Zu spät. - Martin Werlen - E-Book

Zu spät. E-Book

Martin Werlen

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Beschreibung

Der schweizer Bestseller-Autor – "Heute im Blick" - und Mönch Martin Werlen legt sein neues Buch vor. Er stellt darin eine radikale Diagnose für die Kirche und den Glauben heute: Denn Schönreden hilft nicht mehr. Werlen sieht die Entfremdung der Kirche von den Menschen. Er beobachtet eine lähmende Stagnation – und bei manchen die Hoffnung, dass, trotz aller Abbrüche, alles beim Alten bleiben möge. Seine klare Diagnose: Diese Hoffnung trügt. Ein dramatisches Ereignis, eine wahre persönliche Begebenheit, die den Autor fast aus der Bahn geworfen hat, steht im Zentrum dieses autobiographisch geprägten Buches. Was trägt in einer solchen Situation? Was sagt etwa die Geschichte vom Propheten Jona? Sie durchzieht dieses Buch wie ein roter Faden. Loslassen kann schmerzen. Aber es hilft nur, nach innen und in die Tiefe zu gehen, Glauben neu zu entdecken – an der Seite auch jener Menschen, in deren Leben "alles zu spät" ist. Und es hilft die zentrale Erfahrung: Christliche Berufung ist heute ganz radikal neu gefordert.

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Martin Werlen
Zu spät.
Eine Provokation für die Kirche. Hoffnung für alle
Der Text des Buches Jona ist mit freundlicher Genehmigung des Verlags Katholisches Bibelwerk entnommen aus: Die Bibel. ­Einheitsübersetzung. Stuttgart 2016.
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand
Umschlagmotiv: © KellenbergerKaminski;[email protected]
E-Book-Konvertierung: de·te·pe, Aalen
ISBN E-Book 978-3-451-81259-0
ISBN Print 978-3-451-37519-4
In Dankbarkeit allen Menschen, die die Kirche nicht in Ruhe lassen.
1
Mit großem Schrecken wachte ich auf. Was war da los? Ein ­riesiger Krach hatte mich aus dem tiefen Schlaf geweckt. Das konnte kein Traum sein! So heftig kann nicht einmal ein Traum aufschrecken. Zudem war ich nicht schweißgebadet, wie das nach schrecklichen Träumen der Fall sein kann. Dieser Knall kam völlig unerwartet. Aus heiterem Sternenhimmel sozusagen. In der Zwischenzeit war es zwar wieder ruhig, aber das Durcheinander lag noch knisternd in der Luft. Während ich mich vorsichtig bewegte, um den Lichtschalter beim Hotelbett zu finden, bebte mein Herz immer noch. Und das sollte ziemlich lange so bleiben. Obwohl ich allen Ernstes meinte, das sei das Ende. Überhaupt. Eine Überraschung? Mit dem Tod lebe ich jeden Tag. Der allein ist todsicher. Das ist nur eine Frage der Zeit. Für uns alle. In einem Hochgebet in der Eucharistiefeier beten wir: »Wenn unser eigener Weg zu Ende geht, nimm auch uns für immer bei dir auf.« Das ist meine Hoffnung. Sie soll einmal auf meinem Totenbildchen stehen.
Drei Uhr in der Nacht war es.
Der ganze zurückliegende Abend wurde plötzlich wieder lebendig – mit seinen Hoffnungen und Freuden, aber auch mit seinen Enttäuschungen und mit allem Erschreckenden. Nein, ruhig eingeschlafen war ich nicht. Dafür war in den vergangenen Stunden zu viel passiert. Das musste erst verdaut werden – sicher nicht in der Nacht.
Gleich nach dem Aufschrecken fiel mir spontan eine Geschichte aus der Bibel ein. Eine tragische und zugleich humorvolle. War das nicht tatsächlich der Schlüssel zu allem, was passiert ist – auch jetzt in meinem Zimmer? War das nicht der Schlüssel zu meinem ganzen Leben? Ein Buch für die Kirche heute? Welche Überraschung! Die Erzählung war mir selbstverständlich vertraut – vom Lesen und vom Hören. Aber jetzt klang alles ganz anders, jetzt, wo ich die Geschichte selbst erlebte. Bis in die Knochen. Eines realisierte ich sofort: Ausgerechnet diese großartige Erzählung hatte ich tatsächlich noch nie in einer meiner Publikationen oder in einem meiner Vorträge erwähnt oder sogar zitiert. Überhaupt nie. Obwohl sie eigentlich so naheliegend war. Bis in diese Stunde in der Nacht, nach dem großen Knall, ist mir das nie aufgefallen. Ein ausgezeichneter Kenner dieser biblischen Erzählung schreibt zu den ersten drei Sätzen der Geschichte: »Wie ein kunstfertiger Erzähler sagt der Autor zum Eingang nur das Nötigste, dies aber so, dass er Hörer und Leser in große Spannung versetzt.« Wenn mir das nur auch mit diesem Buch gelingen würde!
