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Verrät die Kirche ihren Auftrag, wenn sie sich nur auf sich konzentriert? Müsste sie sich nicht intensiv dem Heute, der Zeit zuwenden? Mit brennender Sorge, aber auch mit Leidenschaft und aus einem inneren Feuer heraus geschrieben ist Buch des bekannten Schweizer Mönches Martin Werlen, dem populären Altabt von Einsiedeln. Er lenkt den Blick auf die zentralen Fragen und weist heilsame, spirituelle Wege, die auch nach innen führen. Gegen Doppelbödigkeit und die Häresie der Äußerlichkeit setzt es eine klare Perspektive der Hoffnung. Ein ermutigendes, prophetisches Buch, das begeistert und aufrüttelt.
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Seitenzahl: 227
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Martin Werlen
Heute im Blick
Provokationen für eine Kirche, die mit den Menschen geht
In großer Dankbarkeit unserer Klostergemeinschaft mit Abt Urban Federer (www.kloster-einsiedeln.ch) für die mir geschenkte Sabbatzeit, der Gemeinschaft im Kloster Fahr (www.kloster-fahr.ch), die mich besonders im Gebet mitgetragen hat und den benediktinischen Gemeinschaften, deren Gastfreundschaft ich in dieser Zeit erfahren durfte:
St. Martin in Pannonhalma, Ungarn (www.bences.hu/lang/de/) und
Dormitio in Jerusalem (www.dormitio.net).
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand
Umschlagfoto: andré albrecht
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (Buch) 978-3-451-33752-9
ISBN (E-Book) 978-3-451-80503-5
Wir leben in einer sehr spannenden Zeit. Vieles bewegt sich. Vieles verändert sich. Vieles gerät durcheinander. Wie gehen wir damit als glaubende Menschen um? Ich bin überzeugt: Wir leben in einer Gnadenzeit! Gott spielt uns Tag für Tag Bälle zu. Nehmen wir sie wahr? Spielen wir sie weiter?
Mit der Broschüre ‚Miteinander die Glut unter der Asche entdecken‘ durfte ich im ‚Jahr des Glaubens‘ (2012/2013) in der Kirche engagierte Menschen ermutigen, trotz aller Versuchung zur Verzweiflung miteinander die Glut unter der Asche zu suchen. Das Feuer unseres Glaubens soll wieder zum Brennen kommen. Das vorliegende Buch im ‚Jahr der Orden‘ (2014/2015) baut darauf auf. Ich möchte alle Getauften ermutigen und dazu bewegen, sich mit Papst Franziskus auf den Weg zu wagen und in Gemeinschaft mit der ganzen Kirche die Freude des Glaubens zu entdecken.
Für Menschen in der Kirche sind diese Zeilen geschrieben, nicht als wissenschaftliche Abhandlung, sondern als ein erzählendes Unterwegssein, im Vertrauen auf Gottes Gegenwart. Dafür habe ich keine Recherchen gemacht. Ich nehme einfach einige der mir zugespielten Bälle auf und spiele sie weiter. Der Text ist also rein zufällig entstanden. Er spiegelt den Alltag wider. Dazu gehört das Einlaufen genauso wie die Klippen, die es auf dem Weg zu überwinden gilt. Darum begegnen wir Banalitäten zum Schmunzeln, aber auch Todernstem; Peinlichem aber auch zu Tränen Rührendem. Ich hoffe, dass es sich lohnt, trotz allem Mühsamen, das nun einmal zum Weg gehört, dabeizubleiben. Mit dem Voranschreiten entdecken wir Zusammenhänge, die sich letztlich nur einem glaubenden Menschen erschließen können. Und wir beginnen zu staunen.
Ist der Glaubensweg tatsächlich so spannend? Ja! Davon bin ich überzeugt. Heute mehr denn je. Das kann ich selber auch gemeinsam mit anderen erproben, zum Beispiel bei Führungen, in Exerzitien für Ordensgemeinschaften und im Religionsunterricht an unserem Gymnasium. Dabei führe ich jeweils bei der ersten Begegnung eine Regel ein: Wem es langweilig wird, kann den Antrag auf Abbruch stellen. Und die ganze Gruppe stimmt darüber ab. Wenn wir es fertigbringen, unseren Glauben als etwas Langweiliges darzustellen, halten wir besser inne. Dann tut uns und den andern eine Sabbatzeit gut.
