur einen flüchtigen Blick riskierte ich nach oben und erkannte: Die wandelnde Hoteluniform steuerte auf mich zu.

Shit!

Ich erhob mich und lief mit schräg nach unten gerichtetem Kopf los. Natürlich rempelte ich den Typen volle Kanne seitlich an.

»Hey! Sie!«

Keine Zeit, darüber nachzudenken.

Eine Sekunde später nahm ich die elegante Drehtür nach draußen und tauchte in den frischen Regen Corks.

 

»Brodie Merrick?«

»Psssst!« Panik baute sich in mir auf, und ich sah mich hektisch in dem Gastraum um.

»Wer soll dich denn hier sehen? Die Bar ist geschlossen.« Die Besitzerin der Venus Fire Bar, einer der besten Bars Corks – zumindest unter denen, die Reisende nicht kannten oder online fanden –, baute sich vor mir auf und verschränkte ihre Arme. »Aber ich bin gerade dabei zu öffnen. Für ein paar Leute zumindest.«

Eileen hatte einige Falten dazubekommen, seit ich sie zuletzt gesehen hatte. Ihre schulterlangen Haare, durchzogen von grauen Strähnen, ließen sie darüber hinaus noch älter wirken. Von ihrer Stärke hatte sie jedoch nichts eingebüßt.

»Stimmt, aber, sag …« Ich setzte mich auf einen Hocker an den Tresen. Die goldenen Zapfhähne darauf glänzten im Licht des Mosaiklampenschirms einer alten Tischlampe. Die Holzvertäfelung des Raums und die ausgefranste Polsterung der Sitzmöbel empfingen mich wie eine wohlige Umarmung. »Seit wann ist die Vertäfelung babyblau?«

»Ein paar liebe Menschen haben sie gestrichen«, antwortete Eileen. Sie stand vor dem gusseisernen Einbaukamin des Pubs und vor einem Gemälde, das ein bekleidetes Schwein mit Mozartfrisur zeigte. Über ihr hing ein silbernes Vintage-Mikro von der Holzdecke.

Liebe Menschen? Und ich war keiner von ihnen. Ich hatte echt einiges verpasst. Nicht nur verpasst. Auch verloren. So wie die Freundschaft zu Eileen. Sie war nicht völlig weg, aber ich spürte die Distanz zwischen uns.

»Brodie.« Mit einem tadelnden Blick in meine Richtung ging Eileen hinter den Tresen. »Du verschwindest ohne ein Wort und kommst genauso still und heimlich zurück. Ich bin zu alt für diesen Scheiß.« Sie drückte ein Glas mit so viel Schwung gegen den Zapfhahn, dass es laut klirrte, und ich glaubte, es würde zerbrechen, ehe das Bier hineinlief. »Ich brauche keine Erklärungen. Nicht mehr. Aber schlag nicht hier auf und tu so, als wäre nichts gewesen. Als hätte ich dich nicht Hunderte Male gratis durchgefüttert.«

Verdammt. Sie hatte recht. »Fuck, Eileen. Sorry.« Ich strich mit den Zeigefingern meine Nasenflügel entlang und wischte mir den Schweiß weg. »Ja, das war saugemein von mir. Ich habe echt gehofft, wir könnten das skippen.«

Knall. Die Schaumkrone schwankte verdächtig, als sie das Bier vor mir abstellte. Ein wenig Flüssigkeit schwappte über den Rand, und ich fuhr mit der Zunge von unten nach oben über das Glas, um sie abzulecken. Nun schnaubte Eileen doch noch belustigt.

»Wie früher.«

»Hey.« Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Lippen. »Was soll das heißen?«

»Dass wir doch alle das Kind in uns bewahren, egal, wie erwachsen wir werden.« Eileens Blick schweifte ab. Ein Anflug von Melancholie lag darin.

»Ähm, ja.« Ich wusste, dass Eileen sich ihr Leben anders vorgestellt hatte. Sie starrte durch das Fenster neben der Tür. Am liebsten hätte ich sie umarmt. »Lass mich bitte trotzdem etwas zu meinem Verschwinden sagen … Ich musste damals gehen.«

»Wir müssen nichts.« Der schneidende Klang von Eileens Stimme erstickte meine Erklärung im Keim.

Mit meinen Zeigefingern spielte ich an der wunden Nagelhaut meiner Daumen. »Ich musste gehen.«

»Nicht um deinetwillen?«

»Natürlich auch für mich selbst.« Ich zog meine Kapuze runter und fuhr mir durch die Haare. »Du weißt genau, dass ich mir selbst der Nächste werden musste. So ganz alleine. Die Chance mit dem Podcast war zu verlockend.«

»Ganz allein? Und zu verlockend, um einmal anzurufen? Einmal in all den Jahren?« Auch damit hatte Eileen recht, shit, natürlich hatte sie recht. Und wie ich es hasste. Als wäre sie niemand gewesen.

