11,99 €
Von Waldorfschulen und biodynamischem Landbau haben die meisten schon gehört. Rudolf Steiners Weltsicht dagegen, die alldem zugrunde liegt, kennen nur wenige. Dabei enthält sie den Schlüssel zu einem epochalen Wandel, der dringend notwendig wäre. Das neuzeitliche, naturwissenschaftlich geprägte Weltbild wird dabei nicht über Bord geworfen, aber es wird radikal erweitert – zu jener heute verdrängten Dimension hin, die Steiner die geistige Welt nennt. Die Anthroposophie mutet dem Menschen viel zu. Aber sie traut ihm auch viel zu: die Fähigkeit zu einer tieferen Entwicklung seiner verborgenen Anlagen; und die Fähigkeit zu einer freien, bewussten Gestaltung einer menschlicheren Welt. Dieses Buch will im Aufgreifen von Kritik an Steiner zeigen, wie es sich bei der Anthroposophie um einen Ansatz handelt, der tatsächlich für die naturwissenschaftlich geprägte Gegenwart zunächst schwer zugänglich ist. Der Anspruch, eine elementar neue und geistig vertiefte Interpretation der Dinge zu entwickeln, erscheint als Zumutung, die gleichwohl unvermeidlich ist, wenn sich am krisenhaften Zustand unserer Welt etwas grundlegend ändern soll. Wolfgang Müller stellt Steiner und sein Werk in den größeren Vergleichskontext wichtiger moderner Strömungen. Seine dialogische Grundhaltung, die mögliche Einwände und Vorbehalte offen aufgreift, macht sein Buch für neu Interessierte ebenso wie für bereits mit der Anthroposophie Vertraute gleichermaßen spannend lesbar. „Das Phänomen Steiner bleibt erstaunlich und leicht angreifbar. Nur diejenigen werden es für relevant halten, die wenigstens in Teilbereichen den klaren Eindruck gewinnen, dass hier große Durchblicke gelungen sind, die unserer Zeit bitter fehlen; und die bereit sind anzuerkennen, dass Bedeutendes nicht immer auf die Weise in die Welt tritt, wie man das nach den gewohnten Kategorien erwarten würde.“ Wolfgang Müller
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 209
Wolfgang Müller:
Zumutung Anthroposophie
ISBN E-Book 978-3-95779-150-4 ISBN gedruckte Version 978-3-95779-143-6 Diesem E-Book liegt die Erste Auflage 2020 der gedruckten Ausgabe zugrunde.
Erste Auflage 2021
© Info3 Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG Frankfurt am Main, 2021
Lektorat: Jens Heisterkamp, Frankfurt am Main Typographie und Satz: de·te·pe, Ulrich Schmid, Aalen Umschlag: Frank Schubert, Frankfurt am Main Die Abbildung (Aufnahme: Frank Schubert) zeigt eine Original-Manuskriptseite von Rudolf Steiner. © Rudolf Steiner Archiv Dornach E-Book-Erstellung: CPI books GmbH
Von Waldorfschulen und biodynamischem Landbau haben die meisten schon gehört. Rudolf Steiners Weitsicht dagegen, die alldem zugrunde liegt, kennen nur wenige. Dabei enthält sie den Schlüssel zu einem epochalen Wandel, der dringend notwendig wäre. Das neuzeitliche, naturwissenschaftlich geprägte Weltbild wird dabei nicht über Bord geworfen, aber es wird radikal erweitert – zu jener heute verdrängten Dimension hin, die Steiner die geistige Welt nennt.
Die Anthroposophie mutet dem Menschen viel zu. Aber sie traut ihm auch viel zu: die Fähigkeit zu einer tieferen Entwicklung seiner verborgenen Anlagen; und die Fähigkeit zu einer freien, bewussten Gestaltung einer menschlicheren Welt.
„Das Phänomen Steiner bleibt erstaunlich und leicht angreifbar. Nur diejenigen werden es für relevant halten, die wenigstens in Teilbereichen den klaren Eindruck gewinnen, dass hier große Durchblicke gelungen sind, die unserer Zeit bitter fehlen; und die bereit sind anzuerkennen, dass Bedeutendes nicht immer auf die Weise in die Welt tritt, wie man das nach den gewohnten Kategorien erwarten würde.“
Wolfgang Müller
Wolfgang Müller
wurde 1957 in Heidelberg geboren und wuchs in Speyer am Rhein auf. Er studierte Geschichte und Germanistik in Heidelberg und Hamburg. Anschließend war Müller Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk in den Ressorts Wissenschaft und Zeitgeschichte. Veröffentlichungen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in Die Zeit, der taz und im Merkur. Seit 2021 lebt er als freier Autor in Hamburg.
