Zorn und Stille - Sandra Gugic - E-Book

Zorn und Stille E-Book

Sandra Gugić

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was heißt es, aus einem Land zu kommen, das es nicht mehr gibt? Die Fotografin Billy Bana ist eine moderne Nomadin, die ihre Herkunft scheinbar hinter sich gelassen hat. Als ihr Vater stirbt, wird Billy von der Vergangenheit eingeholt, ihrem Aufwachsen als Gastarbeiterkind in Wien: Was wurde aus den Träumen ihrer Eltern? Warum kam es zum Bruch mit ihrer Familie? Und wie konnte ihr kleiner Bruder bloß spurlos verschwinden?  Ein brillant erzählter Familienroman über Freiheit und Verantwortung, Liebe und Verlust, Herkunft und Selbstbestimmung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 304

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sandra Gugić

Zorn und Stille

Roman

Hoffmann und Campe

Für meine Komplizen

A. und C.

Überleben (SURVIE) [ist] ein ursprünglicher Begriff, der die Struktur selbst dessen darstellt, was wir Existenz oder DASEIN nennen […] Wir sind strukturell gesehen Überlebende. Jacques Derrida

Prolog

Es geht hier nicht um mich. Es geht um ein Auge. Es ist der Blick, der die Geschichte zusammenhält. Der Standpunkt des Auges ist der Ausgangspunkt der Erzählung.

*

Es war ein Tag mit gutem Licht. Schritte hallten in den leeren Räumen, durch die Fenster drangen die Farben und der Lärm des Draußen, die Geräusche der Stadt als beständiges Summen und Dröhnen, hier drinnen war es still. Sie ging die Zimmer ab und versuchte zu verstehen, was geschehen war, wer sie sein würde, welche Version von sich sie bis zu diesem Augenblick gewesen war. In der Mitte des Wohnzimmers hielt sie einen Moment inne, kratzte mit der Schuhspitze den schmalen Spalt zwischen den Dielen entlang. Kies, Erde und Staub hatten sich darunter gesammelt. Diese Räume hatten einen Teil ihrer Geschichte erzählt. Die Geschehnisse und Begebenheiten, die sich ihren Platz gesucht hatten, befanden sich bereits in der Umerzählung, schon jetzt begann das Möblieren von neuem, das Besetzen, das Zuschreiben. Unten vor dem Fenster trugen fremde Menschen die restlichen Dinge weg, Erinnerungen in verschiedenen Aggregatzuständen, Persönliches, Dinge des Alltags, Souvenirs, nein, keepsakes, in Gedanken nahm sie Wörter zurück, um sie gegen geeignetere zu ersetzen, als wäre das Denken die Arbeit an einer Struktur, die wieder und wieder verbessert werden musste, und als läge die Wahrheit im andauernden Verschieben der Perspektive. Die Dinge, die sie freigegeben hatte, wechselten ihre Besitzer, verbanden Fremde für einen Moment miteinander. Wahrscheinlich sind wir alle ebenso verbunden, wie wir voneinander getrennt sind, ob wir es nun anerkennen oder nicht. Sie lehnte sich gegen das Fenster, ihr Blick wanderte über eine überschaubare Menge Vergangenheit, einen Stapel Holzstühle, ein grünes Sofa, einen Tisch mit abgeschlagenen Ecken, klein- und großformatige Bilder, Schuhschachteln voller unbelichteter Filme und Kleinkram, dazwischen bewegten sich die Köpfe der Fremden, wechselten ihre Position, ihre Hände suchten, griffen nach etwas, um es ausgiebig zu begutachten, es zurückzulegen und gegen etwas anderes zu tauschen. Eine Choreographie von Entscheidungen, ausgeführt von Schritten und Händen. All diese Dinge, die sie nicht mehr im Detail beschreiben hätte können, schienen farblos geworden zu sein, hatten ihre Form und alle Besonderheit verloren. Die Kartons, die sie am Gehsteig aufgereiht hatte, leerten sich nach und nach, Menschen trugen ihre neuen Schätze fort, ohne sich nach einer Besitzerin umzusehen. Einen Augenblick lang fror sie die Szenerie ein: Der Mann, der mit beiden Händen in einer Kiste wühlte, und die Frau, die zwei Stühle aufeinandergestapelt hatte, verharrten in ihrer Bewegung, das weiche Licht des Nachmittags zeichnete ihre Gesichter, freezeframe, das Bild fügte sich in all die Bilder des Tages, die sie nicht fotografiert hatte. Heute wollte sie keinen Rahmen um die Dinge ziehen, keinen Ausschnitt wählen und damit einen anderen Blickwinkel, eine abweichende Erinnerung ausschließen. Mit jedem Stück, das fortgetragen wurde, verlor sie an Gewicht, wurde leichter. Sie begann, niemand mehr zu sein. Niemand blickte hoch zu den Fenstern, dorthin, wo sie saß und das Schauspiel verfolgte. In der Ecke des Raumes stand das Festnetztelefon, sie hatte es noch nie benutzt, daneben das Kabel, das nicht mehr in der Wand steckte. Sie hatte vergessen, das Gerät an die Telefongesellschaft zurückzuschicken. Hin und wieder zogen Flugzeuge über dem Haus vorbei, stellten die Uhren für einen kurzen Moment auf Echtzeit, bevor sie verschwanden. Sie erinnerte sich an die Anrufe bei ihnen zu Hause, damals, in den Neunzigern, den rasselnden Klingelton, seine Monotonie, sie war noch ein halbes Kind, sie erinnerte sich an die Aufregung der Stimme auf der anderen Seite der Leitung:

– Seid ihr Serben oder Kroaten? Serben oder Kroaten?

