Zur ambivalenten Beziehungsdynamik von Sucht - Harms Waldmann - E-Book

Zur ambivalenten Beziehungsdynamik von Sucht E-Book

Harms Waldmann

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  • Herausgeber: GRIN Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2002
Beschreibung

Diplomarbeit aus dem Jahr 1997 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,0, Alice-Salomon Hochschule Berlin (FB Sozialarbeit / Sozialpädagogik), Veranstaltung: Projektseminar: »Gesellschaft und Abhängigkeitserkrankungen« im Schwerpunktbereich I, Sprache: Deutsch, Abstract: Das Menschen-gesellschaftliche Leben erfordert zum einen definitiv die Beziehungsaufnahme, zum anderen bleibt die geheime Sehnsucht nach der unerfahrbaren, einer bisher nicht dagewesenen, also in diesem Sinne nicht abhängigen und ungekannten Existenz des Einzelnen. Diese Sehnsucht drückt sich heute in vielfältigen Formen gesuchter oder erlebter Grenzerfahrungen über kulturelle, soziale und mentale Unterschiede hinaus aus. - Die Erfahrung als solche ist eine individuelle, denn sie wird jeweils allein gemacht; deshalb hat sie isolierenden Charakter und stellt keine solide Grundlage für ein über die Erlebnisgrenze des Einzelnen hinausreichendes Beziehungsangebot dar. Im menschlichen Erleben der heutigen Zeit entsteht zunehmend eine Dynamik, die sich zwischen Individualerlebnis und Beziehungskonstrukt bewegt, wobei letzteres eben die Hinwendung zum Anderen, zum Fremden, zum Nicht-Eigenen unbedingt erfordert und damit in völligem Gegensatz zum Individualerlebnis steht. Das Individualerlebnis erfährt nun im Zuge zunehmender Isolations- und Vereinzelungserscheinungen in der Gesellschaft eine symbolische Verstärkung. Die oben benannten Vorgänge, Beobachtungen und Erfahrungen werden in den einzelnen Kapiteln literarisch bearbeitet um dem gewählten Arbeitstitel „Zur ambivalenten Beziehungsdynamik von Sucht“ gerecht zu werden. Ziel ist es, die Sichtweise des Begriffs der Sucht abzuwandeln und vielleicht eine neue Dimension für ihr Verständnis zu eröffnen. Das von der Sucht beeinflusste menschliche Beziehungsgeschehen wird eingehend untersucht, und die Bedeutung des Themas Sucht in seiner gesamtgesellschaftlichen Dimension dargestellt. Den Begriff der Ambivalenz wird sowohl im psychologischen Sinne für »einander entgegen gesetzte Gefühle«, als auch im Sinne von »Doppelwertigkeit« und »Zwiespältigkeit« verwendet. Ein Hauptaugenmerk soll dabei auf die im Suchtgeschehen etablierten Widersprüche gerichtet werden, die letztlich den Zwiespalt im Beziehungsgeschehen des Menschen ausmachen.

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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zur Konstitution von Beziehung
2.1. Darstellung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses
2.2. Das Eltern-Kind-Verhältnis und seine Bedeutung für die
2.3. Das Mensch-Welt-Verhältnis als Sozialisationsleistung
2.4. Lust und Unlust als Antagonismus
3. Zur Pathogenese von Sucht
3.1. Zur Definition von Sucht
3.1.1. Etymologischer und philosophischer Ansatz
3.1.2. Psychologischer Ansatz (nach S.Scheerer)
3.1.2.1 Der Ansatz der Objektbeziehungs-Theorie
3.1.3. Ableitung und Folgerung
3.2. Sucht und der Krankheitsbegriff
3.2.1. Sucht als abweichendes Verhalten
4. Der Süchtige als Objekt
4.1. Rauscherleben als Abtrennung der Wirklichkeit?
4.1.1. Subjektivität des Rauscherlebens
4.2. Sehn-Sucht
4.3. Droge und Ritual
5. Die süchtige Beziehungsgestaltung
5.1. Objektfixierung und Isolation
5.2. Symbiose
5.3. Co-Abhängigkeit
6. Narzißmus als Form moderner Selbst-Sucht
7. Drogen, Sucht und Tabu
9. Zur Therapierbarkeit von Sucht
9.1. Sucht-Hilfe im Sucht-System
9.1.1. Sucht-Hilfe als Form der Hilfs-Sucht
9.2. Soziale Arbeit als Entwicklungshemmung
9.3. Eine produktive Hilfe-Konzeption
9.3.1. Abgewandeltes Klärungsmodell für Veränderungsprozesse
9.3.2. Mögliche Lern- und Handlungsalternativen
10. Schlusswort - Ausblick