Einleitung
1. Man möchte es hinausschreien Aphoristische Einstimmung
2. Seelengeschichten Wie Lebensläufe lesbar werden
3. Wer war Rudolf Steiner? Annäherungen an eine Biografie
4. Paralleluniversum Anthroposophie? Wie sich ihr Verhältnis zur etablierten Wissenschaft verstehen ließe
5. Der Blinde Fleck der Neuzeit Philosophische Gesichtspunkte
6. Eine Anthroposophie, die keine mehr ist? Das Dilemma der Vermittlung
7. Rassistische Tendenzen? Anthroposophie unter Verdacht
8. Neumanns Unbehaglichkeit Zur schwierigen Nachbarschaft von Religion und Anthroposophie
9. Das Feld, in dem wir stehen Anthroposophie und Medizin
10. Was heißt „soziale Dreigliederung“? Rudolf Steiner als politischer Denker
11. Durch Demut zum Mut Aphoristischer Ausklang
Anmerkungen
Textnachweise
Übersieht die heutige Welt etwas ganz Entscheidendes? Verpasst sie einen Entwicklungsschritt, ohne den sich unmöglich der Weg in eine humane Zukunft finden lässt? Und ignoriert sie ebenso hartnäckig wie hochmütig eine Stimme, die mit größter Intensität auf diese Tatsachen hinwies? – Allein diese Fragen wirken bizarr, und wenn wir erfahren, dass sie von anthroposophischer Seite kommen, glauben wir es läuten zu hören: Eine nicht ganz unsympathische, aber etwas wunderliche Gemeinde möchte ihrer Lehre und ihrem Meister eine Weltbedeutung zuschreiben. Nun ja. Tatsächlich sind Anthroposophen überzeugt, dass Rudolf Steiner einen neuen Zugang zu den großen Weltfragen gefunden hat und dass sein Ansatz die Wirklichkeit auf tiefere Weise verständlich macht als die heute herrschenden Denkweisen, ja das Tor aufstoßen könnte zu einem epochalen kulturellen Wandel.
Dieser Mann also, der 1861 in einem Winkel des alten Habsburger-Reiches geboren wurde und 1925 im schweizerischen Dornach starb – dieser Mann soll in seinem wahren Format von der Welt übersehen worden sein? Er soll mehr sein als ein sicherlich ungewöhnlicher Kopf, von dem beachtliche Impulse ausgingen, von den Waldorfschulen bis zum biodynamischen Landbau?
Steiner eine so überragende Bedeutung zuzuschreiben erscheint noch befremdlicher, wenn man an andere markante Gestalten seiner Zeit denkt, etwa den wenig älteren Sigmund Freud oder jüngere Zeitgenossen wie Albert Einstein oder Franz Kafka. Einstein und Kafka haben sogar Vorträge von Steiner besucht. Einstein mokierte sich anschließend über das Gehörte, Kafka ging immerhin so weit, um ein Gespräch mit Steiner zu ersuchen, das aber wohl keine tieferen Spuren hinterließ (diese Episoden werden später noch ein wenig beleuchtet). Wenn also bedeutende Zeitgenossen mehr oder weniger unbeeindruckt an Steiner vorbeigingen – sollten wir ein Jahrhundert später zu anderen Ergebnissen kommen?
Dieses Buch sagt, in aller Vorsicht, ja. In aller Vorsicht, weil hier offenkundig große Fragen ins Spiel kommen. Das neuzeitliche Weltverständnis, über das die Anthroposophie in vieler Hinsicht hinausgehen möchte, ist ja keine kulturelle Laune. Es ist über Generationen erkämpft und wurde (etwa auf dem Weg von Newton zu Einstein) vielfach revidiert und erweitert, mit anderen Worten: es hat sich bewährt und hat, besonders auch durch seine technischen Anwendungen, eine bis in den Alltag reichende Überzeugungskraft. Dem etwas entgegenzusetzen ist keine Kleinigkeit. Es verlangt mehr als den Hinweis auf die menschlichen und ökologischen Schattenseiten des neuzeitlichen Weges und mehr als das Winken mit vermeintlich angenehmeren Alternativen. Es verlangt den Zugang zu einer Weltanschauung, die umfassender, relevanter und wirklichkeitsgemäßer ist.
