Zu dir gehört mein Herz - Juli Summer - E-Book

Zu dir gehört mein Herz E-Book

Juli Summer

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Beschreibung

Ein Roman um zwei Frauen, deren Schicksal auf tragische Weise miteinander verbunden ist – und um eine Liebe, die nicht sein darf ... Als Sara Bastian kennenlernt, liegt die schwierigste Zeit ihres jungen Lebens hinter ihr. Vom ersten Augenblick an fühlen sich beide zueinander hingezogen. Doch kann es eine Zukunft geben, wenn die Vergangenheit sie wie ein Schatten verfolgt? Emma ist die Tochter eines angesehenen Anwalts und verliebt sich in den Musiker Sascha. Sie weiß, ihr Vater wird ihn niemals akzeptieren, trotzdem will sie um ihre Liebe kämpfen. Als ihr Vater jedoch plötzlich erkrankt und eine Erpressung ihre Pläne durchkreuzt, steht sie vor einem Scherbenhaufen. Wird am Ende alles gut?

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© 2020 Piper Verlag GmbH, München

Redaktion: Ulla Mothes

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: [email protected]; PNGTree

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Heute

1992

Heute

1992

Heute

1992

Heute

1992

Heute

1993

Emma – Zwei Jahre zuvor

Sara – Zwei Jahre zuvor

Heute

Ein Dankeschön gilt …

Heute

Sara erwachte mit diesem Gefühl im Bauch, dass etwas anders war. Sie legte sich auf den Rücken und richtete ihren Blick an die weiß gestrichene Zimmerdecke. Ob sich das je ändern würde? Oder würde jeder Tag mit immer demselben Gedanken beginnen? Sie wusste es nicht. Und ihr blieb nichts übrig, als abzuwarten. Damit zu leben.

Sie schwang sich aus dem Bett, öffnete die große Flügeltür und trat auf den Balkon, den ein schmiedeeisernes Geländer umgab. Die Sonne ging gerade erst auf. Klare warme Sommerluft hüllte sie ein. Mit einem tiefen Atemzug füllte sie damit ihre Lungen. Sara liebte diese Zeit des Tages. Wenn Kiel langsam zu neuem Leben erwachte, aber noch eine friedliche Stille wie eine leichte Decke über der Stadt lag.

Eine Weile blickte sie, die Unterarme auf das Geländer gestützt, die Straße hinunter. Es fiel ihr nicht immer leicht, doch sie hatte nicht verlernt, den Augenblick zu genießen. An manchen Tagen gelang es ihr sogar besser als früher. Wenn sie den Gedanken zuließ, dass alles ganz anders hätte kommen können. Dann genoss sie, der Biene beim Sammeln von Blütenstaub zuzuschauen. Freute sich über den Wind in ihren Haaren und den Regen auf ihrer Haut. Sie erinnerte sich daran, mit ihrer Geschichte nicht allein zu sein. Denn Geschichten hatte jeder zu erzählen. Traurige, lustige, spannende, romantische.

Bis vor Kurzem hätte Sara sich in die Kategorie traurig eingeordnet. Zumindest die vergangenen zwei Jahre. Sie waren es und würden es immer bleiben. Auch wenn sie ihrem Schicksal entgegengetreten war. Es als ihres akzeptiert hatte wie die Narben an ihrem Bein. Aber vielleicht, vielleicht hatte sie bald eine romantische Geschichte zu erzählen.

Später würde sie sich zum zweiten Mal mit Bastian treffen. Allein der Gedanke reichte aus, um ihren Magen Achterbahn fahren zu lassen. Er hatte sie überrumpelt mit seiner Bitte, einen Kaffee mit ihm zu trinken. Ihre Zusage war unüberlegt gewesen. Als sie Zeit bekam, darüber nachzudenken, war sie versucht gewesen, einen Rückzieher zu machen. Sie hatte es nicht getan und war seinem Wunsch gefolgt. Aus einer Mischung aus Höflichkeit ihm gegenüber und der eigenen Neugier heraus.

Jetzt tat sie es erneut. Lange hatte Sara überlegt. War sich nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung war. Bastians unvorhergesehenes Auftauchen wirbelte viele Gefühle an die Oberfläche. Gleichzeitig war es eine Chance, endlich Antworten auf Fragen zu bekommen, die sie seit zwei Jahren verfolgten.

Und wenn sie ehrlich war, gab es da noch etwas, das sie antrieb, ihn wiederzusehen. Nur zu gern erinnerte sich Sara an den Moment, als sie auf ihn zugegangen war und sich Zeit genommen hatte, Bastian zu betrachten. Er hatte vor ihr gestanden, groß, mit breiten Schultern, gebräunter Haut und den schönsten braunen Augen, die sie je gesehen hatte. Zaghaft hatte er sie angelächelt. Genauso unsicher wie Sara. Schicksal und Zufall hatten sie zusammengeführt. Noch sträubte sich Sara, ihre Gefühle zuzulassen. Es war auch zu früh, um von Verliebtsein zu reden. Aber sie mochte Bastian, sehr sogar. Sie wollte mehr über den Menschen erfahren, der er war. Sie lächelte, konnte die Vorfreude nicht unterdrücken, die sich in ihr ausbreitete.

Bis es so weit war, lagen noch einige Stunden vor ihr. Deshalb ging sie zurück ins Schlafzimmer und nahm sich die Sportsachen aus der Schublade ihrer Kommode. Kurze Zeit später verließ sie die Wohnung. Sie joggte gern. Außerdem hatte es ihr schon immer dabei geholfen, den Kopf freizubekommen. Lange hatte sie pausieren müssen, aber inzwischen war die Kondition zurück.

Sie verließ das Viertel, in dem sie lebte, und strebte ihren üblichen Weg Richtung Kiellinie an. Touristen waren zu so früher Stunde nur wenige unterwegs. Dafür traf sie auf andere Jogger, Skater oder Leute mit Hund. Ganz bestimmt würde es wieder ein sehr warmer Tag werden. Ein Grund mehr für Sara, ihre tägliche Dosis Sport hinter sich zu bringen.

Am späten Nachmittag nahm die Nervosität langsam, aber stetig von ihr Besitz. Sie duschte ein zweites Mal an diesem Tag. Die Wasserstrahlen massierten ihre Haut. Genüsslich legte sie den Kopf in den Nacken und verweilte einen Moment so. In ein Handtuch gehüllt ging sie anschließend zurück ins Schlafzimmer. Dort ließ sie es zu Boden gleiten und betrachtete ihr Spiegelbild. Sara gefiel, was sie sah. Zwar war sie nicht sonderlich groß, nur knapp einen Meter fünfundsechzig. Aber ihr Körper war schlank und durchtrainiert. Ihr blondes Haar fiel ihr lang über den Rücken.

Sie dachte an die Zeit ein paar Monate nach dem Unfall. Kaum zu glauben, dass sie ein und dieselbe Person war. Obwohl, so ganz stimmte das nicht. Die Geschehnisse hatten nicht nur äußerlich ihre Spuren hinterlassen. Fröhlichkeit und Optimismus hatten genau wie Sara Wunden davongetragen. Die Kämpferin in ihr musste erst geboren werden. Nach und nach hatte Sara ihren Weg gefunden, mit ihren Dämonen zu leben und trotzdem nach vorn zu schauen. Dennoch gab es Tage, die sie Kraft kosteten. Wie stark sie wirklich war oder ob sie sich nur etwas vormachte, würde sich zeigen. Darüber wollte sie nachdenken, wenn es so weit war. Jetzt galt ihre Aufmerksamkeit einem Mann, den sie kaum kannte. Der aber dabei war, sich in ihr Herz zu schleichen.