»Es tut mir leid, Eileen. Ich bin dir dankbar für alles, aber das muss dir reichen. Mein Sorry. Mehr gibt es nicht.« Ich nahm einen Schluck. Zumindest wenn jemand einen Schluck als das halbe Pint definierte. »Genügt dir das? Sonst kann ich auch gehen.«

»Du kleiner Scheißkerl.« Eileen warf mir das Geschirrtuch zu, das um ihre Schulter lag. »Ich stell dir alle Gerichte, die du hier verdrückt hast, nachträglich in Rechnung, und ab heute gibt es nichts mehr gratis. Verstanden?« Gerade noch erkannte ich das Schmunzeln, das an ihren Mundwinkeln zupfte, bevor sie mir den Rücken zudrehte.

»Danke. Und sag bitte niemandem, dass ich hier gewesen bin, ja?« Den Rest des Biers exte ich und schwang mich vom Barhocker. »Nicht mal das eine, äh …«, Eileen blickte hinter sich, und ich deutete auf das Bier, »geht noch aufs Haus?«

Grinsend machte ich einen Ausfallschritt zur Tür und duckte mich unter dem heranfliegenden Putzlappen weg.

»Übertreib’s nicht.« Eileen jonglierte zwei weitere Putzschwämme in ihren Händen. »Wo der herkam, gibt es noch unendlich viele.«

»Waffenstillstand.« Ich hob abwehrend meine Hände und fischte Geld aus der Hosentasche.

»Was denn für ein Waffenstillstand, du hast nicht mal eine Waffe, du bist mir wehrlos ausgeliefert«, parierte Eileen hochmütig mit in die Hüfte gestemmten Händen.

»Ach, so ist das?« Blitzschnell vollführte ich – selbstverständlich megaspektakulär wirkende – Kampfmoves. »Ich denke nicht.«

»Du siehst aus, als wären deine Arme und Beine aus Pudding.« Eileens Gesichtszüge erweichten sich, und sie scannte mich von oben bis unten, als könnte sie nicht fassen, dass ich leibhaftig vor ihr stand. »Und keine Sorge, ich sage niemandem, dass ich dich gesehen habe.«

Ich wollte überhaupt nicht so klingen, als hielte ich mich für einen Superstar.

Gerade als ich Eileen das auch sagen und gehen wollte, öffnete sich die Tür neben mir. Meine Puddinggelenke waren wie paralysiert. Was für eine Scheiße.

Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wahrscheinlich waren es ja nur Leute, die zum Saufen kamen und sich einen Dreck um mich scherten. Wie gesagt, ich war kein Superstar. Aber wenn sie mich durch irgendeinen beschissenen Zufall doch erkannten? Pia würde mich per Mail niedermachen. Mit einer von der schlimmen Sorte: die mit dem roten Ausrufezeichen und einer fordernden Lesebestätigung. Wie konnte ich mich aus der Lage retten?

Ein Typ mit verwuschelten blonden Haaren trat ein und linste über seine Schulter. »Unfassbar, das hat der Arzt gesagt? Ernsthaft, Ow?«

Von jetzt auf gleich schwärzte sich meine Sicht, und ein abgestandener, miefiger Geruch vom nassen Geschirrtuch drang in meine Nase.

»Wartet kurz, hier ist ein Kunde, der nicht zahlen will, den werfe ich mal eben raus.«

Eileen rettete mich. Mit ein wenig übertriebenen Mitteln, aber sie tat es.

Es wurde etwas zu ruhig um uns. Ich spürte Eileens Knie, das sie gegen meines drückte. Oh! Ich musste mitspielen.

»Hey, lass mich los! Nimm das stinkige Tuch von meinem Kopf.« Gespielt verärgert wand ich mich unter ihrem Griff.

»Brauchst du Hilfe?« Eine weitere Stimme gesellte sich zu der ersten.

»Owen, bitte! Das würde mich beleidigen. Felix, kommt rein. Setzt euch einstweilen hin.« Eileen drängte mich in die Richtung, in der ich die Tür vermutete, und ich bemerkte, wie es heller wurde.

»Die Leute werden auch immer unverschämter«, sagte jemand und ging an uns vorbei. Seine weißen Sneaker waren kurz in meinem sehr beschränkten Sichtfeld zu erkennen.

Vor dem Pub zog mir Eileen das Tuch vom Kopf und zwinkerte mir zu. »Dass du mir ja nie wieder ins Haus kommst!«, brüllte sie hinter sich in die Bar hinein. »Du Schuft. Du Halunke. Du –«

»Übertreib nicht, Eileen«, flüsterte ich und setzte meine Sonnenbrille wieder auf. Bevor ich ging, nickten wir uns zu und sprachen ein lautloses Bye aus. Gleich danach verdeckte die Kapuze erneut mein halbes Gesicht.

