Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Kunst- und Kulturhistoriker Martin Warnke – geboren und aufgewachsen in Brasilien – gehörte zu den intellektuell prägenden Figuren der späteren Bundesrepublik. Als Aufklärer pochte er im Namen des Individuums auf die Autonomie der Kunst und las Karl Marx gegen den Strich; mit Meistern wie Rubens, Lucas Cranach, Velázquez oder Goya spürte er künstlerischen Taktiken im Umgang mit einer heiklen Wirklichkeit nach. Matthias Bormuth porträtiert Martin Warnke entlang seines einflussreichen Werks, aber auch anhand von persönlichen Briefen und Notizen. Und wie sich zeigt, lebt auch der Wissenschaftler von der Kunst des Verhüllens, die – wie im Gemälde – herausfordert, implizite Botschaften zu erkennen. »Martin Warnke war ein ungeheuer empfindsamer Mensch, der selbst in jenem ›Denkraum der Besonnenheit‹ lebte, den Aby M. Warburg als Bedingung aller Kultur bestimmt hatte.« Horst Bredekamp, Süddeutsche Zeitung
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 257
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Matthias Bormuth
Martin Warnkein seiner Zeit
Für Freya Warnke
Der Geist ist ein Wühler —Prolog
Dois Irmãos —Eine brasilianische Kindheit
Die große Reise —Buenos Aires – Rio de Janeiro – Jena
Darmstädter Gespräche —Utopisches Denken
Verlust der Mitte —München als Gewinn
Freie Universität Berlin —Die Kunst der Kritik
Leidenschaft und Verhüllung —Rubens in Spanien
Frankfurter Zeitzeugenschaft —Der anonyme Beobachter
Burckhardt und Marx —Kunstgeschichte nach Köln
Marburg als geistige Lebensform —Bildersturm und Überbau
Zur Situation der Couchecke —Eine Zwischenbetrachtung
Hamburger Anfänge —Aby Warburg und Goya
Wort und Bild —Cranachs Luther
Von Giotto bis Dalí —Hofkünstler
Ikonographie im Exil —Das Warburg-Haus
Von der Freundschaft —Epilog
Editorisches und Dank
Anmerkungen
Über den Autor
Als Martin Warnke im Jahr 2014 seine Berichte zu den Frankfurter Auschwitz-Prozessen erstmals gesammelt veröffentlichte, war das Publikum erstaunt.1 Diejenigen, die den Kultur- und Kunsthistoriker kannten, hatten nicht geahnt, dass er Mitte der 1960er diese Artikel für die Stuttgarter Zeitung geschrieben hatte; und wer von Martin Warnke wenig wusste, konnte in einem den Band ergänzenden Gespräch mit Barbara Welzel und Pablo Schneider seine intellektuelle Biographie in Umrissen nachlesen. Meine Neugierde war geweckt. Ich lud ihn zu einer Veranstaltung ins Oldenburger Karl-Jaspers-Haus ein, bei der Martin Warnke Rede und Antwort stand und mir die Chance eröffnete, Genaueres über seine Vorstellung einer Kritischen Kunstgeschichte zu erfahren. Dem schloss sich bald eine Einladung seitens Warnkes zu sich nach Hamburg an, wo er bis zu seiner Emeritierung 2003 am Kunsthistorischen Institut gelehrt und das Warburg-Haus geleitet hatte. Eine private Notiz vom 18. August 2015 hielt meine Eindrücke fest: »Ein historischer Tag, zu Besuch bei Martin Warnke, der mir das Warburg-Haus zeigte und mich nach Hause zum Kaffee einlud. Später sahen wir noch das Archiv der DDR-Kunst, das er für das Kunsthistorische Institut der Universität Hamburg mit den Geldern des Leibniz-Preises erstanden hatte. Am 12. Oktober wird er 78 Jahre alt, sein Arzt teilte ihm vor einiger Zeit mit, er habe […] nur mehr eine Lebensspanne bis zum 80. Geburtstag.«2 Wir blieben seitdem in Kontakt, bis Warnke am 11. Dezember 2019 starb. An jenem Tag schrieb mir Horst Bredekamp, sein engster Schüler und Freund: »Mit Warnke ist heute eine Epoche zu Ende gegangen.«3