2
Ein guter Freund war am späteren Nachmittag extra in diese Stadt gereist, um mich zu treffen und mich zum ersten Mal als Referenten zu hören. Kennengelernt hatten wir uns ein Jahr zuvor in einer abgelegenen Berglandschaft, in der man tatsächlich nichts mehr wahrnimmt von allem Lärm dieser Welt. Nicht möglich, könnte man meinen. Von dieser beeindruckenden Erfahrung war ich damals so überwältigt, dass ich sie auch mit jemandem teilen wollte. So sprach ich den Unbekannten an und wir gingen miteinander in dieses Erlebnis hinein. Anschließend gab es ein tiefes Gespräch. Keiner wusste vom anderen, was er sonst treibt. Wir verstanden einander. Wir staunten miteinander über das Leben. Wir sprachen über verschiedene Krisengebiete auf dem Erdenrund, die wir selbst besucht hatten. Einer war Mönch, der andere Atheist. Über Twitter tauschten wir in der Folge gelegentlich ein paar Gedanken aus. Nun war der Atheist stundenlang mit der Bahn gefahren, um dem Mönch zuzuhören. Beide in einer fremden Stadt. Ich blieb nach dem Vortrag zur Übernachtung in der Stadt, Jan kehrte am gleichen Abend mit der Bahn zu seiner Frau nach Hause zurück. Der Atheist war es, der dem Mönch in der überbuchten Stadt ein Hotelzimmer besorgt hatte. Der Ort sollte nicht zu abgelegen sein, aber möglichst ruhig. Das Hotel lag an bester Lage. Die Qualität lag weit über dem, was ich für mich selbst gewählt hätte. Ruhig sollte es allerdings – wider Erwarten – nicht bleiben.
Noch ein anderer Bekannter sollte zum Vortrag kommen. Florian wohnte in der Nähe. Kennengelernt hatten wir uns in einer katholischen Akademie in einer Großstadt. Ich durfte dort einen Einkehrtag für Priester gestalten. Florian übernachtet bei seiner gelegentlichen Dozententätigkeit in dieser Stadt jeweils in der Akademie. Beim Frühstück setzte er sich allein an einen Tisch. Typisch. Ein geräumiger Speisesaal. Zwei Gäste. Zu einem Kirchenmann hätte er sich nicht getraut. Obwohl ihn viele Fragen beschäftigten, die gerade hier am richtigen Ort aufgetischt gewesen wären. Er wollte nicht stören. So wird Kirche wahrgenommen. Meine Einladung, sich an den gleichen Tisch zu setzen, nahm er gerne an. Es wurde ein intensives Gespräch. Später ging der Dialog über Twitter weiter: »Mir war nicht bewusst, mit wem ich am Tisch sitze. Erst eine Nachfrage an der Rezeption brachte den Namen. Sowohl die reale wie auch die virtuelle Begegnung klingen nach. Besteht die Möglichkeit weiter zu sprechen? Freue mich auf ein Gespräch über meine Zweifel.« Aufgrund der großen Distanz war das leider nicht möglich. Umso mehr sollte jetzt die Gelegenheit anlässlich des Vortrags genutzt werden.
Mindestens drei Anwesende beim Vortrag waren also gesetzt: ein Atheist, ein Zweifler und ein Mönch. Bereits das versprach spannend zu werden. Das war schon gehörig geladen. Aber dass es einen solchen Knall geben sollte?