Ich beschloss, einen für mich ganz besonderen Ort aufzusuchen, gönnte mir jedoch einige Umwege. Um die alte Heimat zu begutachten und so. Dabei sog ich den Duft Corks ein, der nach salzigem Regen, Gras und ein wenig Benzin roch. Ich fotografierte so gut wie jede bunte Haustür der Backsteinhäuser – als Andenken für später.

Ich hätte ausflippen können vor Freude. Cork wieder zu fühlen, zu schmecken, zu sehen … ließ mich beinah explodieren. All die Euphorie, die durch meine Venen peitschte, drohte aus mir herauszuplatzen. Ich hatte schon Sorge, ich würde wie in einem Musical hochspringen, die Füße aneinanderstoßen und mich um eine Straßenlaterne drehen.

Was mir guttat? Durch Cork zu schlendern. Meine Füße brannten zwar ein wenig, aber das war es wert. Die letzten Monate hatte ich mich fast ausschließlich um Social Media und den Podcast gekümmert. Höchste Zeit, dass ich mal wieder was vom wahren Leben mitbekam.

Endlich kam ich an der Thomas-Davis-Brücke am Rande der Stadt an. Ich stellte mich an die kniehohe Steinmauer. Das Gebüsch und die Bäume, die sich entlang des Lee-Ufers ausbreiteten, trieben mir die Hitze in die Wangen. Egal, wie oft ich in den letzten Jahren One-Night-Stands hatte, nie wieder waren die Orgasmen so gut wie jene, die ich hier, versteckt unter den Blätterdächern, erlebt hatte.

Ich rutschte einen Erdhügel hinunter, ging unter der Brücke hindurch und setzte mich an das Ufer des Lee. Auf der gegenüberliegenden Seite zog sich eine Häuserreihe mit grauen, olivgrünen, blassblauen und zartgelben Fassaden entlang. Mein Blick blieb an dem graublauen Haus mit einer Tür in der gleichen Farbe hängen. Es war das schmalste in der Reihe, und jemand hatte die Fensterrahmen meiner Meinung nach völlig unpassend in Braun gestrichen. Die bröckeligen Löcher der Hauswand waren ausgebessert worden. Die Hecken waren geschnitten und wie mit dem Lineal abgemessen. Doch egal, wie aufgemotzt es nun war: Es war das Haus, in dem ich aufgewachsen war. Oben am Dach war ein kleines Fenster, und ich würde niemals vergessen, dass ich auf dem Dachboden mein erstes Mal erlebt hatte. Mein richtiges erstes Mal. Nicht die spannende Hollywoodgeschichte, die ich in meinen Podcasts erzählte.

Die Frage, die ich mir seit Tagen verweigerte zu stellen, drängte sich mit einem lauten Piepen in die Mitte meines Bewusstseins. Verlangte nach Aufmerksamkeit. Ob er mitbekommen hatte, dass ich kommen würde? Robin? Wusste er es? Ich schluckte. Sein Name stolperte über meine Lippen wie die verbotene Formel für die Wiedererweckung eines antiken Pokémons. »Robin«, flüsterte ich erneut, hinein in den irischen Wind.

Wie lange hatte ich mich nicht mehr getraut, seinen Namen laut auszusprechen? Seinen Namen wieder auszusprechen bedeutete auch: Wieder die Bilder vor mir zu sehen. Die Bilder von Robin und … ihr. Ich blinzelte sie weg. Es war zu schmerzhaft, an ihn und an damals zu denken.

Und dann wiederum … wenn ich ehrlich war, und wie konnte ich das vor der Kulisse Corks nicht sein, war ich dann nicht seinetwegen hierher zurückgekehrt? Wenn ich das Geld, die Seminare, das Projekt mit dem Maskenball und dem Hotel beiseiteschob … dann war da nur der Wunsch, meine Heimat wiederzusehen. Cork und Robin, beide untrennbar mit diesem Gefühl verknüpft. Fuck, eine kleine Stimme in mir war sogar so scheißnaiv zu denken, ich könnte die Altlasten, die uns getrennt hatten, irgendwie beiseiteschaffen. Ihn dazu bringen, mir zu verzeihen.

Mich dazu bringen, ihm zu verzeihen.

Gab es auch nur auf eins von beidem wirklich eine reelle Chance? Vermutlich wäre es deutlich klüger, wenn ich mich von ihm fernhielt, mich auf die Seminare, den Ball und den Boost für meine Karriere konzentrierte und nicht nebenher ein fettes Drama anzettelte – denn das konnte es ja nur werden. Aber … Ob ich es schaffen konnte, mich davon abzuhalten?

Mit Blick auf die letzten Jahre: valide Frage.

Mein Handy vibrierte und holte mich aus meinen Gedanken. Verwundert warf ich einen Blick darauf. Das war mein Privathandy. So gut wie niemand kannte diese Nummer.