Der hier skizzierte Weg ist einmalig, genauso wie der Lebensweg jedes Menschen einmalig ist. Ich hoffe, dass dieses Buch hilft, den eigenen Lebensweg als immer wieder überraschenden Weg in Gottes Gegenwart zu entdecken, aber auch gemeinsam den Weg christlicher Gemeinschaften (Klöster, Pfarreien, Gemeinden, Diözesen usw.) und Institutionen (Räte, Vereine, Verbände usw.). Dazu möchte ich überraschen, anregen, provozieren, herausfordern, Staub aufwirbeln (wo es Staub gibt). Vor allem soll dieses Buch aber enttäuschen. Denn eine Ent-Täuschung gibt es nur dort, wo man in einer Täuschung gelebt hat. Täuschungen sind die größten Hindernisse auf unserem Weg. Sie versperren uns oft den Blick auf das Wesentliche.
Alles klar? Hoffentlich nicht. Denn immer dann, wenn alles klar ist oder wir alles im Griff haben, sind wir nicht mehr auf dem Weg. Darum wird hier erzählt, was wir als glaubende Menschen leider immer wieder vergessen: Eine Kirche, in der alles klar ist, ist nicht katholisch.
‚Altabt von Einsiedeln fährt einen Lexus!‘ Schlagzeilen interessieren. Sie schlagen manchmal ganz gehörig ein – vor allem, wenn wir selbst betroffen sind. Sie provozieren. Für viele Menschen ist es ein Schreck, plötzlich alle Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu sehen. Das gilt auch für Menschen, die große Verantwortung tragen. Schlagzeilen richten den Blick vieler Menschen auf Wichtiges oder Nebensächliches. Was wir heute im Blick haben, beschäftigt uns. Es prägt uns und unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Das gilt auch für Schlagzeilen über die Kirche.
Die eingangs zitierte Schlagzeile war in Ungarn in einem Kloster im Umlauf, zu Beginn meiner halbjährigen Sabbatzeit. Und die Aussage traf tatsächlich zu. Ich kam auf dem Platz vor dem Benediktinerkloster Pannonhalma an. Sofort rannte ein Herr zu mir, der offensichtlich das Hobby pflegt, bedeutenden Persönlichkeiten nachzulaufen. Er erkundigte sich außer Atem, was für ein wichtiger Mönch ich sei. Er wollte sogar ein Autogramm. „Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mönch. Warum meinen Sie, dass ich so wichtig sei?“ – „Weil Sie mit einem Lexus fahren und einen Chauffeur haben.“ Ich musste den Herrn einerseits enttäuschen und durfte ihn andrerseits überraschen. Die Enttäuschung: Ich wusste nicht einmal, dass ich mit einem Lexus gefahren war. Die Überraschung: Ich war schlicht und einfach beim Autostoppen am Fuß des Hügels, auf dem das Kloster steht, von diesem Fahrer in seinem Nobelwagen mitgenommen worden. Dass eine Führungspersönlichkeit in der Gesellschaft oder in der Kirche Autostopp macht, ist in Ungarn fast unvorstellbar. Über das Vorgefallene musste man sogar in einem Kloster schmunzeln. Die ‚Schlagzeile‘ war ein humorvoller Umgang mit dieser Überraschung: ‚Altabt von Einsiedeln fährt einen Lexus!‘
Ein anderes Mal war ich per Autostopp in der Schweiz unterwegs. Eine große Bank hatte mich zu einem Vortrag eingeladen. Welche Schlagzeile wäre wohl in der Zeitung gestanden, hätte der Journalist gewusst, dass der Mönch, den er chauffiert hatte, das Referat hält und nicht derjenige, der gleichzeitig per Helikopter ankam?
Am Schluss meiner Sabbatzeit erregte wieder etwas verblüffte Aufmerksamkeit, auch hier in einem kleinen Kreis: ‚Mönch fährt mit Ferrari!‘ Wie ist es dazu gekommen? Ich durfte einem jungen Palästinenser besondere Orte in der Schweiz zeigen. Für eine Woche hatte der Mann ein Visum erhalten. In Lugano konnte ich ihn überzeugen, dass es auch im Regensommer in der Schweiz Sonnentage gibt. Wir saßen eine halbe Stunde am See (er war überrascht, dass keine Polizisten kamen und ihn, den Palästinenser, ausfragten). Anschließend schlenderten wir durch die beeindruckenden Gässchen der Altstadt. Plötzlich standen wir vor einem neuen roten Ferrari. Jugendliche bestaunten den tollen Wagen. Ich machte meinem Gast den Vorschlag zu einem gemeinsamen Scherz: Wir gehen in größter Selbstverständlichkeit zum Ferrari – er zur Türe des Beifahrers, ich im Mönchskleid mit einem Schlüsselbund in der Hand zur Türe des Fahrers. Einfach so tun als ob. Gesagt, getan. Da staunten die Jugendlichen noch mehr. ‚Mönch fährt mit Ferrari!‘ Doch das blieb nicht lange in der Luft hängen. Ausgerechnet in diesem Augenblick kam der Besitzer zurück. Da staunten auch wir beide. Beim Wegfahren hat uns der Besitzer deutlich zu hören gegeben, 1. dass er keinen Spaß versteht, 2. wem der Wagen gehört und 3. dass hier niemand so tun soll als ob.