Dabei geht es nicht darum, das heutige Weltbild quasi nach oben, um eine „höhere Welt“ zu erweitern, so wie dies spirituellen Lehren gern unterstellt wird. Es ist eher so, dass dieselbe Welt anders angeschaut und tiefer verstanden wird. Man könnte an Goethes großartiges Wort vom „offenbaren Geheimnis“ denken: Etwas kann vor aller Augen und doch in seinem Wesen verschlossen sein. Oder ein profaneres Beispiel: Als Napoleons Truppen 1798 in Ägypten einfielen, sahen sie überall auf den alten Tempelwänden die Hieroglyphen, in voller Schönheit, aber nur wie stumme Zeichen. Erst gut zwanzig Jahre später gelang dem jungen Jean-François Champollion die Entschlüsselung. Jetzt erst konnten sich, hinter flachen Steinwänden, ganze Lebens- und Gedankenwelten öffnen.
Eine solche Entschlüsselung ist, könnte man sagen, in unserer Zeit in einem viel tieferen Sinn zu leisten. Anders gesagt: Was wir im Alltag sehen, was auch die Wissenschaft genauer beschreibt, ist nicht falsch. Aber es ist nur eine erste Schicht, hinter der sich Weiteres und Wesentliches verbirgt. Wird das nicht verstanden, ist das etwa so, als ob man meinte, einen Menschen durch bestimmte Merkmale erfassen zu können – Größe, Sprache, Wohnort –, ohne zu begreifen, dass das Entscheidende erst jenseits davon beginnt. Erst wenn wir einen Menschen in seiner seelischen Verfassung, in seinen besonderen Impulsen und innersten Anliegen zu verstehen beginnen, nähern wir uns dem, was ihn wirklich charakterisiert. So schwer all dies auch zu fassen ist, so wenig es sich in Zahlen und Daten ausdrücken lässt – ist nicht klar, dass wir erst hier auf das stoßen, worum es geht? Erst hier kommt das in den Blick, was Mensch und Welt verständlicher machen kann; und nebenbei gesagt auch das, was sie so interessant macht.
Dies, in etwa, ist die Optik der Anthroposophie. Steiner bezeichnete sie oft auch als Geisteswissenschaft, weil sie im Kern anstrebt, die in der sichtbaren Welt wirksamen – unsichtbaren – geistigen Kräfte zu identifizieren und zu erforschen; sie bedeutet, mit seinen Worten, „die Vertiefung in die Phänomene bis zu dem Grade, dass sie ihre geistige Wesenheit enthüllen“.
Was dies im Einzelnen heißen kann, hat Steiner in etlichen Büchern und in Tausenden Vorträgen zu zeigen versucht (er hielt die Vorträge stets frei, aber die meisten wurden mitstenografiert). Das thematische Spektrum dabei ist immens, es reicht vom Blick auf den einzelnen Menschen über kulturelle Betrachtungen darüber, wie unterschiedlich Menschen in verschiedenen Epochen in der Welt standen, bis zu einem veränderten Blick auf Natur und Kosmos. Alles ist in der Darstellung anspruchsvoll, fast möchte man sagen: kompromisslos schwierig. Zudem ist es, wenn man mit den heutigen schulischen und intellektuellen Prägungen herangeht, irritierend anders und bis in die Begrifflichkeit fremd. Und doch kann sich, über manche Barrieren hinweg, allmählich der Eindruck verdichten, dass hier die Wirklichkeiten der Welt tiefer als sonst getroffen und erfasst werden. Es ist dann, als würden in einem vertrauten Bild neue und bedeutsamere Züge erkennbar, eben jene geistigen Zusammenhänge, die in Steiners Wahrnehmung kein blasses Irgendwas sind, sondern der eigentliche, innerste Text der Welt. In allem, sagt er einmal, erscheine der Geist „wie eine innere Physiognomie“. Nur müsse der Mensch erst die inneren Organe ausbilden, um diese Zeichensprache zu lesen. Auf einem Notizblatt hielt er fest:
„Die Welt ist ohne den Geist für den Menschen wie ein Buch, abgefasst in einer Sprache, die er nicht lesen kann, doch von dem er weiß, dass sein Inhalt lebenbestimmend ist. Und Geisteswissenschaft will erstreben die Kunst des Lesens.“1
Gewiss, dies sind Worte, die in unserer Zeit ungewöhnlich wirken. Und es ist ein Anspruch, der vermessen erscheinen kann. Man mag es eigentlich unmöglich finden, dass ein Einzelner quasi im Alleingang zu so neuen Perspektiven vordringen könnte. Man mag auch Steiners Welterzählung manchmal sehr kursorisch finden und nach weiteren Begründungen verlangen. Man mag im Einzelfall auch Fehler zu erkennen glauben. Steiner selbst hätte das übrigens nicht ausgeschlossen:
„Da werden gewiss mancherlei Irrtümer drinnen sein, selbstverständlich, aber das ist genauso wie bei anderen Forschungen. Es handelt sich nicht um diese Irrtümer im Einzelnen, sondern es handelt sich um den Grundcharakter des Ganzen.“2
Insofern: Dass die heutige Welt einem Phänomen wie der Anthroposophie skeptisch begegnet, dass sie auch manche Fragen an ihren Gründer hat, ist ganz natürlich. Dass sie sich aber mit dem, was hier als großer Impuls in die Welt kam, gar nicht auseinandersetzt, dass sie sich in ihrer Wahrnehmung auf ein paar Randaspekte kapriziert, ohne den „Grundcharakter des Ganzen“ überhaupt von Ferne zu erkennen – darin kann man eine Tragödie sehen.