 

Hey, Bro … die(ich konnte es nicht mehr hören, gefühlt die ganze Welt spulte sämtliche Wortspiele mit Bro ab),

ich habe heute vom Hotel erfahren, dass sie dir persönliche Assistenz garantieren. Sie stellen dir ein eigenes Team zur Verfügung, das dir alle Wünsche von den Augen abliest. Sie werden sich nach deiner offiziellen Ankunft bei dir melden. Keine Angst, genieß noch deinen Aufenthalt, bisher weiß nur der Chef, Lionel Davis-Igwe, dass du schon dort bist. Deine erste Stunde als Gastredner am UCC findet direkt morgens statt, geht das klar? Und vergiss nicht, dass am Schluss noch der Maskenball ansteht, promote den also auch schon mal über deine Social-Media-Kanäle und mach auf den Ticketverkauf aufmerksam. Der ist echt wichtig für das Hotel, und wenn die ihn jetzt wieder ankündigen, soll der ein Erfolg werden – dafür sorgst du!

Versau das nicht! Keine Partys inklusive Zuspätkommen morgen!

 

Liebe Grüße,

Pia

Sie hatte gesagt, keine Partys, nicht: keine Clubbesuche.

Ba Dum Tss.

 

Über mir war die Sonne gerade verschwunden, und ein dunkles Orange färbte Cork ein. Ich hatte mich tatsächlich auf den Weg in einen Club gemacht. Doch bevor ich mich dort fallen lassen und meine Rückkehr ganz für mich feiern – oder es zumindest versuchen konnte, gab es etwas anderes, das ich klären musste. Etwas anderes, das ich seit Jahren verdrängt hatte. Etwas, das ich, seit ich Eileen wiedergesehen hatte, nicht mehr aufschieben wollte.

Ich musste mit meinen Eltern sprechen. Ich musste anfangen, Dinge zu klären.

Je näher ich ihnen kam, desto düsterer wurde die Umgebung. Nicht nur, dass die Nacht um mich selbst das Orange am Himmel immer mehr verschluckte, nein, auch die Häuser wurden freud- und farbloser. Keine bunten Reihenhäuser oder Backsteingebäude mehr. Alle hatten graue oder beige Fassaden. Vor der Kreuzung hatten sich einige finstere Vögel auf den Strommast gesetzt, als beschützten sie diesen traurigen Ort. Als das letzte Auto an mir vorbeigerauscht war, huschte ich über die Straße und ging durch die Öffnung neben dem schwarzen Gittertor.

Der St.-Joseph’s-Friedhof im Süden Corks strahlte für mich seit Ewigkeiten etwas Böses aus. Nicht nur, weil es eine große Grasfläche mit grauen Steinen und Leichen darunter war. Hier lagen so viele meiner Vorfahren. Die Merricks stammten einer weitreichenden Linie von Kunstschaffenden ab. Dass ich immer das Gefühl hatte, erschüfe ich nicht bald den nächsten Picasso, würde mir der Zutritt in diese Reihen der Genies verwehrt. Ob mein Podcast als eine Art von Kunst galt?

Im Laufen holte ich mein Handy hervor und spielte erneut die letzte Sprachboxnachricht meiner Eltern ab, um die Stille zu übertönen. Ihr letzter Anruf, und ich hatte nicht abgehoben, weil ich sauer gewesen war. Sauer auf ihre fünfte Reise in nur einem Jahr. Das letzte Mal, dass sie meine Nummer gewählt hatten und ich die Chance hatte, ihre Stimme in Echtzeit zu hören. Genau der passende Soundtrack für diesen Besuch.

»Hallo, mein Fledermäuschchen.« Immer wieder spielte ich diese Sequenz ab.

»Hallo, mein Fledermäuschchen.«

»Hallo, mein Fledermäuschchen.«

»Hallo, mein Fledermäuschchen.«

»Hallo, mein Fledermäuschchen.«

»Hallo, mein Fledermäuschchen.«

Irgendwann schaffte ich es, sie wegzudrücken. Die Stille kehrte auf den Friedhof zurück. Eine flüsternde, raschelnde Stille, vermischt mit dem Geräusch meiner Schritte auf dem schmalen Weg.

Die meisten der Gedenktafeln, an denen ich vorüberlief, waren graue Steine, kein Marmor. Manche mehr, manche weniger mit Moos übersät. Ich kickte einen kleinen Stein vor mir weg, der in ein Kiesbett vor einem Grab fiel. Nirgends waren Blumen, die Farben auf den Friedhof gebracht hätten.

Als ich am Familiengrab meiner Mutter ankam, hielt ich vor dem völlig verrosteten Zaun. Pflanzen überwucherten das Grab, und die komischen Geräusche, mal ein Krähen, mal etwas, das nach Schritten klang, ließen mich mehr als der Wind frösteln.

»Hey.« Wie begann ich denn so ein Gespräch?