Schlagzeilen lassen aufhorchen. Sie provozieren. Sie rütteln uns auf in unserer Routine und Oberflächlichkeit. Denn auch wir gehören oft zu einem widerspenstigen Volk: Wir haben Augen und sehen nicht; wir haben Ohren und hören nicht.1 Zudem ist unsere Wahrnehmung geprägt von den bisherigen Erfahrungen. Neue Einsichten haben es deshalb nicht leicht, den Weg zu uns Menschen zu finden. Schlagzeilen müssen zugespitzt formuliert werden, sollen sie wirklich ankommen. Das ist nichts Neues. Seit jeher ist dies eine Kunst der Menschen, die eine Botschaft weitertragen wollen.
Auch Jesus war damals ständig in den Schlagzeilen. Allerdings nicht, wie man vermuten könnte, weil ihm zu viel Frömmigkeit vorgeworfen wurde, sondern zu wenig. Er passte den religiösen Führern nicht ins Konzept. Er war ihnen zu viel bei den Menschen, zudem bei solchen, die in der Öffentlichkeit verachtet waren. Er wagte es sogar, sie zu kritisieren, nicht etwa die Sünderinnen und Sünder, sondern sie, die sich auf Gott beriefen. Und das Schlimmste für die geistlichen Autoritäten: Mit einer solchen Haltung und solchem Verhalten schien er den Anspruch zu erheben, dass er Gott sei. Solche Schlagzeilen sehen wir, wenn wir in den Evangelien lesen. Das Verbot Jesu, das Erfahrene weiterzuerzählen,2 hat – wie wir aus eigener Erfahrung wissen – wahrscheinlich viel dazu beigetragen, dass das Geschehene bald im Blick der Menschen war.
Schlagzeilen kommen an. Aber manchmal fehlen bei den Hörenden die Hintergründe oder die Bereitschaft, das Wahrgenommene auch richtig zu verstehen. Oft schauen wir nicht dahinter. Wir bleiben einfach bei den Schlagzeilen stehen. Der heilige Benedikt weiß um diese Tendenzen. Er ruft uns auf, mit offenen Augen und aufgeschreckten Ohren durchs Leben zu gehen.3 Das gilt auch und besonders für das Leben in der Kirche. Und genau diese Haltung vermissen viele Menschen in der Kirche. Dessen werden wir uns meistens erst dann bewusst, wenn wir mit Beispielen konfrontiert werden, die nicht leicht unter den Teppich gewischt werden können. Das soll und muss gewagt werden – aus Liebe zu den Menschen, zu denen die Kirche von Gott gesandt ist. Auch wenn das nicht allen gefallen wird. So schreibt der heilige Giovanni Leonardi (1541–1609) nach dem Konzil von Trient in aller Deutlichkeit in seiner ‚Denkschrift‘ an Papst Paul V.: „Wer eine ernsthafte religiöse und moralische Reform durchführen will, muss vor allen Dingen wie ein guter Arzt eine sorgfältige Diagnose der Übel erstellen, unter denen die Kirche leidet, um so für jedes von ihnen das angemessenste Heilmittel zu verschreiben.“4 Werden nicht konkrete Beispiele genannt, dann bewegt sich kaum etwas. Es bleibt theoretisch. Und damit sind wir schnell einverstanden. Die konkreten Beispiele sollen herausfordern, manchmal zum Schmunzeln bringen, aber nicht zum Verurteilen einladen. Sie sollen ermutigen, die Bremsen zu lösen.
Ein engagierter Pfarrer klagte mir, dass die Menschen gegenüber der Botschaft der Kirche immer gleichgültiger seien, wenn nicht sogar ablehnender. Beim Predigen habe er den Eindruck, sie würden sich geradezu verschließen. Es scheine sie nicht zu interessieren. Kaum ein Zeichen von Aufmerksamkeit. Aber wenn es um Nebensächlichkeiten gehe, würden sie sehr wohl zuhören. Das ärgere ihn jeweils am Schluss des Gottesdienstes bei der Mitteilung verschiedener Informationen.