Das Wort ist nicht zu groß. Denn die Anthroposophie ist alles andere als eine intellektuelle Spielerei oder ein Versuch, es sich in der kühlen Moderne wieder spirituell gemütlich zu machen. Im Kern will sie nichts anderes als die volle Wirklichkeit in den Blick nehmen, auch die Seiten, die in der Neuzeit ausgeblendet wurden. Rudolf Steiner hat diese neuzeitliche Verengung auf das Materielle und Messbare immer als einen notwendigen Prozess beschrieben. In ganzen Vortragszyklen erläuterte er, warum die Menschheit aus ihren einstigen religiösen Geborgenheiten heraustreten und gleichsam ein kaltes Weltverhältnis erreichen musste, um ein freies, autonomes Ich-Bewusstsein auszubilden. Nun aber – heute – sei der nächste Schritt notwendig: sich mit dieser starken neuzeitlichen Bewusstseinskraft wieder dem vollen Bild zu nähern, der ganzen Wirklichkeit, der materiellen wie der geistigen, die in Wahrheit zusammengehören, auch wenn unsere Epoche dafür gar keine Begriffe hat. Solche Begriffe versuchte die Anthroposophie zu prägen.
Warum man das braucht? Weil eben mit den heutigen Begriffen, die nur die halbe Wirklichkeit erfassen, kaum mehr als halbe Lösungen gelingen können. Es könne dann, so Steiners unermüdliche Kritik, nicht mehr herauskommen als das moderne Hantieren mit großspurigen „Programmen“, die dann leider „in den Spalten des Lebens durchfallen“.
Die brennenden Weltfragen werden sich nur angehen lassen, wenn Mensch und Welt tiefer als heute verstanden werden. So einfach ist es, so schwierig.
*
Vielleicht ist es nicht falsch kurz anzudeuten, welcher persönliche Weg zu diesem Punkt geführt hat. Ich stamme aus einem naturwissenschaftlich gefärbten Elternhaus. Die Eltern hatten Medizin beziehungsweise Zahnmedizin studiert, ihre akademische Prägung war die einer wissenschaftlichen Nüchternheit. Ich erinnere mich, dass sie einmal eine Anekdote aus dem Hörsaal erzählten. Ein Professor illustrierte seine Wahrnehmung der Homöopathie und ihrer Verdünnungsprinzipien: Das sei so, wie wenn man bei Basel ein Reagenzglas mit Wirkstoffen in den Rhein schütte und später an der Mündung in die Nordsee ein Glas als Arznei abfülle. Das Auditorium wird sich vor Lachen ausgeschüttet haben. Ich meine mich auch an ironische Bemerkungen der Mutter über einen anthroposophischen Nachbarn zu erinnern, der seine Gartenerde in besonderer Weise umgrub und dem Licht der Sonne aussetzte. Man war durch so etwas eher peinlich berührt.
Wobei die Dinge dadurch komplizierter wurden, dass das Leben der Eltern zugleich eine ernste protestantische Grundierung hatte, die sich im Einsatz für andere ausdrückte und wohl auch in der inneren Bewegung beim Hören von Bachs Passionen. Sie hatten also durchaus einen Sinn dafür, dass der heutige wissenschaftliche Zugang nicht das ganze Sein erfasst. Die Frage aber, in welchem Verhältnis die religiösen Aussagen über tiefere Wirklichkeiten zu den Beschreibungsformen der Naturwissenschaft stehen, ließen sie wohl – wie so viele Menschen heute – offen.