Die Bücher und Essays Martin Warnkes begann ich erst zu lesen, als wir persönlich ins Gespräch kamen. Zentral waren das berühmte Hauptwerk Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers4 sowie die frühen Kommentare zu Rubens,5 die sein andauerndes Erkenntnisinteresse an der Kunst der Verhüllung begründeten. Die späteren Studien zu Rubens und Velázquez, die jeweils dem Leben und Werk galten, faszinierten mich in ihrer eleganten Schreibart. Seine kleineren Essays ließen zudem in den ironischen Pointen erkennen, wie sehr es Martin Warnke auf eine kulturphilosophisch grundierte Nachdenklichkeit ankam. Dass diese großartigen Texte, die verstreut über vier Jahrzehnte in großen Tages- und Wochenzeitungen erschienen waren, verdienten, in gesammelter Form ein neues Publikum zu finden, war offensichtlich. Und so brachten wir drei Auswahlbände auf den Weg, die mit autobiographischen Texten und Gesprächen zum intellektuellen Werdegang angereichert waren.6
Der vorliegende Band versucht, den Dialog mit Martin Warnke über seine Werke und Essays fortzuführen. Auch der Nachlass, der heute in rund vierzig Bänden im Deutschen Literaturarchiv Marbach betreut wird, konnte mit kleinen Texten, besonders zu den frühen Jahren, genutzt werden. Warnkes gedankliche und stilistische Brillanz legt es nahe, ihn dabei so oft als möglich selbst zu Wort kommen zu lassen. Man kann in seinen Texten einen sokratischen Denker kennenlernen, der geläufige Meinungen skeptisch bedenkt, so dass zuletzt im besten Sinne mehr Fragen bleiben als Antworten. Ein fachgeschichtlicher Zugang würde sicherlich manche Akzente anders setzen und den Politischen Ikonographen stärker ins Licht rücken.7 Wie auch immer man Martin Warnke sehen mag: Alle, die ihn kannten, waren gleichermaßen fasziniert von der Aura seiner Persönlichkeit, vielleicht in ähnlicher Weise, wie dies einmal John Steinbeck in seinem Porträt eines befreundeten Biologen sagte, der ihm menschlich, wissenschaftlich und philosophisch nahestand: »Ich bin überzeugt, dass viele Menschen bei der Lektüre dieses Berichts sagen: ›Mensch, das stimmt doch nicht. So war es gar nicht. Er war soundso‹, um dann einen Menschen zu beschreiben, der dem Verfasser dieser Zeilen vollkommen fremd ist. Aber niemand der Ed Ricketts kannte, wird seine Ausstrahlung und seine Wirkung bestreiten.«8
Vor rund drei Jahrzehnten machte mich der Kunsthistoriker und Journalist Volker Breidecker mit seinem Essay »Einige Fragmente einer intellektuellen Kollektivbiographie der kulturwissenschaftlichen Emigration« bekannt, einem Porträt Erwin Panofskys im amerikanischen Exil.9 Damals nahm ich in der Vielfalt der Namen, die in diesem Porträt zur Sprache kamen, jenen Martin Warnkes nicht genauer wahr. Dabei hatte er selbst schon 1976 in der Zeit an den in Deutschland vergessenen ersten kunsthistorischen Ordinarius in Hamburg erinnert: »Mit Erwin Panofsky war 1933 auch die Elite der deutschen Kunstwissenschaft ins Ausland vertrieben worden, und dieser Exodus hat das Fach moralisch und wissenschaftlich so geschwächt, daß es nach 1945 nicht einmal mehr die Kraft aufbrachte, dem deutschen Publikum wenigstens die Veröffentlichungen oder methodischen Positionen der vertriebenen Kollegen nahezubringen.«10 Zugleich erinnerte Warnke in diesem Artikel an Aby Warburg als Spiritus rector des kulturwissenschaftlichen Denkens in Hamburg – zu einer Zeit, als kaum jemand dessen Namen noch kannte und das Warburg-Haus, das ehemals seine Forschungsbibliothek enthalten hatte, einer Werbefirma gehörte. Emphatisch bedachte Warnke das aufklärerische Interesse des deutsch-jüdischen Privatgelehrten, Fakten stets mit Blick auf Lebensfragen zu erkunden: »Ein vereinfachendes Urteil unterstellt dem Warburg-Kreis ein naives, positivistisches Interesse an dem Nachleben der Antike. Für Warburg jedoch war die antike Kunst das Arsenal, aus dem sich die Menschheit immer dann Formulierungshilfen suchte, wenn das ›soziale Gedächtnis‹ uralte Traumata, Angst-, Ekstase- oder Glückszustände wiederaufleben ließ.«11
