Zum Frühstück ein Stück Himmel - Klaus Nagorni - E-Book

Zum Frühstück ein Stück Himmel E-Book

Klaus Nagorni

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Beschreibung

- 99 lebensnahe, inspirierende Texte für einen gelingenden Start in den Tag - für individuelle und für gemeinsame Andachten geeignet Kurztext Was gehört zu einem guten Start in den Tag? Ein duftender Kaffee, ein Croissant oder das Lieblingsmüsli. Ein Augenblick Zeit für sich. Und ein Augenblick Zeit für Gott. Denn das Leben ist mehr als der tägliche Marathon zwischen Arbeit, Einkaufen und Familie. Klaus Nagorni schenkt uns mit diesem Andachtsbuch täglich ein Stück Himmel am Morgen: tröstende, anregende, hoffnungsfrohe Gedanken zum Start in den Tag. Damit Alletage ein wenig mehr Sonntag in sich tragen. Ein Buch für mehr Tiefgang im Alltag. Und für echte Zuversichtsmomente am Frühstückstisch, die durch den ganzen Tag begleiten. Zum Autor Klaus Nagorni, Jahrgang 1948, Theologe und Erziehungswissenschaftler. Nach seiner Tätigkeit als Studentenpfarrer in Freiburg arbeitete er als Auslandspfarrer auf den Balearen sowie 1990–2013 als Direktor der Evangelischen Akademie Baden. Einem großen Publikum ist Klaus Nagorni bekannt als "Wort zum Tag"–Autor im SWR 2 sowie als Autor zahlreicher Publikationen.

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Klaus Nagorni

Zum Frühstück ein StückHimmel

Gedanken zum Wachwerden

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 by edition chrismon in der Evangelischen

Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Printed in Germany

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Covergestaltung: Ellina Hartlaub, GEP gGmbH, Frankfurt am Main

Innengestaltung Friederike Arndt, Formenorm, Leipzig

Druck und Bindung: BELTZ Grafische Betriebe GmbH

ISBN 978-3-96038-344-4

eISBN (E-Pub) 978-3-96038-345-1

www.eva-leipzig.de

Inhalt

Der alte Baum

Zwei Arten zu leben

Die Lust an der Verkleidung

Die Weisheit des Platzanweisers

Mit anderen Dingen beschäftigt

Schlechte Nachrichten, gute Nachrichten

Feuchte Augen und Gänsehaut

Ganz der Alte?

Er ist da

Die Entdeckung des Horizontes

Quelle aller Missverständnisse

Ein exponentieller Spaziergang

Ist da wer?

Wird schon wieder?

Gibt es eine Seele?

Was den Himmel trägt

Das gemeinsame Band

Der Mantel der Wahrheit

Andere sind anders

Ein anderer Name Gottes

Heilige Narren

Das musst du wissen

In guten Händen

Die Berechnung der Welt

Ganz unheimlich und schön

Deus und dies

Mit Abstand

Ich glaube nur, was ich sehe

Lockerungsübungen in Blau

Beethovens Unvollendete

Lebenslinien

Statistik

Worte in Obhut

Sommerfrische

Das große Rasenstück

Eine Seele von Mensch

Wind im Gesicht

Verwandte im Geiste?

Kunst des Lobens

Mit brennender Geduld

Einsteins Briefe

Heilige Gelassenheit

Unterwegs geboren

Ohne Rückspiegel

Lebensweisheit

Lob des Zweifels

Rückenwind und Gegenwind

Meine Freunde

Alles schon erforscht?

Der Grabstein im Park

Welt auf Knopfdruck

Tausend Teufel

So, wie ich bin

Wahrheit

Fasse dich kurz!

Mücken im Sommer

Erlösung

Abraham und Lot

Ein leuchtendes Angesicht

Jona – Wieder auftauchen

Was mir fehlt

Dank sei Gott in der Höhe

Roboter

Ein heiterer Landaufenthalt

Jenseits der Projektion

Frei von Anpassungsdruck

Die Eroberung des Nutzlosen

Das alte Adressbuch

Alles zum Besten kehren

Vom Verschwinden

Eines Morgens

Der Cellospieler

Abdullah Ibrahim

Das Leben ist eine Pralinenschachtel

Jenseits der Perfektion

Seelennahrung

Fliegen können

Die Erschaffung Adams

Alles nur ausgedacht?