3
Selbstverständlich hatte die ganze Geschichte der vergangenen paar Stunden schon vor vielen Jahrzehnten begonnen. Davon erzählte ich den am Vortrag Interessierten. Von Kind auf hatte ich großes Gottvertrauen gelernt. Der Glaube gehörte für mich einfach dazu. Aber nicht einfach. Nein, es war von früh an ein Ringen. Das Gebet war Auseinandersetzung. Bereits die kurzen Besuche als Kind in der Dorfkirche. Was die Psalmworte ausdrücken, die ich erst später kennenlernte, war mir vertraut: »Wach auf! Warum schläfst du, Herr? Erwache, verstoß nicht für immer! Warum verbirgst du dein Angesicht, vergisst unser Elend und unsre Bedrückung?« (Ps 44,24–25).
Glaube war Leben. Da hatte alles Platz: Freude und Hoffnung, Trauer und Angst. Die Gottesdienste ließen mich immer wieder erfahren, dass Gott da ist. Dieser Gott war ein vertrautes Du. Aber es gab auch schreckliche Erfahrungen in der Kirche. Klein, wie ich damals war, ließ ich beim ersten Einsatz als Ministrant auf dem Weg vom Lesepult zum Altar das schwere Messbuch fallen. Dafür erhielt ich am Altar eine Ohrfeige – zwar nicht eine schallende, aber eine ganz gehörig erniedrigende. Solche und ähnliche Erfahrungen haben mich nie aus der Bahn geworfen oder wanken lassen. Im Gegenteil. Sie öffneten mir Fenster und Türen: Das wichtige Leben des Glaubens entdeckte ich immer mehr nicht im Kirchengebäude, sondern im Alltag. Nicht zuletzt bei der Begegnung mit Menschen in großer Not. Einmal hatte ich deswegen mit meiner Mutter eine heftige Auseinandersetzung. Ich hielt der Mutter vor, dass ihr Verhalten gegenüber einer sehr schwierigen Frau schlimmer sei als nicht in den Gottesdienst zu gehen. Auch das hat eingeschlagen. Schallend.
Einmal nahm ich an einem Wettbewerb einer Jugendzeitschrift teil. Wie groß war die Freude, als ich dabei das Buch ›Enrico‹ von Gertrud Heinzmann geschenkt bekam! Es war das erste große Buch, das ich las. Ich war tief berührt. Der Italienerknabe Enrico war mit seinem Vater in die Schweiz gekommen. Er musste erfahren, was in der Zwischenzeit andere Menschen aus anderen Ländern bei uns erfahren müssen: Behandelt werden wie Verbrecher; abgesondert sein; gemieden werden; von den Einheimischen nicht angesprochen werden. Das war genau die Situation der Männer, Frauen und Kinder, die bei uns im Barackendorf bei der Baustelle ›Gasleitung‹ wohnten. Angeregt durch das Buch ›Enrico‹ suchte ich Kontakt mit gleichaltrigen italienischen Kindern. Dazu wagte ich mich ins Barackendorf. Und sie trauten sich in unser Haus. Sprechen konnten wir anfangs nicht viel, aber spielen ging problemlos. Bald schon lernten wir voneinander Wörter in der jeweiligen Fremdsprache.
Ein anderes Buch, das ich im einzigen kleinen Büchergestell daheim in der Wohnung zufällig fand, öffnete mir zum ersten Mal so richtig die Augen für die Schrecken des Krieges – für konkrete Menschen in ihrer großen Not: ›Die Glocken von Nagasaki‹. Es machte mich hellhörig für die Aufgaben von Christinnen und Christen in Notsituationen. Das Büchergestell in unserer Bauernfamilie in einfachsten Verhältnissen umfasste drei Bretter à 50 Zentimeter. Nur wenige Bücher waren da, aber sie ließen Lust nach mehr aufkommen. Und das ging bald einmal los. Mit Gleichgesinnten im Jugendverein durfte ich später eine öffentliche Bibliothek im kleinen Dorf einrichten. Tatkräftige Unterstützung erhielten wir dabei von Alice Herdan-Zuckmayer, selbst Schriftstellerin, allerdings weniger bekannt als ihr Mann Carl Zuckmayer. Hier durfte ich zum ersten Mal eindrücklich erleben, dass Prominente gerne mittragen, wenn es um die Umsetzung guter Ideen geht.