Die Wahrheit auf der einen Seite der Leitung und jene auf der anderen markierten zwei simultane Ereignisse, während der eine sprach, raste auf der anderen die Zeit, zwei parallele, sich gegenseitig ebenso verstärkende wie ausschließende Prozesse. Irgendjemand wollte die Wahrheit in Kategorien stecken, Schwarz und Weiß, Gut und Böse, kein Mensch, nur die Wahrheit von irgendjemand hatte bei ihnen angerufen, während ein Flugzeug über diesem Zuhause hinwegdonnerte, das sich weder in Serbien noch in Kroatien befand, sondern in einer Einflugschneise, andernorts, in Europa, in der Pause zwischen zwei Fliegern, in der Stille, die eine Seite der Wahrheit von der anderen trennte.

Sie folgte mit den Augen den Linien der Kondensstreifen, die den Himmel zerschnitten, und war sich gleichzeitig sicher, dass sie bereits in diesem oder dem nächsten Flugzeug saß und einen Plan fasste, was weiter mit ihr geschehen sollte.

I. Billy, September 2016

Wenn du mittendrin in einer Geschichte steckst, ist es noch keine Geschichte, mehr ein Getöse, ein Rauschen. Es beginnt erst eine Geschichte zu werden, wenn du sie jemandem erzählst. Zu diesem Zeitpunkt kann ich mich selbst nicht mehr hören. Aber die Erzählerin, das bin immer noch ich.

*

Ich hasste die Routine des Reisens, den Maschinenpark der Flughäfen, den Geräuschteppich in den Hallen, die Verbissenheit der Gehetzten, ich hasste den Urlaubsfluggastenthusiasmus ebenso wie die Vielfliegerbusinessarroganz, jedes Mal beim Betreten eines Flughafens gingen mir die gleichen Zeilen durch den Kopf, in der Einsamkeit der Flughäfen atme ich auf, ich bin ein Privilegierter, mein Ekel ist ein Privileg, ein gekipptes Mantra aus dem Zitatwald meines Hirns, die Zuverlässigkeit dieser Erinnerung glich dem Automatismus der sichtbaren und unsichtbaren Abläufe, dem Rhythmus der Gepäckbänder, der Lautlosigkeit der gläsernen Schiebetüren, dem unermüdlichen Öffnen und Schließen der Ein- und Ausgänge. Vor dem Flughafengebäude zählte ich das erste Bild des Tages, das ich nicht fotografierte: an der Bushaltestelle eine Frau um die sechzig. Blondiert und toupiert. Zu ihren Füßen zwei Reisetaschen, an den Henkeln flatterten pinkfarbene Geschenkbänder. Die Augen geschlossen. Auf dem Gesicht Sonne und scheinbar pures Glück. Ich hasste das Reisen und konnte dennoch nie lange an einem Ort bleiben.

Heute war mir, als bewegte ich mich an der Oberfläche einer dünn gewordenen Außenhaut der Dinge, sie schien sich unter meinem Gewicht, der Last meiner Gedanken weiter zu spannen, bis kurz vor dem Zerreißen. Oder machte ich mir etwas vor, weil ich etwas fühlen wollte, war da gar nichts, setzte ich meine Schritte in einem Vakuum. Ich musste an den Trick mit der Muschel denken, die uns, gegen das eigene Ohr gedrückt, Meeresrauschen hören lässt, dabei ist es nicht einmal das Rauschen unseres eigenen Blutes. Was wir hören, sind die Frequenzen unserer unmittelbaren Umgebung. Sie haben uns reingelegt, als Kinder schon.

Der Pass, den ich über das Pult schob, war mein guter Pass, mein A-Land-Pass, damit war ich überall willkommen, weitgehend visafrei, und wenn nicht, stellte auch das kein Problem dar, dabei hätte ich diesmal den anderen nehmen können, den ich noch nie verwendet hatte, meinen serbischen Pass. Aus einem diffusen Schuldbewusstsein heraus konnte ich den unnützen Pass nicht seinem Ablaufdatum überlassen, hatte ich ihn trotzdem jedes Mal wieder verlängern lassen. Ich musste an den Konsulatsbeamten denken, der mich auf mein Zögern, eine seiner Fragen zu beantworten – mein Zögern, das nichts weiter war als ein Suchen, ein Tasten nach den richtigen Worten in dieser Sprache, weil ich die Sätze zuerst auf Deutsch dachte, nicht anders denken konnte –, gefragt hatte: Verstehen Sie nicht, oder wollen Sie nicht verstehen? An einem Herbsttag im holzvertäfelten Erdgeschoss der serbischen Botschaft im Grunewald, an den Wänden vergilbte Poster der Tourismuswerbung, die sich an den Ecken widerspenstig aufrollten. Ein Plakat zeigte den Rtanj, eine Gebirgskette aus Kalkstein, Schiefer, Sandstein und Dolomit, umgeben von Tannen, Buchen und Wiesen, der höchste Punkt des Massivs hatte die Form einer dreiseitigen Pyramide. Ich war nie da gewesen, aber Vater hatte mir davon erzählt, sein Rtanj, hatte er gesagt, dort war er gewandert als junger Mann, diese Wanderungen waren seine ersten Reisebewegungen gewesen. Mein alter Pass lag auf dem Schreibtisch des Konsulatsbeamten, und während er seiner Kollegin im Nebenzimmer zurief, dass hier vor ihm Eine von uns säße, fiel mir das erste Mal auf, dass auf dem Deckel meines blauen, 2005 ausgestellten, 2015 abgelaufenen Passes in kyrillischer Schrift Savezna Republika Jugoslavija–Bundesrepublik Jugoslawien stand. Dabei war die Bundesrepublik Jugoslawien 2003 in die Staatenunion Serbien-Montenegro umgewandelt worden, drei Jahre später löste sich die Staatenunion auf, Montenegro wurde unabhängig. Hatten die Mitarbeiter der serbischen Botschaft damals die Überreste des untergegangenen Landes im Passlager kreativ verwertet?