Was reicht zum Glück?

Weniger ist mehr

Den roten Faden finden

Woher das Sanfte und Gute?

Gott im Dunkeln

Händels Halleluja

Die fünfzig Tapferen

Geistliche Textilien

Es könnte auch anders sein

Der Gernegroß

Engel, gibt’s die?

Ein Tropfen Morgentau

Vom Ansehen Gottes

Lachen auf der Lebensschaukel

Mehrsprachig werden

Ankunft gewiss

Blue Church – Gott ist Schwingung

Memento mori

Fehlende Beweise

Mut zu Umwegen

Deutschlandreise

Der alteBaum

Der alte Baum in unserem Garten fehlt mir. In der Mittagshitze des Sommers hatte er mir über Jahre Schatten gespendet. Sein kühlendes Blätterdach hatte die Hitze erträglich gemacht. Hier konnte ich es aushalten. Verweilen. Träumen.

Der alte Baum hat die Hitze und die Trockenheit des letzten Sommers nicht überstanden. Er ist abgestorben. Ein für alle Mal. Nun fehlt er mir. Genauso wie sein kühlender Schatten.

In den Psalmen der Bibel ist öfter davon die Rede, dass Menschen im Schatten Gottes Ruhe und Geborgenheit finden. „Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben!“, heißt es in einem Psalm.

Natürlich hat Gott keine Flügel. Und ob Engel tatsächlich Flügel haben, weiß ich nicht. Aber das Bild verstehe ich sofort: dass unter dem Schatten der Flügel Gottes das Leben erträglich wird. Leichter. Dass ich dort im hitzigen Alltag aufatmen kann. Und gestärkt aus diesem Schatten heraustrete.

Solche Orte brauche ich umso mehr, je größer die Reibungshitze im Alltag wird. Im Umgang von Menschen untereinander ist das genauso zu spüren wie in dem, was sich in der Natur beobachten lässt. Es ist diese Anspannung und dieses Gestresstsein, die mir oftmals zu schaffen machen. Und zu denken geben.

Die Menschen der biblischen Welt haben die Orte und die Zeiten gekannt, wo und wann man sich im Schatten regenerieren konnte. Und sie haben zu einem Gott gebetet, der sie nicht immer wieder zu neuen Aktivitäten angetrieben hat, sondern der wollte, dass sie hin und wieder Abstand nehmen zu sich selbst. Aufhören sollten mit ihrer Geschäftigkeit. Mindestens einmal die Woche. Besser noch einmal am Tag. Um sich selbst von außen zu betrachten. Sich zu fragen: Was tust du da eigentlich jeden Tag? Wohin soll das führen, wenn du so weitermachst wie bisher? Bedenke, dass dein Leben endlich ist! Und frage dich, welche Spuren du hinterlassen willst!

Schattenplätze sind ungeheuer wichtig in meinem Leben. Je heißer es zugeht, umso wichtiger. Ich will mich dafür einsetzen, dass solche Schattenplätze nicht verloren gehen. Wie die unter einem Baum. Auf einer Parkbank. Oder einer Kapelle am Weg.

Solche Plätze lassen mich erfahren: Du bist nicht allein mit dir. Da geht jemand mit, in dessen Schatten du dich aufgehoben fühlen darfst. Der dir die Kraft gibt, die du gerade brauchst.

Zwei Arten zuleben

Glauben Sie an Wunder? Albert Einstein, Physiker und Begründer der Relativitätstheorie, hat es getan. „Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben“, hat er einmal geschrieben, „entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles eines.“ Und er hat hinzugefügt: „Ich glaube an Letzteres.“ Ich vermute, das hat damit zu tun, dass sich Einstein ein Leben lang sein kindliches Staunen bewahrt hat. Was eine gute Voraussetzung ist, um ein exzellenter Wissenschaftler zu werden. Vieles geht ja verloren, bis ein Mensch so richtig erwachsen geworden ist. Vor allem die Fähigkeit, auch über die allerkleinsten Dinge zu staunen.