Mit weißer Chinohose, Riemchensandalen und einer marineblauen Bluse bekleidet, machte sie sich auf den Weg zum Altstadtbrauhaus, das nur wenige Gehminuten von ihrer Wohnung entfernt lag. Kaum dass sie die Tür geöffnet hatte, sah sie ihn. Ihr Herzschlag stolperte kurz bei seinem Anblick.

Bastian hatte sie ebenfalls entdeckt. Er stand von seinem Platz auf, als sie näherkam. »Hallo Sara. Schön dich zu sehen.« Bastian legte beide Hände auf ihre Schultern und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Du siehst toll aus.«

»Danke.« Mit seinem unverhofften Kompliment brachte er sie in Verlegenheit. Sara spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

»Setzen wir uns an einen der Tische? Oder magst du lieber draußen sitzen? Entscheide du.«

Durch die Fenster hatte sie einen Blick auf die Außenterrasse, auf der die Menschen dicht an dicht saßen. »Ich glaube, ein Tisch hier drin gefällt mir besser.«

»Okay, dann bitte, setz dich doch.«

Bastian legte nun eine Hand sanft in ihren Rücken. Der Schauer, der ihre Wirbelsäule hinaufkroch, kribbelte ihr noch minutenlang im Nacken.

»Ich freue mich wirklich, dass wir uns wiedersehen. Nach dem letzten Treffen war ich nicht sicher, ob du es sogar bereust. Es war nicht fair, dich ins kalte Wasser zu werfen. Ich habe schon so lange mit dem Gedanken gespielt, dir zu schreiben, dass ich in dem Augenblick, als ich deinen Namen hörte und mir klar wurde, dass du es bist, nicht nachgedacht habe.«

Sara sah zu ihm hoch. »Nein, ich bereue es nicht. Ich habe überlegt, ob es ein zweites Treffen geben sollte, ja.«

»Das verstehe ich. Aber du bist hier.«

»Und ich bin froh darüber.«

Sie lächelten sich an und schwiegen. Sara lauschte der Jazzmusik, die im Hintergrund lief. Sie wollte nicht, dass Bastian sich Vorwürfe machte. Deshalb verschwieg sie die Albträume, die das erste Treffen mit ihm ausgelöst hatte. Zudem war sie nicht überrascht gewesen. Sobald sie die Tür zur Erinnerung zu weit öffnete, verlor sie die Kontrolle. Viel überraschender war, wie sehr sie sich zu Bastian hingezogen fühlte. Schon beim letzten Mal hatte sie es gespürt, aber es der Aufregung zugeschrieben. Immerhin war er ein Fremder. Allerdings sprach ihr Herz eine eindeutige Sprache. Es ließ sich nicht belügen. Gleichzeitig sträubte sie sich. Kämpfte innerlich weiterhin um Abstand. Denn es war nicht leicht, die eigenen Schuldgefühle zum Schweigen zu bringen.

»Alles in Ordnung? Geht es dir gut?« Bastian sah Sara besorgt an.

»Eigentlich schon. Es ist nur … Vergiss es, es ist albern«, stammelte sie unbeholfen.

»Was?«

»Es fällt mir nicht so leicht, dir in die Augen zu sehen«, gab sie zu. In zweierlei Hinsicht, fügte sie im Stillen hinzu.

Daraufhin stand Bastian auf. Nun war es Sara, die besorgt aussah. Hatte sie ihn mit ihren Worten verletzt? Sie setzte an, um sich zu entschuldigen. Doch Bastian hatte gar nicht vor zu gehen. Er nahm neben ihr wieder Platz.

»Besser? Jetzt musst du mir nicht mehr die ganze Zeit in die Augen schauen.« Zwinkernd grinste er sie an.

Ihr blieb vor Überraschung der Mund offenstehen. Dann begann sie herzhaft zu lachen. Schlagfertig war er, dass musste sie ihm lassen. Verdammt, er war wirklich süß. Wie, um Himmels willen, sollte sie diesen Kerl nicht toll finden?

Danach war der Bann gebrochen, die letzte Unsicherheit verflogen. Die Bedienung kam und nahm die Getränkewünsche entgegen. Und Sara und Bastian machten da weiter, wo sie am vergangenen Wochenende aufgehört hatten.

»Also, wie war deine Woche?«

»Ganz gut würde ich sagen. Wir haben uns in der Schule mit dem Thema Massage befasst und unser Talent gegenseitig unter Beweis stellen dürfen. So entspannt war ich lange nicht.«

»Ich schätze, der Punkt geht an dich.«

»So schlimm?«

»Nein, ich bin bloß froh, wenn die Schule losgeht. Zum einen freue ich mich. Nach dem Studium endlich als Referendar zu arbeiten, ist super.«

»Welche Fächer unterrichtest du noch gleich?«

»Sport und Physik.«

Sara verzog das Gesicht. »Stimmt. Aber das ist nicht der Grund, warum deine Woche nicht so gut war.«

»Ach, die Zwillinge waren in Bestform.« Er zögerte. »Im Gegensatz zu meinem Vater.« Bastian schüttelte den Kopf. »Egal, das gehört jetzt nicht hierher.«

»Du kannst gern darüber sprechen, wenn du magst.« Ohne weiter darüber nachzudenken, streckte sie den Arm aus und bedeckte seine Hand mit ihrer.

Sara hatte sich für dieses Treffen entschieden und fühlte sich verpflichtet, sich Bastians Sorgen anzuhören.

Er schaute sie aus seinen dunklen Augen an, als müsse er ihr Angebot erst abwägen. Schließlich seufzte er.

»Es ist schon viel besser geworden. Die Musik hilft ihm immer über die dunklen Momente hinweg. Diese Phasen sind innerhalb der vergangenen zwei Jahre auch merklich erträglicher geworden. Die Abstände werden länger, die Dauer kürzer. Für die Zwillinge ist es immer schwer. Sie haben nur noch ihn. Aber wenn er in eine Trauerphase fällt, ist er für niemanden erreichbar. Die Stimmung zu Hause ist dann ziemlich durchwachsen.«

»Du sagst, sie haben nur ihn. Was ist mit dir? Du bist ihnen ein großer Halt. Das ist wunderbar.«

»Aber ich bin kein Ersatz für eine Mutter.«

»Niemand kann eine Mutter ersetzen, und das sollst du auch nicht. Du bist ihr großer Bruder. Das reicht völlig.«

Bastian schwieg. Vielleicht dachte er über ihre Worte nach, vielleicht hing er gedanklich einen Augenblick in der Vergangenheit fest. Nach einer Weile wurde sein Blick wieder klar.

»Bist du bereit für noch mehr Geschichten?«

Sara atmete tief durch. »Ja, ich möchte sie gerne hören.«

»Gehen wir dafür ein Stück spazieren?«

»Gute Idee.«

Während sie auf die Rechnung warteten, zerrupfte Sara nervös eine auf dem Tisch liegende Serviette. Sie mochte Bastians Stimme und war neugierig auf das, was er sagen würde. Auf eine gewisse Art und Weise zumindest.