 

– Enjoy your flight, das routinierte Lächeln der Frau hinter dem Schalter, die Stimmen aus den Lautsprechern wiederholten ihr tägliches Mantra: Dear passengers, please proceed to. Ich stellte mir vor, wie meine Mutter am Check-in-Schalter in Wien alle fünf Minuten mit nervösen kleinen Bewegungen den Inhalt ihrer Handtasche kontrollierte, sie hatte sich für die Reise zurechtgemacht, aber nichts schien am rechten Platz zu sein, die Frisur war heute morgen nicht in Form zu bringen gewesen, das Make-up war hastig aufgetragen und jetzt schon in die Linien unter ihren Augen und um ihre Mundwinkel verlaufen, ihre Finger glitten über einen raschelnden Teppich aus Bonbonverpackungen, ein Kugelschreiber blutete Farbe in das Innenfutter, etwas Blau blieb an ihrem Zeigefinger haften, dann ertastete sie ihr Ticket und atmete erleichtert aus, während der Sarg meines Vaters in den Bauch eines Flugzeugs glitt. Ich kannte das genaue Prozedere, ich hatte die nötigen Anrufe gemacht, die Richtigkeit aller Abläufe geprüft, aber alles in die Wege geleitet hatte mein Vater selbst, schon vor Jahren war er mit dem Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens jede Etappe seiner letzten Reise durchgegangen, er hatte auf einer Tour bestanden, von den Arbeitsschritten in der Aufbahrungshalle bis zum Verladevorgang hatten sie alles durchexerziert, Vater wollte genau über diese letzte Reise Bescheid wissen, die ihn an den Ausgangspunkt, den er Heimat nannte, zurückbringen sollte. Es gab sogar ein launiges Video von dieser Tour. Ich weiß nicht, wer hinter der Kamera gestanden hatte. Im Video grinsten er und der junge Bestattungsunternehmer unaufhörlich, Vater strahlte eine kindliche Freude aus, beiden machte die Tour offensichtlich großen Spaß. Wie oft hatte ich ihn so fröhlich gesehen? Mein Vater war sein Leben lang bemüht, sein Gesicht nicht zu verlieren, hatte sich in Zurückhaltung geübt, sein Lachen war meist verhalten, auch sein Zorn war still, nach innen gerichtet, die kindliche Ausgelassenheit, die er auf den Bildern ausstrahlte, war mir fremd.

 

In der Flughafentoilette schob sich eine Frau umständlich samt ihrem Koffer in eine der Kabinen, ein paar Schritte weiter redete eine junge Mutter durch die Kabinentür schon eine ganze Weile auf ihr Kind ein, das sich auf der anderen Seite mit seinem Stuhlgang abzumühen schien, sie sprach in einem beruhigenden Tonfall, gab anschließend präzise Hygieneanweisungen durch. Vor dem Waschbecken neben mir putzte eine Backpackerin eifrig ihre Zähne, auch sie hörte der Mutter zu, unsere Blicke begegneten einander einen Moment, wir wurden Komplizinnen, sie grinste, grünliche Schaumbläschen zwischen den Lippen. Unsere Gesichter im Spiegel, die Mutter im Hintergrund, das Neonlicht färbte unsere Haut gelb, natürlich hätte ich sie fragen können, zumindest die Backpackerin, wahrscheinlich hätte sie ja gesagt. Ich zählte das zweite Bild des Tages, das ich nicht fotografierte. Der Bewegungsmelder unter dem Wasserhahn wachte geizig über meinen Verbrauch, in mehreren Anläufen kühlte ich mein Gesicht, meinen Nacken, meine Schläfen. Mein Spiegelbild sah mich an: Wenn du an deinen Vater denkst, was ist deine erste Erinnerung? Ich suchte und fand kein Bild, keinen Geruch, keinen Ton, an dem ich mich festhalten konnte, nur eine Leerstelle.

Parfum, Tabak und Schweiß, ich schnupperte an meinem T-Shirt, das war ich, ich musste vergessen haben zu duschen. Als ich frühmorgens das Taxi bestellt hatte, wollte mir meine Adresse im ersten Moment nicht einfallen, ich hielt vor dem Fenster inne, mein Blick verlor sich zwischen den Häusern, fing sich an der Fassade gegenüber an einem Balkon, von dem aus mich eine graue Katze fixierte. Die Stimme am anderen Ende der Leitung änderte ihren Ton von freundlichem Singsang zu Ungeduld, im nächsten Augenblick rollte der Name der Straße wie von selbst über meine Lippen. Ich war erst seit ein paar Wochen in Budapest, hatte mich kurz nach meinem vierzigsten Geburtstag hier verschanzt, um Ruhe zu finden und eine Idee, wie es weitergehen konnte. Meine Arbeit war nur ein Vorwand gewesen, um einmal mehr aufzubrechen, Berlin und eigentlich die Beziehung zu Ira Goldfarb für eine Weile hinter mir zu lassen. Im Gepäck hatte ich nur das Nötigste, meine Kameratasche, ein Stativ, meinen Laptop und wenige Kleider. Alles in meinem Leben war provisorisch, ich hatte mich in diesem Übergangszustand eingerichtet. Mein Aufbruch war einem vertrauten Muster gefolgt. Wochen davor war ich, wie jedes Mal, unangekündigt vor Iras Tür in Berlin aufgetaucht. Wir waren seit Jahren in das Leben der anderen verstrickt, sie war die Erste gewesen, die an mich geglaubt hatte, sie war es gewesen, die mir meine ersten Ausstellungen ermöglichte. Niemand war mir so nah wie sie, seit unserer ersten Begegnung konnte sie mich lesen. Wir setzten nahtlos dort an, wo wir uns getrennt hatten, verbrachten erst ein paar Tage am Stück gemeinsam, schließlich holte ich meine Sachen aus dem Hotel in ihre Wohnung. Tage und Stunden verschwammen in unserer Blase, wurden zu Wochen, in denen sich unser gemeinsamer Radius verkleinerte. Wir zirkelten von Bett zu Küche, tranken Wein auf dem Wohnzimmerboden, saßen im Restaurant unten an der Ecke, das man von Iras Wohnzimmer aus sehen konnte, hockten stundenlang auf ihrem winzigen Balkon, redeten und rauchten, schmiedeten Pläne, Arme und Beine ineinander verschlungen. Wir schliefen ab und zu miteinander, aber das war nicht mehr so wichtig wie früher und bestimmt nicht das, was uns über die Jahre verbunden gehalten hatte. Nach jeder längeren Trennung erforschte ich Ira Goldfarb aufs Neue, hielt die Veränderung und das Vertraute in meinen Bildern fest, vergrößerte und verkleinerte sie in jeder Perspektive, die ich finden konnte, unsere Gemeinsamkeit war intensiv, symbiotisch, es war, als würde ich meinen eigenen Geruch ablegen. Ich tauchte unter bei Ira, ließ meine Welt angenehm farblos und ruhig werden, sammelte meine Kräfte. Eine Erschöpfung hatte sich in mir breitgemacht und mich an meinen Ausgangspunkt zurückgebracht. Normsehnsüchte drangen in mein Leben ein, nach dem Schutz einer Beziehungsblase, nach Geborgenheit, dem Gefühl von Sicherheit, von außen überfluteten sie das Innen, der Abgrund wurde mir sichtbar, zwischen dem Allgemeinplatz-Glück und dem Ist-Zustand meines Lebens. Aber trotz des Friedens, den ich bei Ira fand, trotz der Klarheit unserer Gespräche, sah ich nicht ein, warum oder wie mein Leben dauerhaft zur Ruhe kommen sollte. Nach einer Weile, wenn ich mich erholt hatte, musste ich weiter, jedes Mal war das so, Ira wusste das, ihr musste ich nichts erklären, weder meine Rückkehr noch meine Abreise. Aus den Augen verloren wir einander trotzdem nie. In letzter Zeit fragte ich mich, ob es mein freier Wille war, der mich in Bewegung hielt, oder ob mein Verhaltensmuster den Zwängen der Vergangenheit wie auch den Erfordernissen des Kommenden geschuldet war. Allein war ich stärker, fiel mir die Gegenwart leichter, blieben alle Möglichkeiten offen. Auf jeden Fall war es an der Zeit, Berlin wieder zu verlassen.