Eines ist klar: Die Leute sind nicht schwerhörig. Sie sind auch nicht unfähig zu hören oder sogar uninteressiert. Zumindest am Schluss des Gottesdienstes hören sie aufmerksam zu. Warum? Hier erwarten sie etwas, was sie interessiert; etwas, was ihr Leben betrifft. Es hat mit ihrem Alltag zu tun. Das scheint offensichtlich bei der Predigt nicht der Fall zu sein.
Solche und ähnliche Erfahrungen gibt es viele in unserem Leben. Wir können darüber klagen. Wir können aber auch selbst hörender werden. Um beim Beispiel des Pfarrers zu bleiben: Er kann beim nächsten Gottesdienst nach dem Evangelium in einem Satz anbringen, dass er am Schluss etwas Wichtiges zu sagen habe und darum jetzt auf die Predigt verzichte. Eines ist gewiss: Alle werden ganz Ohr sein, selbst an dieser Stelle des Gottesdienstes, an der normalerweise alle die Tätigkeit ihrer Ohren einstellen. Allerdings muss das, was er dann am Schluss des Gottesdienstes sagt, tatsächlich wichtig sein. Es muss mit dem konkreten Leben der anwesenden Menschen zu tun haben. Ansonsten werden sie bald einmal auch bei den Informationen am Schluss der Feier nicht mehr zuhören.
Wenn die Menschen mit der Verkündigung des Evangeliums nichts mehr anfangen können, so vielleicht nicht so sehr wegen Verschlossenheit oder Schwerhörigkeit, sondern wegen der Art und Weise der Verkündigung. Für diese Vermutung spricht die Erfahrung mit Papst Franziskus. Die Menschen hören ihm zu – sogar bei der Predigt. Er legt das Evangelium mit Wort und Tat für ihr Leben aus. Er ist mit den Menschen im Gespräch. Allerdings freuen sich nicht alle darüber. Vor allem zwei Menschengruppen stören sich daran: zum Fanatismus neigende Katholiken und zum Fanatismus neigende Atheisten (zu welcher Gruppe nörgelnde und in Unruhe versetzte Priester gehören, bleibe dahingestellt5). Sie sind einander wohl viel näher, als sie sich dessen bewusst sind. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass sie noch weniger Sinn für Humor haben, als der bereits erwähnte Ferrari-Besitzer. Sarkasmus und Zynismus aber kennen sie zur Genüge. Zerstörerisch sind diese Haltungen. Humor aber ist, wenn man trotzdem liebt. Und das baut auf.
Die hier vorliegenden Gedanken sind eine Provokation. Der Begriff ‚vocatio‘ ist darin enthalten: Ruf, Berufung. Und das ‚pro‘ sagt klar aus, dass die Berufung in positiver Weise herausgefordert und gefördert wird. Diese Gedanken wollen bewegen. Sie wollen eine Pro-Vokation sein.
Hinter allen Provokationen und pointierten Ermutigungen in diesem Buch steht das Bemühen, mit offenen Augen und aufgeschreckten Ohren (trotz allem) liebend durchs Leben zu gehen. Für mich selber ist dieser Weg besonders geprägt durch persönliche Erfahrungen seit 2011 bis heute. In verschiedenen Ländern durfte ich in dieser Zeit Fragen des Lebens und des Glaubens nachgehen: Deutschland, Israel, Italien, Malta, Österreich, Palästina, Portugal, Schweden, Schweiz und Ungarn. Was ich in diesen ganz unterschiedlichen Ländern lernen konnte, kann überall fruchtbar gemacht werden. Wenn immer möglich, war ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Es bewahrheitete sich: „Wer im Auto unterwegs ist, bleibt in seinen eigenen vier Wänden; wer im Zug reist, begegnet der ganzen Welt.“6 Dabei habe ich viele Zufälle erlebt. Zufall ist ein großartiges Wort, obwohl es vielen gläubigen Menschen nicht gefällt. Was ist ein Zufall? Wenn bei einem Referat über ‚Heute im Blick‘ plötzlich eine Tomate geflogen kommt und eine Journalistin davon ein Foto macht, könnte man diesem Bild den Titel ‚Zufall‘ geben. Im Leben geben wir uns leider oft mit dieser Erklärung zufrieden. Vernünftige Leserinnen und Leser aber möchten mehr wissen: Woher kommt dieser Zu-Fall? Viele Zufälle, die wir erfahren, sind ein Geschenk Gottes (gelegentlich sogar eine Tomate). Das heißt Gnade. Aber leider übersehen wir Gottes Gegenwart oft. Vor einigen Jahrzehnten habe ich mir angewöhnt, jeden Abend vor dem Einschlafen Gott für drei Zufälle im zu Ende gehenden Tag zu danken. Meistens sind es nicht spektakuläre Ereignisse, gelegentlich aber schon. Diese tägliche Übung hilft mir. Ich versuche darum, bei Stürmen und nach oft langem Ringen nicht Mauern zu bauen, sondern Windmühlen. Dieses Bild verdanke ich übrigens einem chinesischen Sprichwort, das mir in einem Restaurant auf einem Zuckerpäckchen zugefallen ist.