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Vorwort

Die Sucht, sie hilft dem Menschen, während sie ihn zerstört.

Durch obenstehenden Gedanken, der meine Überlegungen zum Thema Sucht, bzw. Abhängigkeitserkrankungen während der Studienzeit und vorausgegangener, eigener Beobachtungen und Erfahrungen am genausten traf, setzte sich in mir der Gedanke fest, daß zwischenmenschliche Verhältnisse uns und unsere Lebensgestaltung vom ersten Tag des Lebens an bestimmen und das prägen, was wir »soziales Leben« nennen. Wir denken, nahezu alle Lebensereignisse in einer sozialen Organisation seien vom Verhalten Anderer direkt oder indirekt abhängig, bzw. beeinflußt, sind uns aber selten der Tatsache bewußt, daß wir auf der Grundlage einer vernünftigen Reflexion in jeder erdenklichen Lage zahlreiche Einflußmöglichkeiten auf offene soziale Systeme haben.

Menschen unserer Kultur gestalten ihr Leben einerseits als Individuen: sie sind insofern frei, als sie sich selbstbestimmt wähnen, und sie sind doch gebunden, weil ihre Entscheidungen und ihr Verhalten andere Menschen in einem sozialen System beeinflussen. (Eine Freiheit in der Unfreiheit.) Der Mensch richtet seine Gruppen- oder Gesellschaftszugehörigkeit dessenungeachtet zusätzlich immer auf etwas, was sich weder in der Masse »Mensch« als Gesellschaftskonstrukt finden läßt, noch in den vielfältigen Arten und Formen von Beziehungen, die ein Individuum im Laufe seines Lebens erfährt, die es steuert und balanciert, die es regulieren und lenken muß. Er lenkt seine ihm innere Aufmerksamkeit, die Wahrnehmung des »dritten Auges«,bewußt oder unbewußt - auf etwas das er ahnen kann, jedoch sehr selten erfährtetwas das er möglicherweise nicht einmal aktiv oder bewußt sucht. Diese, manchmal gelebte, häufiger jedoch phantasierte Innenwelt genügt, im Menschen das latente Empfinden einer übergeordneten Nicht-Erfahrbarkeit, eine diffuse Unzulänglichkeit zu produzieren. Eine zerstreute innere Bewegtheit also, welche die subtile Form einer »Beschränkung«, eben die menschliche Unvollkommenheit ausdrückt.

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Die persönlichen Erfahrungen, die ich im Laufe des bisherigen Lebens in den zahlreichen Beziehungen zu anderen Menschen gemacht habe, und die mir manchmal Schmerzen (es waren meine eigenen!) bereitet, mich dadurch aber auch willensstärker und jeweils bedachter gemacht haben, sind in dieser Arbeit genauso ausschlaggebend wie all jene Beobachtungen, die mich nicht unmittelbar betreffen, sondern als Verwicklungsprozesse in unserer Gesellschaft ablaufen.