Die Sonne war am Horizont bereits untergegangen. Nur ein Streifen rötlichen Himmels erinnerte an ihre Existenz. Und die Wärme, die sie hinterlassen hatte. Die Innenstadt war noch immer mit Einheimischen und Touristen belebt. Sie genossen den Sommerabend, schlenderten durch die Straßen und spähten beim Vorbeigehen in die Schaufenster.

Mit jedem Schritt entfernten sie sich von dem Trubel. Das Stimmengewirr wurde leiser und war bald nur noch als kaum hörbares Summen wahrzunehmen.

»Hier gefällt es mir.«

Zu Saras Überraschung nahm er ihre Hand und führte sie zu einer Bank. Diese stand abseits des Weges unter einer großen ausladenden Eiche. Zu ihren Füßen spiegelte sich der rostrote Himmel im Wasser des nahe gelegenen Teichs. Romantisch war das Erste, was Sara einfiel, obwohl sie diese Stelle von ihren täglichen Joggingrunden gut kannte. Ihr Puls beschleunigte sich aber aus einem ganz anderen Grund. Die Nervosität war zurückgekehrt. Reflexartig umschloss sie Bastians Hand noch fester. Er erwiderte den Druck und ließ auch nicht los, als sie sich gesetzt hatten. Weil er schwieg, blickte Sara ihn von der Seite an. Seine Wangenknochen bewegten sich. Sie erkannte schnell, dass auch er angespannt war.

»Du musst nicht …«

»Doch, ich muss. Nein, ich möchte sogar. Ich bin mir nur nicht sicher, wo ich anfangen soll.«

»Lass dir Zeit.«

Sara sah zum Himmel hinauf, betrachtete die Sterne, die wie funkelnde Diamanten dort zu kleben schienen, und wartete.

1992

Emma liebte es zu tanzen. Die kleine Dorfdisco in ihrem Heimatort hatte in dieser Hinsicht nie viel Abwechslung geboten. Das Studium und der damit verbundene Umzug in eine Großstadt kamen ihr da gerade recht. Sie genoss ihre Freiheit, und solange das Studium unter ihrer Freizeitgestaltung nicht litt, war auch ihr Vater zufrieden.

Manchmal ärgerte sie sich, dass die Meinung ihres Vaters einen derart großen Stellenwert in ihrem Leben hatte. Aber so war es schon immer gewesen. Viktor Novak war ein Mann mit Prinzipien. Und er hatte entsprechende Erwartungen in Bezug auf seine Kinder. Von klein auf wurden sie dazu erzogen, ihr Bestes zu geben. Und doch gab er ihnen nie das Gefühl, gut genug zu sein. Stets zeugte sein Blick von Enttäuschung. Die Worte, die er fand, waren abwertend und von rigoroser Kälte. Nur zu gern hetzte er die Geschwister gegeneinander auf, in der Hoffnung, Missgunst zu streuen und so ihren Ehrgeiz voranzutreiben. Durch seinen starken Charakter und seine besonnene Art war ihr Bruder Julian immun gegen die Psychospielchen des Vaters. Neid und Hass fanden keine Basis. Das blieb Viktor nicht verborgen. Zwar wurde er seinen Kindern gegenüber nie handgreiflich, aber er fand Wege, ihnen seinen Unmut zu verdeutlichen. Meist bestanden diese Wege darin, ihnen das Hungern am eigenen Leib näherzubringen. Denn das würde passieren, sollten sie ihre Intelligenz verschwenden.

Auch wenn Emma bewusst war, dass ihr weniger gute Noten nicht den Hungertod bringen würden, so verfehlten diese Maßnahmen ihre Wirkung nicht. In dieser Zeit brach etwas in ihr, das sie bis heute nicht hatte reparieren können. Die Kraft, sich gegen ihren Vater zu stellen. Der Mut, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Der Optimismus, es schaffen zu können – allein.

Doch Viktor sorgte auch für die kleinen Glücksmomente, die Emma damals kostbarer erschienen als alle Schätze dieser Welt. So waren ihm die Geburtstage der Geschwister fast schon heilig. An diesem Tag war es, als gäbe es keine Kanzlei, keine Macht, kein Streben nach Wissen und Anerkennung. Und manchmal, wenn auch selten, schenkte er ihnen ein Lächeln, das sogar seine Augen erreichte.

Seine Taktik ging auf. Emma sehnte sich nach Bestätigung. Bis heute. Ein Lob aus dem Mund ihres Vaters trieb sie an. Daher stand der Berufswunsch von Emma und ihrem Bruder Julian nie zur Diskussion. Ihr Vater war Inhaber einer mehr als erfolgreichen Anwaltskanzlei. Es war nur natürlich, dass seine Kinder ihm folgen würden. Während Julian, der die Kanzlei einmal übernehmen sollte, die Freiheit und das Vertrauen des Vaters genoss und sich die Uni aussuchen durfte, blieb Emma an der kurzen Leine. Viktor tat dies nicht aus Bosheit. Er liebte seine Tochter, wollte sie in seiner Nähe wissen. Es war seine Art, sie zu beschützen. Auch Emma liebte ihren Vater, so sehr sie sich manchmal wünschte, dass es nicht so wäre.

Inzwischen trauerte sie der Ferne jedoch nicht mehr hinterher. Ihr reichte es, nicht mehr zu Hause wohnen zu müssen. Insgeheim dankte sie ihrem Vater sogar dafür. Denn sie hatte wunderbare Freunde gefunden. Da machte es auch nichts, dass ihre Semesterferien mit zusätzlichen Kursen vollgestopft waren. Sie wollte nirgends anders sein. An diesem Wochenende schon gar nicht. Die alljährlicheKieler Woche begann. Der damit verbundene Trubel war das Highlight des Jahres. Die Stadt war voll von Soldaten in ihren schicken Uniformen. Russen, Franzosen, Briten, Amerikaner. Der Hafen quoll über von Segelschiffen. Allein die Gorch Fock trieb Dutzende Neugierige nach Kiel.

Leonie war schon vor zehn Minuten ausgehfertig zu ihnen ins Zimmer gekommen. Ihre XXL-Beine präsentierte sie in einem kurzen Jeansminirock. Dazu trug sie eine weiße bauchfreie Bluse. Und weil sie mit ihren fast eins achtzig nicht schon groß genug war, hatte sie sich für weiße Plateau-Sneaker entschieden. Ihr blondes, langes Haar hatte sie mit dem Kreppeisen bearbeitet.

Wenn nun noch Theresa das Badezimmer verlassen würde, konnten sie los.

»Na endlich!« Leonie stöhnte, als die Badtür aufging.

»Motz nicht rum.« Theresa warf mit dem nassen Handtuch nach ihr. »Es wird schon ein Soldat für dich übrig bleiben.«

»Das will ich doch stark hoffen.«

»Tu nicht so, als hättest du die vergangenen Monate im Zölibat gelebt.«

»Nein, aber mit so einem feschen Amerikaner können die deutschen Jungs nicht mithalten.«

»Deine Sorgen möchte ich haben«, gab Theresa lachend zurück.