»Falls Geister anwesend sind: Könnt ihr mir bitte ein Zeichen geben, damit ich weiß, dass ihr Leute nicht beobachtet, wenn sie sich einen runterholen? Ja? Danke.« Ich wartete einige Augenblicke, bis ich das Quietschen eines Tores hörte, das wie das Lachen einer Hexe klang. »Danke, das reicht mir.«

Ich seufzte und ging in die Hocke. »Hey, Mam, hey, Dad. Ich weiß, ihr seid nie sehr gläubig gewesen und habt nicht an ein Leben nach dem Tod geglaubt. Aaaaber ich muss irgendwie meinen inneren Twist mit euch abschließen, um nach vorne schauen zu können. Und wer weiß, wann ich das nächste Mal … ob ich jemals wieder so sehr in eure Nähe komme. Also … muss es wohl jetzt sein.«

Vorsichtig steckte ich meine Hand durch die Zaunstäbe. Mit dem Arm streifte ich an einem, der einen orangefarbenen Strich auf meinem Pulli hinterließ. Mein Herz pochte schneller, je näher ich dem Grab kam. Ein Schauer lief mir über den Rücken, und ein unangenehmes Kribbeln durchzog meinen Körper. Der Anblick des Grabes meiner Eltern nach all den Jahren ließ Schmerz hochkommen, den ich so lange verdrängt hatte. Schmerz, der sich anfühlte, als ob jemand heiße Kohlen in mein Inneres gelegt hätte. Eine Welle der Traurigkeit überrollte mich, und mit ihr wurde jeder Atemzug schwerer. Schließlich legte ich meine Hand auf das kalte Grab. Sofort sprudelten Erinnerungen durch meine Adern. Sie schnitten wie scharfe Klingen durch meine Gedanken, und ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete, der mir jegliche Worte raubte. Ich zwang mich, den Kloß runterzuschlucken, und merkte, wie trocken mein Hals war. »Ich bin nicht schuld an eurem Tod, oder? Ich bin nicht zu langweilig oder untalentiert gewesen und ihr seid deswegen immer herumgereist, oder? Wenn ich künstlerisch begabter gewesen wäre, wie Robin, hätte das nichts an allem geändert, und ihr wärt trotzdem weggeflogen und auf dieses scheiß Drecksschiff gestiegen, oder?«

Natürlich wusste ich eigentlich, dass ich nicht schuld war. Ich hatte keine telekinetischen Kräfte, mit denen ich dieses Schiff hätte kentern lassen können. Natürlich hatte ich mir auch nicht gewünscht, dass meine Eltern von ihrer Reise nicht zurückkehren würden. Warum also fühlte es sich trotzdem bis heute so an, als wäre es nur meinetwegen passiert?

Vielleicht brauchten wir einfach immer eine schuldige Person, um mit etwas Furchtbarem klarzukommen. Da die Kapitänin damals selbst mit untergangen war, gab es niemanden außer mir, bei dem ich den Grund für das Unglück suchen konnte. War es das? Musste ich erst auf einen Friedhof gehen, um das zu begreifen?

Mit festem Griff umklammerte ich den Zaun und lehnte meine Stirn dagegen. Die Hitze in meinem Kopf kühlte sich ein wenig ab.

Nein, das war es natürlich nicht.

In Wahrheit wusste ich sehr genau, woher die Schuld kam. Sie kam aus diesem Gefühl, das ich nach all den Jahren immer noch nicht loslassen konnte. Weil ich selbst meinen toten Eltern gegenüber nicht aufhören konnte, egozentrisch zu sein. »Ich hasse euch so sehr dafür, dass ihr mich zurückgelassen habt«, flüsterte ich zwischen den Gittern hindurch. Es war seltsam befreiend, es auszusprechen. »Wie konntet ihr … Wie konntet ihr sterben? Es war eine Sache, dass ihr mich ständig zurückgelassen habt wie ein zu langweiliges Spielzeug. Aber ihr hättet wenigstens zurückkommen müssen! Was fällt euch ein, plötzlich einfach tot zu sein, sodass jede Wut gegen euch so falsch wirkt, weil ihr … na ja, tot seid.« Der Zaun klingelte jedes Mal dumpf, wenn ich mit meiner Stirn gegen die Eisenstäbe schlug. »Warum?«

Und dann tat ich etwas, das ich mir bis heute nicht erlaubt hatte. Ich weinte. Damals war ich zu schockiert gewesen, um zu heulen, und danach zu zornig, um die Trauer zuzulassen. Im Verdrängen war ich ja ohnehin ein Pro.

Die erste Träne musste ich noch aus meinen Augen zwingen. So fest ich konnte, presste ich meine Lider zusammen, bis sie endlich herausquoll, meine Nase hinablief und auf die Grabstätte tropfte. Die folgenden Tränen kamen wie von selbst. Ein Fluss salziger Trauer, der über meine Wangen lief.