Eine Gruppe von Altersforschern in San Francisco hat sich kürzlich dieses Themas angenommen. Die Wissenschaftler hatten beobachtet, dass bei vielen Menschen im Alter die Ängste zunehmen und sie in eine Endlosschleife aus Sorgen und Grübelei geraten. Mit einfachen Mitteln wollten die Forscher zeigen, wie es gelingt, sich zuversichtlicher durch die Welt zu bewegen. Das Rezept dazu: staunen lernen.

In einem Experiment wurden Freiwillige angeregt, acht Wochen lang jeden Morgen fünfzehn Minuten spazieren zu gehen. Die Hälfte der Gruppe sollte dabei auf die Umgebung achten und das Staunen üben, wenn ihnen etwas bemerkenswert vorkam. Die andere Hälfte zog ohne weitere Vorgaben los. Der Erfolg des Selbstversuchs wurde dann anhand der Fotos gemessen, die die Teilnehmer gemacht hatten.

Auffallend war: Die Bilder der „Staungruppe“ sahen ganz anders aus als jene der Vergleichsgruppe. Auf ihren Fotos war zunehmend mehr von der Umgebung draußen zu sehen. Sie selbst standen immer weniger im Mittelpunkt. Und sahen am Ende der Woche deutlich entspannter und gelöster aus.

Einer der Forscher sagte dazu: „Staunen rückt unsere Perspektive zurecht und zeigt uns, dass die Welt nicht nur aus uns besteht.“ Im Staunen nämlich lenke ich meine Energie nach außen. Und löse mich aus dem Kreisel der Selbstbeschäftigung.

Dafür, finde ich, gibt es viele Wege. Nicht jeder wird gleich Naturwissenschaftler wie Albert Einstein. Die großen Wunder erlebt man sowieso am besten im Kleinen. Ich gehe dazu gerne hinaus in die Natur. Oder arbeite einen halben Tag im Garten. Genieße die Ruhe eines Kirchenraumes. Erfreue mich an der Komposition eines Musikstückes. Und entscheide mich dafür, mit denen zu sympathisieren, für die die Welt ein Wunder ist.

Die Lust an derVerkleidung

Woher kommt die Lust an der Verkleidung? Warum lieben Menschen Maskierungen und Maskeraden? Schon als Kinder haben wir gerne in Kleiderschränken und Kleiderkisten gestöbert. Und uns mit den dort gefundenen Textilien ein neues Aussehen verpasst. Der weiche Fuchspelz der Mutter, der Hut des Vaters, Handschuhe, die bis zum Ellbogen reichten, eine bunte Schürze. Das war alles recht, um sich für eine bestimmte Zeit in jemand anderen zu verwandeln.

Der Wunsch nach Verwandlung steckt in uns seit Kindesbeinen. Manchmal darf er sogar ganz offiziell heraus: in der Faschings- und Karnevalszeit. In diesem Wunsch verbirgt sich im Kern, und oft ironisch verfremdet, eine Sehnsucht. Die Sehnsucht, einmal jemand anderes zu sein. Wenigstens spielerisch auszuprobieren, was mir in der Routine meines Alltags versagt bleibt oder sogar verboten ist.

Dass diese Zeit äußerer Verwandlungslust der Fastenzeit vorausgeht, ist kein Zufall. Denn auch wer fastet, probiert ein anderes Leben aus, äußerlich, aber vor allem auch innerlich. Er legt Verhaltensweisen oder Eigenschaften ab, die unter normalen Umständen den Alltag prägen. Er oder sie lässt sein, was sonst üblich ist. Und verzichtet.

Neulich hatte ich die Gelegenheit, mit einer Gruppe von Schülern das Thema Verzicht zu diskutieren. Ein eher sprödes Thema für junge Leute, die gerade dabei sind, die Welt zu entdecken, dachte ich. Und war überrascht, wie positiv sie dieses Thema bewerteten. Natürlich, wer verzichtet, gibt etwas auf, das war allen klar. Dennoch, die Gewinne würden eindeutig überwiegen, meinten die Schüler.

Ich kann mich besser konzentrieren, sagte einer, wenn ich nicht versuche, überall mitzuspielen. Wenn ich mit meinem Freund zusammen bin, verzichte ich zwar während dieser Zeit auf alles Mögliche andere, aber unserer Beziehung tut das gut. Ich entdecke eher, was für mein Leben wichtig ist, war eine weitere Auskunft.