Emma folgte der kleinen Diskussion stumm, die so typisch war für ihre Freundinnen. Leonie war eindeutig die Extrovertierteste von ihnen. Der liebe Gott oder ihre Eltern, wer auch immer, hatte sie allerdings auch mit dem perfekten Körper ausgestattet. Gepaart mit ihrer Intelligenz war sie definitiv wie ein Sechser im Lotto. Nur hatte Leonie den Gewinn bisher nie länger als ein paar Wochen mit jemandem teilen wollen.

Theresa war, wie Emma selbst, eher von ruhigerer Natur. Außer man gab ihr Alkohol zu trinken. Dann wechselte sie zur dunklen Seite. Na ja, Emma musste grinsen, wenn man rauchen schon dazuzählen durfte. Zumindest hielt sie nichts mehr davon ab, einen Mann anzusprechen. Dabei musste sie auch nüchtern keine Angst vor Zurückweisung haben. Ihr südländisches Aussehen mit den großen Kulleraugen und dem vollen Mund brachte ihr regelmäßig anerkennende Blicke ein. Sie war recht zierlich. Das bodenlange Spaghettiträgerkleid, für das sie sich heute entschieden hatte, floss in einer Linie ihren Körper hinab.

»Okay, von mir aus kann es losgehen.« Theresa schwang die Jeansjacke um ihre Hüften und zog die Ärmel vorn zu einem Knoten fest.

Ihr Ziel war der Alte Markt, der historische Mittelpunkt Kiels und ehemals die höchste Erhebung der Stadt. Je näher sie dem mit Granitsteinen ausgelegten Platz kamen, desto belebter wurde es. An jeder Ecke standen Kleinkünstler, die ihre Fähigkeiten präsentierten. Akrobaten, Puppenspieler, Maler. Von verschiedenen Bühnen schwappte Musik an sie heran. Girlanden waren über die Straßen gespannt. Blumen schmückten die Balkone.

Hitze flirrte in der Luft des frühen Abends. Schon nach ein paar Schritten hatten sich erste kleine Schweißperlen in Emmas Rücken und auf ihrer Nasenspitze gebildet. Sie spürte sie kaum. Stattdessen sog sie die Atmosphäre in sich auf. Füllte jede Pore ihres Körpers damit. Ließ sich von ihr davontragen. Theresa klatschte neben ihr begeistert in die Hände, während Leonie nur selig lächelte.

Vor ein paar Straßenmusikern blieben sie stehen. Die fremdartigen Klänge fesselten ihre Aufmerksamkeit. Theresa verschwand kurz und kam mit drei Flaschen Bier zurück, von denen sie jedem eine in die Hand drückte. Sie prosteten sich zu, stießen auf das Leben an und tanzten. Weil Emma es nicht gewohnt war zu trinken, bahnte sich der Alkohol sehr schnell einen Weg in ihren Kopf. Ein wenig schwindelig, aber glücklich hob sie die Hände gen Himmel und drehte sich lachend im Kreis. Ihr hätte vorher klar sein sollen, dass dies keine so gute Idee war. Natürlich verstärkte sich der Schwindel dadurch nur. Sie blieb stehen und taumelte. Versuchte mit aller Kraft einen Punkt zu fixieren, damit die Welt ihre Karussellfahrt beendete. Emma streckte den Arm nach vorn aus, um sich an Leonie festzuhalten, machte aber gleichzeitig einen Schritt rückwärts und verlor das Gleichgewicht.

»Hoppla«, hörte sie eine Stimme hinter sich. Dann erst spürte sie die fremden Hände, die sich um ihre Taille gelegt hatten.

Sie räusperte sich. »Entschuldigung, ich bin gestolpert«, sagte sie so ernst wie möglich. Emma strich ihr geblümtes Sommerkleid glatt und blickte sich leicht verlegen zu der Person um, zu der die Hände gehörten, die sie mittlerweile wieder freigegeben hatten. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt.«

»Wenn mir Engel mit solch wunderschönen Augen in die Arme fallen, bin ich immer gerne bereit, sie aufzufangen.«

Bei plumpen Sprüchen, und dieser zählte eindeutig dazu, verdrehte Emma für gewöhnlich die Augen oder musste einfach nur lachen. Doch diesmal trieben die Worte ihr die Röte ins Gesicht. Sie hatte keine Ahnung, was anders war. Na ja, vielleicht doch. Sie kamen aus dem Mund eines umwerfend attraktiven jungen Mannes.

Noch immer spürte sie seine Hände an der Stelle, wo er sie berührt hatte. Er war ein ganzes Stück größer als sie, vielleicht einen Meter neunzig. Sein auf den ersten Blick sportlicher Körper steckte in einem schlichten weißen T-Shirt und Bluejeans. Die braunen Haare fielen ihm in leichten Wellen bis zum Kinn. Jetzt schob er sie auf einer Seite hinter das Ohr und lächelte Emma herzlich an. Ihre Beine wurden zu Pudding, und diesmal lag es nicht am Alkohol.

»Hey Emma, wir wollen weiter. Kommst du?« Theresa griff nach ihrer Hand und zog sie mit sich fort.

Emma hatte ihre Sprache noch nicht wiedergefunden, um zu protestieren. Also sah sie hilflos dabei zu, wie sie sich von ihm entfernte. Ein wenig enttäuscht stellte sie daraufhin fest, dass auch er keine Anstalten machte, an diesem Umstand etwas zu ändern. Kurz verlor sie ihn aus den Augen. Der Abstand vergrößerte sich, immer mehr Menschen drängten sich zwischen sie und ihn. Theresa zog Emma weiter, die versuchte, einen letzten Blick zu erhaschen. Tatsächlich tauchte sein Kopf kurz darauf in der Menge auf. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Aber es genügte, um zu sehen, dass er noch immer lächelte.

Mit diesem Bild im Kopf zog sie mit Theresa und Leonie weiter durch die Straßen. Sie freuten sich über die Blicke der amerikanischen Seemänner, steckten die Köpfe zusammen und kicherten ausgelassen. Bewunderten die Schiffe, die nur für die Kieler Woche hier vor Anker lagen.

Als die Füße nach einer Pause verlangten, konnten die drei Freundinnen in einer Bar einen freien Tisch ergattern.

»Emma? Bist du überhaupt anwesend?« Leonie schnippte mit den Fingern vor ihrer Nase herum.

»Klar, bin ich das. Wo sollte ich denn sonst sein?«

Keine der zwei hatte von dem kurzen Aufeinandertreffen etwas mitbekommen. Dabei wollte Emma es belassen. Sie konzentrierte sich auf das Gespräch am Tisch und verscheuchte die Gedanken an kastanienbraune Augen. Ganz sicher würde sie ihn sowieso nie wiedersehen. Zudem war der Abend viel zu herrlich, um verpassten Chancen hinterherzutrauern. Die Hitze des Tages wich der Kühle der Nacht. Die Menschen waren fröhlich, die Musik floss einem wie Blut durch die Adern. Emma trank einen Schluck Cidre und schaute Theresa amüsiert zu, wie diese mit dem Barmann flirtete. Weil sie zwischendurch Wasser getrunken hatte, war ihr Gleichgewichtssinn wiederhergestellt. Im Gegensatz zu ihren beiden Freundinnen, die schon ziemlich angetrunken waren.

