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›Zum Siegen geboren‹ ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau und der zwei großen Passionen ihres Lebens: die eine ist Sam Cumberland, jüngstes Mitglied einer der wohlhabendsten Pferdezüchterfamilien Amerikas, die andere sind jene Vollblutpferde, die sie und Sam trainieren und bei den großen Rennen gegeneinander antreten lassen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 1152
William Kinsolving
Zum Siegen geboren
Roman
Aus dem Amerikanischen von Manfred Ohl und Hans Sartorius
FISCHER Digital
Für Eliza
1955–1960
Die warme nächtliche Brise, die aus Süden kam und den Big Sandy River hinaufwehte, war eine Erlösung nach den kalten Stürmen aus dem Norden, die den ganzen Winter über den Ohio heruntergefegt waren. Die beiden Flüsse vereinigten sich nicht weit von dem Platz entfernt, an dem Annie frierend vor der Hütte ihres Vaters stand. Sie preßte die Arme an den zitternden Körper und drückte die Hände auf ihre Brust unter der weichen Schlafanzugjacke. Zum ersten Mal in diesem Jahr lag der aromatische Kiefernduft in der Luft. Annie atmete tief ein und hörte das dumpfe Signalhorn einer Diesellokomotive. Etwa fünf Meilen entfernt fuhr ein Zug durch Ashland und am diesseitigen Ufer des Ohio River entlang. Annie war mit fünfzehn größer als die meisten Jungen in der High School von Catlettsburg. Während des Winters hatten sich ihre Brüste entwickelt. Annie versuchte, sie zu verbergen, indem sie weite Pullover trug. Trotzdem warfen ihr die Jungen inzwischen andere Blicke nach, auch wenn sie es immer noch vermieden, mit ihr zu sprechen. Die Mädchen redeten zwar mit ihr, aber sie äußerten sich gemeiner als üblich über ihre Haare und Kleider. Annie atmete noch einmal tief die kalte Luft ein und schüttelte trotzig den Kopf.
Die Kinder in der Schule hatten Annie den Spitznamen »Rattennest« gegeben, weil ihre dichten bernsteinfarbenen Haare meist hoffnungslos zerzaust waren. Sie fuhr verdrießlich mit den Fingern durch ihre Mähne. In der Hütte gab es kein warmes Wasser. Wenn Annie sich die Haare waschen wollte, mußte sie Wasser auf dem Kohleofen erhitzen. Die Haare waren noch etwas feucht, denn sie hatte es geschafft, am Abend zuvor zu baden. Fröstelnd ging sie auf dem Feldweg in Richtung der Bahngeleise, die unten am Flußufer entlangliefen.
Im Winter schliefen Annies ältere Brüder, Jimmy Lee und Fungo, neben ihr in dem Doppelbett am Ofen. Sie rissen die Decken an sich, schnarchten mit offenem Mund und rochen nach Winterschweiß, den sie erst abwuschen, wenn der Fluß warm genug zum Schwimmen war. Jimmy Lee hatte sich in der Nacht an sie herangemacht, aber sie hatte ihn weggestoßen. Als er sie dann an den Haaren zog und mit den Fäusten auf den Rücken schlug, war Annie aus dem Bett gesprungen, schnell in die Turnschuhe geschlüpft und ins Freie gerannt. Sie war inzwischen auf solche Dinge vorbereitet, trug nachts immer ihre Jeans und knöpfte die warme Schlafanzugjacke sorgfältig bis oben zu.
Die Hütte bestand aus Brettern und Dachpappe. Annie hatte nie ein anderes Zuhause gehabt. Die Fußbodendielen lagen direkt auf der Erde, die im Winter steinhart gefror, im Frühling als Schlamm durch die Ritzen der Bretter nach oben drang und im Sommer zu Staub wurde, den der Wind im Herbst in die Zimmerecken blies. Es gab drei Räume, aber nur im größten stand ein Ofen. Die Jahreszeiten machten sich für Annie nicht nur durch den Zustand der Fußbodenbretter bemerkbar, sondern auch dadurch, wie viele Personen außer ihr in dem Bett neben dem Ofen schliefen. Schnee lag in der Frühlingsluft, und Annie sehnte sich fröstelnd nach einem warmen Pullover. Wenigstens würde es bald hell werden.
Bei dem Gedanken daran, was am Tag zuvor geschehen war, krümmte sie sich innerlich, und die Schamröte stieg ihr ins Gesicht. Am Dienstag hatte eine nette Frau von der Baptistenkirche in Catlettsburg wieder einmal ein Paket abgelegter Kleider zur Hütte gebracht. Die Sachen waren immer so sauber – sauberer als alles, was Annie besaß. Diesmal war ein hübsches Kleid dabei gewesen, das Annie tatsächlich paßte. Es war weiß mit gelben Streifen. Sie hatte sich nie viel aus ihren Kleidern gemacht, denn üblicherweise waren sie abgetragen und hingen lose an ihrem schlaksigen Körper. Das gelbgestreifte Kleid hatte vorne vom weißen Kragen bis zum Saum eine Reihe Knöpfe. An Brust und Taille saß es so perfekt, als sei es für Annie gemacht. Der Rock war weit, und die Ärmel mit den weißen Manschetten, die ebenfalls geknöpft wurden, reichten genau bis zu ihren Handgelenken.
Annie hatte beschlossen, das Kleid am nächsten Tag in der Schule zu tragen. Abends versuchte sie, sich die Haare zu waschen, aber ihre Brüder ließen sie nicht in Ruhe. Die beiden hatten keinen Schulabschluß und arbeiteten als Tellerwäscher in einem billigen Restaurant. Dienstags hatten sie ihren freien Abend, und Annie badete nie, wenn sie zu Hause waren.
Am nächsten Morgen band sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz. Vor ein paar Jahren hatte sie in einem Kleiderpaket ein Paar weiße Lackschuhe gefunden. Das Leder war inzwischen sehr brüchig, und die Schuhe drückten. Deshalb trug Annie sie ohne Strümpfe. Während sie bedächtig einen Knopf nach dem anderen zuknöpfte, freute sie sich über das schöne Kleid und lächelte glücklich. Ehe sie zum Schulbus ging, warf sie zögernd einen Blick in den Spiegel über dem Spülbecken. Annie fand, sie habe noch nie so hübsch ausgesehen.
Dann lief sie zur Landstraße und stieg in den Bus. Das neue Kleid, ihr großes Geheimnis, war unter der alten warmen Jacke verborgen. Aber sie stellte sich aufgeregt vor, wie die anderen reagieren würden, wenn sie das Kleid sahen, und sie dachte bereits darüber nach, was sie auf ihre Komplimente erwidern sollte.
Nachdem Annie die Jacke in ihren Spind gehängt hatte, rief Mary Lou McCasslin, das reichste und beliebteste Mädchen der Schule, das noch nie mit ihr gesprochen hatte, durch den Gang: »Wo hast du das denn her? Das ist ja mein Kleid!« Sie lachte. »Meine Mutter hat zwar gesagt, ich soll es wegwerfen, weil es zu alt ist. Aber trotzdem, Rattennest, das geht zu weit! Wie kommst du dazu, mein Kleid anzuziehen?«
Bei der Erinnerung an diese Demütigung blieb Annie stehen. »Ich gehe nie mehr zur Schule«, sagte sie laut in die Dunkelheit. Sie erschien ohnehin nicht regelmäßig zum Unterricht. Ihr Vater sorgte oft dafür, daß sie den Schulbus versäumte. Und wenn Schnee lag, konnte sie unmöglich die sechs Meilen auf der Landstraße nach Catlettsburg zu Fuß gehen. Das Lernen machte ihr Spaß, und sie war gut in der Schule, aber Annie wollte von zu Hause weg.
Sie hatte als Fünfjährige ihre Mutter verloren. Als sie zehn war, hatte ihr Vater sie brutal geschlagen und ihr dabei den Arm gebrochen. Nun schrieb man 1955; Annie war dreimal fünf Jahre alt und glaubte, es werde etwas geschehen, denn sie hatte bald wieder Geburtstag.
Beim Gehen dachte sie an das Buch, das der Klassenlehrer ihr geschenkt hatte. Er hatte Mary Lou McCasslins Bosheit im Gang gehört. Er war ein netter alter Mann, der Annie sonst nie zu beachten schien. Kurz vor dem Klingeln legte er das Buch mit der Bemerkung auf ihr Pult, sie dürfe es mit nach Hause nehmen. »Es wird dir gefallen, Annie«, sagte er. Das Buch hieß Große Erwartungen. Der Lehrer hatte noch nie jemandem ein Buch geschenkt. Annie wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen und bedankte sich wortkarg.
Zwei Meilen entfernt ertönte das Signalhorn noch einmal. Ihr Vater saß im Signalhäuschen und wartete darauf, daß er die Weichen für die Nahverkehrszüge stellen konnte. Annie rannte, denn sie wollte unbedingt den Zug vorbeifahren sehen. Das hatte sie schon als kleines Mädchen getan; es war inzwischen eine Art Ritual.