Ich möchte denjenigen Menschen danken, die mich durch ihre Art der Lebensführung auf existentielle Unterschiede in der Lebensbetrachtung aufmerksam gemacht haben, sowie denen, die mich während der Entstehung dieser Arbeit inspiriert und unterstützt haben.

Berlin, im September 1997 Harms Waldmann

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1. Einleitung

Das Menschen-gesellschaftliche Leben erfordert zum einen definitiv die Beziehungsaufnahme, zum anderen bleibt immer eine geheime Sehnsucht nach der unerfahrbaren, einer bisher nicht dagewesenen, also in diesem Sinne nicht abhängigen, ungekannten Existenz des Einzelnen.

Diese Sehnsucht drückt sich heute in vielfältigen Formen gesuchter oder erlebter Grenzerfahrungen über kulturelle, soziale und mentale Unterschiede hinaus aus. Die Erfahrung als solche ist eine individuelle, denn sie wird jeweils allein gemacht; deshalb hat sie isolierenden Charakter und stellt keine solide Grundlage für ein über die Erlebnisgrenze des Einzelnen hinausreichendes Beziehungsangebot dar. Im menschlichen Erleben der heutigen Zeit entsteht zunehmend eine Dynamik, die sich zwischen Individualerlebnis und Beziehungskonstrukt bewegt, wobei letzteres eben die Hinwendung zum Anderen, zum Fremden, zum Nicht-Eigenen unbedingt erfordert und damit in völligem Gegensatz zum Individualerlebnis steht. Das Individualerlebnis selbst erfährt im Zuge zunehmender Isolations- und Vereinzelungserscheinungen in der Gesellschaft eine symbolische Verstärkung.

Die oben benannten Vorgänge, Beobachtungen und Erfahrungen werde ich in den folgenden Punkten literarisch bearbeiten und damit versuchen, dem von mir gewählten Arbeitstitel "Zur ambivalenten Beziehungsdynamik von Sucht" gerecht zu werden, als auch die Komplexität und Vielfalt, die dieser Titel einfordert, überschaubar zu halten. Mein Ziel ist es dabei, die Sichtweise des Begriffs der Sucht abzuwandeln und vielleicht eine neue Dimension für ihr Verständnis zu eröffnen. Vor allem möchte ich das von der Sucht beeinflußte menschliche Beziehungsgeschehen beleuchten, und die Bedeutung der Sucht in ihrer gesamtgesellschaftlichen Dimension darstellen. So, wie ich die Autoren wissenschaftlicher Texte in dieser Arbeit zur Argumentationsführung zitiere, so füge ich an den dafür geeigneten Stellen z.T. längere Zitate des Autors Jean Baudrillard (1992: "Transparenz des Bösen - Ein Essay über extreme Phänomene") und zu Beginn des Kapitels 2.3. ein Zitat von Robert Anton

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Wilson (1987: "Der neue Prometheus - Die Evolution unserer Intelligenz") ein. Die Zitate sind jeweils durchKursivschriftkenntlich gemacht. Ich verwende die treffenden und inspirierenden Beiträge oben genannter Autoren, um den Leser anzuregen und ihn zwischendurch in eine Sichtweise und Gedankenführung einzustimmen, die ich in ihrer Prägnanz und Klarheit als äußerst inspirierend empfinde. Die Zitate stehen dabei im Folgenden nicht ausschließlich in direktem Zusammenhang zum jeweiligen Text, sondern sind eben als kontextueller Stimulus für den Leser gedacht. - Sogleich an dieser Stelle, passend zu der von mir erwähnten Freiheit in der Unfreiheit:"(...) Wie es besser ist von einem anderen kontrolliert zu werden, so ist

es immer besser, glücklich oder unglücklich durch einen anderen als sich

selbst zu werden. Es ist immer besser, in unserem Leben von etwas

abzuhängen, das nicht von uns abhängt. Diese Hypothese befreit mich

von jeder Versklavung. Ich muß mich nicht einer Sache unterwerfen, die

nicht von mir abhängt, einschließlich meiner eigenen Existenz. Ich bin

frei, was meine Geburt betrifft, ich bin frei, was meinen Tod betrifft, in

dem selben Sinn. Es gab nur immer dies als wirkliche Freiheit. Sie

gebiert jedes Spiel, jeden Einsatz, jede Leidenschaft, jede Verführung:

das was uns komplementär fremd ist und dennoch Gewalt über uns hat.