Ich durfte in den vergangenen drei Jahren die Tiefen und die Höhen menschlichen Lebens erfahren wie nie zuvor: in meinem eigenen Leben, in Begegnungen mit Menschen, in Kunstwerken, in mir geschenkter Lektüre und im Gebet. Überströmende Lebensfreude begegnete mir genauso wie größte Not, oft sogar am selben Tag. Viele Lichter sind mir aufgegangen. Es gab aber auch große Dunkelheit. Besonders schmerzlich war die Erfahrung der Ohnmacht: Größter Ungerechtigkeit begegnen und wie gelähmt danebenstehen; Menschen leiden sehen und nicht einmal einfach da sein können; da sein und nicht verstanden werden.
Immer wieder konnte ich erfahren, wie Menschen in unterschiedlichsten Situationen die Kirche wahrnehmen: Getaufte aus verschiedensten Konfessionen, Angehörige anderer Religionen, Atheisten. In unmöglichen Situationen begegnete ich oft der Versuchung, wegzuschauen oder zu verurteilen. In solchen Momenten wurde mir wieder bewusst, wie wahr es ist, dass wir an den anderen nur verurteilen, was uns selbst nicht wirklich fremd ist.
In der mir geschenkten Zeit ist etwas von dem Wirklichkeit geworden, wozu Papst Franziskus die Ordensleute aufruft: „Eine Zeit lang an die Peripherie gehen, um wirklich die Realität zu kennen und das Leben der Menschen. Wenn das nicht passiert, riskiert man, abstrakte Ideologen oder Fundamentalisten zu sein, und das ist nicht gesund.“7 Auf diesem Weg habe ich mich auch – gewollt oder ungewollt – an sehr gefährliche Orte gewagt. Aber es sind Orte, die für viele Menschen einfach Alltag sind. Die Menschen dort waren mir besondere Lehrmeisterinnen und Lehrmeister.
Die vielen Erfahrungen können nicht in einem kleinen Buch umfassend dargestellt werden. Allzu umfangreich sollte es nicht werden. Es soll ein Zufall sein, der aufrüttelt, aber niemanden erschlägt. Gemessen an der Wirklichkeit bleiben die Aussagen weitgehend Schlagzeilen. Sie genügen nicht. Keinesfalls. Sie wollen vielmehr überraschen, herausfordern, anregen. Sie haben sich gelohnt, wenn sie bewegen, selbst mit offenen Augen und aufgeschreckten Ohren durchs Leben zu gehen. So können wir – Gott suchend – uns selbst und die andern neu entdecken.
Dieses Buch ist eine Frucht eines besonderen Jahres in der katholischen Kirche, dem ‚Jahr des Glaubens 2012/2013‘. Das mag überraschen. Denn immer wieder behaupten besser wissende Stimmen, das Jahr des Glaubens hätte nichts bewirkt. Ist dem tatsächlich so? Werfen wir einen kurzen Blick zurück.
Im Oktober 2011 veröffentlichte Papst Benedikt XVI. ein überraschendes Dokument: ‚Porta fidei‘.8 Schon der erste Satz war ungewohnt: „Die Tür des Glaubens … steht uns immer offen.“ In diesem Schreiben kündigte der Papst für 2012/2013 ein ‚Jahr des Glaubens‘ an. Papst Benedikt nahm die Situation der Kirche wahr und hoffte, „wieder die Freude am Glauben zu entdecken und die Begeisterung in der Weitergabe des Glaubens wiederzufinden.“9 Mir war klar: Dieser Hoffnung müssen wir uns anschließen und als Getaufte miteinander die Freude des Glaubens neu entdecken.