Es war ein ›Stromlinienzug‹. Ihr Vater benutzte dieses altmodische Wort, aber Annie gefiel es. Es paßte für diesen Zug: ein glänzendes, pfeilschnelles Gefährt mit größtem Komfort und jeder erdenklichen Bequemlichkeit, mit Speisewagen, Salonwagen, Schlafwagen und Luxusabteilen. Annie kannte die Fahrpläne aller durchfahrenden Züge auswendig, solange sie denken konnte. Das hier war der George Washington. Er raste dreimal in der Woche durch die Morgendämmerung und in einen neuen Tag. Der George Washington kam aus Chicago und Cincinnati; in Ashland wurden Wagen aus Toledo und Lexington angehängt; wenige Minuten, nachdem er hier vorbeigebraust war, fuhr er von Kentucky über den Big Sandy River nach West Virginia und brachte seine privilegierten Fahrgäste in ihren luxuriösen Abteilen nach Charleston, Washington, Philadelphia und New York. Annie prägte sich immer alles genau ein, was sie durch die Fenster der Stromlinienzüge sah. Diese Bilder waren für sie wie Schnappschüsse einer Kamera. Annie dachte oft an einen Mann in einer kastanienbraunen Rauchjacke mit glatt zurückgekämmten Haaren, der eine Zigarettenspitze in der Hand hielt, und an eine nackte Frau, die in das frühe Morgenlicht blickte. Einmal hatte ein Junge in Annies Alter ihr die Zunge herausgestreckt; dann hatte sie einen Mann mit einem Schäferhund gesehen und eine Frau mit einer Halskette aus Goldmünzen. Während des Koreakriegs füllten Soldaten die luxuriösen Pullmanwagen – einer spielte für sie unhörbar Trompete. Einmal pinkelte ein ordengeschmückter Offizier von der hinteren Plattform des Salonwagens. Annie bewahrte diese Bilder in ihrer Erinnerung wie in einem Album auf.
Sie lief noch schneller, um am Gleis zu sein, wenn der Zug vorüberfuhr. »Mama, du fehlst mir schrecklich«, stieß sie heftig hervor, als sie das leise Donnern des näherkommenden George Washington hörte. »Ich schwör’ dir, Mama, irgendwann hau’ ich hier ab!«
Es begann zu schneien – Frühlingsschnee mit großen flauschigen Flocken. Ihre zwei Brüder und der Vater sagten immer, Annie sei schuld am Tod der Mutter, die sich nach Annies Geburt nie mehr erholt hatte. Aber Annie wußte noch genau, wie schlecht die drei ihre Mutter während der jahrelangen Krankheit behandelt hatten. Sie ließ sich nicht weismachen, daß sie die Ursache für ihren Tod war. Und wenn sie sich fürchtete oder wenn etwas sie verletzt hatte, unterhielt Annie sich mit ihrer Mutter. Jimmy Lee und Fungo behaupteten dann, sie sei verrückt.
Annie erreichte den Weg entlang der Bahngeleise. Sie mußte wieder an das gelb gestreifte Kleid denken, das in der Hütte über einer Stuhllehne hing, und beschwor ihre Mutter: »Bitte, bring Gott dazu, daß Mary Lou McCasslin etwas wirklich Schlimmes passiert.«
Plötzlich hörte Annie kreischende Bremsen, das schrillende Signalhorn und den ohrenbetäubenden Aufprall von Stahl auf Stahl. Sie rannte atemlos auf den Lärm zu. Metall verbog sich krachend, Glas splitterte, Kupplungen rissen, Druckschläuche barsten, und Räder kreischten auf verbogenen Schienen, deren Nägel mit dem Geknall wie von Gewehrschüssen aus den Schwellen flogen. Einen Augenblick lang herrschte Stille, als habe das Metall jeden Widerstand aufgegeben, dann explodierte die Diesellok mit einem gewaltigen dröhnenden Donnerschlag. Als Annie an der letzten Kurve entsetzt stehenblieb, wußte sie bereits, daß ihr Vater schuld an dem Unglück war. Sie sah die brennende Diesellok; die silbernen Wagen dahinter hatten sich wie eine Ziehharmonika ineinandergeschoben. Einige waren umgestürzt, andere standen noch. Die beiden letzten Wagen waren aus dem Gleis gesprungen und die Böschung zum Fluß hinuntergestürzt. Annie hörte die Schreie der Fahrgäste und etwas weiter entfernt panisches Wiehern von Pferden. Sie blieb wie angewurzelt stehen und betrachtete die Szene mit aufgerissenen Augen, als habe sich das Unglück auf einer Leinwand ereignet und nicht fünfzig Meter von ihr entfernt. Ein Adrenalinstoß riß Annie schließlich aus ihrer Betäubung. Sie rannte los, um ihren Vater zu suchen.
Der Schnee schmolz in der Luft über der brennenden Lokomotive. Menschen schrien um Hilfe, während sie aus zersplitterten Fenstern kletterten, verstört in Schlafanzügen und Nachthemden herumirrten, sich blutend, stöhnend und schreiend aneinanderklammerten.
Annie rannte weiter. Sie hatte beschlossen, das Signalhäuschen etwa eine Meile hinter der Unglücksstelle in Richtung Ashland zu erreichen. Sie haßte ihren Vater, aber wenn sie ihn fand, konnte sie ihm vielleicht die Flasche mit Fusel abnehmen, ihn zum Fluß und ins Wasser schleppen, damit er nüchtern wurde. Dann würde sie möglicherweise auch den Hebel finden, den er falsch gestellt hatte, und den Fehler berichtigen können.
Von einem der letzten Wagen drang ein Pistolenschuß herauf, und Annie blieb erschrocken stehen. Sie hörte den Todesschrei eines Pferdes und das panische Trampeln von Hufen gegen die Seitenwände. Annie sprang auf die Gleise und blickte zu den beiden umgestürzten Wagen am Fuß der Böschung hinunter. An den Fenstern des einen Wagens fielen ihr elegante Vorhänge auf und dahinter kleine Deckenleuchter, glänzendes Holz und Samtpolster. Der andere sah nach einem Güterwagen aus; außer mehreren Fenstern hatte er große Schiebetüren. Annie sah zu, wie zwei Frauen in dünnen Nachthemden unter den Pelzmänteln aus einem Fenster ihres umgestürzten Wagens kletterten. Die ältere Frau hatte blasse Haut und blaugraue Haare mit kleinen Locken, die wie Stahlwolle aussahen. Die andere, jüngere, war hübsch und blond. Von ihrem Kinn tropfte Blut auf den weißen Pelzmantel. Sie stützte die ältere Frau beim Gehen. Die beiden bewegten sich stumm, aber zielbewußt. Sie schienen genau zu wissen, wohin sie gingen, als seien selbst bei einem Zugunglück bevorzugte Plätze für sie reserviert.
Während zwei Männer aus dem Fenster des Privatwagens sprangen, wurde das Schlagen der Pferdehufe gegen die Seitenwände des Güterwagens so heftig und schnell, daß es in Annies Ohren wie eine Maschinenpistole klang. Dann übertönte ein Schuß den Lärm. Das Schlagen der Hufe verstummte sofort, und das schrille Wiehern verängstigter Pferde setzte wieder ein.
Die Schiebetür wurde von innen geöffnet. Ein Mann mit nacktem Oberkörper und einer Pistole in der Hand kletterte heraus, blieb auf dem Wagen stehen und sah sich um. Die ältere Frau saß inzwischen auf einem Baumstumpf, den der Fluß ans Ufer geschwemmt hatte. Als säße sie auf einem Thron, rief sie den Männern entgegen: »Meine Handtasche! Gehen Sie und suchen Sie meine Handtasche!« Einer der beiden eilte gehorsam zu dem umgestürzten Wagen zurück. Der andere Mann, dem die grauen Haare in die Stirn fielen, ging hinkend auf die Frauen zu. Aus dem Güterwagen hörte man einen Schrei.
Ein Pferd sprang aus der offenen Schiebetür, stolperte und stürzte auf die glatte Seitenwand. Der Mann mit dem nackten Oberkörper ließ die Pistole fallen, packte das Halfter des Pferdes und versuchte, das heftig ausschlagende Tier festzuhalten. Dabei fielen sie beide vom Wagen auf die Erde. Der Mann lag obenauf. Das Pferd kam auf die Beine, schüttelte den Mann ab, stieg und schlug mit den Vorderbeinen in die Luft. Dann machte es einen Satz, stürmte die Böschung hinauf und geradewegs auf Annie zu.
Der Mann stand schnell wieder auf und bemerkte Annie. Das Pferd wirkte riesig. Als es näherkam, sah Annie, daß es die Augen verdrehte, und sie sah riesige Zähne. Bei jedem Satz auf der steilen Böschung keuchte es laut vor Anstrengung. Annie fürchtete, von dem Tier niedergetrampelt zu werden, und sprang schnell zur Seite.
»Halt den Hengst fest!« schrie der Mann, als das Tier schnaubend an Annie vorbei und auf den Weg neben den Schienen sprang. Es stolperte, fing sich jedoch schnell und verschwand im Galopp in einem Wäldchen mit Krüppelkiefern auf der anderen Seite.
Annie rannte ihm nach. Sie kannte zwar die Umgebung, aber sie wußte, einholen konnte sie das Pferd nicht. Sie folgte den Hufspuren im frisch gefallenen Schnee bis zum Kiefernwäldchen. Wenn das Pferd die Landstraße erreichte, konnte es ewig weitergaloppieren. Sie mußte es unbedingt in eine andere Richtung treiben.