Die beruhigende Fremdheit von Budapest nahm mich zuverlässig wieder auf, ich glitt durch die Tage, verlief mich absichtlich, fand mich als kleinen blauen Punkt auf meinem Display im Netz der Straßen wieder. Bald nach meiner Ankunft begann ich wieder zu arbeiten, an der Fortsetzung einer Serie von Porträts. Bereits im Jahr zuvor hatte ich ein paar Wochen hier verbracht, im Sommer der ersten großen Welle von Geflüchteten, in dem ich Balász und Skip kennenlernte, die sich am Budapester Ostbahnhof um die Menschen kümmerten. Skip war als amerikanischer Tourist in die Stadt gekommen, ein Reiseblogger auf Zwischenstopp, der es gewohnt war, die Welt wie eine Speisekarte zu studieren und zu beschreiben, aber die Szenen am Bahnhof, ein Gefühl von Verantwortung und vor allem die Bewunderung für Balász und dessen leidenschaftliches Engagement hielten ihn in der Stadt fest. Damals, als Viktor Orbán verkündete: Es gibt kein Grundrecht auf ein besseres Leben, und die Bahnverbindungen für die Geflüchteten schloss, dann saßen sie fest an den Bahnhöfen, bis die ersten Gruppen sich sammelten und zu Fuß weiter auf den Weg machten, entlang der Schnellstraßen, der Autobahnen. Ungefähr zu dieser Zeit fanden Balász, Skip und ich einander und wurden eine eingeschworene kleine Gruppe. Unsere Gemeinschaft war auf Zeit, das machte unsere Begegnung direkter, intensiver und gleichzeitig die Nähe leichter zu ertragen. Mir gefiel die Idee, die beiden zu begleiten, um die Gesichter der Gestrandeten und der Durchreisenden festzuhalten. Zum Zeitpunkt meiner Rückkehr, ein Jahr später, war der Strom nahezu verebbt, neue Grenzen waren gezogen worden, und die Geflüchteten mussten neue Routen finden. Skip war gegen alle Erwartungen bei Balász geblieben, und ich fand die beiden ebendort wieder, wo wir uns zuletzt gesehen hatten, beim Mittagstisch in ihrer Stammkneipe. Skip trug eines seiner mit schreienden Imperativen selbstbedruckten T-Shirts: This is a woman’s world. Dabei ging es ihm vor allem um seinen geschlossenen Mikrokosmos, um seine Sicht der Dinge, jeden Widerspruch, jedes Infragestellen sah er als persönlichen Angriff, aber ich hatte mich entschieden, ihn und sein zerbrechliches Selbstbewusstsein zu mögen. Balász war im Gegensatz dazu bedacht und zurückhaltend in allem, was er tat oder sagte, er verfügte über einen scharfen Verstand, der mit Empathie gepaart war, ich kannte kaum jemanden, der intelligenter und zugleich bescheidener war. Ich nahm mir vor, was ich beim letzten Mal versäumt hatte: ein Paarporträt von ihnen zu machen. Die beiden hatten nach wie vor einen Platz für mich, nicht nur an ihrem Stammtisch, sondern in ihrer Mitte, und ich nahm meine Arbeit unter veränderten Umständen wieder auf.

 

Als meine Mutter mich anrief, fragte sie, ob ich mich an das Kaninchen erinnern würde. Ich überlegte einen Moment.

– Den Hasen?, fragte ich.

– Nein, das Kaninchen, sagte mein Mutter, unser Kaninchen.