4
Das vielfältige Engagement in unserem kleinen Bergdorf Obergesteln im Wallis war für mich als Jugendlicher selbstverständlich das Engagement als Getaufter. Das war im Sport und im Jugendverein genauso wie beim Ministrieren oder Musizieren. Pfarrei und Dorf waren identisch. Inzwischen hatten wir einen Pfarrer, der mir ein überzeugendes Vorbild war. Die Umgebung prägte mich – die Menschen, aber auch die Bergwelt. Wie freute ich mich am Psalmvers: »Wie Berge Jerusalem rings umgeben, so ist der Herr um sein Volk« (Ps 125,2). Genau das war es. Einfach bei Gott sein. So wie die hohen Berge meine Heimat schützend und wohltuend umgaben. Mit der Zeit merkte ich, dass nicht alle dasselbe meinten, wenn sie über Berge redeten. Ich dachte an das Weißhorn, den Galenstock oder das Matterhorn, nicht aber an einige hundert Meter hohe Hügel. Und nicht alle meinten dasselbe, wenn sie über Glauben redeten. Bei vielen wurde es überhaupt nicht warm ums Herz, wenn der Glaube ins Gespräch kam. Sie sprachen, wie wenn man über eine Theorie spricht, aber nicht übers Leben mit seinen Höhen und Abgründen und dem Alltag. Bis heute macht mir diese Erfahrung schwer zu schaffen. Eines blieb aber klar durch all die Jahrzehnte: Ich hatte nie Grund, stolz zu sein auf meinen Glauben. Den habe ich ja schlicht und einfach mit auf den Lebensweg bekommen. Jeden Tag und das ganze Jahr über wurde er genährt im Gebet, in den Begegnungen und in den Erfahrungen. Alltäglich.
Als ich im Alter von achtzehn Jahren zufällig das Leitbild für Mönche in die Hände bekam, das der heilige Benedikt im 6. Jahrhundert geschrieben hatte, war ich tief berührt. Der Text war übersetzt und kommentiert vom damaligen Abt von Einsiedeln. Genau das war es. Für mich war klar: Das ist mein Weg! In der Gegenwart Gottes leben – so verstand offensichtlich auch Benedikt den Glauben. Gott ist da. Darum geht der Mönch mit offenen Augen und aufgeschreckten Ohren durchs Leben, um diesen Gott zu suchen. Alles geschieht in der Gegenwart Gottes. Benedikt war überzeugt: Wirklich alles. Wenn der Mensch etwas hat, was scheinbar nicht hier hineinpasst, dann verehrt er Götzen. Dann wäre Gott nicht allmächtig. Der heilige Benedikt ist überzeugt: »Wir glauben, dass Gott überall gegenwärtig ist« (RB 19,1).
Das berührt mich zutiefst. Hier erfahre ich das Zentrum unseres Glaubens. Immer, wenn mir das so richtig tief zu Herzen geht, beginne ich zu weinen – aus Betroffenheit, aus Berührung und aus Freude. Andere lässt das scheinbar kalt. Es ergeht mir wohl, wie es Salvatore im gleichnamigen Roman von Arnold Stadler ergangen ist: »Und dann hörte Salvatore noch, wie der Priester das Schlusswort Jesu wiedergab: ›Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.‹ Das hätte eigentlich jeden Menschen umhauen müssen. Aber an diesem blauen Tag war es wahrscheinlich nur Salvatore, den es umhaute.«
5
›Ich bin da‹ – das ist der Name Gottes (vgl. Ex 3,1–15). Das ist kein Spruch aus einem Buch. Es ist für mich Erfahrung. Diese Erfahrung ist der Grund, warum ich Benediktiner geworden bin. Nach der Zeit der Kandidatur (sechs bis zwölf Monate), des Noviziats (ein Jahr) und der Einfachen Profess (drei Jahre) ist in einem Benediktinerkloster die Entscheidung fällig: Feierliche Profess (für immer) ja oder nein. Das fiel mir im Jahre 1987 nicht ganz leicht. Nicht etwa, weil ich an meiner Berufung als Mönch zweifelte. Nein, im Gegenteil. Die Frage, die mich bewegte: Wie kann ich meinen Glauben an den Gott, der da ist, am besten leben? Auf meine ganz persönliche Weise? Als Antwort darauf berührte mich neben der benediktinischen Lebensweise das Zeugnis der Kartäuser schon lange ganz tief. Diese Lebensform, in der fast alles radikal losgelassen wird, was anderen Menschen wichtig ist, macht nur Sinn, wenn Gott derjenige ist, der uns das Leben schenkt und er allein es ist, der uns das Leben in Fülle schenken kann. Dann habe ich alles, wenn ich in seiner Gemeinschaft bin – und das ist Himmel.