Der Zaun hinterließ weitere Roststreifen auf mir, während ich seitlich daran entlangrutschte. Mir doch egal. In mir löste sich ein Knoten, der tief in meinem Körper festgeschlungen war. Der bis heute so selbstverständlich zu mir gehörte, dass ich den Druck gar nicht mehr wahrgenommen hatte. Bis jetzt. Bis er sich nun ein wenig lockerte.

Kapitel 3

Robin

Manchmal würde ich gerne wissen, wer ich, nach allem, was ich erlebt habe, eigentlich bin. Mein Sonnenzeichen, das umgangssprachliche Sternzeichen, zeigt mir genau das. Mein Ego. Das, was mich ausmacht (würde ich mich etwas mehr mit mir beschäftigen).

Nach meiner Schicht im Royal Hotel war ich sofort zu Eileens Bar gekommen und hatte mir einen von Felix’ berühmten veganen Burgern geschnappt. Eileen hatte uns alle eingeladen. Anlass: geheim. Es sollte wohl eine Feier sein. Was es auch zu feiern gab, ich war gerne hier. Ich liebte die abgeschiedene Atmosphäre, obwohl wir mitten in Cork waren. Ich beobachtete Felix und Owen dabei, wie sie an der unsauber verarbeiteten Steinmauer um den Garten Fotos machten, bis Felix von Owens Schultern hinabstieg und sich direkt in der Pflanzenranke an der Steinmauer verhedderte.

»Wuaah«, rief Felix, stolperte zurück und fiel in einen lila blühenden Rhododendronbusch.

»Oh, nein, geht es dir gut?« Eileen ging zu ihm.

»Ja, danke, m–«

»Du doch nicht, Felix, mein Rhododendi.« Schmunzelnd über Eileens Aussage folgte ich mit meinem Blick Owen. Der liebte Pflanzen noch mehr als Eileen und besaß sogar ein eigenes Bücherregal nur mit Gießkannen.

»Danke für nichts.« Gespielt beleidigt erhob sich Felix. »Aber trotzdem sorry wegen deinem Busch. Mit Owen Fotos zu machen ist reine Zeitverschwendung, weil er das nie ernst nimmt.«

»Das ist nicht wahr. Ich musste dich schließlich tragen.« Auf Owens Verteidigung folgte ein Kuss von Felix, der die Chance nutzte und davon seitlich ein Bild machte.

Meine damaligen Dates mit Felix schienen Ewigkeiten her zu sein. Ich würde niemals zugeben, wie sehr mich Felix’ Korb damals getroffen hatte, aber er war ehrlich gewesen, und ich musste außerdem gestehen, dass Felix und Owen das perfekte Paar waren.

Róisín versperrte mir die Sicht auf die beiden, als sie an mir vorbeiging und sich neben mich auf die kleine Steinbank an den Teich setzte. »Puh, was für ein Chaos wir wieder haben, oder? Stell dir vor, die ganze Truppe wäre jetzt beisammen. Obwohl ich es liebe, wenn wir alle vereint sind.«

Wie recht sie hatte. Fast alle der Cork-Gang waren verreist oder würden bald verreisen. Trotzdem schafften wir es, Eileens Party in einen Treffpunkt für ein Hyänenrudel zu verwandeln.

»Wären wir alle da, hätte Eileen bestimmt eine Lärmbelästigungsanzeige bekommen, wie bei Henrys Geburtstag vor ein paar Wochen.« Quinn hatte seinem Freund eine riesen Party in einem Theater geschmissen, die wir danach hierherverlegt hatten. Das Motto: Henrys Löwen-Party.

»Erinnere mich nicht daran. Da hätte ich lieber bei dem Catering ausgeholfen.« Róisín bettete ihren Kopf in ihre Hände, und die glatten, platinblonden Haare fielen wie ein Vorhang um sie.

Seit Brodies Plakat in der Innenstadt fiel es mir noch schwerer, Astrologie von Brodie zu trennen. Dass meine Leute fast alle Astrologiefans waren, machte das nicht besser.

»Mhm. Aber … Dass du noch immer nebenbei bei diesem Cateringunternehmen aushilfst. Machst du jetzt schon wie lange? Seit du damals das Studium am UCC begonnen hast, oder?«

»Jup. Keine Ahnung, es ist eine schöne Abwechslung und gut zum Runterkommen. Ich bin denen auch dankbar, dass sie mir damals diesen Job gegeben haben. Außerdem sind die nur auf Events von Ultrareichen. Das ist wie abtauchen in eine andere Welt.« Ich liebte Ró für ihre bunte Sicht auf das Leben.

»Sag, Ró, kann ich dich etwas fragen?« Ich stellte meinen Teller mit dem Burger etwas schief auf den wild verwachsenen Rasen und verdeckte den Löwenzahn vor dem Teich.