Was anders ist und wir verführen müssen"(Baudrillard, S.36) In diesem Auszug aus Jean Baudrillards Essay wird deutlich, wie sehr die Wechselwirkungen zwischen dem Einzelwesen und seiner Lebenswirklichkeit einen Hang zur Nicht-Verantwortung, und zur Auflösung jeglicher Bezugnahme erzeugen können. Das was wir nicht beeinflussen können, müssen wir auf der Strecke des Lebens »verführen«; darin besteht ein Teil unserer Herausforderung ... Zum Aufbau der Arbeit: Zu Beginn des Textes stelle ich jedwede Art von menschlicher Beziehung, ob zu anderen Individuen oder zur Welt, als Spannungsfeld dar, wende mich dann kritisch dem Krankheitsbegriff der Sucht zu und erläutere das individuelle Erleben eines sogenannten süchtigen Menschen.

Im mittleren Teil erfolgt eine Darstellung der Organisation, als »süchtig« zu bezeichnender Beziehungsformen, sowie deren Aufbau, Funktionslogiken und mögliche Verläufe. Anschließend kläre ich den Krankheits-, Narzissmus- und Tabubegriff, als quasi tateinheitliches Mißverständnis zu den Irrtümern öffentlicher Begriffswillkür. Im abschließenden Teil untersuche ich dann die Sucht als symptomatischen Bestandteil eines süchtig organisierten Lebens-Systems, sowie mögliche, daraus hervorgehende

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Heilungsansätze. Eine damit verbundene sozialarbeiterische Suchthilfe wird kritisch und unter den Aspekt der Systemimmanenz betrachtet. Zum Abschluß der Arbeit entwerfe ich ein Modell für potentielle Veränderungsmöglichkeiten und gebe Hinweise auf mögliche Lern- und Handlungsalternativen in offenen sozialen Systemen. Den Begriff der Ambivalenz verwende ich sowohl im psychologischen Sinne für »einander entgegengesetzte Gefühle«, als auch im Sinne von »Doppelwertigkeit« und »Zwiespältigkeit«. Ein Hauptaugenmerk soll dabei auf die im Suchtgeschehen etablierten Widersprüche gerichtet werden, die letztlich den Zwiespalt im Beziehungsgeschehen des Menschen ausmachen.

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2. Zur Konstitution von Beziehung

"Alles was ist, ist Beziehung. Das ist die kritische Entdeckung Platons"

(Luthe, 1993: 34).

Mit dieser philosophischen, sehr allgemeinen und dennoch umfassenden Aussage kann die universale Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft am treffendsten umschrieben werden. So wie unsere eigene Konstitution zum Teil bei anderen liegt, so sind wir notwendigerweise an der Konstitution anderer beteiligt. Dabei sind ihrer und unserer Freiheit jene Grenzen gesetzt, die der wechselseitige Charakter der Beziehungen mit sich bringt.

Die Erlebnisinhalte eines Individuums sind "psychodynamisch eigentlich nur im Bezugsrahmen eines Spannungsfeldes" (Bauriedl, 1989: 30 f.) zu beschreiben. Dabei sind "alle Erlebnisinhalte durch Gegensätze bestimmt", und ist "jede Erlebnisqualität (..) Ergebnis einer Selektion aus unendlich vielen Antithesen, die durch ihr gleichzeitiges Angesprochensein dem aktuellen Erlebnisinhalt seine spezifische subjektive Bedeutung verleihen" (ebd.).