Guigo von Kastell, der fünfte Prior der Großen Kartause bei Grenoble (gegründet 1084 durch den hl. Bruno), schreibt dazu: »Das arme Leben in Einsamkeit ist zu Beginn schwer, wird mit der Zeit leicht und am Ende himmlisch. In Widerwärtigkeiten ist es standhaft, bei Zweifeln treu, im Glück maßvoll. Es ist bescheiden im Lebensstil, einfach im Benehmen, züchtig im Reden, keusch im Verhalten. Es ist höchst erstrebenswert, da es ganz und gar keinen Ehrgeiz hegt.«
Mit einem befreundeten Priester sprach ich damals über mein Ringen. Er schickte mir einmal mit einem kurzen Kommentar (»Weshalb man sich nicht in einem Kartäuser-Kloster vergraben soll«) einen kopierten Ausschnitt aus der Pastoralregel Gregors des Großen. Darin hieß es: »Es gibt also solche, die mit großen Gaben ausgestattet sind, die aber ihre Sorge einzig nur der Betrachtung widmen, dem Nächsten durch die Predigt nicht nützen wollen, dagegen ruhige Zurückgezogenheit und beschauliche Einsamkeit lieben.« Dieser Wink genügte. Ich bat um Zulassung zur Feierlichen Profess im Benediktinerkloster Einsiedeln.
Die Berufung der Kartäuser hielt ich aber auch weiterhin immer in großer Ehrfurcht vor Augen. Bis heute. Mir wurde auch klar, dass Gregor der Große gegen egoistische Motivationen Stellung bezogen hatte, nicht gegen das Leben in Gottes Gegenwart in aller Radikalität. Bei vielen Entscheidungen später war mir das Glaubenszeugnis in der Kartause ein wichtiger Indikator für das, worauf es letztlich ankommt.
Ich bin dankbar, dass ich meinen Weg so leicht gefunden habe. Viele ringen jahrelang darum. Das Angesprochensein von Gott erfahren dürfen, ist eine ganz persönliche Erfahrung. Können wir dazu etwas beitragen? Ein wichtiger Schritt ist es, die Sehnsucht nicht unter viel Alltagsschutt zu belassen. Denn wenn die Sehnsucht erlahmt, führt das unmerklich zu Herzenshärte. Deshalb beten wir nach der Weisung des heiligen Benedikt jeden Morgen aus dem Psalm 95: »Würdet ihr doch heute auf seine Stimme hören! Verhärtet euer Herz nicht!«
Die Palette der Berufungen, die wir als Getaufte leben können, ist sehr breit. Das Leben in einem Kloster oder in der Welt habe ich nie als Gegensatz wahrgenommen. Im Gegenteil. Im konkreten Alltag an dem Ort, wo ich meinen Platz gefunden habe, darf ich Gottes Stimme hören. Aus diesem Hören können auch heute in einem Kloster Projekte entstehen, die über die Klostermauern hinaus Menschen bewegen.
6
Es ist nicht einfach, tiefe Erfahrungen mit anderen zu teilen. Dieses Unvermögen ist schmerzlich. Das Problem liegt nicht nur bei den anderen. Wie schwierig ist es, die eigenen Erfahrungen überhaupt annähernd in angemessenen Worten zum Ausdruck zu bringen! Auch hier wieder ein Ringen. Das gilt in besonderer Weise, wenn es um Erfahrungen mit diesem Gott geht, der alle Erfahrungen übersteigt. Immer wieder stoße ich auf Zeugnisse von Menschen, die dieses Unvermögen fast verzweifelt in Worte fassten. So auch Ludwig van Beethoven, der gewiss kein Dogmatiker war und auch kein Kirchgänger, aber ein Gottsucher. Und das ist weit mehr. Die Schöpfung ließ ihn den Schöpfer ahnen. Besonders die Sternenwelt. Man hört es in vielen seiner Kompositionen. In einem Brief schreibt er 1824: »Wenn ich am Abend den Himmel staunend betrachte und das Heer der ewig in seinen Grenzen sich schwingenden Lichtkörpern, Sonnen oder Erden genannt, dann schwingt sich mein Geist über diese soviel Millionen Meilen entfernten Gestirne hin zur Urquelle, aus welcher ewig neue Schöpfungen entströmen werden. Wenn ich dann und wann versuche, meinen aufgeregten Gefühlen in Tönen eine Form zu geben – ach, dann finde ich mich schrecklich getäuscht: ich werfe mein besudeltes Blatt auf die Erde und fühle mich fest überzeugt, dass kein Erdgeborener je die himmlischen Bilder, die seiner aufgeregten Phantasie vorschwebten, durch Töne, Worte, Farbe oder Meißel darzustellen imstande sein wird.