Ich erinnerte mich. Meine Tante war damals Reinigungskraft in einer Tierversuchsklinik. Sie wusste, dass ich mir nichts mehr wünschte als einen kleinen Hund, ich sprach von nichts anderem. Das brachte sie auf die Idee, mir einen weißen Hasen aus der Klinik mitzubringen, ein hochnervöses Tier, das sie, ihren eigenen Angaben nach, gerettet hatte. Das Tier kam in einem Käfig, den wir unter ein Fenster unserer Wohnung stellten, wo der Hase an den Nachmittagen in einem Streifen Sonnenlicht baden konnte. Aber ich ertrug es nicht, den zitternden Hasen in der Enge seines Käfigs sitzen zu sehen, und ließ ihn – entgegen der Anweisung meiner Mutter – in der Wohnung frei, er lief den ganzen Tag wie verrückt die Wände entlang, hinterließ dabei überall Kötel, in den Ecken und unter den Möbeln. Mutter mochte keine Tiere, der Geruch erinnerte sie an den harten Alltag als Bauernkind, doch sie ertrug die beengte Wohnsituation mit dem Hasen erstaunlich lange, bevor sie das Tier fortbrachte. Sie versprach mir, was alle Eltern ihren Kindern versprechen: Der Hase würde es anderswo besser haben, auf dem Land in einem offenen Gehege.

– Das Kaninchen, korrigierte meine Mutter am anderen Ende der Leitung.

– Ja, gut, das Kaninchen, sagte ich.

Sie erzählte mir, dass sie das Kaninchen, das den ganzen Tag unseren Schuhschachtelwohnraum zuschiss, aus einem Aberglauben heraus so lange ertragen hatte. Das Kaninchen hatte eine Erinnerung in ihr wachgerufen. Sie und mein Vater hatten auf ihrer ersten Reise nach Wien, im Sommer 1977, beinahe einen Unfall, als ihr Wagen auf der Autobahn einen Hasen erfasste. Es gibt ein Foto, auf dem meine Eltern sich umarmen, auf einem Rastplatz irgendwo zwischen Belgrad und Wien, vielleicht in Ungarn. Sie machte eine lange Pause. Dann sagte sie:

– Dein Vater ist tot.

 

Mein Vater ist tot. Der Satz als Echo in meinem Kopf. Zum ersten Mal aussprechen konnte ich ihn Ira gegenüber. Dann erst wurde er wahr.

 

Seit ich mit siebzehn Jahren mein Elternhaus verlassen hatte, war ich unterwegs gewesen, hatte vermieden, zu lange irgendwo zu bleiben, dabei war ich eine unaufmerksame Reisende, meine Erinnerung hielt Gesichter, Licht und Landschaft viel eher fest als die Namen der Straßen und Orte. Meine Großeltern hatten ihre Dörfer nie verlassen. Mein Großvater hatte mir als Kind auf meine Frage, ob er niemals Lust gehabt hatte zu verreisen, geantwortet, auch der Wechsel der Jahreszeiten sei eine Reise. Ich habe immer in Städten gelebt und verstand erst spät, dass die Jahreszeiten den Takt seines Lebens bestimmten, seinen Alltag auf dem Hof. Großvater hatte akzeptiert, aber nicht befürwortet, dass meine Mutter nicht nur das Dorf, sondern bald darauf auch das Land hinter sich gelassen hatte, und ich fragte mich, was er zu meinem Leben gesagt hätte. Peter Pan nannte mich meine Mutter, eine Touristin auf endloser Vergnügungsreise, eine Getriebene, sie verstehe nicht, was das für ein Leben sein solle, überhaupt für eine Frau. Es gibt nur wenige Fotos von meinem Großvater als jungem Mann, eigentlich ist es eine einzige überbelichtete Serie, die ihn im Sonntagsanzug zeigt, er trägt einen Strohhut mit runder Krempe und breitem Band, der Hemdkragen ist akkurat gestärkt, das dunkle Sakko sieht weich aus, die hellen Augen sind leicht zusammengekniffen, die Kontur der Lippen wirkt ungenau gezeichnet. Auf diesen Aufnahmen gleicht sein Ausdruck dem meinen.

 

Ich war vielleicht elf Jahre alt, lag auf dem Bauch, flach auf der Erde, die Augen geschlossen, lauschte dem gleichmäßigen Geräusch, dem Rhythmus der Axt auf dem Hackstock. Großmutter hackte Holz vor der Scheune, an ihren Armen zeichneten sich deutlich die Adern ab, jede Sehne schien angespannt, während mein kleiner Bruder über mir hockte,