Plötzlicher Beifall schwappte durch die Bar. Die Band verabschiedete sich. Ein neuer Act wurde angesagt. Während Emma allmählich von Müdigkeit übermannt wurde, war ihr Blick auf die Bühne gerichtet. Sollten Sänger oder Band ihr gefallen, würde sie aber noch kurz bleiben.

Das Licht im vorderen Bereich wurde dunkler. Einzig zwei Scheinwerfer strahlten nun einen Barhocker an, der mitten auf dem Podest stand. Jemand betrat mit einer Gitarre die Bühne und setzte sich. Jubel und freudige Pfiffe empfingen ihn. Erst jetzt hob er den Kopf und begrüßte mit einem kurzen Hallo sein Publikum. Emma konnte nicht aufhören hinzusehen. Das Lächeln, das auf seinem Gesicht erschien, hätte sie unter tausenden wiedererkannt. Sein Blick wanderte durch den Raum. Dann verfing er sich mit ihrem. Ihr Herz blieb stehen, bevor es aufgeregt begann, gegen ihren Brustkorb zu trommeln.

Im Nachhinein konnte sich Emma nicht mehr an viel erinnern. Seine Augen, die immer wieder die ihren suchten, hatten sie in ihren Bann gezogen. Sie lauschte seiner Stimme, den Liedern, die er mit so viel Gefühl sang, dass das Kribbeln auf ihrer Haut nicht mehr verschwand.

Erst als er sich nach einer halben Stunde verabschiedete, kam sie wieder zu sich. Neben ihr küsste Theresa den Barmann. Leonie schaute etwas missmutig durch die Menge, während sie ihr Bier an die Lippen nahm und erst absetzte, als das Glas leer war. Emmas Müdigkeit war verschwunden. Die Aufregung darüber, ihm ein zweites Mal begegnet zu sein, ließ das Blut durch ihre Adern rauschen. Aber wo war er? Gegangen, ohne einen Versuch zu unternehmen, mit ihr ins Gespräch zu kommen? Sah er vielleicht alle so an wie sie? Emma spürte, wie sich ihr Herz schmerzlich zusammenzog.

»Hey, da ist ja unser Superstar.«

Emma erschrak von dem plötzlichen Ausruf so direkt neben sich. Theresa und ihr Barmann hatten sich voneinander gelöst. Jetzt grinste er breit. Emma folgte seinem Blick und erschrak zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden.

»Na komm, mein Lieber. Setz dich zu uns.« Er streckte die Arme aus und klopfte dem Neuankömmling kräftig auf die Schulter.

Emma wusste, dass sie ihn anstarrte, aber sie konnte einfach nicht aufhören damit. Fast schon sehnsüchtig wartete sie auf einen Blick aus seinen wunderschönen Augen.

»Mädels, darf ich vorstellen. Das ist Sascha, der talentierteste Sänger im Umkreis von mindestens fünf Häuserblocks.« Nun packte der Barmann Sascha mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte ihn kurz und kräftig. »Nein, Quatsch, der Typ ist echt gut. Ihr konntet euch ja eben selbst ein Bild davon machen.«

»Sascha, wie nett.« Leonie richtete sich auf. »Neben mir ist noch ein Plätzchen frei.«

Leonies kokettierendes Verhalten missfiel Emma. Ob sie daran erinnern sollte, dass Sascha kein amerikanischer Seemann war, auf den sie es doch eigentlich abgesehen hatte? Sie hatte nicht vor, eifersüchtig zu werden. Aber sie hatte auf eine Chance gehofft, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Sie kannte ihre Freundin. Es würde schwer werden. Also sah Emma dabei zu, wie Sascha sich auf den freien Stuhl setzte und Leonie ein strahlendes Lächeln schenkte. Nur dieses eine Mal gönnte sie es ihrer Freundin nicht.

Dank der Musik und des Stimmengewirrs um sie herum verstand sie kaum, worüber sich am Tisch unterhalten wurde. Theresa nahm den Barmann wieder in Beschlag, und obwohl der alle Hände voll zu tun hatte, flirtete er, was das Zeug hielt, mit ihrer Freundin. Adrian hieß er. Zumindest das hatte Emma herausfinden können. Nach dem kurzen Energieschub, den Saschas Auftauchen ausgelöst hatte, kam nun die Müdigkeit zurück. Sie versuchte nicht mehr, dem Gespräch zu folgen. Irgendwann war das Glas in ihren Händen leer, und sie stellte es entschlossen vor sich auf den Tisch. Es wurde Zeit zu gehen. Emma griff nach ihrer Tasche und stand auf. Niemand schien Notiz davon zu nehmen. Sanft legte sie Theresa die Hand auf den Rücken, bis diese sich umdrehte.

»Willst du schon gehen?«

»Ich bin müde, und morgen ist Uni. Genießt den Abend.« Wenn das doch schon alles wäre, dachte sie bei sich und verscheuchte die Gedanken, die in ihrem Kopf Netze spannen.

»Dann komme ich mit.«

»Nein, bleib. Genieß den Abend.« Emma drückte ihre Freundin und bezahlte bei Adrian. Er schien in Ordnung zu sein. Vielleicht hatte eine von ihnen endlich mal Glück mit einem Mann.

Ganz automatisch wanderte dabei ihr Blick zu Leonie und Sascha. Leonie redete und kicherte, und ihre Hände suchten ständig Körperkontakt. Sie sah ziemlich mitgenommen aus. Da war eindeutig zu viel Alkohol im Spiel gewesen. Die anfängliche Eifersucht machte nun einer gewissen Fürsorge Raum.

Erst jetzt sah sie zu Sascha, der Leonie nur mit halbem Ohr zuzuhören schien. Sein Blick traf ihren. Hitze floss wie heiße Lava durch Emmas Körper. Fast vergaß sie, was ihr gerade eben noch Kopfzerbrechen bereitet hatte.

»Leonie, lass mich dich nach Hause bringen.«

Ein glasiger Blick mit einem leicht verwirrten Ausdruck darin traf Emma.

»Na komm, ich bring dich heim«, wiederholte sie etwas langsamer.

Leonie schüttelte entschlossen den Kopf und geriet dabei ins Schwanken. Sascha hielt sie fest. Dann beugte er sich an ihr Ohr und flüsterte Leonie etwas zu. Augenblicklich war sie nicht mehr abgeneigt, das Lokal zu verlassen.

Emma ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken und folgte den beiden nach draußen. Sie kamen nur langsam voran, auch wenn Leonie bei Sascha untergehakt war. Weil ihr die Beine am Ende immer öfter den Dienst versagten, trug Sascha sie das letzte Stück bis zum Studentenwohnheim. Kaum lag Leonie auf dem Bett, begann sie zu schnarchen. Und Emma war froh, nicht mit ihr allein zurückgegangen zu sein. Leonies eigenbrötlerische Mitbewohnerin war alles andere als begeistert, versprach aber, ein Auge auf sie zu haben.

»Danke«, meinte Emma, als sie ihrer Freundin Schuhe und Hose ausgezogen und die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Gern geschehen. Darf ich jetzt dich nach Hause bringen?«

»Warum nicht?« Sie schmunzelte und ging den Flur entlang. Nur ein paar Zimmer weiter blieb sie stehen. »Da wären wir.«

»Habe ich es doch geahnt.« Sascha legte den Kopf zur Seite. Seine braunen Augen musterten sie amüsiert. »Das ist irgendwie unbefriedigend. Wie wäre es mit einer kleinen Extrarunde?«

Emmas Herz führte bei diesen Worten einen kleinen Freudentanz auf. Trotzdem wartete sie mit ihrer Antwort und setzte, so hoffte sie zumindest, ein nachdenkliches Gesicht auf.