« Beethoven hat recht. Und doch dürfen wir nicht schweigen von dem, worüber man nie adäquat reden kann. Es gibt – Gott sei Dank – Menschen, die tiefe Erfahrungen machen, sie zulassen und reflektieren – und die auch die Gabe haben, sie mitzuteilen. Sie ermutigen, nicht einfach zu kapitulieren. Immer wieder durfte ich solchen Menschen begegnen. Nicht selten unter Künstlerinnen und Künstlern, aber auch unter einfachen Leuten. Vor allem unter solchen, von denen ich eigentlich nichts erwartete. Es sind Menschen, die in größter Tiefe aus dem Glauben leben. Wie gut tat mir die Begegnung mit einer Frau, die in ihrem Leben sehr viel Schweres zu tragen hatte. Da war nichts von Verhärtung oder Verbitterung zu spüren. Die Schicksalsschläge führten sie dahin, anderen Menschen in großer Not zur Seite zu stehen. Das hat sie im Gebet als ihre Aufgabe erkannt. So ist sie, die Kinder durch tragische Unfälle verloren hat, zur Mutter vieler Menschen geworden. Miteinander auf der Suche sein. Miteinander ringen. Das ist lebendige Kirche.
7
Das Leben als Benediktiner im Kloster Einsiedeln hat mir viele solche Erfahrungen geschenkt und ermöglicht. Ich durfte immer wieder neu in Dankbarkeit entdecken, dass das wirklich meine Berufung ist. Ein Leben voller Überraschungen. Ich hatte einen Novizenmeister, der mich überzeugend in die benediktinische Spiritualität hineinführte. Ich durfte den Alltag mit Mitbrüdern gestalten, die mir Begleitung und Herausforderung waren. Nach dem Studium der Theologie und der Psychologie wurden mir Aufgaben anvertraut, die mir – und hoffentlich auch anderen – immer wieder zum Segen wurden: Novizenmeister, Lehrer an der Stiftsschule, Zeremoniar, Vizepostulator zum Seligsprechungsprozess von Bruder Meinrad Eugster, Vortrags- und Begleitungstätigkeit, Leiter des Internats. Am 10. November 2001 wurde ich von der Klostergemeinschaft zum 58. Abt unseres Klosters ge­wählt und kurz darauf von Papst Johannes Paul II. bestätigt und ernannt. Damit war ich auch Abt des Benediktinerinnenklosters Fahr. Dieses Vertrauen hat mich tief berührt. ›Höre und du wirst ankommen‹ – unter dieses Motto, zusammen­gesetzt aus dem ersten und dem letzten Wort der Benediktsregel, stellte ich meine Amtszeit. In der Folge war ich Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz, wo mir verschiedene an­stehende Themen und ganz weit auseinanderliegende Verantwortlichkeiten zufielen: Glaubenslehre, Liturgie, Katholische Schulen, Justitia et Pax, Frauenfragen, Kommunikation, Medien, sexuelle Übergriffe.
Als Vorsteher der beiden Klostergemeinschaften und als Mitglied der Bischofskonferenz erlebte ich viele Auseinandersetzungen. Die meisten haben weitergeführt, andere waren scheinbar sinnlos oder haben sogar Verletzungen zurückgelassen. Zu den schlimmsten Erfahrungen gehörten: Das Festgefahrensein, das Verwalten ohne Visionen, sich der Wirklichkeit nicht stellen, das Gespräch abbrechen, alles besser wissen.
Als Abt durfte ich noch und noch die Bereitschaft zum Mittragen durch Bekannte und Unbekannte erfahren, wenn es um die Umsetzung guter Ideen ging. Menschen reagieren positiv auf Kreativität, die eine Frucht unseres Glaubens ist. Eintöniger Glaube ist nicht christlich. Suchende Menschen verabschieden sich zu recht von einer Kirche, die langweilig ist. Eine solche Kirche lebt ihre Berufung nicht. Lebendiger Glaube ist dynamisch und originell. Er stellt sich den Fragen der Menschen. Ein solcher Glaube richtet viele auf. Und er ist es wert, unterstützt zu werden.