– Mach die Augen zu! Dreh dich nicht um! Pass auf!,

und mit seinem Finger Buchstaben auf meinen Rücken zeichnete. Wir übten das Alphabet, ich hatte es ihm zu Beginn der Ferien beigebracht, auf der langen Autofahrt von Wien hierher ins Dorf hatten wir geübt. Jeden Sommer verbrachten wir bei den Großeltern. Großmutter mit ihren knapp ein Meter fünfzig und einem Körper, der nur aus Sehnen und Muskeln zu bestehen schien, konnte stundenlang Holz hacken, mühelos mit uns Kindern um die Wette laufen, störrische Schafe einfangen, den betrunkenen Großvater quer über die Wiese vom Hoftor bis vors Haustor schleifen – das war die Vorstellung von ihr in meiner Erinnerung. Wenn ich an Großvater denke, rieche ich Schwarztee, sehe die Handbewegung, mit der er den Bodensatz seiner Tasse, ein Rest Flüssigkeit und Teeblätter, in hohem Bogen auf die Wiese kippt. Eines Tages klagte er über heftige Schmerzen in der Brust, und nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus in der Stadt, das er nie wieder betrat, saß er nur noch im Hof, trank seinen Schwarztee, drehte Zigaretten, überließ der Großmutter und meinem Onkel alle Aufgaben, wurde langsam weniger, verschwand mit jedem verstreichenden Tag ein bisschen mehr, so hatte es mir meine Mutter erzählt. Die Ankunft im Dorf war für uns jedes Mal wie eine Mondlandung, der Hof der Großeltern ein fremder Planet, den wir Kinder jede Sommerferien aufs Neue staunend entdeckten. Hier herrschten andere Regeln, Gesetzmäßigkeiten und Pflichten, hier tönte alles in einer eigenen Sprache. Ich hatte schon damals keinerlei Erinnerung daran, dass ich meine ersten beiden Lebensjahre auf dem Hof, ohne meine Eltern, verbracht hatte. Hier hatte ich meine ersten Schritte gemacht, meine ersten Worte gesprochen. Die Sprache der Großeltern, unsere Muttersprache, war mir nicht fremd geworden, aber zu Hause benutzten wir sie anders, wie einen Code, ein Kauderwelsch aus Österreichisch und Serbisch, wobei wir nicht Serbisch sagten, sondern Jugo, und ins Jugo von Mutter und Vater auch die Dialekte und regionalen Unterschiede unseres Familienpuzzles hineinspielten, die deutlich von der standardisierten serbokroatischen Amtssprache abwichen, mit der vor allem die Sprache meines Vaters, sein regionaler Dialekt, zusammengebraut im Dreiländereck von Serbien, Bulgarien und Rumänien, nichts gemein zu haben schien. Den Hof seiner Eltern hatte auch meine Mutter nur ein einziges Mal gesehen. Er hatte den Kontakt zu seinem Vater vor langer Zeit abgebrochen, und so blieb uns auch seine Sprache fremd. Die Amtssprache oder Hochsprache jedes Landes ist immer das Ergebnis von Kompromissen, Zwang und Politik. Bis heute war ich mir nicht sicher, wie meine Muttersprache korrekt zu bezeichnen wäre. Meine Eltern konnten nicht wissen, dass die Amtssprache nach den Kriegen in Vergessenheit geraten musste, die unabhängigen Staaten buchstabierten sich neu, während ich meine sogenannte Muttersprache nur sprechen, aber nicht schreiben gelernt hatte und sie schon bald nur noch mit deutschem Akzent und schiefen Vokalen hervorbrachte, um Worte verlegen war, bevor sie mir nach und nach ganz verloren gingen. Jeden Sommer aufs Neue kostete ich Laute, die ich übers Jahr kaum benutzt hatte, die sich eckig anfühlten, scharfkantig, Papier, das Haut ritzt. Die Kinder aus dem Dorf zeigten mit dem Finger auf meinen Bruder und mich, staunten und lachten gleichermaßen über unsere offensichtliche Andersartigkeit. An manchen Nachmittagen trafen wir im nahegelegenen Wäldchen oder am Fluss aufeinander, um zu spielen oder zu kämpfen, je nach Gruppenzwang und Tagesverfassung. Sie tuschelten miteinander und sagten es gerade laut genug, dass wir es hören konnten:

– Tun die bloß so? Tun die bloß so, als könnten sie nicht ordentlich sprechen?

 

Zu Hause war damals die Vorstadt von Wien, dieses Zuhause mit seinen strengen Regeln holte uns jedes Jahr nach den Ferien zuverlässig wieder ein. Das oberste Gebot meiner Eltern war das aller braven Migranten: um keinen Preis auffallen oder Aufsehen erregen, unsichtbar und unangreifbar sein vor den Blicken und dem Urteil der Anderen. Sie waren Gastarbeiter, ihr Bleiben war nicht vorgesehen. Wir lebten in einem Häuserkomplex aus roten Backsteinen, in einer Substandardwohnung im zweiten Stock, die aus einem Zimmer und einer Küche bestand. Die Wände waren so dünn, dass man die Nachbarn husten, streiten, lachen und ficken hören konnte, das Gurgeln in den Wasserleitungen, das Klappern in den Küchen, Schritte auf Holzböden, gedämpfter auf Linoleum, manchmal das Trappeln von Pfoten, obwohl das Halten von Hunden nur in Ausnahmefällen erlaubt war. Unter der Spüle in der Küche lagerten wir eine Sitzbadewanne aus Plastik, die Toilette befand sich auf dem Hausflur. Unsere Wohnung war schuhschachtelgroß, aber ich erinnere mich nicht, dass ich Mangel empfunden hätte. Nur wenn andere Kinder zu Besuch kamen, erzählte ich, dass da noch andere Zimmer wären, auf einer anderen Etage des Hauses, verkaufte ihnen unser einziges Zimmer als Wohn- oder Spielzimmer. Ich wusste, dass die anderen in Häusern und großen Wohnungen lebten, ich war dort gewesen, ich wollte nicht, dass sie uns bemitleideten, auf uns herabsahen. Eigentlich war die Geschichte von den verborgenen Zimmern die Wahrheit. Mein Leben bestand aus diesen versteckten Räumen, doppelten Böden und gespiegelten Perspektiven.

 

Ich erinnere mich an die Angst auf dem Weg zur Toilette. Den schweren Schlüssel in der Faust umklammert, zählte ich meine Schritte und war mir jedes Mal sicher, dass hinter der Tür, auf der anderen Seite des Flurs, der zu den Gemeinschaftstoiletten führte, ein Abgrund sich auftun und ich fallen würde. In vielen Sprachen ist Enge der semantische Kern von Angst. Jahre später würde ich lernen, dass das Wort Angst selbst ein Migrant ist, der sich auch in die englische Sprache eingebürgert hat.

Im gleichen Haus wie wir lebte eine unscheinbare junge Familie, die den Zeugen Jehovas angehörte. Sie hatten einen kleinen Sohn, ein zarter rotblonder Junge, der immer höflich grüßte, weil er musste, so wie auch ich angehalten war, höflich zu sein. Ich bewunderte heimlich die Sommersprossen auf seiner durchscheinenden Haut, manchmal hob sich der Vorhang seiner hellen Wimpern, und unsere Blicke hielten sich im Stiegenhaus aneinander fest, nur für Augenblicke, in denen wir einander als Außenseiter erkannten und vielleicht die Angst des einen im anderen. Dann hielt seine Mutter ihn an zu grüßen, der Klang ihrer Stimme ließ ihn den Blick sofort wieder senken, ihre Hand zog ihn weiter, die Treppen hoch, fort von mir.