»Was gibt’s?« Róisín stützte ihren Ellbogen auf dem Knie ab und ihr Gesicht auf ihrer Hand. »Gibt es einen Neuen?«

Brodies Gesicht ploppte auf, und ich verdrängte es genauso schnell wieder mit einem Kopfschütteln.

»Sondern?« Róisín stahl sich ein Kartoffelstück von meinem Teller und dippte es in die Erdnussbuttersoße.

Ich knetete meine Finger durch. Normal redete ich nicht. Also so generell schon. Manchmal. Jemanden zu nah an mein Innerstes kommen zu lassen, fiel mir schwer. Nie wieder wollte ich einen zweiten Brodie-Super-GAU. Ich merkte ja schon, dass ich mich selbst von Yoshi etwas betrogen fühlte, die mich hier allein gelassen hatte, obwohl ich ihr vielleicht 0,00004558 Prozent mehr von mir zeigte als allen anderen. Tolle beste Freundin – Okay, stopp! Das war unfair von mir.

»Robby?« Róisín stupste mich mit ihrer Schulter an. »Wir sind doch alle eine Family, oder?«

Ich schnaubte belustigt. Familie, na ja. Irgendwie schon. Aber obwohl sie mich alle ständig mitzogen, nein, mitzerrten, fühlte ich mich eher wie der Außenseiter. Nicht wirklich zugehörig. Aus Mitleid mitgeschleppt, weil Felix und Quinn mich gekorbt hatten und ich mit Yoshiko befreundet war. Ein Familiengefühl hatte sich eher mit den Leuten aus dem Hotel ergeben. Es schweißte einfach zusammen, Tag für Tag stundenlang aufeinanderzuhängen und unter den gleichen ätzend snobistischen Reisenden zu leiden. Diese Reisenden, zu denen auch bald Brodie gehörte. Ach scheiße.

»Ich, ähm.«

»Sag schon, Robin.«

Ich hob meinen Kopf etwas an und sah zu dem Wildpflanzenbeet. Quinn und Fergus rochen dort an ein paar Blüten. Und wie sie so nebeneinanderstanden und sich unterhielten, wurde mir völlig unzusammenhängend wieder einmal bewusst, dass Fergus mehr war als der Typ mit der Parfümerie. Der, der uns manchmal Ratschläge gab. Er war mit seiner Weisheit und seiner Präsenz ein perfekter Ruhepol der Gruppe. Auch wenn mir sein Gehstock etwas Sorgen machte. Vor ein paar Monaten hatte er den noch nicht gebraucht. Trotzdem stimmte allein sein Anblick mich etwas gelassener. Wie er dort stand zwischen all den bunten Farbklecksen, die so herrlich nebeneinander harmonierten. Ganz ohne Streit. Platz für jede Farbe, jede Art war einfach da. Der Anblick stimmte mein Herz friedvoller, hoffnungsvoller. Als wäre es in diesem Moment tatsächlich möglich, auch von meinem Inneren zu zeigen, ohne Verurteilung und Häme fürchten zu müssen. »Ich habe ein … ein …«

Mein Handy klingelte, und ich bedankte mich beim Universum für die Rettung. »Sorry. Moment.«

Lionels Name stand auf dem Display. Großartig. Danke für gar nichts, Universum. Ró schenkte mir ein mitleidiges Lächeln, und ich spürte ihren Blick auf meinem Rücken, als ich mich umdrehte und zur alten Steinmauer ging. »Ja?«

»Heyyy, wie geht’s unserem baldigen –«

»Lionel, bitte. Rufst du an, um mir zu sagen, ich kann doch Urlaub nehmen?« Nach all der Zeit, die ich inzwischen mit Lionel verbracht hatte, seit er das Hotel gekauft hatte – oder treffender, mit seiner Unzuverlässigkeit, seinem ständigen Fehlen und seinen Fehlentscheidungen, die das Team und ich immer und immer wieder mehr schlecht ausbügeln oder schlimmstenfalls einfach ertragen mussten – wusste ich, ich konnte so mit ihm reden. Er brauchte mich. Niemand sonst übernahm seine und meine Arbeit auf einmal für dasselbe mickrige Geld.

»Du weißt, dass das nicht – Augenblick.« Es raschelte, und ich hörte dumpfe Stimmen im Hintergrund. Natürlich war er wieder unterwegs. Nicht im Hotel, wo er hätte sein sollen. Vermutlich bei einer Affäre. Ob er auch seinen Deal mit Brodie vom Bett irgendeiner seiner Liebschaften aus gemacht hatte? Ufff. Nein, das wollte ich mir lieber nicht genauer vorstellen.