Ich selbst kam durch einen Freund, Andreas Bracher, den ich aus dem Geschichtsstudium kannte, mit der Anthroposophie in Berührung. Es gab aber wenig, das mich dorthin zog. Zwar hatte ich, nach einer schwungvollen agnostischen Phase, eine innige Beziehung zu den großen spirituellen Traditionen entwickelt, von der Bhagavad Gita bis zur Bibel, von Lao Dse bis Meister Eckhart. Mit Steiner aber konnte ich, wenn ich einmal in seine Werke hineinlas, wenig anfangen. Allein schon die Selbstverständlichkeit, mit der er von Geist oder Seele sprach, erschien mir verdächtig und etwas gestrig.
Andreas meinte irgendwann, es könne interessant sein, wenn ich meine Vorbehalte einmal zu Papier brächte. Daraus wurde ein Artikel mit dem Titel Warum die Anthroposophie nicht durchdringt. Es gelang tatsächlich, ihn in einer anthroposophischen Zeitschrift, in der schon zu Steiners Zeit gegründeten Die Drei zu veröffentlichen, und er zog beträchtliche Reaktionen nach sich.
Zu dieser Zeit war ich schon Mitte vierzig, und es gingen weitere Jahre ins Land. Erst mit 57 kam eine eigentümliche Wendung. Ich hatte für einen Text eine gewisse historischpolitische These ausgearbeitet und eines Morgens unversehens bemerkt, dass meine Gedanken im Grunde auf das hinausliefen, was Steiner soziale Dreigliederung nannte. Ich griff also doch wieder ins Regal – und lese seitdem praktisch täglich Steiner.
Als ich unserer inzwischen verstorbenen Mutter einmal davon erzählte, kam ihr trotz Demenz in den Sinn: Hast du nicht einmal etwas Kritisches dazu geschrieben? Ich sagte, dass ich die Dinge inzwischen anders sehe. Worauf nach einer Pause, mitten aus der verrutschten Gedankenwelt, ein schöner, souveräner Satz kam: Ja, manchmal muss man seine Meinung ändern.
Es war eine lange Inkubationszeit, und manche in meiner Umgebung mögen darüber das denken, was Steiner einmal ironisch als typische Reaktion auf solche Entwicklungen wiedergab: „Sehr schade, dass der so verrückt geworden ist.“
*
Mitunter kann die Anthroposophie wie eine ungeheure Landschaft wirken – und was dieses Buch unternimmt, sind nur kleine Exkursionen. Sie beginnen mit Aphorismen, die noch etwas von der ersten skeptischen Begegnung mit Steiners Werk spiegeln, und wenden sich dann der faszinierenden Eigenart menschlicher Lebensgeschichten zu, insbesondere auch der von Rudolf Steiner selbst. Anschließend geht es um die zentrale Frage, warum die Anthroposophie so deutlich von der Hauptrichtung heutiger Naturwissenschaft und Philosophie abweicht. Weitere Themen sind unter anderem die notorischen Vorwürfe, Steiners Werk zeige nationalistische und rassistische Züge, die vieldiskutierte Nähe und Fremdheit von Religion und Anthroposophie und schließlich die bis heute völlig unverstandenen politischen Gesichtspunkte einer tieferen Weltsicht. – Es sind alles nur Versuche. Wenn die Anthroposophie ein Lesen der Welt erstrebt, dann erstrebt dieses kleine Buch ein Lesen der Anthroposophie. – Es sind immer wieder Schritte auf ungewohntem Terrain. Ganz grundsätzlich, meinte Steiner, befinde sich unsere Zeit in diesen tiefen Weltfragen noch in einer Art Elementarschule: „Wir kommen kaum schon zu einem wirklichen Lesen, sondern nur zu einer Art von Buchstabieren. Aber wir können doch ergriffen sein von dem Umwandlungsimpuls, der dadurch für die Menschheitsentwickelung hereinbricht.“3
*
Mein Dank geht an Andreas, der mich, den Widerstrebenden, mit der Anthroposophie bekanntgemacht hat, und er geht an Ruth, die mir mit meinen etwas vorlauten Urteilen gerne mal den Kopf zurechtsetzte und die mir bei der Arbeit am Buch viele gute Hinweise gab. – Keiner meiner Fehler als Autor ist mir im Nachhinein so lieb wie der (in einem Artikel für die taz), der mir eine Mail der Steiner-Biografin Martina Maria Sam eintrug; wie viele „Zettelchen“ sind seitdem zwischen Dornach und Hamburg hin und her geflogen! Jens Heisterkamp danke ich für den Anstoß zu diesem Buch und die gute Begleitung. – Wie ich Hala, Donia und Tarek, meiner Familie, danken kann, das weiß ich nicht; sie sind das größte Geschenk.