Die jungen Leute haben das richtig gesehen, denke ich. Was vordergründig als Verlust erscheint, erlaubt bei genauerem Hinschauen ein tieferes Eintauchen ins Leben. Da muss keiner erst mit der moralischen Keule kommen. Denn es liegt auf der Hand: Verzichten bringt Gewinn. Einfach mal loslassen, was mich im Griff hat oder was ich für unverzichtbar halte. Auch wenn es Überwindung kostet. Neues zulassen. Und dabei unbekannte Seiten an mir entdecken. Oder solche, die lange verschüttet waren.

Die Weisheit desPlatzanweisers

Die folgende Geschichte passt gut in unsere Zeit, finde ich. Obwohl sie uralt ist. Sie erzählt von Abu Said, einem berühmten persischen Mystiker des 11. Jahrhunderts. Der war überall als begnadeter Redner bekannt und beliebt. Wo immer er hinkam, drängten sich die Menschen, um ihn zu sehen und zu hören.

Wieder einmal geschah es, dass die Menschen in Erwartung seiner Predigt in einer Stadt zusammenströmten, so dass kein Platz mehr blieb in dem Gotteshaus. Der zuständige Platzanweiser versuchte, Ordnung in das Durcheinander zu bringen. „Jeder soll“, rief er, „von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen.“

Als Abu Said das hörte, schloss er die Versammlung, bevor er sie begonnen hatte. Zur Erklärung sagte er: „Alles, was ich sagen wollte, hat der Platzanweiser schon gesagt.“ Und damit verließ er die Stadt.

„Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen.“ So einfach scheint das und ist doch so schwer! Denn es setzt guten Willen voraus. Und ein Vertrauen in die Bereitschaft der anderen, dasselbe zu tun. Beides ist nicht immer gegeben. Und dennoch, davon bin ich überzeugt, Lösungen sind nur auf diese Weise möglich.

Es sind schließlich die kleinen Gesten, die Bewegung bringen in verfahrene Situationen. Das achtsam gewählte Wort, das kein Öl ins Feuer gießt. Die Bereitschaft, erst einmal einen vorsichtigen kleinen Schritt zu machen, um das Festgefahrene aufzulösen. Und nicht mit aller Gewalt mit dem Kopf durch die Wand zu wollen.

Mich erinnert die Geschichte an Worte aus der Bergpredigt Jesu. „Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“

Die Sanftmütigen und die Friedenstifter. Vermutlich sind sie chancenlos in Zeiten des Krieges. Sie sitzen ja meist nicht an den Schalthebeln der Macht. Sie sind eine kleine Schar, zu wenige, um den Strom der Gewalt zum Versiegen zu bringen. Aber ohnmächtig sind sie nicht. Einige haben es vorgemacht: Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Bertha von Suttner. Sie haben Zeichen der Hoffnung gesetzt. Über ihr eigenes Leben und ihre eigene Zeit hinaus. Voller Überzeugung, dass der Gewaltspirale zu entkommen ist.

Ihre Namen machen uns heute Mut. Als Pioniere, die mit dem Frieden Ernst gemacht haben. Weil sie verstanden haben: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näherkommen.“

Mit anderen Dingenbeschäftigt

Leben ist das, was passiert, während man mit anderen Dingen beschäftigt ist. Hat ein kluger Mensch einmal gesagt. Damit ist eine Lebenserfahrung beschrieben, der der Soziologe Hartmut Rosa in einem anregenden Essay nachgegangen ist. Der Titel lautet: „Unverfügbarkeit“.

Rosa beschreibt, wie der Wunsch, sich alles verfügbar zu machen, in modernen Gesellschaften allgegenwärtig geworden ist. Überall wird uns versprochen: Alles ginge immer noch besser, noch schneller, noch effizienter. Bis hinein in die persönliche Lebensführung herrscht das Credo: Mein Leben wird besser, je mehr es mir gelingt, mehr von der Welt unter meine Verfügungsgewalt zu bringen.

Aber, und das ist die andere Seite, wir zahlen dafür einen hohen Preis. Denn je mehr wir auf allen Ebenen darauf zielen, uns alles verfügbar zu machen, desto mehr verstummt und versteinert die Welt um uns her. Sie begegnet uns nur noch als Reihe von Objekten, die es zu wissen, zu beherrschen oder zu nutzen gilt. Genau dadurch aber geht alle Lebendigkeit verloren.