Sie konnte das Pferd zwar nicht sehen, aber sie hörte, wie es durch die niedrigen Zweige der Bäume brach. Plötzlich wurde es vor ihr still. Annie ging langsamer weiter und versuchte dabei, jedes Geräusch zu vermeiden. Auf der rechten Seite hörte sie ein Wiehern. Gleichzeitig heulten links laute Sirenen. Feuerwehrwagen fuhren die ansteigende Landstraße hinauf.
Annie hielt schützend die Arme vor das Gesicht und bahnte sich einen Weg durch Äste und Zweige. Sie stolperte über einen Baumstumpf, stützte sich mit den Händen ab und rannte weiter. Rechts vor ihr hörte sie das Pferd. Sie erreichte die Landstraße am Waldrand und sah einen Feuerwehrwagen, der die Anhöhe hinter sich hatte und jetzt mit zunehmender Geschwindigkeit den Hang herunterfuhr. Annie drehte sich suchend nach dem Pferd um. Als sie es weiter vorne im Wald hörte, lief sie mit hoch erhobenen Armen aufgeregt winkend dem Feuerwehrwagen entgegen. Die Hupe dröhnte, die Sirenen heulten, und das Blaulicht blitzte. Der Fahrer trat auf die Bremse. In diesem Augenblick tauchte das Pferd in einiger Entfernung vor dem Wagen zwischen den Bäumen auf. Es blieb zögernd am Straßenrand stehen, und Annie lief auf das Tier zu. Der schwere Wagen kam auf dem glatten Schnee ins Rutschen. Erschrocken vom Lärm der Sirenen machte das Pferd kehrt und verschwand wieder im Wäldchen. Annie sprang gerade noch rechtzeitig beiseite, als der Wagen an ihr vorbeiraste und sie nur um Haaresbreite verfehlte.
Sie stolperte und fiel hin. Erst als sie wieder aufstand und sich nach dem Pferd umblickte, stellte sie fest, daß sie keine Luft bekam. Sonst fehlte ihr nichts. Ein paar Feuerwehrmänner waren bereits vom Wagen gesprungen und rannten aufgeregt rufend auf sie zu. Aber Annie wartete nicht, um zu hören, ob die Männer schimpften oder besorgt waren. Sie rief: »Tut mir wirklich leid!« und folgte sofort den Hufspuren in den Wald.
Das Pferd hatte einen großen Vorsprung, aber wenigstens entfernte es sich von der Straße. Annie tropfte der Schweiß in die Augen, und sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. An ihrer Hand klebte nicht nur Schweiß, sondern auch Blut. Sie wischte es an den Jeans ab, ohne stehenzubleiben. Sie hatte die verdrehten Augen des Pferdes gesehen; es war ein Ausdruck nackter Angst. Annie kannte diese Angst, und deshalb rannte sie schneller.
Zwei Stunden lang folgte sie dem Pferd durch den Wald, über Felsen und Wiesen. Es hörte auf zu schneien, und der Tag wurde klar und schön. Dreimal blieb das Pferd stehen und beobachtete sie. Jedesmal bemühte Annie sich, es nicht zu erschrecken, und einmal redete sie mit ihm, ehe es wieder ausriß.
Annie beschloß, das Pferd in Richtung Fluß zu lenken. Es konnte sicher nicht so schnell schwimmen wie laufen. Sie wollte es auf die Lichtung einer kleinen felsigen Anhöhe treiben, die steil zum Fluß abfiel. Während sie keuchend hinter dem Pferd hinaufstieg, glaubte sie, ihre Beine würden ihr den Dienst versagen.
Auf der Lichtung trabte das Pferd schnaubend und wiehernd am Rand des Steilufers entlang. Es suchte einen Ausweg. Etwa acht Meter tiefer strömte der Fluß. Annie sank erschöpft auf die Knie. Das Pferd blieb sofort stehen und beobachtete sie. Annie wußte nicht, was sie tun sollte. Das Pferd trug zwar ein Lederhalfter, aber Annie bezweifelte, daß sie es festhalten konnte, selbst wenn es ihr gelingen sollte, das Halfter zu packen. Das Tier war zu groß und zu stark.
Das Pferd machte vorsichtig einen Schritt auf sie zu. Annie rührte sich nicht, obwohl ihr vom Knien allmählich die Beine einschliefen. Die Pferdeohren zuckten nervös. Annie wußte, daß das Tier jeden Augenblick wieder ausreißen konnte, und streckte langsam die Hand aus. Das Pferd blieb stehen, kam dann zögernd heran und beschnupperte die Hand. Annie hatte große Angst, es könne beißen. Plötzlich entdeckte sie am Seitenriemen des Halfters eine goldene Namensplakette. Langsam bewegte sie die Hand nach unten, riß etwas Gras ab und hielt es dem Pferd entgegen. Das riesige Tier war jetzt so nahe, daß es auf ihre Hand hätte treten können. Annie fiel auf, daß die schlanken Fesseln nur wenig stärker waren als ihre Handgelenke, und sie wunderte sich, daß ein so großes Tier mit diesen dünnen Beinen rennen konnte. Als das Pferd begann, das Gras zu kauen, bewegte Annie die andere Hand vorsichtig nach oben und packte das Halfter. Auf der Namensplakette stand CERTAINTY – Gewißheit.
Das Pferd spürte, daß es festgehalten wurde; es wich zurück, wieherte, hob den Kopf und machte kehrt. Annie wurde hochgezogen, ließ aber das Halfter nicht los. Das Pferd lief schneller, und sie versuchte Schritt mit ihm zu halten. Sie wurde in großen Sprüngen vorwärtsgezogen, bis die Beine unter ihr nachgaben und das Pferd sie mit sich schleppte. Plötzlich schwebte sie frei in der Luft – das Pferd war über den Rand des Steilufers gesprungen. Das Wasser kam ihr entgegen, sie ließ das Halfter los und versuchte, Abstand von dem Tier zu gewinnen. Annie glaubte, sie werde sterben.
Das Pferd landete einen Augenblick vor Annie im Wasser. Sie tauchte nicht tief, aber das eiskalte Wasser nahm ihr den Atem. Neben sich hörte sie Wiehern und Klatschen, und sie schwamm in die andere Richtung. Die Kälte nahm ihr den Atem, und sie rang nach Luft. Als sie sich umdrehte, sah sie das Pferd in etwa zehn Meter Entfernung. Es tauchte auf, reckte den Hals, um den Kopf über Wasser zu halten, und sank wieder zurück. Annie nahm ihren Mut zusammen und schwamm so nahe heran wie möglich.
»Certainty!«
Das Pferd drehte den Kopf und sah sie an. Offenbar beruhigte es sich bei ihrem Anblick etwas. Es schlug zwar weiterhin mit den Beinen, tauchte dadurch bis zur Schulter auf, sank wieder zurück und tauchte wieder auf, aber sein Kopf blieb über Wasser.
»So ist es gut, Certainty. Weiter so.« Annie schwamm in einiger Entfernung neben dem Pferd her und achtete darauf, daß das Tier sie sehen und hören konnte. Unterhalb der Knie waren ihre Beine völlig gefühllos. Sie konnte jedoch gut schwimmen, besser als ihr Bruder Fungo – obwohl es ihr nie gelang, Jimmy Lee zu übertreffen.
Annie kannte den Fluß. Die Strömung würde sie zur Unglücksstelle zurücktreiben, und dort konnte sie um Hilfe rufen. Sie schwamm noch näher an das Pferd heran und redete ihm beruhigend zu: »Es ist nicht weit, schwimm schön weiter, Certainty, ja, so ist es gut.« Sie riskierte einen Griff in die Mähne und hielt sich daran fest. Dann legte sie sich auf den Rücken des Pferdes, ließ sich von ihm durch das Wasser ziehen und redete dabei weiter beruhigend auf das Tier ein.
Als die Flußbiegung hinter ihnen lag, sah Annie einige hundert Meter flußabwärts die Unglücksstelle. Dort standen inzwischen mehrere Dutzend Feuerwehrautos, Polizeiautos und Krankenwagen mit blinkenden Lichtern. Ein großer Kran hob gerade einen zertrümmerten Wagen von den Gleisen. Annie ließ mit einer Hand die Pferdemähne los und versuchte zu schwimmen, aber sie konnte den Arm nicht heben. Vom Ufer drang ein lautes, aufforderndes Wiehern herüber, und Certainty antwortete. Das Pferd schwamm schnell und zielstrebig auf das Ufer zu, und Annie wurde wieder auf seinen Rücken getrieben. Sie sah, daß die beiden letzten Wagen immer noch umgestürzt am Ufer lagen. Oben an der Böschung, auf dem Weg hinter den Gleisen standen ein riesiger silberfarbiger Transportwagen und eine große graue Limousine. Annie sah Gestalten eilig von dort hinunter zum Ufer laufen und begann zu rufen.
Sie rief immer noch, als ihr die Pferdemähne durch die erstarrten Finger glitt. Certainty schwamm unter ihr davon. Sie versuchte vergebens, sich über Wasser zu halten. Als sie sich wieder an die Oberfläche zurückkämpfte, fiel ihr Blick auf den Mann, der ihr zugerufen hatte, sie solle das Pferd festhalten. Sie sah nur noch, daß er ins Wasser sprang.