Was war wichtig in meiner Amtszeit? An erster Stelle nenne ich die Vertiefung der Beziehung mit dem Frauenkloster Fahr, das seit der Gründung im Jahre 1130 zum Kloster Einsiedeln gehört. Unsere Mitschwestern im Kloster am Rande der Stadt Zürich sind – Gott sei Dank – nicht mehr so sehr am Rand unserer Gemeinschaft im Kloster Einsiedeln. Wir haben in beiden Gemeinschaften neue Schritte gewagt. Viele Mitschwestern und Mitbrüder trugen und tragen diese mit großem Engagement mit. Ich denke zum Beispiel an das Mittragen des Projektes ›Kirche mit den Frauen‹ durch die gesamte Klostergemeinschaft Fahr. Nachhaltige Auswirkungen haben die Wallfahrten für Menschen, die mit der Kirche im Clinch sind. Einige von ihnen sind zu engagierten Freundinnen und Freunden unserer Gemeinschaften geworden. Wir versuchten, uns dem Thema ›Sexuelle Übergriffe‹ ohne Wenn und Aber zu stellen. Noch vieles könnte ich hier anfügen, auf das ich mit tiefer Dankbarkeit schaue. Die Gemeinschaften im Kloster Fahr und im Kloster Einsiedeln sind in den vergangenen Jahren nach dem Eindruck vieler Menschen in ihrer Lebendigkeit gewachsen – trotz kleiner werdender Mitgliederzahl. Ich kann sie mit Freude jungen Menschen empfehlen, die in einer benediktinischen Gemeinschaft ihren Platz suchen, um miteinander Gott und den Menschen zu dienen.
8
Am 13. Januar 2012 erlitt ich einen schweren Sportunfall. Wichtige Erfahrungen und Einsichten wurden mir in der folgenden Zeit geschenkt. Plötzlich war ich aus dem Alltag gerissen. Wir haben tatsächlich nicht alles im Griff. Dies ist wohl die größte Illusion, in der wir Menschen leben können: alles im Griff haben wollen – sogar noch im Tod. Es war eine Erfahrung von Hilflosigkeit, von Angewiesensein auf andere. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich dem zu stellen, was nun war. Andere hatten die Führung übernommen. Sie halfen mir, nicht dem Vergangenen nachzutrauern, sondern im Jetzt zu leben. Ich durfte mich der Situation stellen. Alles andere wäre zum Verzweifeln gewesen. Das Geheimnis des Lebens wurde mir neu bewusst, auch unsere Zerbrechlichkeit. Innerhalb einer Sekunde kann unsere Situation eine ganz andere sein. Für mich war das auch ein Gottesaugenblick. Bereits im Moment des Unfalls, wovon ich erst nachher erfahren habe. Zufällig haben zwei Schüler den Unfall gesehen und sofort Hilfeleistungen übernommen. Und welche Erleichterung war es für den Notarzt, dass ich als Bewusstloser Psalmen rezitierte. Später waren es Gotteserfahrungen, dass ich einfach wortlos in Gottes Gegenwart daliegen durfte. Wie wichtig das ist, hatte ich vorher in vielen Vorträgen andere gelehrt. Jetzt durfte ich existenziell erfahren, dass das trägt – in guten und schwierigen Tagen.
Viel Geplantes musste damals von meinen Mitschwestern und Mitbrüdern und von angestellten Mitarbeitenden übernommen oder abgesagt werden. Ich musste mir keine Sorgen machen. Ihnen konnte ich getrost vertrauen. Und es lief gut weiter in unseren Klostergemeinschaften Fahr und Einsiedeln. Auch ohne mich. Diese Erfahrung wirkte entlastend. Die Krankenkasse hatte mir nach meinem Sportunfall im Januar großzügig einen langen Aufenthalt in der Rehabilita­tionsklinik Valens ermöglicht. Ich hoffe, dass es weniger bekannten Patienten auch so ergeht. Kurzfristig eine große Geldsumme investiert, kann langfristig ein Vielfaches an Einsparungen zur Folge haben. Ohne diese Unterstützung könnte ich meine verschiedenen Aufgaben heute kaum mehr wahrnehmen. Die Zeit in der Klinik war streng. Nicht mehr richtig sprechen können. Das war eine große Not. Erst später begann ich mit Menschen zu sprechen, denen ich Vertrauen schenken konnte. Sie halfen mir, das lähmende Kreisen um Erinnerungen loszulassen und mich stattdessen den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen. Eines wurde immer klarer: Auch in der Kirche kann ich Verantwortung nur in einem Raum des Vertrauens wahrnehmen. Auch hier dürfen wir das Kreisen um Vergangenes loslassen, das jetzt vorbei ist. Was mir schon viele Jahre wichtig war, durfte ich während der vielen Wochen in der Klinik ganz neu lernen: Dankbar des Vergangenen gedenken, leidenschaftlich die Gegenwart leben, zuversichtlich in die Zukunft gehen – in Gottes Gegenwart.