»Nein, nein, das ist okay so. Sie hätte das auch bestimmt so gewollt. Perfekt, der Termin für Montag mit der Nagelpflege passt, danke. Mit Sonja, genau.« Nagelpflege? Er rief sich eine private Nagelkosmetikerin nach Hause, während ich das Hotel retten sollte? Wieder ein Rauschen, als drückte er das Handy fester gegen seinen Körper. »Hier bin ich wieder. Also, du weißt, das geht nicht. Das mit Brodie muss klappen. Du weißt, wie es um das Hotel steht.«

Ich verdrehte gereizt die Augen. »Lass stecken, Lionel. Wir wissen beide, dass ich sogar besser weiß, wie es um das Hotel steht, als du. Ich kann dir gern noch mal schicken, was –«

»Gerade dann solltest du aufhören, ausgerechnet jetzt nach Urlaub zu fragen.« Lionels Stimme klang ungewohnt scharf. »Du warst derjenige, der gesagt hat, er hätte schon ganze Bands alleine bei Laune gehalten, dann wird doch so ein Podcaster kein Problem sein.« Er sprach jetzt sehr schnell, während hinter ihm ein merkwürdig ruhiger Trubel zu herrschen schien.

»Ja, damals lief das Hotel auch noch gut.«

»Habe ich da ein Ja gehört? Sehr gut, dann bis … dann.« Lionel legte auf.

Große Klasse.

Ró saß immer noch da, als ich zurückkam. Hoffentlich hatte sie mittlerweile vergessen, worüber wir gesprochen hatten.

»Also? Was wolltest du sagen vorhin?« Na toll. Wieso überraschte mich das nicht?

Wenigstens hatte Lionel mir jetzt den perfekten Ausweg geliefert. »Ich wollte Urlaub nehmen, aber mein Chef lässt mich nicht. Stattdessen soll ich die nächsten Wochen sogar mehr arbeiten, was krass nervt. Du hast nicht zufällig ein paar Anti-Nerv-Chef-Tipps?«

Róisín zog ihre Brauen zusammen. Sie merkte wohl, dass ich log. Aber sie sagte nichts dazu. Stattdessen stand sie lächelnd auf und hielt mir ihre Hand hin. »Klar. Darin bin ich Expertin. Meine Chefin drängt mich jedes Mal, wenn meine Artikel für unser Medizinmagazin zu spät kommen, und nennt mich immer faul. Dabei ist es einfach nicht leicht, über diese Transitionsthemen zu schreiben, und ich will der trans Community nichts Falsches sagen oder zu wenig recherchieren. Ich schreibe gerade wieder über die Trachealrasur und habe letztes Mal schon ein paar Risiken vergessen darüber, was beim Abschaben von einem Teil des Adamsapfels passieren kann. Da haben sich zu Recht Leute beschwert, und obwohl sie das weiß, na ja, egal. Es geht um dich.«

Ich nahm ihre Hand an und ließ mich hochziehen. Ró war auch so eine Person, die ich echt vermissen würde, wenn sie bald die USA unsicher machte. Familie oder nicht, es war unmöglich, sie nicht gernzuhaben.

»Zum Glück kenne ich den einfachsten und besten Weg, um sich von so was abzulenken.« Róisín lief ein wenig vor. Im Gehen deutete sie auf meinen Burger. Ich nahm ihn mit und folgte ihr zu Quinn. Auf dem Weg gönnte ich mir einen Bissen. Gewürze, saftige Soßen und knackiges Gemüse vermischten sich mit dem veganen Schmelzkäse. Herrlich. Felix sollte lieber ein Kochbuch schreiben statt seine kitschigen Weihnachtsgeschichten. Wie er das überhaupt neben seinem Kulturstudium schaffte, war mir ein Rätsel.

»Triff dich einfach öfter mit uns, wir sorgen dann schon dafür, dass du die Arbeit vergisst.« Róisín grinste. »Na ja, okay, wenn wir bald alle herumreisen, wird’s ein bisschen kompliziert, aber du kannst immer noch zu Fergus gehen oder Quinn im Laden nerven oder bei Eileen in der Bar abhängen. Und wenn das nicht reicht, facetimen wir, okay? Wir werden dir einfach keine Gelegenheit lassen, genervt zu sein.« Sie breitete ihre Arme aus und erwischte dabei Fergus am Hinterkopf.

Er drehte sich etwas gebückt um, und feine Äderchen spannten sich über seine Wangen, als er uns angrinste.

»Ist ja schon gut, ich lasse deine Blumen in Ruhe, Eileen. Oh, ihr seid es.« Er rieb sich über seinen grauen Schnauzer. »Was ist los?«

»Sorry, Gus. Ich habe dich übersehen. Helfe Robin gerade bei seinem Chefproblem.« Róisín richtete Fergus’ weißen Hut, der perfekt zu seinem weißen Anzug passte. Ein wenig übertrieben für eine Gartenparty, aber er liebte es, sich gut zu kleiden. Seine Augen wirkten heute etwas kleiner, geröteter, und generell kam es mir jedes Mal vor, als nähme er mehr und mehr ab. Aber gut, er war ja auch schon älter und kämpfte mit seinem Parfümladen ums Überleben.