Annie schlug die Augen auf. Sie sah Sonnenlicht, das sich in eckigen, geschliffenen Karaffen brach, die zusammen mit sechs kleinen Gläsern etwa einen Meter vor ihr in einem glänzenden Holzgestell standen. Ein Motor lief, und sie blickte sich um, ohne den Kopf zu drehen. Sie lag unter einer Pelzdecke auf dem Rücksitz eines Wagens, wie sie ihn noch nie gesehen hatte.
Draußen hörte sie Männerstimmen. Erschöpft fiel ihr das Zugunglück wieder ein – Certainty, das Steilufer, der Fluß. Dann erinnerte sie sich, daß sie die graue Limousine und den Mann gesehen hatte …
Die Tür wurde geöffnet, und Annie schlug die Augen auf. Der Mann, der ins Wasser gesprungen war, sah auf sie hinunter. Er trug eine Jacke und eine Krawatte und sagte: »Hallo, Langbein, wie geht es dir?« Dann lächelte er.
Annie konnte nicht antworten. In Filmen hatte sie hübsche Männer gesehen, aber noch nie in Wirklichkeit und aus solcher Nähe. Die Augen unter seinen dunklen Brauen und Wimpern waren von einem blassen, hellen Blau, wie Annie es nur von Vogeleiern kannte. Sein Kopf wirkte groß, und die welligen Haare hatten das glänzende Schwarz von heißem Teer. Die tiefgebräunte Haut betonte das leuchtende Weiß seiner Zähne. Er lächelte verschmitzt, und Annie sah ihn staunend an. »Wie heißt du denn, Langbein?«
»Annie –« Sie würgte, beugte sich vor und erbrach etwas Wasser auf den Boden. Es war ihr so peinlich, daß sie den Kopf gesenkt hielt.
»Mach dir deshalb keine Sorgen. Nach allem, was du für uns getan hast, kannst du hier drinnen den ganzen Ohio ausspucken, wenn es sein muß. Der Arzt ist hier, Annie. Er will dich vorsichtshalber untersuchen.« Seine Aussprache klang nicht so, als käme er aus der Gegend. Annie dachte: Er muß wohl aus dem Norden sein …
Der Sitz gab nach, als ein Mann sich neben sie setzte. »Na, mein Fräulein, laß dich mal ansehen.«
Annie richtete sich auf und nickte, ohne den Arzt anzublicken. Sie zuckte zusammen, aber nicht wegen des kalten Stethoskops auf ihrem Rücken, sondern weil sie daran dachte, daß sie sich auf dem Wagenteppich übergeben hatte. Zum Glück war es nur Wasser gewesen.
»Tief durchatmen, bitte.«
Annie atmete tief und blickte dabei aus dem Fenster. Der Schnee war geschmolzen. Der schwarzhaarige Mann sprach mit einem Polizisten. Hinter ihnen standen die beiden Männer, die aus dem Privatwagen geklettert waren. Beide trugen Anzüge und Krawatten. Annie fiel auf, wie elegant sie aussahen, wie ihre Schuhe glänzten. Von den beiden Frauen war nichts zu sehen.
»Hast du Schmerzen? Ist irgend etwas gebrochen?«
»Nein.«
»Hören wir mal das Herz ab. Wie es aussieht, hast du alles recht gut überstanden.«
Annie fragte sich plötzlich, was wohl mit ihrem Vater geschehen war und wo ihre Brüder waren.
»Ich sehe mir noch die Ohren an. Das Wasser muß schrecklich kalt gewesen sein.«
»Wieso ist der Zug verunglückt?«
»Der Bahnwärter hat vergessen, eine Weiche umzustellen. Kein Wunder, denn sie haben ihn total betrunken im Wärterhäuschen gefunden, und er war so wütend über die Störung, daß er beinahe eine Schlägerei angefangen hätte … Bleib hier in der Wärme, bis wir wissen, wie wir dich nach Hause bringen«, fügte der Arzt noch hinzu und stieg aus.
Ehe Annie zu hoffen wagte, der schwarzhaarige Mann werde zurückkommen, saß er auch schon neben ihr und schloß die Wagentür. Er lächelte sie wieder an. Annie versuchte, das Lächeln zu erwidern, senkte aber schnell den Blick. Draußen kam der Mann, den die ältere Frau in den Wagen zurückgeschickt hatte, um ihre Handtasche zu holen, gerade mit einem anderen Mann im schwarzen Anzug und einer Chauffeurmütze die Böschung herauf. Die beiden trugen Ledergepäck.
»Der Arzt findet, du bist in einem erstaunlich guten Zustand. Wir möchten alle gern wissen, wie es kommt, daß du plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht bist, um unseren Hengst zu retten.«
Annie sah ihn an. Sie konnte nicht glauben, daß jemand so gut aussah. Plötzlich begann sie am ganzen Körper zu zittern.
Der Mann vermutete, sie bekomme einen Schock, griff hastig nach einer Karaffe in dem glänzenden Holzgestell, nahm den Stopfen ab und goß etwas von der goldbraunen Flüssigkeit in ein Glas. Er reichte es Annie und sagte: »Trink das, ganz langsam.« Annie schüttelte den Kopf. »Trink.« Das war ein Befehl, und sie gehorchte. Es fühlte sich im Mund wie Sirup an und schmeckte wie Petroleum.
»Ich heiße Sam Cumberland. Mein Vater, da drüben steht er, und ich möchten, daß du weißt, wie dankbar wir dir dafür sind, daß du den Hengst zurückgebracht hast. Ich mußte zwei junge Stuten erschießen und hätte ihn höchst ungern auch noch verloren. Du mußt ja eine Ewigkeit hinter ihm hergelaufen sein.«
Annie starrte in das Glas. »Ach, schon gut.«
»Das ist mehr als gut, Annie. Hier ist ein kleines Zeichen unserer Dankbarkeit.« Annie warf einen Blick auf den Umschlag, den er ihr hinhielt, und nahm ihn entgegen. Er war aus dickem, etwas rauhem Papier.
»Was macht Certainty?« fragte sie, ohne den Blick von dem Umschlag zu wenden.
»Dem geht es gut«, erwiderte er. »Er ruht sich wohl gerade in der Box aus. Der Tierarzt von der Versicherung war da. Er hat gesagt, Certainty braucht ein paar Tage Ruhe, ehe wir ihn transportieren können … Woher hast du das Grübchen?«
Er sah sie an. Annie berührte die Stelle an ihrer linken Wange und zuckte die Schultern.
Es entstand eine lange Pause. Sie wollte nicht, daß er ging, und dachte fieberhaft darüber nach, was sie sagen könnte.
»Wer hat mich aus dem Fluß geholt?«
»Ich, und ich kann dir sagen, ich hasse kaltes Wasser.« Er lachte. Es war ein tiefes, rauhes Lachen, und es gefiel Annie. Sie überlegte, wie er sie wohl getragen hatte. Möglicherweise hatte er sie auf den Rücksitz gelegt. Hatte er die zerrissene Schlafanzugjacke bemerkt? Hatte die Jacke ihren Oberkörper verhüllt …? Aber das konnte sie nicht fragen. Es mußte etwas anderes sein. Irgend etwas.
»Was für ein Auto ist das?«
»Ein Rolls-Royce.«
»Oh … Und wie ist er so schnell hierher gekommen?« Sie wandte sich ihm zu, um zu sehen, ob er immer noch lächelte. Ja, er lächelte, aber in seinen Augen lag etwas, das Annie plötzlich ein Gefühl der Minderwertigkeit gab.
»Der Chauffeur war auf der Rückfahrt von Lexington nach Long Island«, sagte er und blickte geistesabwesend aus dem Fenster. »Zufällig hat er in Grayson übernachtet. Die Polizei hat ihn freundlicherweise ausfindig gemacht, und da ist er nun.« Er sah Annie an und lächelte. Sie wandte den Blick nicht ab, denn sie spürte, daß ihr Zusammensein bald zu Ende sein würde. Sie betrachtete den Mann mit großen Augen, und das verwirrte ihn.
»Annie, wir müssen los. Der Polizeibeamte da draußen wird dich nach Hause bringen, mit Blaulicht und Sirene, wenn du willst.«
Er streckte die Hand aus. Verlegen stellte Annie das Glas in das Gestell zurück, nahm den Umschlag von einer Hand in die andere und ergriff seine Hand.
Der Mann sagte: »Den Hengst habe ich selbst gezüchtet. Ich liebe ihn sehr. Vielen Dank.«
Annie sah ihn an und stellte fest, daß er wie beiläufig auf ihre Brust blickte. Es war ihr peinlich, daß er unter der zerrissenen Flanelljacke möglicherweise etwas sah. Deshalb zog sie schnell die Hand zurück und verschränkte die Arme.
»Komm, steig auf dieser Seite aus, Annie. Ich möchte, daß du meinen Vater kennenlernst.«
Annie steckte den Umschlag in die Tasche ihrer Jeans und stieg aus. Der ältere Mann sah sie prüfend und ohne zu lächeln an. »Walker«, sagte er, »suchen Sie die Schuhe der jungen Dame.«
Während der Mann namens Walker sich auf die Suche nach den Schuhen machte, wurde Annie vorgestellt. Sie gab einen falschen Namen an – McCasslin war der erste, der ihr einfiel. Während der alte Herr seinen tiefen Dank zum Ausdruck brachte, blickte er über Annies Kopf hinweg, als betrachte er dabei die Landschaft. »Verstehen Sie, meine Liebe, in den Adern dieses Hengstes fließt väterlicherseits das Blut von Phalarus und Nearco. Er hat beinahe dasselbe Pedigree wie Nashua, der vermutlich der Hengst des Jahres ist. Aber Certaintys Mutter ist eine Tochter von Man O’War! Und das ist die edelste Blutlinie in ganz Amerika. Wenn wir den Hengst verloren hätten, wäre das eine Tragödie gewesen – nicht nur für den Rennsport, sondern für kommende Generationen. «
Er wirkte erregt, aber Annie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Sie kam sich dumm vor. Es war das gleiche Gefühl, das sie oft in der Schule überkam, wenn sie ein paar Tage gefehlt hatte. Mr. Cumberland blickte auf sie hinunter, begriff, daß sie ihn nicht verstand, und richtete den Blick auf die Unglücksstelle.