 

Den Kleinkrieg der Nachbarn in der Siedlung verfolgte ich wie einen Krimi. Da war der alte Hausmeister, der gern mit nichts als seinen weißen Feinrippunterkleidern und weißen Sportsocken in Plastikbadeschuhen über den Flur zu den Toiletten schlurfte, er führte Krieg gegen eine junge Frau, die allein lebte und gerne bei offenem Fenster vögelte, das Echo ihres Stöhnens hallte im Hof, drang durch die dünne Wand, wir wohnten nebenan. Ich wusste schon ungefähr, was da vor sich ging, und wenn ich mein Ohr an das Mauerwerk legte oder meine Hand, schien es mir, als könnte ich die fremde feuchtgeschwitzte Haut berühren. Die Frau hielt sich zur Empörung des Alten darüber hinaus auch einen kleinen Hund, sein Kläffen hallte durch die Flure, manchmal spätabends oder nachts, vielleicht befeuerte er das Gevögel seiner Besitzerin. Kurwa, fluchte der Alte, und ich wusste, was das bedeutete. Dabei störte er sich wahrscheinlich nicht am plakativ hörbaren Sex, sondern an ihrem Hund. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit fand sich ein großer Rinderknochen, an dem noch ein paar Fleischfetzen hingen, vor der Tür der jungen Frau. Der Knochen war kein Geschenk – das Schoßhündchen, das von der Frau hauptsächlich getragen wurde, hätte ihn niemals angerührt –, sondern eine Drohung. Einmal, frühmorgens auf dem Weg zur Toilette, ertappte ich den Alten, wie er im Flur stand, vor ihrer Tür, die Unterhose merkwürdig verrutscht, in einer Hand den Rinderknochen, mit der anderen Faust rieb er seinen blassroten, schlaffen Penis. Hinter der Tür das Stöhnen. Er bemerkte nicht, dass ich eine Weile dastand und mich nicht von dem Bild lösen konnte, hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Neugier.

 

Mein Vater achtete darauf, dass der Fernseher immer ganz leise gedreht war, um nur ja die Nachbarn nicht zu stören, er lief nur im Flüsterton, und doch wurden meine Eltern oft laut miteinander, fielen einander ins Wort, schrien und fluchten, und im Chaos unserer Wirklichkeit liebten sie einander ebenso. Der Krieg zwischen meinen Eltern, ihr Kampf zwischen Begehren und Hass war Alltag, das Schreien, Schlagen und Küssen das Modell, nach dem mein Bruder und ich unsere Leben formen sollten. Der Ton zu Hause geriet oft rau, es war keine Zeit anzuhalten, zuzuhören, ich ahnte die Entbehrungen und Kämpfe, die meine Eltern jeden Tag auszuhalten und auszutragen hatten. Sie waren immer auf dem Sprung von einem zum anderen Job, begegneten einander nur kurz, zwischen den Schichtwechseln. Wir Kinder wussten, dass wir brav sein, funktionieren sollten. Aber dennoch war ich Kind, voller Wünsche und Begehrlichkeiten. Ich wollte, dass meine Eltern mich sahen, mich wahrnahmen. Vielleicht sehnte ich mich sogar nach dem Ausbruch ihrer Wut. An anderen Tagen versteckte ich mich in stillem Protest im Kleiderschrank, aber niemand hatte Zeit für meine Spielchen, niemand kam, um mich hervorzulocken. Ich wollte Aufmerksamkeit um jeden Preis und provozierte meine Mutter, bis sie ihrer Sprachlosigkeit, ihrer Überforderung Luft machte, ihr Unverständnis gegenüber einer Welt, die ihr dieses merkwürdige Kind zugedacht hatte.

Die Verfassung meiner Mutter pendelte zwischen Zurückhaltung und unkontrollierten Ausbrüchen. Sie funktionierte Tag für Tag, war liebevoll und umsorgend, dann wieder schrie sie uns unvermittelt an, verteilte im Affekt Ohrfeigen oder führte akribisch und kühl Bestrafungen durch. Im Streit ging sie manchmal mit Fäusten und Gegenständen auf meinen Vater los. Tag für Tag arbeiteten sie ihren Zorn über die Zumutungen ihres Daseins aneinander ab. Ich fror diese Szenen in Gedanken ein, malte sie in grellbunten Comicfarben aus, heftete meinen Eltern Sprechblasen an die Münder. Wir waren anders, wir waren ein Klischee, wahrscheinlich waren wir ganz gewöhnliche Irre. Aber schon früh war ich mir sicher, dass hinter der Fassade aus Ordnung, Zurückhaltung und Bildung in den Familien der anderen dieser Wahnsinn ebenso lauerte. Die Erinnerung verkleinert, vergrößert und verschiebt die Dinge, aber ich erinnere mich nur an eine einzige Ohrfeige meines Vaters, die Zuständigkeiten waren klar verteilt, die Züchtigung und Erziehung fiel in den Bereich meiner Mutter. Ich erinnere mich an das Gesicht meines Vaters, nachdem er zugeschlagen hatte, ein Ausdruck zwischen Entsetzen und Schuld, aber wie immer verlor er kein Wort darüber. Ich weinte nicht, ich will behaupten, ich habe kein einziges Mal geweint.

 

Der Lärm dieser Tage ließ mich still werden, mein Blick auf meine Umgebung und darüber hinaus jedoch blieb neugierig, hungrig, vergrößerte alles schmerzhaft, zoomte heran, was ich nicht sehen sollte, und ließ mich Dialoge und Momente aufschnappen, die ich nicht hören sollte. Alles war mir zu laut, zu intensiv, gleichzeitig konnte ich nicht genug bekommen, sog alle Eindrücke auf, vergaß nichts. Der Geruch meiner Mutter, ihr warmer bitterer Schweiß, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. Der Trost, den ich als kleines Kind in ihrer Umarmung, gehüllt in die Wärme und den Geruch ihres Körpers, fand. Wann hatten wir aufgehört, einander zu berühren, einander in den Arm zu nehmen? Wann hatte ich aufgehört, Trost bei ihr zu suchen?