Mich erinnert das an eine Frage Jesu: „Was hilft es dem Menschen, sich die ganze Welt verfügbar zu machen, wenn er dabei Schaden nimmt an seiner Seele?“ Tatsächlich ist es so: Wo alles verfügbar wird, geht verloren, was mich unmittelbar ansprechen könnte. Da verstummen die Stimmen, die von außen kommen und mir etwas zu sagen haben. Schaden nehmen an der Seele heißt ja, sich nicht mehr berühren lassen, nicht mehr erreichbar sein, die Sinne verstopfen – vor dem Gesang der Vögel, dem Duft des nahen Frühlings, der Frage eines Kindes.

Erst das Zulassen des Unverfügbaren belebt das Leben. Erst dann spüre ich: Da ist noch etwas Stärkeres am Werk, als ich es bin. Etwas, das mir gegenübertritt, mich anspricht, anruft, manchmal herausholt aus eingefahrenen Bahnen. Ein unverhoffter Anruf vielleicht, der mich aus der Routine reißt. Eine Melodie aus frühen Jugendtagen, die mich berührt wie damals. Ein weiter Kirchenraum, dessen Stille meinen Blick in eine andere Richtung lenkt. Dann spüre ich, da gibt es etwas, was ich nicht steuern kann. Was Seiten in mir zum Klingen bringt, die mir normalerweise verborgen, die vielleicht sogar verschüttet sind.

Und plötzlich, während ich doch gerade mit ganz anderen Dingen beschäftigt bin, meldet sich das Leben bei mir. Überraschend und unverfügbar.

Schlechte Nachrichten,gute Nachrichten

Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Das ist eine alte Journalistenweisheit. Denn schlechte Nachrichten erregen mehr Aufmerksamkeit. Und verkaufen sich besser. Ich weiß das von mir selbst. Wenn ich morgens erst einmal die Schlagzeilen der großen Tageszeitungen durchsehe, dann bleibe ich an solchen Überschriften hängen: Erdrutsche, Überschwemmungen, Unfälle. Das Neueste von den Schrecken des Krieges. Und der Pandemie. Aber ich fühle mich nach so vielen negativen Nachrichten auch ziemlich hilflos. Und ich merke, wie sie mich lähmen.

Die Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel hat darüber ein, wie ich finde, wichtiges Buch geschrieben. Sie sagt: „Die meisten von uns glauben, die Welt ist viel schlechter, als sie tatsächlich ist.“ Sie will darum Geschichten erzählen, die Hoffnung machen und Auswege aufzeigen.

Als Theologe fällt mir sofort ein, dass das auf griechisch verfasste Neue Testament, übersetzt „die gute Nachricht“ heißt. Lässt sich mit wenigen Worten sagen, worin diese gute Nachricht besteht? Vermutlich schwierig, denn beide Teile der Bibel sind voller guter Nachrichten.

Aber vielleicht lässt sie sich doch in zwei Namen fassen. Im Alten Testament ist es der Name Gottes, den Mose in der Szene am brennenden Dornbusch erfährt. „Wie heißt du?“, fragt er die im Feuer aufleuchtende Erscheinung. Die Antwort lautet: „Ich bin der ‚Ich bin da‘.“

Die zweite gute Nachricht steckt im Namen Jesus von Nazareth. Übersetzt bedeutet der: „Gott hilft“ oder „Gott rettet“.

Ich finde, es lohnt, das eigene Leben einmal daraufhin zu befragen, was sich für mich ändert, wenn ich nicht nur von mir behaupte: Ich bin da. Sondern wenn es, über mich hinaus, noch diese anderen Namen und die Wirklichkeit dahinter gibt. Ich glaube, damit ändert sich das Vorzeichen von allem, mit dem ich täglich umgehen muss.