Warnung. – Eigentlich müsste man denen, die sich der Anthroposophie nähern, sagen: Stellt euch auf die maximale Verstörung ein! Auf die Umstülpung aller Anschauungen. Was ihr bisher missachtet oder gemieden habt, wird eine neue, andere Bedeutung gewinnen. Denn die Wahrheit ist, dass die Anthroposophie (mit Rudolf Steiners Worten) „das Denken, das ganze Sinnen des Menschen, die ganze Seelenverfassung eben in eine andere Richtung bringt, als diejenige ist, die nun eben gang und gäbe ist“.1
Evolutionär gedacht. – Ein zentraler Hinweis Steiners lautet, es komme auf eine Seelenverfassung an, die nicht in erster Linie darauf ausgerichtet ist, die Antwort auf diese oder jene Frage zu finden, sondern darauf: „Wie entwickele ich diese oder jene Fähigkeit in mir?“ – Die Antworten kommen zu ihrer Zeit. Sie kommen, wenn die Voraussetzungen gegeben sind. Dies zu verstehen ist, erkenntnistheoretisch wie lebenspraktisch, von größter Tragweite.
Transit. – Ich kenne keine Weltanschauung, die auf den ersten Blick so viele Anlässe zur Skepsis bietet und die man, etwas bösen Willen vorausgesetzt, so schnell abfertigen kann wie die Anthroposophie und mit der man doch, sobald ihr zentraler Ansatz und dessen erklärende Kraft in den Blick kommen, kaum an ein Ende gelangt.
Durchaus tragisch. – Viele, gerade unter den besten Köpfen des Zeitalters, streben nach einer kühlen, realistischen, von Illusionen befreiten Weltauffassung. Fast alle unter ihnen aber fallen mit diesem Impuls dem weltanschaulichen Materialismus zu, weil er diesem Ziel – scheinbar – am ehesten entspricht. Ein tieferer Realismus, der auch andere Realitäten in den Blick bekommt, ist offenkundig nicht in ihrer Reichweite, vorläufig.
Der Freund. – Er hat gar nie gedrängelt. Es ist wohl ohnehin nicht seine Art, andere bekehren zu wollen. Das Einzige – in Jahrzehnten – war, dass er mal ein Steiner-Bändchen auf den Tisch legte, in das vorne geschrieben war: Würde mich so freuen, wenn Du etwas „Brauchbares“ darin finden könntest. Ich fand es nicht.
Er hat einfach nur in unseren Gesprächen fast immer die interessantere, bedeutsamere Perspektive auf die Dinge. Und irgendwann fragt man sich halt, ob das mit der Anthroposophie zusammenhängt.
Blick ins Schaufenster. – Einer der ersten Eindrücke, wenn man das anthroposophische Milieu streift, ist der, dass dort ein großes Gewese um bestimmte Begriffe gemacht wird, insbesondere das „Ich“, die „Individualität“ und das „Denken“, vorzugsweise das „reine“ Denken.
Das wirkt nicht einladend, macht nicht neugierig. Was Ich und Individualität betrifft, werden viele Menschen finden, dass es damit heutzutage ohnehin schon übertrieben werde. Und in Bezug aufs Denken empfinden die meisten auch keinen Mangelzustand, sie ersehnen eher Aufschwünge emotionaler Art. Entsprechend kann es scheinen, als brächte Steiner mehr von dem, wovon es jetzt schon zu viel gibt.
All dies geht nun völlig an Steiners Verständnis dieser Begriffe vorbei. Bis dieses indes verdolmetscht ist, sind die Leute schon weitergezogen.
Selbstverkleinerung. – Hat die Anthroposophie womöglich selbst das erlitten, was Steiner sinngemäß dem modernen Christentum vorhält: den eigenen geistigen Anspruch nicht auf seiner vollen Höhe vertreten zu können? Und hat sie nicht auf diese Schwäche ganz ähnlich reagiert, mit einer Fokussierung aufs Ethisch-Praktische? Caritas und Waldorfschulen: In dieser Sprache glaubt man sich noch verständlich machen zu können. Sich durch seinen praktischen Nutzen ausweisen wollen – das bleibt, wenn das Entscheidende fehlt: den eigenen Inhalt zentral zu fassen und in einer Weise zu vertreten, die es mit den dominierenden Mentalitäten aufnehmen kann. Erst dies aber könnte der Praxis ein starkes Rückgrat geben. Und erst dies könnte den Weg öffnen, um nicht nur eine Nische zu besetzen, sondern einen kulturellen Wandel einzuleiten.