Ernst H. Gombrich, der später die Geschicke der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg im Londoner Exil lenkte, hat mit Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie entlang von Briefen, Tagebucheinträgen und Notizen wichtige Aufschlüsse über die innere Dynamik dieser kunsthistorischen Gründergestalt vermittelt. Die Ausrichtung seiner Studie, die einen stärker fachlichen Blick einnimmt, gilt leicht modifiziert auch für die vorliegende Annäherung an Martin Warnke: »Dieses Buch verfolgt zwei Absichten. Es will den Leser mit den Ideen und der Persönlichkeit eines Gelehrten bekannt machen, der auf die Entwicklung der Kunstgeschichte einen bedeutenden Einfluß ausgeübt hat – durch seine […] Veröffentlichungen, durch das Institut, das [er neu begründet hat] und durch seine Schüler, zu denen einige der hervorragendsten Gelehrten auf diesem Gebiet gehören. Gleichzeitig will dieses Buch zum ersten Mal eine Übersicht über die vielen unveröffentlichten Schriften, Projekte und Entwürfe vorlegen, die sich zu Warburgs Lebzeiten angesammelt haben und mit deren Hilfe die Gedanken, die seiner Forschung […] zugrunde liegen, erst völlig verständlich werden.«12
Als Geburtsstunde der Kritischen Kunstgeschichte gilt der Kölner Fachkongress 1970, auf dem Martin Warnke mit seinem streitbaren Vortrag »Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung« heftige Empörung unter den konservativen Ordinarien hervorrief. Horst Bredekamp, der später in Marburg zu einem der engsten Mitstreiter Martin Warnkes werden sollte, beschrieb für die Süddeutsche Zeitung aus zeitgemäßer Perspektive das Geschehen: »In der bewegtesten Debatte wurde [von M. Warnke] an Hand von Zitaten der Nachweis vollzogen, daß in der Kunstgeschichte faschistisches Gedankengut das gesamte 20. Jahrhundert hindurch bruchlos bis zum Jahr 1970 produziert wurde«.13
Aber Martin Warnke war nicht eindeutig einem politischen Lager zuzuordnen. Im gleichen Jahr publizierte er in der liberalen Neuen Rundschau den Essay »Jacob Burckhardt und Karl Marx«. Darin versuchte er, entgegen den progressiven Zuspitzungen der Zeit auf die liberalen Gemeinsamkeiten der späteren Antipoden aufmerksam zu machen. Während die Generation der 1968er geneigt war, sich lautstark einseitigen Fortschrittsideologemen hinzugeben, verteidigte Warnke mit Burckhardts Idee der Kunst die individuelle Nachdenklichkeit. Deren kritischer Spontaneität können die statischen Institutionen aller Art auf Dauer nicht widerstehen, wie er mit einer Passage aus den Weltgeschichtlichen Betrachtungen andeutet: »Allein der Geist ist ein Wühler und arbeitet weiter. Freilich widerstreben diese Lebensformen einer Änderung, aber der Bruch, sei es durch Revolution oder durch allmähliche Verwesung, der Sturz von Moralen oder Religionen, der vermeintliche Untergang, ja Weltuntergang kommt doch.«14 Der Baseler Kunst- und Kulturhistoriker wurde schon für den jungen Warnke zur skeptischen Leitfigur, vielleicht zuerst ob der verbindenden Loslösung von der religiösen Herkunft, verdichtet in Burckhardts Bekenntnis zum geschichtlichen Wandel: »Gewiß hat der wahre Skeptizismus seine Stellung in einer Welt, wo Anfänge und Ende unbekannt sind und die Mitte in beständiger Bewegung ist; denn die Aufbesserung von seiten der Religion bleibt hier auf sich beruhen.«15