»Es ist doch noch viel zu warm, um zu schlafen«, argumentierte Sascha.

»Na ja, ich habe …« Emma verstummte.

»Du hast was?«

»Nichts, gehen wir.« Schnell steuerte sie die Treppe an. Sascha sollte ihre geröteten Wangen nicht sehen. Hatte sie ihm wirklich erzählen wollen, dass sie kein Problem damit hatte, weil sie nachts nackt schlief? Emma konnte es nicht fassen. Das lag sicher am Alkohol. Ganz bestimmt nicht an der sexuellen Anziehungskraft, die Sascha auf sie ausübte. Nicht an den zerrissenen Jeans und dem verwaschenen Shirt, das sich eng an seinen Körper schmiegte. Auch nicht an seiner sexy Stimme, den braunen Augen oder dem umwerfenden Lächeln mit den sinnlichen Lippen. Sie ging noch einen Schritt schneller.

Am Ende der Treppe hatte Sascha sie eingeholt und öffnete ihr die Tür. Warme Luft streifte ihr Gesicht. Die Müdigkeit, die sie zuvor verspürt hatte, war verschwunden. Sie war durch ein Kribbeln abgelöst worden, das sich unter ihrer Haut ausbreitete, je länger sie sich in Saschas Nähe befand. Während sie schweigend nebeneinander hergingen, versuchte Emma, Ordnung in das Chaos in ihrem Kopf zu bringen. Was ging in ihm vor? Lag er gedanklich schon mit ihr im Bett und machte einen Haken hinter ihren Namen? Sie wusste, dass sie ihn in der Hinsicht mit Vorurteilen behaftete. Aber war es nicht nun mal so, dass Musiker oder Künstler im Allgemeinen zu einem eher lockeren Lebensstil neigten? Und machte es ihr etwas aus? Nein. Vielmehr ertappte sie sich selbst bei der Vorstellung, wie es wohl wäre, mit ihm zu schlafen. Die Wärme, die dabei in ihrer Lendengegend entstand, war Antwort genug. Oh je, was machte er nur mit ihr? Nie zuvor war sie sich der Nähe eines Mannes derart bewusst gewesen.

Natürlich hatte es Verabredungen gegeben, Jungs, die sie mochte. Aber es war keiner dabei gewesen, der ihr Herz hatte gewinnen können. Niemand, den sie ihrem Vater hätte vorstellen wollen. Vielleicht weil sie wusste, dass nicht einer von ihnen gut genug für die Tochter von Viktor Novak gewesen wäre. Inzwischen war sie sich nicht mal mehr sicher, ob es überhaupt jemals einer sein würde. Sollte ihr der Richtige irgendwann über den Weg laufen, würde es ein harter Kampf werden. Aber sie war nicht umsonst das Kind ihres Vaters. Er hatte ihr seinen Starrsinn vererbt. Zwar war er nicht so ausgeprägt wie in seinem Fall, aber sie wusste ihn durchaus einzusetzen. Hoffte sie jedenfalls.

Sie ließen das Unigelände hinter sich. Niemand von ihnen hatte einen bestimmten Weg eingeschlagen. Beim Verlassen des Wohnheims hatten sie in stillem Einverständnis irgendeine Richtung gewählt. Hier war es viel stiller als in der Stadtmitte. Eine nächtliche Ruhe hatte sich über die Häuser gelegt. Nur hier und da brannte Licht hinter den Fenstern, und das Flackern eines Fernsehbildschirms war zu sehen.

Ihr Blick fiel auf Sascha, der noch immer wortlos neben ihr herging. Seine Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben. Ganz plötzlich wendete er den Kopf und sah sie an. »Mein Spruch vorhin war nicht der beste, oder?«

Kurz überlegte Emma, was er meinte, bis sie sich an ihre erste Begegnung erinnerte. Sie begann zu lachen. »Ja, ehrlich gesagt war er sogar ziemlich schlecht.«

Sascha stimmte in ihr Lachen mit ein und machte dann ein zerknirschtes Gesicht. »Tut mir leid, du hast definitiv was Besseres verdient.«

Emma neigte den Kopf leicht zur Seite. »Und was genau wäre das?«, fragte sie scheu und war dennoch überrascht von ihrem Mut.

Er blieb stehen, und ein Schmunzeln umspielte seine Mundwinkel. Unter seinem intensiven Blick bekam Emma weiche Knie.

»Du hast ein zauberhaftes Lächeln. Ich glaube, du bist etwas ganz Besonderes, Emma. Wenn du mir die Chance gibst, würde ich dich sehr gern näher kennenlernen.«

Ob ihre Puddingknie zu einem Dauerzustand wurden? Sascha wollte sie kennenlernen. Wenn das die Konsequenz war, konnte sie sehr gut damit leben.

Im Gegenzug wollte sie auch von ihm viel mehr erfahren. Ihr brannten tausend Fragen auf der Zunge. Als sie sich wieder in Bewegung setzten, überlegte Emma fieberhaft, welche Frage sie ihm als Erstes stellen konnte, ohne zu aufdringlich zu wirken.

»Gefällt dir dein Leben?«, hörte sie sich kurz darauf fragen.

»Ja, absolut. Ich bin frei und ungebunden. Zwar verdient man mit Straßenmusik kein Vermögen, aber doch gutes Taschengeld. Erst vor wenigen Tagen bin ich von meiner Europarundreise zurückgekehrt. Und kaum daheim, treffe ich dich.« Sein Blick wanderte anerkennend über ihren Körper. »Ja, ich bin mehr als zufrieden.«

Sich ihrer eigenen Attraktivität unsicher, strich Emma mit den Fingern über das geblümte Sommerkleid. Sie war weder so groß gewachsen wie Leonie noch so zierlich wie Theresa. Eher der Typ Sanduhr. Ihre große Oberweite hatte ihr schon zu Schulzeiten das Gekicher ihrer pubertierenden Mitschüler eingebracht. Auch mit den üppigeren Hüften stand sie immer mal wieder auf Kriegsfuß. Das gewählte, knieumspielende Kleid schmiegte sich allerdings recht eng an ihren Körper und versteckte ihre Rundungen nicht im Geringsten. Es schmeichelte ihr, dass Sascha die Augen nicht von ihr lassen konnte.

Ob um sich abzulenken oder ihr zu beweisen, wie ernst es ihm mit dem Kennenlernen war, erzählte er weiter von sich. Emma lauschte interessiert.

Sascha stammte aus einer Durchschnittsfamilie. Vater, Mutter, eine jüngere Schwester. Sie hatten nie das große Geld besessen, aber Sascha und seiner Schwester Madeleine hatte es an nichts gefehlt. Auf eine behütete Kindheit folgte eine auf gegenseitigem Vertrauen basierende Jugend.