Das Bedrückende, Unbegreifliche, Schreckliche, was mich in den Nachrichten erreicht, werde ich nicht ausklammern. Aber ich will darüber die Geschichten nicht vergessen, die Mut machen und Hoffnung. Und die mir helfen, mitzudenken und mitzulenken, wo Lösungen in Aussicht und Auswege möglich sind. Ich weiß dann auch, das Bedrückende und Unbegreifliche ist umschlossen von der guten Nachricht, die im Gottesnamen verborgen ist. Und die heißt, was auch immer geschieht: „Ich bin da.“

Feuchte Augen undGänsehaut

Erinnern Sie sich, wann Sie zuletzt gerührt waren? Ich meine an den Moment, in dem Ihnen das letzte Mal die Augen feucht geworden sind? Oder Ihnen eine Gänsehaut den Rücken heruntergelaufen ist?

Mir geht es so, wenn mich ein kleines Kind an die Hand nimmt. Wenn mir ein Mensch schreibt, was ihm unser Gespräch vor Jahren bedeutet hat. Wenn ich Solidarität erlebe, die Menschen gegenüber denen aufbringen, die von einem Unglück getroffen sind. Wie bei der Überschwemmungskatastrophe an der Ahr.

Psychologen haben herausgefunden, dass Rührung ein menschliches Gefühl ist, bei dem uns beides bewusst wird: die Besonderheit, aber auch die Vergänglichkeit des Lebens. Über dieses Gefühl sind wir tief mit anderen verbunden.

In der Bibel wird in vielen Geschichten davon erzählt, dass Jesus sich von anderen Menschen hat rühren und berühren lassen. „Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben“, heißt es an einer Stelle im Neuen Testament. Dieses Jammern meint aber kein unzufriedenes Herumnörgeln wie in unserer Alltagssprache. Wenn es Jesus jammert, dann bedeutet es so viel wie: Was er erlebt, das schlägt ihm auf den Magen. Es wühlt ihn im Innersten auf. Wenn er Zeuge davon wird, wie orientierungslos Menschen durchs Leben irren. Wie manche besessen sind von Ängsten und Hass. Und aus den Augen verloren haben, was gut ist für sie und ihre Umgebung. Wie manche unter Krankheiten leiden, aber auch unter Missachtung und Ausgrenzung. Alles das löst bei Jesus geradezu körperliche Reaktionen aus. Es jammert ihn. Er lässt sich berühren, ist gerührt.

Aber das ist nicht alles! Denn Jesus tritt dem Jammer auch selbst entgegen. Stellt sich einem Menschen zur Seite, der hilflos ist. Geht mit durch das, was jemand erleidet. Oder was man ihm oder ihr zugefügt hat.

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“, hat Jesus einmal gesagt. Das ist eine Haltung, die wir mit einem modernen Wort als „Empathie“ bezeichnen würden. Sie ist weit mehr als das bloße Gefühl der Rührung. Sie äußert sich in Einfühlung und Zuwendung. Und drückt aus: „Ich sehe dich. Ich lasse mich von dir berühren. Du lässt mich nicht kalt.“

Ich glaube, das ist eine Haltung, die allen guttut. Und von der wir mehr brauchen. Heute.

Ganz derAlte?

Nach vielen Jahren wieder einmal ein Klassentreffen. Man begrüßt sich neugierig. „Immer noch ganz der Alte“, sagt ein Klassenkamerad und klopft einem anderen auf die Schulter. „Wie damals, als du unserem Deutschlehrer einen nassen Schwamm auf den Stuhl gelegt hast.“

Immer noch ganz der Alte? Ein richtiges Kompliment ist das meistens nicht! Da hat sich ein Bild verfestigt. Eine früher gespielte Rolle klebt an einem wie Pech und Schwefel. Aber eigentlich, denkst du, bist du doch inzwischen längst ein ganz anderer!

Einmal im Jahr allerdings entlädt sich der Zwang, immer ganz der Alte sein zu müssen, in schrillen Umzügen und Festen. Selbst wer das nicht mag, muss anerkennen, dass alle Gesellschaften solche Zeiten kennen, in denen die Ventile des Alltags geöffnet sind. Soziologen sprechen davon, dass es sich bei Festen wie Karneval und Fasching um die kollektive Durchbrechung sozialer Regeln handelt. Die gewohnte Routine ist aufgehoben. Im Fest, so meinen sie, können Menschen die Erfüllung des Lebens wiederfinden, eine Erneuerung und Verwandlung ihrer selbst.