Annie bemerkte die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn, die sich in den tiefliegenden und durchdringenden hellblauen Augen, besonders aber an der langen geraden Nase zeigte.
»Welch eine schreckliche Tragödie«, fuhr Mr. Cumberland fort. »Zwei so wertvolle Stuten … tot.« Beim letzten Wort zitterte seine Stimme.
»Es sind auch mindestens sechs Menschen umgekommen, Vater«, sagte Sam. Seine Stimme klang zwar ernst, aber er warf Annie einen kurzen, spöttischen Blick zu.
»Schrecklich, schrecklich«, erwiderte der ältere Cumberland kopfschüttelnd. Annies Magen krampfte sich zusammen, denn sie sah, daß der Polizist zu ihr herüberblickte.
»Ah, die Schuhe«, sagte Mr. Cumberland, als der Chauffeur zurückkam. Er hielt die Turnschuhe an den Schnürsenkeln wie zwei Fische an Angelschnüren. »Komm, Sam, die Damen warten. Hast du an ihr, äh, pourboire gedacht?«
Er ging zum Rolls-Royce zurück und schien dabei keinen Zweifel zu haben, daß ihm jemand den Wagenschlag aufhalten würde.
Annie hob die Schuhe auf, fragte sich, was ein pourboire wohl sein mochte, und setzte sich auf den Weg, um die nassen Schnürsenkel zu lösen.
»Also, Annie Langbein, nochmals vielen Dank.«
Sam stand neben ihr, und ihr fiel auf, daß seine Schuhe waagrecht geschnürt waren und nicht kreuzweise. Sie überlegte, wie sie ihn zum Bleiben bewegen könnte. »Wohin fahren Sie jetzt?«
»Weiter nach Huntington«, erwiderte er. »Es ist schon eine Maschine unterwegs, damit Mutter zu ihren Spezialärzten in New York fliegen kann.« Er lachte leise und schüttelte den Kopf.
An der Unglücksstelle begannen plötzlich die Arbeiter aufgeregt zu rufen und zu schreien. Der Polizeibeamte rannte zum Kran, an dem in etwa drei Meter Höhe ein Wagen schaukelte. Annie sah zuerst Jimmy Lee und dann Fungo in der offenen Tür auftauchen. Beide hielten Pelzmäntel und Schmuck in den Händen. Sie schrien sich an und stritten darüber, wer zuerst springen solle. Schließlich warf Jimmy Lee alles hinunter und sprang. Fungo sah zu, wie sein Bruder auf die Erde fiel, sofort wieder auf die Beine kam und davonrennen wollte. Aber vier Polizisten, zwei davon mit Gewehren, hielten ihn sofort fest. Andere, ebenfalls bewaffnete Polizisten riefen Fungo zu, er solle sich nicht bewegen. Die Bahnarbeiter warfen Steine nach Fungo. Er ließ Pelze und Schmuck fallen und duckte sich.
»Meine Güte, Plünderer«, sagte der junge Cumberland angewidert.
»Nun komm schon, Sam«, rief Mr. Cumberland durch die offene Wagentür. »Die Damen warten.« Sam eilte zum Rolls-Royce, und der Chauffeur schloß die Tür hinter ihm.
Annie hoffte auf ein Winken oder Lächeln. Sie stand auf und beobachtete, wie der Wagen anfuhr. Für den Fall, daß Sam sie sah, winkte sie, kam sich dabei aber albern vor. Sie blickte dem Wagen nach, bis er um die Kurve verschwand.
Der Lärm am Kran wurde lauter. Annie überquerte unauffällig den Weg und ging den Abhang zum Wald hinauf. Oben drehte sie sich um, weil sie feststellen wollte, ob jemand sie beobachtet hatte. Der Kran ließ gerade langsam den Eisenbahnwagen ab. Auf Fungo wartete grimmig eine Gruppe Polizisten. Andere Männer drängten sich um Jimmy Lee. Annie sah eine Hand, die ihn an den blonden Locken festhielt und ihm das Gesicht in den Schlamm drückte. Sie verschwand schnell zwischen den Bäumen. Sie wollte nicht, daß ein Polizist sie nach Hause brachte und feststellte, daß sie mit den ›Plünderern‹ verwandt war.
Annie setzte sich auf ein dickes Nadelpolster hinter einem umgestürzten Baum. Von hier konnte sie die Unglücksstelle gut überblicken. Man hatte Jimmy Lee und Fungo zu einem Polizeiwagen geschleppt. Dort standen sie breitbeinig und mit erhobenen Armen, während sie durchsucht wurden und zwei Beamte ihnen Gewehrläufe an den Hinterkopf drückten. Annie fragte sich, ob ihre Brüder jetzt wohl große Angst hatten. Fungo redete vermutlich wie ein Wasserfall und entschuldigte sich bei jedem, der ihm zuhörte. Das tat er immer, wenn er sich fürchtete und niemanden zusammenschlagen konnte. Jimmy Lee blieb in solchen Situationen zunächst ganz still und nahm alles, wie es kam. Dann lächelte er wie ein Engel und zielte dabei in Gedanken entweder auf die Augen oder zwischen die Beine des Gegners. So war es damals gewesen, als den Brüdern eines Abends zwei Männer vom Wirtshaus nach Hause folgten. Annie war allein in der Hütte und hatte vom Fenster aus alles gesehen. Jimmy Lee hielt sich heraus, als sie Fungo zusammenschlugen. Dann bot er den Männern als Friedensgeste eine Flasche von dem selbstgebrannten Schnaps seines Vaters an. Während die beiden tranken, zog er ein Messer aus dem Stiefel, stach dem einen zwischen die Beine, packte die Flasche und schlug damit dem anderen so fest ins Gesicht, daß sie zersplitterte.
Der Kran hob den Wagen auf einen offenen, flachen Güterwaggon, den man inzwischen gebracht hatte. Eine Rettungsmannschaft barg aus den Trümmern eines anderen Wagens die Leiche einer Frau. Sie wurde auf eine Bahre gelegt. Ein Mann, der daneben stand, zog der toten Frau schnell das Nachthemd über die Beine und griff nach ihrer Hand. Annie konnte sehen, daß er mit der Toten sprach. Während die Männer der Rettungsmannschaften und die Bahnarbeiter hin und her eilten, sank der Mann auf die Knie und begann zu weinen.
Annie spürte, wie ihr die Tränen über das Gesicht rannen. »Mama«, flüsterte sie, »sag Gott, er hat schon wieder einen schrecklichen Fehler gemacht.«
Sie beugte sich vor, legte den Kopf auf den Baumstamm und schloß die Augen.
In diesem Augenblick heulten Polizeisirenen. Sie schreckte auf und sah gerade noch zwei Wagen der Autobahnpolizei davonfahren. Annie stand langsam auf. Zuerst hatte man ihren Vater festgenommen und nun auch ihre Brüder. Die Hütte war leer. Annie machte sich auf den Rückweg durch den Wald.
Annie wußte noch vom letzten Gefängnisaufenthalt ihres Vaters, wie schnell die Sozialarbeiter kommen würden. Damals hatte er den einzigen Wagen zu Schrott gefahren, den sie jemals besaßen, soweit Annie sich erinnern konnte. Die Verkehrspolizei hatte ihren Vater am Fuß einer Böschung völlig betrunken hinter dem Steuer eingeklemmt gefunden. Der Richter verurteilte ihn zu dreißig Tagen Haft, und die Bahngesellschaft hatte ihn danach auf Bewährung wieder eingestellt.
Die Polizei hatte ihren Vater kaum abgeholt, als die Brüder einen Wagen stahlen und nach Cincinnati fuhren. Dort hatten sie einige Zeit in einer Kegelbahn gearbeitet. Als Annie damals von der Schule nach Hause kam, erwarteten sie bereits zwei Sozialarbeiter. Sie verbrachte zehn Wochen bei Pflegeeltern.
Es war die schrecklichste Zeit ihres Lebens. Sie war dreizehn und in einer sehr schwierigen Phase. Am ersten Tag war sie völlig durcheinander. Sie stolperte und fiel gegen den Spiegeltisch, auf dem eine Sammlung kunstvoll bemalter ausgeblasener Eier stand. Drei zerbrachen, und die Frau schrie und tobte. Annie brachte in Gegenwart des Ehepaars kein Wort über die Lippen. Sie verließ ihr Zimmer im Keller nur zu den Mahlzeiten und wenn sie zur Schule ging. Zu essen bekam sie nur Reste.