Gegenoffensive. – Ein häufiger, und häufig auch berechtigter, Vorbehalt gegen alle Arten spiritueller Bewegungen ist: dass sie im Grunde doch auf eine Dämpfung des Bewusstseins hinausliefen, eine Heimeligkeit auf Kosten der Klarheit, letztlich eine Abkehr vom Besten der Neuzeit.
Das alles aber ist, auch wenn es in Sumpfgebieten der Anthroposophie vorkommen mag, das Gegenteil ihrer Grundrichtung. Vielmehr will sie ein bewusstes Erkennen in weitere und tiefere Bereiche hineintreiben. Eigentlich behauptet sie sogar, dass die heute dominierenden Bewusstseinsformen getrübt sind und sich mit oberflächlichen Kategorien begnügen. Kurz, Anthroposophie versucht, sich der ganzen Tiefe der Wirklichkeit mit voller Schärfe zu stellen.
Dieser Punkt ist zentral, um sie heute in der rechten Weise zu vertreten.
Wo suchst du? – Die mentale Ausrichtung unserer Epoche zeigt sich sehr schön darin, in welcher Richtung, wenn überhaupt, eine Lösung der großen Welträtsel gesucht wird. Der Physiker Harald Lesch bemerkt einmal, Physiker würden sehr oft nach Gott gefragt, niemand befrage aber seinen Bäcker danach. Die Erwartung ist offenbar, dass gerade die moderne Naturwissenschaft mit ihren Vorstößen in die Welt des Allergrößten und des Allerkleinsten tiefere Einsichten bringen könne. Die Auflösung der alten Vorstellungen von Raum und Zeit etwa, wie sie durch die Relativitätstheorie geleistet wurde, oder auch eigenartige Phänomene der Quantenwelt – all dies scheint nahezulegen, dass an den Rändern heutiger Erkenntnis entscheidende Antworten zu finden seien; dass dort womöglich etwas Anderes beginne, das in jenen sonderbaren Phänomenen schon in unser Blickfeld hineinschwappt.
Wie aber, wenn das Andere nicht an den Rändern begänne, sondern in der Mitte, hier, in dem, was wir längst zu kennen glauben und vielleicht doch nicht kennen? Wie, wenn im Menschen selbst fantastischere Geheimnisse eingeschlossen wären, als die Astrophysik je zu bieten hätte? Tatsächlich sieht Steiner im Menschen „eine Offenbarung des ganzen Weltenalls“.2
Wenn das stimmt, muss man diese Offenbarung allerdings erst verstehen lernen; muss man sich den menschlichen Wirklichkeiten in ihrer ganzen Spannweite und mit einer Methodik zuwenden, die ihrem Wesen gerecht wird. Diese Methodik nennt sich Anthroposophie.
Einspruch. – Die heutige handzahme westliche Religiosität hat mit der modernen Wissenschaft ein geheimes Abkommen geschlossen. Sie überlässt der Wissenschaft, von der sie seit Jahrhunderten in die Enge getrieben wurde, den Anspruch auf Welterklärung, solange man ihr die Reservate des Glaubens lässt.
Anders die Anthroposophie. Sie will es mit der etablierten Wissenschaft aufnehmen, diese ergänzen, korrigieren, vertiefen. Sie will nicht glauben, sondern erkennen. Sie behauptet, die umfassendere Wissenschaft zu bieten.
Das kommt weder in der religiösen noch in der akademischen Abteilung gut an.
Religion und Anthroposophie. – Der Unterschied zwischen dem heutigen kirchlichen Sprechen über Gott und die Welt und dem Steiners könnte in der Tat nicht größer sein. Wo auf der einen Seite alles um wenige große Chiffren kreist – Seele, Glaube, Gott, Erlösung –, wird auf der anderen Seite ein bis in die Einzelheiten gehendes, bis ins Letzte differenziertes Tableau höherer Erkenntnisse ausgebreitet. Es ist wie der Unterschied zwischen einem, der sagt: ich glaube, es gibt einen Seeweg nach Indien, und einem anderen, der auf einen Schlag die komplette Route einschließlich der Gestalt des zu umfahrenden Kontinents liefert, von Neufundland bis zur Magellanstraße. – Selbstverständlich ist das höchst erklärungsbedürftig.