Unter diesem Blickwinkel, das muss ich zugeben, gewinne ich dem Karnevalstreiben dann doch etwas ab. Es lässt mich fragen, wohin denn die ekstatischen Momente unseres christlichen Glaubens entschwunden sind. Als Protestanten haben wir es dabei sicher noch etwas schwerer als die Katholiken mit ihren sinnenfreudigen Riten und Bräuchen.

Biblisch ist diese protestantische Nüchternheit sicher nicht. Ich denke an die Ekstasen des jungen David, der vor der Bundeslade tanzte. Mir fällt die Geschichte der Hochzeit zu Kana ein. Da sorgt Jesus dafür, dass der glanzvolle Rausch der Hochzeitsfeier nicht dadurch beendet wird, dass plötzlich der Wein alle ist. Er bringt mit viel Verständnis für die Feiernden den Wein wieder zum Fließen.

Ich finde, ein bisschen mehr Ekstase tut unserem Glauben gut. Denn, so dichtete Hanns Dieter Hüsch einmal: „Ich bin vergnügt, erlöst, befreit, / Gott nahm in seine Hände meine Zeit, / mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen, / mein Triumphieren und Verzagen, / das Elend und die Zärtlichkeit. / Es kommt ein Geist in meinen Sinn / will mich durchs Leben tragen.“

Genau darum geht es beim Glauben: herauszukommen aus den alten Gewohnheiten. Und das zu sein, was man nach Gottes Willen längst ist – ein ganz anderer.

Er istda

Martin Buber, der große jüdische Religionsphilosoph, hat die folgende wunderbare Begebenheit erzählt. Mich fasziniert, wie viel in dieser Geschichte auf knappstem Raum über Gott gesagt wird.

Der Meister, so erzählt Buber, spricht einen Schüler, der eben bei ihm eintritt, so an: „Mosche, was ist das, ‚Gott‘?“ Der Schüler schweigt. Der Meister fragt ihn zum zweiten und zum dritten Mal: „Warum schweigst du?“ „Weil ich es nicht weiß“, antwortet der Schüler. „Weiß ich’s denn?“, spricht da der Rebbe. „Aber ich muss sagen, denn so ist es, dass ich es sagen muss: Er ist deutlich da, und außer Ihm ist nichts deutlich da, und das ist Er.“

Am Anfang des Gesprächs steht noch das Verstummen vor der Frage, was das denn überhaupt ist – Gott. Dann aber bricht der Meister das Schweigen. Er kann nicht anders: Angesichts der Fülle, der Größe, der Weite und Tiefe der Welt muss er von Gott reden.

Aus der armen Welt des osteuropäischen jüdischen Schtetls stammt diese Geschichte. Dort lebte man eingekreist von Feinden und war immer wieder Pogromen ausgeliefert. Aber gerade hier blühte eine Glaubenszuversicht und Gottesgewissheit, die sich weigerte, zu verzagen oder sich der Resignation auszuliefern.

„Seht ihr denn nicht? Hört ihr denn nicht? Begreift ihr denn nicht?“, lautet die Frage, die die Geschichte den Zuhörenden stellt: Größer als alles, was euch den Mut nehmen will, ist das, was euch immer wieder neuen Mut schenkt. Deutlicher als die Feindseligkeit, die euch Tag für Tag auf den Straßen und Gassen entgegenschlägt, ist die Seligkeit, dass Gott gegenwärtig ist.

Mich erinnert diese Geschichte an einen anderen Meister der Mystik aus einer ganz anderen Gegend. Es ist der reformierte Laienprediger Gerhard Tersteegen, der im 18. Jahrhundert am Niederrhein lebte. Er war aus seinem Beruf ausgestiegen und überzeugt, dass Gott das Allergegenwärtigste sei. Gott ist in der Mitte, heißt es in einem seiner Lieder. Tersteegen vergleicht darin Gott mit der Luft, die wir atmen. Mit dem Licht, das uns jeden Morgen neu weckt. Mit dem Meer, dessen Grund und Tiefe ohne Ende ist.

Der Rebbe und der Prediger – zwei, die sich nie begegnet sind. Und die doch in der unglaublichen Gewissheit miteinander verbunden waren, dass Gott nicht fern ist. Und alles darauf ankommt zu entdecken, wie nah er ist.

Die Entdeckung desHorizontes