Eines Nachts wachte Annie auf und lag in einer klebrigen Flüssigkeit. Sie war entsetzt und versuchte, die Bettwäsche in der Waschküche mit der Hand auszuwaschen. Den Rest der Nacht verbrachte sie damit, ihr Zimmer und sich selbst zu säubern. Am nächsten Morgen band sie sich ein Handtuch zwischen die Beine, ehe sie zur Schule ging, und betete, daß niemand die feuchte Bettwäsche entdecken würde, mit der sie das Bett wieder bezogen hatte. Die Krankenschwester in der Schule klärte sie über die Sache auf, da sich zuvor niemand diese Mühe gemacht hatte. Die feuchten Bettücher wurden jedoch entdeckt, und danach mußte sie ohne Bettwäsche schlafen …
Annie verließ den Wald und erreichte den Feldweg, der an der Hütte vorbeiführte. Sie rannte zur Tür, riß sie auf und zog sie schnell hinter sich zu. Sie wußte, sie mußte weg und durfte nicht erst lange überlegen. Es blieb ihr keine Zeit, sonst würde man sie wieder abholen.
Mit einem Papiersack, den sie hinter der offenen Mülltonne unter dem Spülbecken hervorholte, ging Annie zu der Holzkiste neben der Badewanne, in der sie ihre Kleider aufbewahrte. Ohne darüber nachzudenken, was sie brauchte, holte sie ihre Lieblingssachen heraus: eine blaßgrüne Bluse, ein Plastikarmband, den dicken blauen Pullover und eine saubere Jeans. Ihre Zahnbürste hing an einem Nagel über dem Spülbecken.
Unter dem Bett entdeckte sie das Buch, das der Lehrer ihr geschenkt hatte. Es war schwer, aber sie steckte es ebenfalls in den Sack. Dann drehte sie sich um und sah zwei Dinge gleichzeitig: das gelbgestreifte Kleid und den Kanister Kerosin, mit dem sie den Ofen anzündeten. Annie hätte es am liebsten über die dunklen Bretter geschüttet. Im Geist sah sie die Hütte völlig abbrennen, so daß nur noch der kleine Schuppen dahinter übrigblieb.
Annie schüttelte energisch den Kopf. Die Hütte gehörte der Bahngesellschaft. Wenn sie Feuer legte, würde es Schwierigkeiten geben. Man würde sie verfolgen, und dazu wollte sie niemandem einen Anlaß geben. Annie wollte verschwinden.
Als sie begann, die Jeans auszuziehen, um in das Kleid zu schlüpfen, knisterte der Umschlag in der Tasche. Annie öffnete ihn vorsichtig und zog fünf Scheine heraus. Sie waren sehr neu, sehr sauber und sahen wie Spielgeld aus. Die Zahlen schienen eng beieinander zu stehen und waren auf allen Scheinen gleich: 100. Annie hatte bisher höchstens einmal Zwanzigdollarscheine gesehen. Während sie das unbekannte Gesicht auf dem Papier betrachtete, begriff sie langsam, daß sie fünfhundert Dollar besaß.
»Fünfhundert Dollar, fünfhundert Dollar«, wiederholte sie mehrmals, faltete die Scheine und strich sie wieder glatt. Schließlich legte sie das Geld in den Umschlag zurück und fuhr mit dem Finger über die Adresse auf der Lasche, die leicht erhaben aufgedruckt war: 10 East Seventieth Street, New York 21, New York.
Das ist also ein pourboire, dachte sie, und diese Leute haben auf Reisen ihr Briefpapier dabei. Sie legte den Umschlag auf das Bett, zog Turnschuhe, Jeans und Schlafanzugjacke aus und ließ die Sachen einfach auf dem Boden liegen. Während sie Unterwäsche, Socken, Schuhe, das gelbgestreifte Kleid und die dicke Jacke anzog, sah sie sich in der Hütte um – zum letzten Mal, wie sie hoffte.
Durch das Fenster neben dem Spülbecken blickte man auf den Schuppen und den angesammelten Schrott. Von einem dicken Baumast hing an einer rostigen Kette die alte Schaukel aus Autoreifen. Annie erinnerte sich, daß ihre Brüder sie früher darauf geschaukelt hatten. Sie dachte an die gemeinsamen Lagerplätze und an die Schneebälle, die sie übermütig auf vorüberfahrende Züge geworfen hatten, ehe die beiden gemein zu ihr geworden waren.
Im Spülbecken stand schmutziges Geschirr. Wie immer tropfte der Wasserhahn im selben Rhythmus, zu dem Annie normalerweise einschlief. In der Mitte des Zimmers standen der schwere Kohleofen und an der Wand das Bett. Davor lag der abgetretene Flickenläufer, auf dem Annie geschlafen hatte, als ihre Mutter im Sterben lag. Gegessen hatten sie an einem wackligen Tisch mit vier verschiedenen Stühlen. Annie dachte daran, wie ihr Vater nach dem Tod der Mutter den fünften Stuhl zerschlagen und als Brennholz benutzt hatte. Zwei Türen führten in die beiden anderen Zimmer: in einem schliefen üblicherweise Annies Brüder, in dem anderen schlief tagsüber ihr Vater, denn er arbeitete nachts.
Die Wand gegenüber dem Spülbecken war mit den Bildern nackter Mädchen gepflastert, die Annies Brüder dorthin geklebt hatten. Die Frauen hatten riesige Brüste und hübsche, lächelnde Gesichter. An einer Seite hing ein schmales Brett mit Schlitzen für das Besteck an der Wand. Annie hatte es einmal gemacht, nachdem sie es auf einer Abbildung gesehen hatte, weil sie dachte, dadurch würden Messer, Gabeln und Löffel sauber bleiben.
Sie trat vor das Brett und richtete eine Gabel gerade. Vom Bett hatte sie oft zu dem hübsch aufgereihten Besteck hinübergeblickt, das ordentlich an seinem Platz hing und auf dem das Mondlicht glänzte. Diese Ordnung hatte sie beruhigt. Daneben befanden sich im Holz der Wand ein paar Astknoten, in denen Annie immer die sechs Augen eines schrecklichen Ungeheuers gesehen hatte, das nachts lebendig wurde. Jetzt warf sie einen letzten Blick darauf und ging entschlossen zum Bett zurück. Sie nahm das Geld aus dem Umschlag, faltete die Scheine in der Mitte und steckte drei in den linken und zwei in den rechten Schuh. Den Umschlag legte sie in den Papiersack und griff danach, um ihn hochzunehmen.
In diesem Augenblick sah sie sich im Spiegel über dem Spülbecken. Sie ging hinüber und nahm ihn ab. Die Sonne schien durch das Fenster und verlieh ihrem Haar einen rötlichgoldenen Schimmer. Es hatte beinahe dieselbe Farbe wie die Flüssigkeit aus der Kristallkaraffe, die Sam Cumberland ihr zu trinken gegeben hatte. Sie erinnerte sich daran, daß Fungo den Spiegel einmal so gehalten hatte, daß sie Jimmy Lee sah, der auf ihr lag. »Du kommst dir doch so schlau vor. Dann guck dir mal an, wie schlau du bist.« Jimmy Lee hatte das Spiegelbild gesehen, und von da an mußte Fungo jedesmal den Spiegel halten. Annie hob ihn über den Kopf und zerschlug ihn auf dem Rand des Spülbeckens. Die Splitter fielen in das schmutzige Wasser, auf die Teller, Tassen und Töpfe. Annie nahm den Papiersack und lief aus der Hütte und in den Wald, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
Erst als sie die Hütte nicht mehr sah, wurde ihr klar, daß sie keine Ahnung hatte, wohin sie gehen wollte. Sie lief einfach weiter, schlug, ohne nachzudenken, die Richtung nach Ashland ein, und noch ehe sie genau wußte, wie oder warum, beschloß sie, mit einem Stromlinienzug nach New York zu fahren.
Sechs Monate später träumte Annie, sie hätte den Zug verpaßt und renne auf den Schienen hinter ihm her, als ihr ein Polizist mit dem Knüppel in die Rippen stieß. Noch ehe sie richtig wach war, hielt sie schützend die Arme über den Kopf.
»Nun komm schon«, sagte die Stimme. »Der Wagen wartet.«
Annie richtete sich auf und duckte sich sofort. Sie sah Polizeibeamte, die Männer und Frauen von den Bänken des Wartesaals in Pennsylvania Station aufscheuchten. Ihre Stimmen hallten durch den riesigen gewölbten Raum, den ein Sonnenstrahl, der durch ein hohes Fenster fiel, in zwei ungleiche Hälften teilte.
»Ich bin Fahrgast«, sagte Annie schlaftrunken.
»Und wo ist deine Fahrkarte?«
»Ich habe noch keine gekauft.«
»Bestimmt nicht. Also gut, komm mit.«
»Warten Sie«, sagte Annie, beugte sich vor, zog den linken Schuh aus und brachte einen Zwanzigdollarschein zum Vorschein.
Der Polizist sagte gelangweilt: »Der Fahrkartenschalter ist dort drüben.«
Annie stand auf und ging durch den schwach erleuchteten Raum. Als der Sonnenstrahl sie traf, war sie einen Augenblick lang geblendet. Am Fahrkartenschalter blickte sie zu dem Polizeibeamten zurück. Er ließ sie nicht aus den Augen, während er einen Mann von einer Bank zog. Annie spürte die Kälte und zog ihre dicke Jacke enger um sich. Dabei bemerkte sie, wie die Naht unter dem linken Ärmel riß.