Bevor ich an die nähere Planung gehen konnte, lag ich wegen eines schweren Sportunfalls mehrere Wochen in Kliniken. Ich machte die Erfahrung der Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit. Durch harte Arbeit mit hervorragender professioneller Begleitung und der Unterstützung vieler Menschen mit ihrem Gebet wurde mir die Gabe der Sprache wiedergeschenkt. In den ersten Wochen wusste ich etwa, dass ich das Vaterunser kenne. Aber ich konnte das Gebet nicht mehr sprechen, nicht einmal mitsprechen. Einfachste Wörter, die mir vertraut waren, schrieb ich mit Fehlern. Mit dem Sprechen begann ich, wenn ich mit Menschen zusammen war, denen ich vertraute. Bereits im September 2012 durfte ich dann an einem Kongress der Benediktineräbte in Rom teilnehmen. Jeden Tag verbrachte ich – wie ich das bei allen Romaufenthalten seit Jahren jeweils tat – viel Zeit beim Grab von Papst Johannes XXIII. (1881–1963). Dort schrieb ich die Gedanken nieder, die mir in diesen Gebetszeiten geschenkt wurden.
Daraus entstand ein Text, mein Eröffnungsreferat zum ‚Jahr des Glaubens‘ und zur Feier ‚50 Jahre Zweites Vatikanisches Konzil‘ am 21. Oktober 2012 in der Einsiedler Klosterkirche. Unser Stiftsorganist improvisierte dazu auf der Orgel immer wieder überraschende Zwischenrufe. Das Grußwort sprach Martin Kopp (Generalvikar der Diözese Chur für die Urschweiz). Welche prophetische Dimension dieses Grußwort hatte, konnte damals niemand ahnen: „Das ist es wohl, was wir meinen, wenn wir von Neuevangelisierung reden: denen, die mit uns leben und oft so fern scheinen, das Evangelium eröffnen durch unser eigenes Leben, nennen wir es ruhig Zeugnis, sodass wir die Frohe Botschaft mit ihnen teilen. Und mitten im Teilen werden wir uns selber vom Evangelium neu formen lassen! Die Frage schließt sich da freilich ganz nahe an: Leben wir nah genug bei den Menschen? Leben und Evangelium teilen, kann nur durch Nähe geschehen. So wollte es Franziskus im Mittelalter: in der Nähe zum Armen die Freude am Herrn finden, und so nicht mehr und nicht weniger tun, als das Evangelium leben. Und ähnlich war es schon viel früher beim Vater auch der Einsiedler Mönche: bei Benedikt, der mitten in den Umbrüchen der Zeit den Weg des Evangeliums erschließen wollte. Die Initiative heute bleibt die gleiche. Disziplin aber, neu eingeschärft, und Abgrenzungen, um einen verbliebenen Rest vermeintlich gesund zu erhalten, sind unbeholfen, wahrscheinlich kontraproduktiv. Das fleischgewordene Wort Gottes wirkt anders.“10 Bischöfe können dankbar sein, solche Mitarbeiter im Weinberg Gottes zu haben!
Aufgrund des großen Interesses bereits am selben Tag erschienen das Grußwort und das Referat im November 2012 in überarbeiteter und erweiterter Fassung als Broschüre mit dem Titel: ‚Miteinander die Glut unter der Asche entdecken‘. In deutscher Sprache gab es in wenigen Wochen sechs Auflagen und innerhalb eines halben Jahres folgten Übersetzungen in verschiedene Sprachen.11 In der Folge wurde die Publikation in unterschiedlichsten Kreisen zustimmend, ablehnend oder anregend diskutiert.12 In vielen Artikeln und Büchern wurden Gedanken aus der Schrift aufgenommen.13 Pfarreien und Gemeinschaften über die Landesgrenzen hinaus stellten das ‚Jahr des Glaubens‘ unter das Motto dieser Schrift. Ich wurde auch zu vielen Vorträgen und Einkehrtagen im In- und Ausland eingeladen. Noch heute treffen Einladungen ein. Einzelne kann ich wahrnehmen, den meisten muss ich eine Absage erteilen.
In einer Stadt in einem benachbarten Land lud mich eine Ortsgruppe des Verbandes Katholisches Landvolk ein. Inmitten der großen Schar interessierter Menschen saß die Theologin des Ortsbischofs mit aufgeschreckten Ohren. Sie konnte anschließend ihrem verängstigten Auftraggeber berichten und ihn hoffentlich mit der Botschaft beruhigen, dass weit mehr Menschen Interesse an einer lebendigen Kirche haben, als er vermutet. Ob sie zum nächsten Referat wiederum kommt, zu dem eine Einladung bereits vorliegt? Ich würde mich freuen. Vielleicht kommt sie sogar mit dem Bischof. Das könnte ein neuer Anfang in der Diözese werden. Viele Menschen warten darauf.