So gehörte zum unzeitgemäßen Denken Martin Warnkes auch der produktive Widerstand gegen das theologische Erbe des Vaters, der als protestantischer Pfarrer 1936 nach Brasilien entsandt worden war und 1954 mit seiner Familie nach Deutschland zurückkehrte. Gleich Wilhelm Dilthey verfolgte er mit intellektueller Begeisterung, wie die grundlegenden Ideen des christlichen Glaubens seit der Aufklärung säkularisiert wurden und in Philosophie, Literatur und Kunst verändert fortlebten.16 Insofern erscheint es folgerichtig, dass er sich in dessen Weltanschauungslehre eine Passage doppelt rot anstrich, welche die individuelle Lebensbedeutung von Ideen unabhängig von ihrer disziplinären oder konfessionellen Provenienz hervorhebt: »Ich will beweisen, daß auch die philosophischen Systeme, so gut als die Religionen oder die Kunstwerke, eine Lebens- und Weltansicht enthalten, welche nicht im begrifflichen Denken, sondern in der Lebendigkeit der Personen, welche sie hervorbrachten, gegründet ist.«17 Die Auseinandersetzung mit den abendländischen Ideen jeglicher Herkunft bedeutete Warnke, um nochmals mit Dilthey zu sprechen, eine »Steigerung des individuellen Lebens«.18
Vielleicht hat niemand diese lebensphilosophische Perspektive schöner beschrieben als der Kulturphilosoph Erich Auerbach, der als Exilant auch Beziehungen zu Erwin Panofsky und anderen Mitgliedern des Warburg-Kreises unterhielt. Jede biographische Annäherung ist für den deutschjüdischen Romanisten ein Versuch, das begriffliche Werk mit dem praktischen Leben ins Verhältnis zu setzen: »Die jetzt häufig gestellte Forderung, man solle das Werk unabhängig von seinem Autor betrachten, ist nur insofern berechtigt, als sehr oft ein Werk ein besser integriertes, wahreres Bild von seinem Schöpfer gibt als die vielleicht zufälligen und irreführenden Informationen, die wir von seinem Leben besitzen. Eigene Erfahrung, Diskretion und eine auf Grund sehr genauer Kenntnis des Materials erworbene Großzügigkeit sind erforderlich, um Leben und Werk in die richtige Beziehung zu setzen. Jedenfalls aber ist das, was wir an einem Werk verstehen und lieben, das Dasein eines Menschen, eine Möglichkeit von uns selbst.«19
Dieses Buch will markante Stationen aus Martin Warnkes intellektuellem Leben sondieren, um derart Denken und Person bei ihm ins Verhältnis zu setzen. Die vierzehn Kapitel suchen, den Menschen inmitten seiner Zeit und Ideenwelt zu verstehen. Sie orientieren sich an seiner eigenen Einstellung. Unbezweifelbare Identitäten als Ziel des kunst- und kulturwissenschaftlichen Denkens blieben dem Kunsthistoriker immer suspekt. Warnke sah, dass abstrakte Positionsbildungen nicht selten auf politisches Kalkül oder moralistische Gesinnungen zurückgingen, ohne dass ihre konkreten Kontexte genügend beachtet würden. Dagegen verstand er sich selbst im Geiste Lessings als geschichtlichen Aufklärer, der leidenschaftlich vor der Gefahr aufgeklärter Sicherheiten warnt und der neue wie alte Orthodoxien kritisch beäugt.
Da sich heute, unter den Bedingungen der weltweiten Vernetzung, ideologisches Denken erfolgreicher denn je zu etablieren scheint, lohnt es, entgegen solch neuer Unfreiheit mit Martin Warnke an die Perspektivität und Pluralität der möglichen Wahrheiten zu erinnern. Die Kunst des Schreibens war ihm dabei ein nobles Mittel. Denn so wie Kunstwerke sich allzu eindeutigen Lesarten entziehen, wenn sie hohe Qualität besitzen, bleiben auch wissenschaftlich fundierte Schriften im besten Sinne vieldeutig, was mögliche Lesarten angeht. Ihr Verständnis setzt ein aufmerksames Publikum voraus, das nicht fixe Mitteilungen, sondern provokative Gedanken erwartet. Da Martin Warnke im historischen Spiegel genau sah, wie außergewöhnliche Positionen nicht selten von Verunglimpfung oder Verfolgung begleitet wurden, schätzte er auch für die eigenen Texte lebenslang die Kunst der Verhüllung und Vermittlung, um nicht direkt dem Urteil herrschender Meinungskartelle ausgesetzt zu sein. Vielleicht war er einer der gelehrigsten Leser von Jacob Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen, in denen es an der für ihn zentralen Stelle heißt: »Vollends aber ist die Kunst eine Verräterin, […] indem ihr eine hohe und unabhängige Eigentümlichkeit innewohnt, vermöge deren sie eigentlich mit Allem auf Erden nur temporäre Bündnisse schließt und auf Kündigung. Und diese Bündnisse sind sehr frei; denn sie läßt sich von der religiösen oder anderen Aufgabe nur anregen, bringt aber das Wesentliche aus geheimnisvollem eigenem Lebensgrunde hervor.«20