»Wohin?«
»Nach Belmont.«
»Hin und zurück?«
Annie zögerte. »Nein, einfach.« Sie schob den Geldschein unter der Glasscheibe hindurch. Mehr war von dem pourboire der Cumberlands nicht mehr übrig. Sie steckte das Wechselgeld in die Jackentasche, drehte sich um und hielt die Fahrkarte hoch. Der Polizist sah sie, verzog aber keine Miene.
»Entschuldigen Sie«, Annie wandte sich wieder dem Schalter zu. »Können Sie mir bitte sagen, wann der –«
»Ich verkaufe Fahrkarten. Die Auskunft ist im großen Wartesaal.«
Annie reagierte auf die für New York typische ›Höflichkeit‹, die sie im vergangenen halben Jahr so oft erlebt hatte, mit einem Lächeln, sagte: »Danke« und drehte sich um.
Der erste Zug nach Belmont ging um zehn Uhr dreißig. Sie mußte vier Stunden warten. Die Damentoilette war leer, aber schmutzig. Annie hatte die letzten vier Nächte im Bahnhof verbracht und wußte, die Putzfrauen kamen um sieben Uhr dreißig. Sie benutzte keine der Toiletten, fand jedoch ein verhältnismäßig sauberes Waschbecken und wusch sich mit Papierhandtüchern. Unter der warmen Jacke trug sie zwei Pullover. Sie knöpfte die Jeans beim Waschen auf, Schuhe und Socken ließ sie jedoch an. Sie warf keinen Blick in den Spiegel.
Annie ging zurück zu der Bank, auf der sie geschlafen hatte, und setzte sich. Während sie beobachtete, wie der Sonnenstrahl allmählich vertikal in den Wartesaal fiel und schließlich verschwand, drang aus den Imbißstuben im Bahnhof zuerst der Geruch von Kaffee und dann von Toast herüber. Annie hatte am Abend zuvor nichts gegessen, weil sie den letzten Zwanzigdollarschein nicht wechseln wollte. Jetzt spürte sie, wie hungrig sie war, und versuchte, an etwas anderes zu denken.
Belmont Park. Unvermittelt wurde sie nervös. Sie wußte, daß die Cumberlands ihre Pferde dort laufen ließen. Annie hatte als Bedienung in verschiedenen Lokalen gearbeitet, und in den Zeitungen, die Gäste manchmal liegenließen, hatte sie öfter von den Cumberlands gelesen. Das Journal-American mit seinen endlosen Klatsch- und Gesellschaftsspalten war die nützlichste Quelle solcher Informationen. Außerdem berichtete ein Mann namens Breslin darin über Pferderennen. Annie hatte Bilder von den Cumberlands in ihrer Rennbahnloge in Belmont, im Führring und im Stall gesehen. Sie hatte gehofft, eines Tages, wenn sie selbst zu den Erfolgreichen gehörte, nach Belmont zu fahren und »Guten Tag« zu sagen, sich nach Certainty zu erkundigen und vielleicht noch einmal mit Samuel Barkeley Cumberland III zu sprechen. Statt dessen wollte sie jetzt dorthin, weil sie um Arbeit bitten mußte. Annie preßte die Lippen zusammen, damit sie nicht zitterten.
Sie blickte an sich hinunter und sah, daß das Jackenfutter heraushing. Sie wollte es abreißen, damit man es nicht sah, aber dabei platzten nur noch mehr Nähte; deshalb stopfte sie das Futter schnell in den Jackenärmel.
Annie hatte seit vier Nächten in ihren Kleidern geschlafen. Die beiden Pullover stammten aus Ashland, Kentucky. Annie hatte sie zusammen mit einem Pappkoffer gekauft, ehe sie in den Zug nach New York gestiegen war. Die restlichen Kleider hingen in ihrer Einzimmerwohnung im fünften Stock eines Hauses in Greenwich Village, die dreiunddreißig Dollar im Monat kostete. Der Vermieter hatte das Zimmer abgeschlossen und verweigerte Annie den Zutritt, solange sie die Miete für die beiden zurückliegenden Monate nicht bezahlt hatte.
Das Geld der Cumberlands hatte nicht lange vorgehalten. Aus einer Art Aberglauben heraus behielt Annie den letzten Zwanzigdollarschein, denn sie war sicher, wenn sie auch den ausgab, bestand keine Hoffnung mehr. Während der sechs Monate in New York hatte sie in vierzehn Lokalen gearbeitet – meist als Kellnerin in Bars. Nur wenige Arbeitgeber interessierten sich für ihr Alter. Ein wütender Gast, der Annie einen Antrag gemacht hatte und abgeblitzt war, drohte mit einer Anzeige, und ein übereifriger Polizist hatte etwas dagegen, daß sie Alkohol servierte. Sonst erhob niemand Einwände. Aber ihr Verdienst war kaum der Rede wert. Sie konnte nie genug sparen, um die Miete zu bezahlen oder um sich neue Kleider zu kaufen. Als Annie nun mit der Fahrkarte nach Belmont auf der Holzbank im Bahnhof saß, überkam sie wieder einmal die schon vertraute Panik. Sie kämpfte dagegen an, indem sie sich an die Hoffnung klammerte, sie werde Arbeit finden. Die Leute aus den Nahverkehrszügen hasteten an ihr vorbei, und Annie musterte mit schnellen Blicken ihre Gesichter. Sie überlegte, ob sie die Hand ausstrecken und betteln sollte, aber sie brachte es nicht über sich – noch nicht.
In den vier Stunden verließ sie ihren Platz nur einmal: Sie ging zur Toilette, nachdem sie gesäubert worden war. Sie trank viel Wasser, aber trotz der Düfte, die ihr in die Nase stiegen, kaufte sie nichts zu essen. Statt dessen versuchte sie sich einzureden, es werde ihr Glück bringen, daß sie den letzten Zwanzigdollarschein gewechselt hatte. Ihr war schwindlig vor Hunger. In diesem Zustand überließ sie sich wieder ihren Tagträumen von den Cumberlands.
Vor ein paar Wochen war Annie an ihrem freien Abend an der East Seventieth Street Nr. 10 vorbeigegangen. Dort wurde gefeiert. Ein Klavier spielte, und hinter nachlässig geschlossenen Vorhängen fiel der zuckende Schein von Kerzen auf eine dunkle Eichenholzdecke. Lachen erfüllte die Seventieth Street, wo Limousinen auf die sonnengebräunten Männer im Smoking und Frauen in Abendkleidern warteten.
Nr. 10 wirkte auf Annie wie ein Schloß – ein Schloß, wie man es nur in New York kannte. Sie war mehrmals daran vorbeigegangen. Die schmuckvolle Steinfassade war doppelt so lang wie die der anderen Häuser in diesem Block. Im ersten Stock befanden sich sechs hohe Glasflügeltüren hinter einem schmalen schmiedeeisernen Balkon. Durch die Vorhänge mit den reich bestickten Rändern sah man grüne samtbezogene Wände mit Gemälden, über deren üppigen Goldrahmen Lampen brannten. Die Zimmer hatten geschnitzte Eichendecken. An den Fenstern im Stockwerk darüber sah sie üppig geraffte Gardinen. Das Dachgeschoß hatte Gauben, die aus dem steilen grünen Kupferdach herausragten.
Hinter dem mehr als zwei Meter hohen schwarzen schmiedeeisernen Zaun sah sie eine imposante zweiflügelige Haustür aus glänzendem dunklen Holz mit polierten Messingbeschlägen. Zu beiden Seiten des Eingangs brannten Tag und Nacht Gaslampen. Auf dem Gehweg und dem Vorplatz wuchsen in Pflanzenbehältern goldgelbe Ringelblumen, kleine Chrysanthemen und Margeriten, die auch in den Blumenkästen an den Fenstern in allen vier Geschossen üppig blühten.
Annie hatte sich eine Margarite pflücken wollen, es aber nicht gewagt.
Endlich wurde der Zug nach Belmont angekündigt. Als Annie aufstand, drehte sich ihr alles vor den Augen, und sie wäre beinahe gefallen. Sie fand aber das Gleichgewicht wieder, eilte zur Sperre und stieg langsam die Treppe des Tunnels hinunter. Im Zug suchte sie sich einen Fensterplatz. Es war ein Wochentag, und die Wagen waren nicht überfüllt. Die Männer, die einstiegen, setzten sich schnell und schlugen sofort den Morning Telegraph auf. Annie hatte hin und wieder in einer der Bars eine Rennzeitung ergattert. Die vielen Zahlen, Symbole und der kleine Druck verwirrten sie aber jedesmal. Sie suchte Neuigkeiten über die Cumberlands. Die Tabellen, die als ›Form‹ bezeichnet wurden, gaben Aufschluß über die Rennerfolge der einzelnen Pferde, die auf fünf oder sechs Rennplätzen im Osten des Landes liefen. Annie sagten nur die Worte ›Gestüt Caernarvon‹ etwas, das manchmal als ›Besitzer‹ von Pferden erwähnt wurde, die in Belmont liefen. Das Caernarvon-Gestüt gehörte den Cumberlands.