Das Schreiben, mit dem Papst Benedikt das ‚Jahr des Glaubens‘ ankündigte, ist Programm für die Kirche, weit über die Amtszeit von Papst Benedikt hinaus. Leider ist das prophetische Wort weitgehend untergegangen, nicht zuletzt wegen eines bald folgenden Schreibens der Glaubenskongregation zum ‚Jahr des Glaubens‘, das von einem abschließenden und administrativen Ton geprägt war.14 Von der Freude des Glaubens ist darin nicht viel zu spüren, auch nicht von der offenen Türe des Glaubens. Die vermittelte Botschaft: Eigentlich ist alles klar; haltet euch einfach daran! Es scheint, dass die Verfasser dieses Schreibens sich von Papst Benedikt kaum inspirieren ließen. Denn dieser sagte klipp und klar: „Die Kirche als ganze und die Hirten in ihr müssen sich auf den Weg machen.“15 Das hatte er bereits in der Messe zum Beginn seines Pontifikats gesagt. Für ihn war also klar: Auch die Hirten müssen sich auf den Weg machen. Das ist Programm. Dazu hat übrigens der bereits zitierte heilige Giovanni Leonardi aufgerufen: „Die Erneuerung der Kirche muss gleichermaßen die Ersten und die Letzten, die Oberen und die Unteren betreffen. Sie muss bei denen beginnen, die befehlen, und sich sodann auf die Untergebenen erstrecken. Kardinäle und Patriarchen, Erzbischöfe, Bischöfe und Pfarrer müssen solcherart sein, dass man sich für die Führung der Herde des Herrn ganz auf sie verlassen könnte.“16 Selbstverständlich erging diese Ermahnung besonders an den Papst, dem er sie schrieb.
Päpste überraschen auch im 21. Jahrhundert. Die größte Überraschung bereitete Papst Benedikt am 11. Februar 2013, als er sich auf eine völlig überraschende Weise auf den Weg machte und seinen Amtsverzicht bekanntgab. Damit kam ins Rollen, was sich kaum jemand auch nur erträumen konnte.
Die nächste große Überraschung folgte bald. Am 13. März 2013 wurde der Erzbischof von Buenos Aires von den Kardinälen zum neuen Papst gewählt: Der erste Jesuit, der Bischof von Rom wird, und der erste Bischof von Rom, der den Namen Franziskus wählt. Papst Franziskus überraschte die Öffentlichkeit von seinem ersten Auftritt an: Mit auffallend einfacher Kleidung erschien er auf der Loggia des Petersdomes. Er begrüßte die vielen Menschen mit einem herzlichen ‚Buonasera‘. Er bat die Versammelten ums Gebet für ihn und verneigte sich dazu vor dem Volk.17 Ist das nicht geradezu eine Einladung, einmal das Gebet für Papst Franziskus am Schluss dieses Buches im Abschnitt C vor Gott zu tragen? Immer wieder betont Papst Franziskus seit seinem ersten Auftritt mit Worten und Gesten, dass unser Gott ein Gott der Überraschungen ist.
Überraschend ist eigentlich, dass uns das überrascht. Tatsächlich beten wir seit jeher: „Sende aus deinen Geist, und alles wird neu geschaffen, und du wirst das Antlitz der Erde erneuern!“ Und doch nehmen viele Menschen – innerhalb und außerhalb – die Kirche so wahr, dass alles beim Alten bleibt. Wir wagen kaum neue Schritte. Wir haben uns an die Kirche und an unser Glaubensleben gewöhnt. Es läuft einfach wie gehabt. Das ist gefährlich, sogar lebensgefährlich. Der große Geigenbauer Martin Schleske sagt: „Es ist eine subtile Form des Unglaubens, wenn man sich an das, was man glaubt, gewöhnt hat. … In der Gewöhnung ist die Seele ohne Hoffnung und der Geist ist ohne Fragen.“18 Eine solche Kirche riecht nach Tod und hat nicht den Geschmack von Auferstehung. Die Menschen verabschieden sich von ihr, weil sie merken, dass dies nichts mit ihrem Leben zu tun hat. Propheten des Todes haben sie sonst bereits zur Genüge.