Mein Halt war die Zärtlichkeit, mit der mein Bruder und ich einander von Anfang an zugewandt waren. Als wir Kinder waren, trugen wir Verantwortung, wir gehorchten und fügten uns, um unseren Eltern nicht im Weg zu sein, sondern ihnen beizustehen. Im Spiel schmiedeten wir Pläne davonzulaufen und flüsterten nachts miteinander, wohin wir gehen könnten. Frei waren wir nur bei den Großeltern. Frei von den Gewalten, die meine Eltern voneinander trennten und die es ihnen gleichzeitig unmöglich machten, einander loszulassen. Jeder kennt den Allgemeinplatz: Sie wussten es nicht besser. Und wir Kinder wussten noch nicht, dass Lügen und Geheimnisse ebenso viel bedeuten wie Wahrheiten. Eine Wahrheit war, dass die Großeltern nur zu uns so liebevoll waren, ihre eigenen Kinder hatten am Hof schuften müssen, meine Mutter hatten sie in einem Maß gezüchtigt, das uns niemals widerfahren würde. Meinem Vater war es nicht anders ergangen. Sie waren beide einmal Kind gewesen, genauso wie wir, und der Willkür ihrer Umgebung völlig ausgesetzt.

 

Lange Zeit gehorchte ich meinen Eltern, ich wollte perfekt sein, um sie stolz zu machen. Aber nach und nach wurde mir klar, dass das echte Leben ein anderes sein müsse, das wahrscheinlich parallel zu dem Leben meiner Eltern existierte. Ich ahnte, dass sie nicht immer so gewesen sein konnten, geduckt vor der Welt. Dankbarkeit und Demut wurden Tugenden, die ich mit allen Mitteln loswerden musste, um außerhalb ihrer Wirklichkeit zu bestehen. Der Zorn würde später kommen.

 

Der Kaffeebecher war heiß, ich drehte ihn nervös in meinen Händen, dabei hatte ich noch Zeit, bevor ich durch die Sicherheitskontrolle musste, ein bisschen zu viel Zeit. Ich schickte Ira ein paar Schnappschüsse, die ich auf der Taxifahrt hierher gemacht hatte.

_Du hast mich geweckt. Warum bist du schon unterwegs? Machst du jetzt Drive-by-Shootings?

07:45

Ich konnte Ira vor mir sehen, ihr zerknautschtes Morgengesicht, ihre kratzige Stimme hören, viel lieber wäre ich jetzt zu ihr geflogen, zurück nach Berlin. Während die Zahlen und Buchstaben auf der Infotafel höher kletterten, rotierten, neue Bedeutungen annahmen, versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen, die Ereignisse der letzten Tage festzuhalten, in Worten, alle Teile meiner Erinnerungen neu zu puzzeln, bald würde ich fliegen, weg von hier, aber wohin zurück? Was bedeutete die Rückkehr nach Belgrad für mich? Die Flughafenmenschen, die Reisenden, die Ankommenden, verschiedenste Prototypen meiner Spezies schwirrten um mich, gefangen in der Blase ihrer eigenen Realität bedienten sie Self-Check-in-Maschinen, hatten ihre Habseligkeiten ordentlich im Koffer verstaut, im Handgepäck nur das Nötigste, alles musste seine Ordnung haben, eine unbezwingbare, lebensnotwendige Ordnung. Dinge packen, Dinge zusammenfügen, wie einen Satz, einen Grundsatz, etwas Grundsätzliches, ein Wort finden, eine Wahrheit zwischen den Worten. Ich bewegte mich in traumwandlerischem Automatismus durch die Reisenden, die Transiträume. Ich hätte trauern sollen, an Vater denken, meine Gedanken ordnen, aber alle Dinge schienen gleichzeitig auf mich einzustürmen. Und doch war da auch eine andere Qualität in den Erinnerungsfragmenten, eine Klarheit in den Schnappschüssen, die mein Hirn ausspuckte und neu sortierte, während Gegenwart und Vergangenheit sich wie Folien gegeneinander verschoben. Eine Frau im Businessoutfit links von mir hatte ihre Beine hochgelegt, Kopfhörer aufgesetzt, ihr gegenüber saß ein schmächtiger Backpacker, vielleicht ein Blogger, ein Digital Native, der mit rundem Rücken und scheinbar unermüdlichem Wutstakkato Sätze in seinen Laptop hackte.

Der Blick eines Kindes hielt mich fest, es lief an der Hand seiner Mutter, die mit schnellen Schritten vorauseilte, ein Junge, er nahm sich Zeit, um mich neugierig anzusehen, fixierte mich mit großen Augen, als würde er im nächsten Augenblick etwas sagen, während die Mutter sich vorwärtsarbeitete, sie musste das Kind ziehen, das sich jetzt noch etwas schwerer machte, sein Körpergewicht nach hinten auf die Fersen verlagerte und auf dem spiegelglatten Boden entlangzusurfen schien. Der Junge hielt meinen Blick fest, verdrehte seinen Hals nach mir, bis Mutter und Kind am Ende der Halle aus meinem Blickwinkel verschwanden, in den nächsten Gang, den nächsten Raum gesogen und verschluckt wurden. Das dritte Bild dieses Tages, das ich nicht fotografiert hatte. Es hallte nach.

Immer noch sah ich in jedem kleinen Jungen meinen Bruder, sein Kindergesicht, das unter der Oberfläche seines Erwachsenengesichts durchzuschimmern schien. Ich erinnerte mich an die Zeit, als er die Familie mit seinem Lachen aufgeweckt hatte, weil er es unfassbar komisch fand, unsere Eltern schlafen zu sehen. Er saß aufrecht und hellwach im Bett, die Sonne war noch nicht aufgegangen, und lachte, er lachte darüber, dass auch Erwachsene schlafen müssen, nicht nur Kinder. Der Schmerz hat verschiedene Formen und Geschmäcker, aber er würde nicht aufhören, niemals.

 

Wenn ich nicht zum Boarding erscheinen, sondern einfach verschwinden würde und die Stimme einer Dame vom Bodenpersonal meinen Namen über die Lautsprecher durch die Räume schicken würde, please proceed to