Der Zug fuhr aus dem Tunnel in das helle Oktoberlicht hinaus. Annie legte die Hände auf ihr Herz. Es klopfte so heftig, daß sie das Gefühl hatte, es springe ihr in die Hand. Die rasenden Kopfschmerzen, die sie die ganze Zeit ignoriert hatte, quälten sie wie ein Folterinstrument. Sie schloß die Augen und fragte sich, wie kalt es wohl draußen sein mochte und ob ihre Jacke warm genug war. Plötzlich überkam sie panische Angst. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Cumberlands finden würde, um nach Arbeit zu fragen. Beklommen schlug sie die Augen wieder auf, blickte aus dem Fenster, sah ihr Spiegelbild und schloß die Augen schnell wieder. Sie überlegte, wo Certainty wohl sein mochte, und dann dachte sie an Sam.
Da Annie kein Geld gehabt hatte, um es in ihrer freien Zeit auszugeben, saß sie oft in ihrem Zimmer und las immer wieder die Artikel, die sie aus Zeitungen, Sonntagsbeilagen und mit etwas Glück auch aus alten Zeitschriften ausschnitt. Daher wußte sie, daß Sam zehn Jahre älter war als sie. Er übernahm allmählich die Führung des Gestüts Caernarvon von J. Cardell Cumberland, seinem Vater. Zum Rennstall der Cumberlands gehörten ein dreihundert Morgen großer Besitz bei Stony Brook auf Long Island, das zwölfhundert Morgen große Gestüt in Kentucky außerhalb von Lexington und, zum Training der Pferde, beziehungsweise als Winterquartier, die Einrichtungen auf der Plantage der Cumberlands in der Nähe von Aiken in South Carolina. Außerdem gab es Caernarvon-Gestüte in Newmarket, England, und im County Limerick in Irland.
Sam lebte mit seiner Frau Belinda in einer Wohnung in der Fifth Avenue ganz in der Nähe von Nr. 10. Sie hatten einen Schweizer Koch, zwei norwegische Dienstmädchen, einen englischen Butler und ein französisches Kindermädchen. Annie lehnte sich auf ihrem Sitz zurück. Das erste Kind der beiden, ein Mädchen, war im September geboren und von einem Bischof der Episkopalkirche auf den Namen Alycia getauft worden.
Wie in den Gesellschaftsspalten berichtet wurde, führten die Cumberlands ein sehr geordnetes Leben, und Annie hatte sich seinen Ablauf eingeprägt. Jedes Jahr am 2. Januar wurde ›Gwydian‹, ihr Privatwagen, an einen Zug zur Atlantikküste angehängt, und die Cumberlands fuhren nach Palm Beach. Die Familie blieb bis Ende März in Florida und verbrachte den April entweder auf dem Gestüt in Lexington oder in Europa. Wo immer sie sich auch befanden, sie kehrten stets zu ihrer Party am Vorabend des Kentucky Derby, das am ersten Samstag im Mai stattfand, nach Lexington zurück. Seit der Jahrhundertwende hatten die Farben von Caernarvon – Karminrot, Gold und Königsblau – viermal das Derby gewonnen. Nach dem Derby wurde ›Gwydian‹ an den Zug Chesapeake–Ohio angehängt, und die Cumberlands kehrten nach New York zurück. Im letzten April war der Zug verunglückt. Zwei junge Stuten von Caernarvon mußten getötet werden, und ›Gwydian‹ war nur noch Schrott.
»Es sind auch mindestens sechs Menschen umgekommen«, murmelte Annie und wiederholte damit Sams Worte. Sie starrte aus dem Fenster und dachte an ihr überraschendes Auftauchen im Leben der Cumberlands.
Für den Rest des Frühlings und den Sommeranfang blieb die Familie in der Stadt oder auf Long Island. Den Juli verbrachten sie bei Cousins in Newport, pendelten dabei jedoch immer wieder entweder mit einer Privatmaschine oder ihrer Sechsunddreißig-Meter-Yacht Merlin, einem Zweimaster mit Rahtakelung, zwischen Virginia und New York hin und her. Mrs. Cumberland wurde leicht seekrank und mied das Schiff. Im August fuhren sie mit der Bahn in ihr ›Camp‹, ein riesiges aus Stein errichtetes Sommerhaus am Saranac-Lake in den Adirondacks. Es lag zwei Stunden nördlich vom Rennplatz in Saratoga Springs, wo die Pferde der Cumberlands seit fünfundvierzig Jahren liefen.
Das Gestüt Caernarvon war 1910 von Sams Großvater gegründet worden und trug den Namen der Stadt in Wales, von der die Cumberlands 1756 nach Amerika ausgewandert waren. Der Pferdezucht und dem Rennstall galt die ganze Leidenschaft von drei Generationen der Cumberlands, denen ihre Verantwortung gegenüber der Vollblutzucht heilig war. Samuel Barkeley Cumberland III (sein Großvater war der erste und sein Onkel der zweite gewesen) war ein Einzelkind. Man hatte ihn im Geiste des Erbes erzogen, das er einmal antreten würde. Er war nominell Präsident der Cumberland-Stiftung, die ihren Sitz in der Park Avenue hatte. Allerdings bestimmte seine Mutter, Cornelia Talasker Cumberland, die Empfänger der von der Stiftung zu verteilenden Mittel. Als Erbin einer Ölgesellschaft hatte sie die Hälfte des Stammkapitals eingebracht.
Sam bekam mit fünf sein erstes eigenes Pony, ging mit sechs zum Rennen nach Saratoga und spielte Polo während seines Studiums an der Princeton University. Ein Jahr nach dem Examen heiratete er Belinda Hasquith Clayton, die aus einer der ältesten Familien Kentuckys stammte. Die Claytons besaßen ein Vollblutgestüt, die eintausendachthundert Morgen große Sweetwater Farm. Sie grenzte an das Land des Caernarvon-Gestüts in Kentucky. Belinda wurde in Chatham Hall und in Sweet Briar erzogen und beim Schwarzweißen Ball in New York und dem Internationalen Debütantinnen-Cotillion in Versailles in die Gesellschaft eingeführt. Sie kannte Sam Cumberland schon als kleines Kind. Die Romanze begann erst nach einem zweijährigen Aufenthalt Belindas in Europa. Sie hatte dort an Schaureitturnieren teilgenommen und außerdem Französisch und Italienisch gelernt.
Annie fragte sich, ob Belinda Cumberland jemals im Leben Sorgen gehabt hatte. Selbst nach dem Zugunglück hatte sie sehr gelassen gewirkt. Annie dachte an das Bild, das sie in einer Zeitschrift gefunden hatte: Sam und Belinda standen vor einem neuen Stallgebäude von Caernarvon in Kentucky. Sie hielten sich bei der Hand und lachten. Belinda trug einen dünnen Pulli, eine einreihige Perlenkette, Reithose und dunkle Reitstiefel. In der freien Hand hielt sie lässig eine Reitgerte. Sie war schlank, sehr blond, hatte graue, lockende Augen und einen entschlossenen, selbstbewußten Mund.
Sam trug alte Jeans, ein nicht ganz frisches Arbeitshemd, einen ausgefransten Strohhut und schmutzige derbe Arbeitsstiefel. Er lächelte so verschmitzt wie damals im Wagen, als Annie den Kopf abgewandt hatte. Nur die getriebene silberne Gürtelschnalle mit den Buchstaben C und F verriet, daß er mehr war als ein gewöhnlicher Stallbursche. Annie hatte das Bild ausgeschnitten und bewahrte es gefaltet zwischen den Seiten von Große Erwartungen auf. Sie hatte es so oft betrachtet, daß das Papier schließlich am Knick zerriß, der genau durch die Hände der beiden ging und Sam von Belinda trennte.
Annie merkte nicht, daß der Zug in Belmont Park einfuhr, denn sie saß auf der falschen Seite des Wagens. Der Schaffner rief die Station aus, und Annie wartete, bis die anderen Fahrgäste ausgestiegen waren. Als sie aufstand, wurde ihr wieder schwindelig, und es dauerte einen Augenblick, bis sie zur Tür gehen konnte. Beim Aussteigen spürte sie sofort die Kälte. Überrascht blieb sie stehen. Der Zug hielt ganz in der Nähe der Tribünen. Sie befanden sich nur etwa hundert Meter entfernt und wirkten wie eine hohe Mauer ohne Eingänge. Davor sah sie mehrere eingeschossige Gebäude und Hecken, die zu einem kleinen Gehölz führten. Die anderen Fahrgäste wußten offenbar, wohin sie gehen mußten. Annie folgte ihnen. Die Sonne schien, und es wehte kein Wind. Sie hoffte, die Jacke würde sie warm halten.
Beim Näherkommen bemerkte sie zuerst einen Tunnel, der unter den Tribünen hindurchführte, und dann zahlreiche Eingänge hinter einem Maschendrahtzaun und zahlreichen Kassenhäuschen. Ein Schild mit einem Pfeil wies zur HAUPTTRIBÜNE, ein anderes zum CLUBHAUS. Annie wußte nicht, welchem Pfeil sie folgen sollte. Hinter dem Zaun stand ein uniformierter Ordner. Annie lächelte ihn an, und sein ausdrucksloses Gesicht verzog sich zu einem feindseligen Grinsen.
»Hallo«, sagte Annie. Offenheit konnte die New Yorker manchmal entwaffnen und einen Augenblick verwirren.
»Was willst du?«
»Nichts. Ich überlege nur, wo die Pferde sind.«
»Nicht hier, Kleine. Hier sind die Leute. Woher hast du denn die Jacke? Von der Heilsarmee?«