Wenn wir als Kirche festgefahren sind, dann riecht es auch drinnen nach Tod. Wir beginnen über die schlimme Zeit zu klagen: dass es nicht so ist, wie es sein sollte; dass es nicht so ist, wie es immer war. Wir verurteilen die andern. Dabei merken wir nicht, dass es uns am Glauben fehlt, und nicht den anderen. Eine Erzählung aus Russland, die ich in meiner Einführungszeit ins Mönchsleben gelesen habe, fällt mir ein, wenn ich mich beim Verurteilen ertappe: „Mein Sohn, gegenüber unseren lieben Brüdern anderer Schicksalswege übe große Güte. Nie lass dich ein in Lästerung, Unterdrückung oder gar Nachstellungen. Lass mich im Gleichnis zu dir sprechen: Was ist die Schöpfung anderes als eine einzige gewaltige Sinfonie. Jede Stimme und jeder Instrumentenklang, ob sie laut oder leise, fein oder unschön, traut oder peinlich dein Ohr berühren, schwingen mit im grenzenlosen Erbarmen. Früher … war auch ich viel zu wenig duldsam beim Anhören fremder Weisen: ‚Wozu dein straffes Staccato?‘ – fragte ich gereizt Feodor zur Linken. – ‚Wie kann man ein derart sentimentales Adagio spielen?‘ kritisierte ich Jelisaweta zur rechten Hand. – ‚Ist das Crescendo wohl am Platz, das Alexej sich anmasst?‘ lauerte mein Ohr. – ‚O, dieses weltliche Balalaikageklimper! Ach, jenes Geigentremolo! – Und erst Alexandra! Könnte sie ihren Sopran nicht in straffere Zügel nehmen?‘ – So nörgelten meine Gedanken. Da spürte ich mit einemmal die Augen des Dirigenten ernst auf mich gerichtet: ‚Ho, ho! – du singst ja falsch!‘ rief er mir zu – und dann, auf mein erstauntes Gesicht hin, ‚ja, ja, dich meine ich! Merkst du denn nicht, wie du die andern Musiker störst!‘ Nein, wahrhaftig, ich hatte es nicht gemerkt, viel zu sehr war ich mit den Fehlern der andern beschäftigt. So ist es, Freund. Gib besser auf dich selber acht. Dein Seelengesang sei ein heiterer Klang immerwährender Güte, grenzenlosen Erbarmens. Unsere geliebten Brüder aber lass deinem Gebet empfohlen sein, damit auch sie die Winke des göttlichen Dirigenten verstehen mögen.“19 Dann beginnt es nach Auferstehung zu schmecken.
Und doch dürfen wir zu Fehlern und Haltungen, die Leben lähmen oder zerstören, nicht einfach schweigen. „Er hasse das Böse und liebe die Brüder“, legt der heilige Benedikt dem Abt ans Herz.20 Mit dieser Haltung sprach der heilige Papst Johannes XXIII. in seiner Eröffnungsansprache des Zweiten Vatikanischen Konzils Defizite in aller Deutlichkeit an: „In der täglichen Ausübung unseres Hirtenamtes verletzt es uns, wenn wir manchmal Vorhaltungen von Leuten anhören müssen, die zwar voll Eifer, aber nicht gerade mit einem großen Sinn für Differenzierungen und Takt begabt sind. In der jüngsten Vergangenheit bis zur Gegenwart nehmen sie nur Missstände und Fehlentwicklungen zur Kenntnis. Sie sagen, dass unsere Zeit sich im Vergleich zur Vergangenheit nur zum Schlechteren hin entwickle. … Wir müssen diesen Unglückspropheten widersprechen, die immer nur Unheil voraussagen, als ob der Untergang der Welt unmittelbar bevorstünde.“ Seinem Privatsekretär Capovilla, von Papst Franziskus im Februar 2014 zum Kardinal ernannt, hat der heilige Papst Johannes XXIII. nach der Konzilseröffnung anvertraut: „Ich habe immer wieder aufmerksam auf meinen Freund zur Rechten hinübergeblickt“21– und dieser Freund war niemand Geringerer als Kardinal Ottaviani, der fromme und strenge Hüter über den Glauben, heute wäre er der Präfekt der Glaubenskongregation. Die Ansprache zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils ist auch heute noch aktuell. Und auch Papst Franziskus hat Grund, immer wieder auf seine Freunde zur Rechten hinüberzublicken. Ob nicht Papst Franziskus für die Heiligsprechung von Papst Johannes XXIII. deswegen von dem Nachweis eines Wunders dispensieren konnte, weil sein Vorgänger Kardinal Ottaviani neben sich erduldete?
Für den Papst „vom Ende der Welt“ ist Johannes XXIII. in vielem Vorbild. Er greift einige Herzensanliegen dieses großen Heiligen auf. Auch der jetzige Bischof von Rom nimmt die Situation der Kirche wahr – nicht zuletzt dank des Austausches unter den Kardinälen unmittelbar vor der Papstwahl22– und stellt sich ihr. Und er möchte uns alle mitreißen. Darum veröffentlichte er Ende 2013 das Apostolische Schreiben ‚Evangelii gaudium – Über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute‘.23