So ist es eben. – Manchmal, etwa bei Steiners weit ausgreifenden Schilderungen geistiger Wesenheiten und deren je unterschiedlicher Entwicklung, denke ich: So kompliziert kann doch die Welt nicht sein!
Aber: Muss sich die Welt – nach uns richten? Und akzeptieren wir nicht in der organischen Welt, etwa im Tierreich, selbstverständlich eine solche Komplexität? Giraffe, Igel, Aal und Adler – die sichtbare Welt ist eine Wunderkammer. Sollten die geistigen Welten ärmer sein?
Pointe des Seins. – Vielleicht könnte man zwei Grundaufgaben menschlicher Entwicklung so umschreiben: zum einen, die äußere Realität in ihrem tieferen Wesen wahrnehmen zu lernen; zum anderen, auch in der eigenen Realität dieses tiefere Wesen aus der Latenz ins Bewusstsein zu überführen. Kurz gesagt, entdecken und wecken.
Das Erstaunliche: Die Welt scheint so konstruiert zu sein, dass das eine nicht ohne das andere geht.
Diesen Zusammenhang haben begabte Menschen schon seit den frühesten Zeiten gesehen und in vielen Formen ausgesprochen. Erst Steiner aber, denke ich, hat ihn in seiner vollen Bedeutung erkannt.
Beispiellos. – Wer außer Steiner hat eigentlich in letzter Zeit, etwa in den vergangenen fünfhundert Jahren, so etwas behauptet: dass er neben der üblichen Form der Welterkenntnis noch „eine andere Erkenntnisart“ kenne? Nebst Anleitung, wie jeder diese selbst entwickeln könne.
Nicht frei Haus. – Anthroposophie hat zwei recht unterschiedliche Seiten. Zum einen spricht sie von einer Erkenntnismethode, zum anderen breitet sie Ergebnisse aus. Der Unterschied ist so groß wie der zwischen dem Bau eines Fernrohres und der Schilderung dessen, was man damit sehen kann.
Das erste, die Methode, der Weg, ist zugleich ein Weg zur Selbstveränderung des Menschen. Denn – das ist zentral in Steiners Lehre – mit seinen bisherigen Mitteln, Sinneserkenntnis und kombinierendem Verstand, kann der Mensch nicht in die Tiefen der Wirklichkeit vordringen. Er braucht neue Organe der Erkenntnis. Diese aber können allein aus einer inneren Entwicklung des Menschen hervorgehen, die dessen ganzes Dasein transformiert. Steiner ist in diesem Punkt so radikal wie es je ein spiritueller Lehrer war: Erst wenn der Mensch sich selbst in einer durchgreifenden Weise umformt und läutert, wird er reif für eine andere Art von Erkenntnis. Erst dadurch, so Steiner, „kann sich der Mensch selbst zum Instrument machen für die Erforschung der übersinnlichen Welt“. Streng genommen öffnet sich erst dann der Zugang zum Zweiten, zu dem, was mit diesem Instrument erkennbar wird.
In der Praxis erscheinen die Dinge natürlich weniger getrennt und begegnet auch dem Steiner-Leser beides zugleich: seine Aussagen über die notwendigen inneren Prozesse und seine „Mitteilungen“ über die geistige Welt, die im Zuge dieser Prozesse zugänglich wird. Er sagt sogar: Schon das Studium dieser Mitteilungen kann eine entwicklungsfördernde, gleichsam organbildende Kraft haben. Allerdings nur, wenn es als intensive innere Auseinandersetzung betrieben wird, nicht dagegen, wenn man die Dinge, wie er gerne sagt, nur „wie eine Sonntagnachmittagspredigt“ hinnimmt. Das wäre bloß eine Art spiritueller Konsum.
Keiner von uns. – Er hat nicht den Stallgeruch der Epoche. Sie kann in ihm weder ihren eingefleischten Materialismus wiedererkennen noch dessen Spiegelbild, einen leichtfüßigen Anti-Materialismus, eine preisgünstige Spiritualität.
Diese Fremdheit, dieses Nicht-Teilhaben erklärt wohl auch, dass die üblichen Verarbeitungsmechanismen der Epoche nicht ohne Weiteres Steiners Anschauungen tragen und transportieren. Diese müssen sich auf andere Weise durchsetzen.
Steiner-Lektüre im psychologischen Zeitalter.