Die Genesung war so überraschend gut, dass es möglich gewesen wäre, das Abtsamt auch in einer zweiten Amtszeit wahrzunehmen. Viele Stimmen drängten in diese Richtung. Unabhängig vom Unfall war es für mich aber bereits nach der Wahl klar, dass ich das Amt nach 12 Jahren weitergeben werde. So besprach ich meine Gründe mit verschiedenen Menschen, deren Ehrlichkeit und Erfahrungen ich schätzte. Das Weitergeben des Abtsamtes nach zwölf Jahren war eine gute Entscheidung, die ich noch nie bereut habe. Ich wollte nicht plötzlich selbst einer Dynamik im Wege stehen, für die ich mich gemeinsam mit anderen eingesetzt hatte. Heute darf ich Aufgaben wahrnehmen, die ich schon früher innehatte: Novizenmeister, Lehrer am Gymnasium, Schulseelsorger, mit Pfarreien und Gemeinschaften Gottesdienste feiern, Einkehrtage gestalten und Vorträge halten, Menschen begleiten und Artikel und Bücher schreiben.
9
Sehr vielen Menschen durfte ich in meinem Leben bisher begegnen. Mit zahlreichen konnte ich über Gotteserfahrungen austauschen, mit anderen schien das praktisch unmöglich. Die Letzteren waren übrigens sehr oft nicht Fernstehende. Sofort über den Glauben ins Gespräch kam ich vor allem mit Menschen, die ich nicht in kirchlichen Gremien oder Räumen traf. Ich denke zum Beispiel an die unzähligen Begegnungen beim Bahnfahren oder beim Unterwegssein per Anhalter. So habe ich übrigens auch den Menschen kennengelernt, der damals ein aus der Kirche Ausgetretener war und in der Zwischenzeit so mitten in der Kirche ist, dass wir uns immer wieder zu Glaubensgesprächen treffen. Er hat einen frühen Entwurf des Textes für dieses Buches gelesen und mit seiner offenen Kritik zur Vertiefung und zur größeren Verständlichkeit meiner Gedanken beigetragen.
Leider ist der Austausch über Gotteserfahrungen oft gerade mit den Menschen schwierig, die sich selbst als gläubig bezeichnen und beklagen, dass es nur noch so wenige wirklich Gläubige gibt. Vieles von dem, was für einige wesentlich zum Glauben gehört, sind für mich längst überholte Reste früherer Zeiten. Denken wir zum Beispiel an die kirchliche Sprache, die nur Insider verstehen. In ihrer Verblendung plädieren einige sogar für die Liturgie in lateinischer Sprache, damit man nichts versteht. So komme das Geheimnis des Glaubens besser zum Ausdruck, sagen sie. Selbstverständlich stören sie sich nicht daran, dass auch die Gebete in deutscher Sprache und die kirchlichen Verlautbarungen kaum verständlich sind – an den Menschen vorbei. Ob nicht die Kirche sich mehr von den Menschen verabschiedet hat, als die Menschen sich von der Kirche verabschieden? Die lateinische Sprache gefällt mir sehr gut. Aber nicht weil ich sie nicht verstehe. Einige andere ›Heiligtümer‹ haben meines Erachtens nichts mit dem Evangelium zu tun, sie sind sogar Gegenzeugnisse. Ich freue mich über christliche Symbole in der Öffentlichkeit. Aber wenn wir in aller Wut das Kreuz in öffentlichen Räumen verteidigen, geben wir durch unser Verhalten bald einmal das Gegenzeugnis für das, wofür das Kreuz steht. Das, was das Kreuz bezeugt, soll in erster Linie nicht durch äußere Zeichen, sondern durch unser Leben in die Öffentlichkeit kommen. Wir müssen nicht ängstlich den Glauben verteidigen. Wir dürfen den Glauben freudig leben.