»Natürlich ist nicht immer alles rosig gewesen. Ich habe mehr als einmal meine Grenzen ausgetestet. Ich trank zu viel, rauchte Gras, bekam sogar einmal Ärger mit der Polizei, weil ich mit ein paar Kumpels Graffiti an die Hauswand meiner Schule gesprayt hatte. Meine Eltern appellierten an meine Vernunft, statt mich zu bestrafen.«

Bis heute waren sie nicht über alle seine Entscheidungen glücklich, und sie hielten sich mit ihrer persönlichen Meinung auch nie zurück. Was am Ende zählte, war die Tatsache, dass sie hinter ihm standen. Der familiäre Zusammenhalt war groß. Und auch wenn er bisher nicht über eine eigene Familie nachgedacht hatte, so wünschte er sich dies irgendwann auch für sich selbst.

»Deine Eltern sind nicht ausgerastet, als du deine Ausbildung geschmissen hast?«, fragte Emma ungläubig nach.

»Klar waren sie sauer. Sie wollten, dass ich es zumindest zu Ende bringe. Letztendlich haben sie aber eingesehen, dass es keinen Sinn hat. Ich kann ziemlich hartnäckig sein, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe.« Sascha lächelte spitzbübisch. »Außerdem, mal ehrlich, kannst du dir mich hinter einem Schreibtisch vorstellen?« Er schüttelte sich, als wäre es das Schlimmste, das man ihm antun könnte.

»Du hättest ein geregeltes Einkommen.«

»Überhaupt hätte ich ein Einkommen.« Wieder lächelte er und entblößte dabei strahlend weiße Zähne. »Aber ich nage nicht am Hungertuch.«

»Dank der Unterstützung deiner Eltern.«

»Sei nicht so kleinlich.« Er knuffte Emma in die Hüfte.

Dieser erste Körperkontakt, seit sie ihm mehr oder weniger in die Arme gefallen war, kam für beide überraschend. Sascha hatte wohl einem Impuls nachgegeben. Emma blickte verlegen zu Boden.

»Ich habe nicht vor, ewig so weiterzumachen. Mit Musik erfolgreich werden dauert eben seine Zeit. Und Geld ist nicht alles im Leben. Ja, es ist notwendig, und ja, es ist toll, eine Menge davon zu besitzen. Aber ich bin nun mal kein materiell eingestellter Mensch. Ich brauche keine Designerklamotten, kein dickes Auto und bin auch nicht scharf drauf, hunderte Euro in einem Restaurant auszugeben, das mikroskopisch kleine Portionen serviert.«

Emma dachte an das winzige, eingenähte Schild in ihrem Kleid. Es mochte zwar nicht von einem Stardesigner sein, doch günstig war Kleidung dieses Labels keinesfalls. Nicht dass sie besonderen Wert darauflegte. Sie war eben mit einem gewissen Standard aufgewachsen. Hatte es immer als selbstverständlich angesehen, dass der Kühlschrank gefüllt und im Winter die Heizung warm war.

»Du musst dich nicht schämen«, riss Sascha sie aus ihren Gedanken.

»Tue ich nicht. Ich wüsste nicht …« Sie verstummte. »Ich bin … meine Familie … also wir sind recht wohlhabend.« Emma war nicht der Typ, der prahlte. In den Kreisen, in denen sie sich bewegte, war es ganz normal, die Dinge zu besitzen, die Sascha zuvor erwähnt hatte. Ein großes Auto, ein noch größeres Haus. Aber Geld allein machte bekanntlich nicht glücklich. Genauso wenig bescherte es einem Kind Liebe und Zuneigung.

»Bist du böse, wenn ich sage, dass ich mir so was schon gedacht habe?« Sascha blieb stehen, sah Emma an und wartete auf ihre Antwort.

Emma blickte an ihm vorbei die Straße hinunter. Warm und gemütlich strahlte das Licht aus den Fenstern hinaus auf den Gehweg. »Ich bin eher neidisch auf deine Familie«, gab sie leise zu.

»Neidisch, im Ernst? Du weißt schon, dass das absurd klingt.«

»Nicht wenn du meine Familie kennen würdest.« Emma begann leicht zu frösteln und rieb sich über ihre nackten Arme.

»Ist dir kalt? Wir können umkehren.«

»Nein, ich möchte noch nicht zurück. Spielst du mir was vor?« Ihr Blick wanderte zu der Tasche auf seinem Rücken, in der die Gitarre untergebracht war.

»Klar.« Diesmal griff Sascha bewusst nach ihrer Hand. Überraschend warm schmiegte sie sich in seine. Zufrieden bemerkte er den Druck, den ihre Finger dabei ausübten.

Ein Schauer krabbelte Emma die Wirbelsäule rauf und runter, während sie gemeinsam nach einem geeigneten Platz Ausschau hielten.

»Dann hat dir meine Musik gefallen?«

»Ja, sehr. Ich wollte auch immer schon Gitarre spielen können.«

»Warum hast du es nie getan?«

»Weil mein Vater der Ansicht war, dass Klavierspielen besser zu mir passen würde.«

Sascha zog die Augenbrauen nach oben. Emma wusste, wie sich das anhören musste. Wenn er jetzt gleich fragte, wer denn ihr Vater war, nahm das Gespräch schlimmstenfalls ein jähes Ende. Sie hätte lügen können, doch das wollte sie nicht. Nicht bei ihm.

»Man ist nie zu alt, um ein Instrument zu erlernen. Ich bringe es dir bei, wenn du magst.«

Emma strahlte. »Würdest du?«

»Warum nicht? Außer du erweist dich als miserable Schülerin. Aber da du Klavier spielst, nehme ich an, du kannst Noten lesen und hast ein wenig Taktgefühl.« Emmas empörter Gesichtsausdruck ließ ihn schmunzeln.

»War nur Spaß. Es wäre mir eine Ehre.«

»Aber bevor wir anfangen, sollten wir uns tatsächlich besser kennenlernen, ich meine, wer weiß …«

»Du hast vollkommen recht. Ich könnte ein gesuchter Verbrecher sein.«

»Zum Beispiel.« Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sich ihre Vernunft zwischengeschaltet. Eigentlich war es ihr jedoch egal, und kriminell wirkte er nun wirklich nicht. Mit seinem Angebot hatte Sascha ihr die Tür geöffnet, weiterhin Zeit mit ihm zu verbringen. Natürlich ging sie hindurch.

Sie ließen das Wohngebiet hinter sich und näherten sich der Kiellinie, auf der noch immer reger Trubel herrschte. Der angrenzende Park lag etwas erhöht, bot Ruhe und einen wunderbaren Blick auf die Förde, auf deren dunkler Wasseroberfläche der Mond silbern schimmerte.

»Wie wäre es mit der Bank dort?« Sascha zeigte mit dem Finger darauf.

Emma nickte bloß, sie freute sich, ihn spielen zu hören, wollte gleichzeitig jedoch nicht, dass er ihre Hand losließ. Als er es dann tat, um seine Gitarre aus der Tasche zu holen, zuckte sie unmerklich zusammen und vergrub die Hände in ihrer Jeans.

Kurz darauf vergaß sie die Welt um sich herum. Saschas Finger tanzten mühelos über die Saiten. Als die ersten Worte aus seinem Mund erklangen, war es um sie geschehen. Die Augen geschlossen, erfasste sie ein wohlig warmes Gefühl, so köstlich wie flüssiger Honig. Seine Stimme trug sie mit sich fort, machte ihre Gedanken träge. Gleichzeitig schien sie innerlich zu beben. Ihr Herz flatterte aufgeregt.