Insofern lassen Warnkes Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen Positionen immer implizite Vorbehalte erkennen, die feste Standpunkte hinterfragen und bewegliche Überlegungen anbieten. Gerade seine Essays suchen eine Leserschaft, welche die Kunst solch versteckten Schreibens schätzt. Die folgenden Exkursionen in Leben und Werk Martin Warnkes stehen daher unter dem Motto, mit dem Nietzsche seine Vorrede zur Morgenröthe schließt: »Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: […] Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden –, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes […]: – sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen … Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommene Leser und Philologen: lernt mich gut lesen! –«21
Als Martin Warnke am Kunsthistorischen Seminar in Hamburg seinen sechzigsten Geburtstag beging, eröffnete er seine Rede mit einer historischen Pointe: »Mir wäre lieber, wir feierten heute das 505. Jahr der Entdeckung Amerikas, das Kolumbus am 12. Oktober 1492 sichtete. Diese Koinzidenz hat mir als Kind meinen Geburtstag weggeblendet.«22 Schon sein Vater Kurt Warnke hatte auf diese Überschneidung hingewiesen, als er von Brasilien aus der Familie in Deutschland von der Geburt des ersten Sohnes berichtete: »Unser Martin hat gestern, d. 12. Oktober 1937 abends ½11, die im hellsten Mondschein liegende Welt begrüßt. Wenns auch ein Dienstag war, so darf das Büblein doch unter die Sonntagskinder gerechnet werden, denn wir feiern just den 437. Jahrestag der Entdeckung unseres ruhmreichen Landes.«23 Der verklärende Ton des protestantischen Pfarrers prägt auch die exotische Schilderung, mit der Martin Warnke seine Gäste erfreuen will: »Pfarrhaus in Brasilien, das heißt wiederum: Ein Haus in praller Sonne, fast fensterlos, dennoch voller Ungeziefer, alles bei brütender Hitze, und trotzdem zu hören, wie ein Bauer dem Pfarrer sagt: ›Sie habens gut, Sie können im Schatten arbeiten‹. Eine besonnte Kindheit also, ohne Hunger, ohne Krieg, ohne Bomben. Ich kann es selbst nicht einschätzen, aber von meinen Altersgenossen in Deutschland hat mich diese besonnte Kindheit immer irgendwie getrennt.«24
Allerdings sah die Realität hinter der Legende wesentlich dürftiger aus. Warnkes jüngerer Bruder Christof beschreibt den Geburtsort nüchtern: »Urwald gab es in der kleinen Siedlung Povoação Coronel Barros, dem vierten Distrikt von Ijui (damals noch ›Ijuhy‹), schon eine ganze Weile nicht mehr, obwohl die Siedlung zur sog. ›neuen Kolonie‹ gehörte und erst seit etwa 20 Jahren bestand. Aber äußerst ärmlich war es da. Die Pfarrstelle war nicht begehrt, weil zu schlecht bezahlt. Martin und ich sind im dortigen Pfarrhaus, einem schlichten Holzhaus, geboren. Ärztlichen Beistand gab es nicht. Eine Frau, Hebamme mag ich sie gar nicht nennen, Vater nennt sie in einem Brief ›Wehmutter‹, leistete Beistand, wobei die Geburt ohne Komplikation rasch überstanden war. Dass diese Geburten gut gingen, ist auch angesichts der hygienischen Umstände geradezu ein Wunder. Die späteren Kinder konnte Mutter alle gut versorgt in Krankenhäusern zur Welt bringen. Martin war drei Jahre alt, als unsre Eltern von der ›neuen Kolonie‹ in die ›alte Kolonie‹ zogen, die bereits seit etwa 100 Jahren bestand. Weder Martin noch ich haben eine eigene Erinnerung an Povoação Coronel Barros, sind auch später nicht wieder dort gewesen.«25