Erst als seine Hand sanft über ihren Nacken glitt, registrierte sie, dass er aufgehört hatte zu spielen. Ihre Lider waren schwer, und sie wollte die Augen gar nicht öffnen. Vielleicht hatte sie auch Angst, der Zauber dieses Augenblicks könnte verfliegen, würde sie sich der Welt wieder stellen. Also verharrte sie und stieß einen leisen Seufzer der Zufriedenheit aus. »Das war unglaublich schön.«

»So wie du.«

Das Kompliment ließ einen Schwarm Schmetterlinge entstehen und durch Emmas Bauch wirbeln. Sie fühlte sich von diesem Mann magisch angezogen. Er sah gut aus, war witzig, charmant und wusste genau, was er von seinem Leben erwartete. Sie bewunderte ihn für sein Durchhaltevermögen, für den Ehrgeiz, seinen Weg zu gehen. Saschas Leben war so völlig anders als das ihre. Sie wusste nicht, woher dieser Gedanke kam, immerhin waren sie sich nie zuvor begegnet. Aber sie wollte ein Teil davon sein. Ein Teil seiner Welt.

Emma öffnete die Augen. Der Mond war weitergezogen, schimmerte nun durch das Blätterdach der alten Ulme über ihren Köpfen. Sie spürte Saschas Hand, die auf ihrem Nacken ruhte. Nur mit seinem Daumen strich er zärtlich über ihre Haut. Ganz langsam drehte sie sich zu ihm um. Das Mondlicht glitzerte in seinen Augen. Ihre Blicke verfingen sich. Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie er sich näherte. Als nur noch ein dünnes Blatt Papier zwischen ihre Lippen passen würde, hielt Sascha inne. Heiß streifte sein Atem ihre Haut. Dann legten sich seine Lippen auf die ihren und bedeckten sie mit einem zarten Kuss. Emma schloss die Augen erneut und öffnete ihren Mund. Sofort kam Sascha der Aufforderung nach. Seine freie Hand legt sich um ihre Taille. Er zog sie näher zu sich heran. Vorsichtig entdeckten sie einander. Als sie sich nach einer wundervollen Ewigkeit voneinander lösten, wussten beide, dass es der Anfang einer großen Liebe werden könnte.

Heute

»Bastian, hey Bastian. Wach auf.«

Auch im Halbschlaf erkannte er die Stimme seiner Schwester sofort. Grummelnd drehte er sich um, wohl wissend, dass es zwecklos war.

»Jetzt komm schon, du hast es uns versprochen.«

»Es ist viel zu früh.«

»In deiner Welt vielleicht. Bei uns ist es gleich Mittag.«

Sollten sechzehnjährige Teenager nicht eigentlich diejenigen sein, die den halben Tag im Bett verbrachten? Mit einem tiefen, ergebenen Seufzer zwang sich Bastian, seine Augen zu öffnen, und blickte in das Gesicht seiner Schwester Kim. Ihre moosgrünen Augen musterten ihn trotzig. Während er seine Arme weit ausstreckte und mit einem herzhaften Gähnen versuchte, seine Müdigkeit zu verscheuchen, erlaubte er sich einen kurzen Gedanken an den gestrigen Abend. Wie schon bei ihrem ersten Treffen hatte Sara ihn auf Anhieb in ihren Bann gezogen. Ihr zarter Körper und der Duft, der von ihr ausging, reichten aus, um seinen Puls zu beschleunigen. Wenn sie ihn dann noch mit ihren blauen Augen lächelnd ansah, war er Wachs in ihren Händen.

Natürlich wusste sie das nicht. Er gab sich alle Mühe, gelassen zu wirken. Ihr Kennenlernen war schließlich eher außergewöhnlichen Umständen geschuldet, die eine gegenseitige Sympathie nur verkomplizierten. Doch er hatte nicht vor, sich davon abschrecken zu lassen. Ja, nach dem ersten Treffen war er sich unsicher gewesen, hatte einige Dinge verarbeiten müssen. Aber Sara war es wert. Er hatte also gar keine andere Wahl gehabt, als sie wiederzusehen.

»O Mann, Brüderchen. Komm runter von deiner Wolke und steh endlich auf.«

»Kann Paps nicht mit euch üben?«

»Könnte er, will er aber nicht. Er meint, du hast es uns zugesagt, also …« Kim ließ den Satz unvollendet.

Sie sahen einander stumm an. Genau wie ihre Zwillingsschwester Cora hatte Kim die Augen ihrer Mutter geerbt. Vielleicht war das der Grund, warum er ihnen nie eine Bitte abschlagen konnte. Vielleicht vergötterte er seine beiden hübschen, liebenswert nervigen Schwestern aber auch einfach nur über alle Maßen. Bastian begann zu lächeln, und Kim wirkte zufrieden. In einem günstigen Moment schnellte er hoch, packte Kim an den Armen und schmiss sie aufs Bett. Schreiend und wild um sich tretend, versuchte sie, der Kitzelattacke zu entkommen.

»Hör auf du Irrer. Du zerzaust meine Haare.«

»Willst du lernen, wie man Auto fährt, oder zum nächsten Modelcasting?«

»Das spielt keine Rolle.« Ihr Tritt verfehlte haarscharf seine Rippen.

»Ich verstehe schon. Ihr beiden hofft auf männliche Zuschauer.«

Kim erwiderte nichts.

»Lass mich raten, Cora ist noch im Badezimmer.«

Erneutes Schweigen.

»Ihr macht mich fertig.« Bastian ließ los und rollte zur Seite.

»Du bist doch hier derjenige, der seit zwei Wochen zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Wie heißt sie eigentlich?«

»Werde nicht frech.«

Diesmal war Kim vorgewarnt und flüchtete im richtigen Moment.

»Zehn Minuten«, rief sie durch die geschlossene Tür.

Bastian war wieder allein. Stimmte das, was seine Schwester gesagt hatte? War er wirklich zu nichts mehr zu gebrauchen? So schlimm war es ganz sicher nicht. Trotzdem musste er zugeben, dass Sara in seinen Gedanken sehr präsent war. Er griff nach seinem Handy. Nachdem sie die halbe Nacht geredet hatten, hatte er ihr, bevor er zu Bett gegangen war, eine Nachricht geschrieben. Nun konnte Bastian sehen, dass sie sie zwar gelesen, aber nicht geantwortet hatte. Die Entdeckung dämpfte seine gute Laune ein wenig. Möglicherweise schlief Sara auch einfach noch und würde sich später melden. Er wusste nicht, wie er wohl reagieren würde, sollte von ihr tatsächlich keine Reaktion kommen.

Sein Magen begann zu knurren, und Bastian stand nun endgültig auf. Kim und Cora scharrten sicher schon mit den Füßen. Wenn er ehrlich war, kam ihm die Ablenkung ganz recht. Was brachte es schon, die ganze Zeit vor sich hin zu grübeln. Es änderte nichts am Ergebnis.

»Hallo Paps.«

»Hallo.« Bastians Vater löste den Blick von der Zeitung. »Ausgeschlafen?« Nun grinste er.

»Ja, dank Kim.«

»Du hast es den beiden versprochen.«

Ende der Leseprobe