Herbes erfuhr das Hamburger Publikum allein hinsichtlich des sozialen Konflikts, der sich aus dem exponierten Leben der Familie innerhalb einer Minderheitenkirche ergab: »Pfarrhaus in Brasilien heißt aber auch: in einem Bekenntniszustand in der Diaspora gelebt zu haben. Wie tief Konfessionen Menschen trennen können, das konnte man dort noch erleben; und ich denke immer daran, wenn ich es mit Gegenreformation oder Konfessionskriegen zu tun habe. Für den Pfarrerssohn gab es scharf tabuisierte Gegenden und Beziehungen; in der Diaspora wurde man daran gewöhnt, in den Augen anderer als Teilverkörperung des Bösen schlechthin zu gelten.«26
Aber die Familie war gerade dem kleinen Jungen ein vertrauter Hort und hinterließ im Gedächtnis Martin Warnkes tiefe Spuren, wie die »Anekdoten, Szenen, Erinnerungen aus meinem Leben« ahnen lassen, »unsystematisch mitgeteilt seit 2012«. Es sind teilweise Stimmungsbilder aus Kindheitstagen, besonders die Eltern betreffend: »Meine früheste Erinnerung: Ich und der ein oder andere der Geschwister sitzen bei der Nähmaschine auf dem Boden und Mutter erzählt, während sie näht, Märchen. Sie müssen so eindrücklich erzählt worden sein, dass ich später nie Märchen lesen konnte.«27 Dem idyllischen Bild der Mutter entspricht die archaische Erzählung vom Vater, die an biblische Geschichten denken lässt: »Irgendwie wußten wir, wann unser Vater auf dem Esel zurückkam. Dann liefen wir ihm weit entgegen, weil er uns dann, jeweils jeden eine Strecke, reiten ließ, während er zu Fuß mit lief. Eines Tages winkte er ab: ›Laßt mich sitzen.‹ Er war vom Sattel gefallen und am Rückgrat verletzt, als der Esel auf einer Brücke vor einer Bruchstelle plötzlich zurückgeschreckt war.«28 Es ist eine einfache, aber von Geschichten durchtränkte Welt, zu der neben den biblischen Geschichten und deutschen Märchen auch griechische Epen wie die Odyssee und die Ilias selbstverständlich gehörten.
Die »Anekdoten, Szenen, Erinnerungen« rufen auch die Anfänge des kleinen Fleckens Dois Irmãos ins Gedächtnis – jener »neuen Kolonie«, die Einwanderer aus dem Hunsrück im 19. Jahrhundert gegründet hatten und in welche die Familie umgesiedelt war. Mit dem distanzierten Habitus des Wissenschaftlers notiert Martin Warnke: »Kulturgeschichtlich interessant: Die ersten deutschen Siedler nannten den von ihnen begründeten Ort ›Baumschneis‹, d. h. der Baum war ihr nächster Sozialpartner. Als die Bäume gefällt und verbrannt waren, lichtete und weitete sich ihr Blick – auf die zwei Berge, und sie nannten ihren Ort Dois Irmãos (zwei Brüder).«29 Es war eine abgelegene Region im Süden Brasiliens, in welchen die deutschen Aussiedler eine neue Heimat gefunden hatten und mit einfachen Mitteln das Land zu kultivieren suchten. In dieser primitiven Welt ließen phantastische Berichte in der Volksschule eine Zivilisation erahnen, die der Junge so nicht kannte: »Der Lehrer jener Schule hatte seine sieben Klassen im Griff – nicht zuletzt durch Erzählungen aus der grossen Welt: ›Stellt Euch vor, die Amerikaner haben jetzt ein Flugzeug gebaut, mit dem sie 100 Personen transportieren.‹ (so um 1946)«.30
Daran, dass der eigene Name schon moralisch mit einer besonderen Bedeutung verknüpft war, erinnert mit spielerischem Ernst eine Szene aus der späteren Kindheit: »Ich hatte in der Volksschule in Dois Irmãos einen Nachbarn, der auch Martin hiess. Deshalb erklang während des Fußballspiels in den Pausen oft der Name ›Martin‹. Eines Tages hatte der Fabrikant zur Reparatur seines Autos einen ›reichsdeutschen‹ Automechaniker bestellt, der sich am Rande unseres Spielplatzes unter dem Auto zu schaffen machte. Plötzlich kriecht er heraus, lässt sich sagen, wer die ›Martins‹ seien, – sie sollten mal zu ihm kommen. Wir Knirpse stellten uns vor ihm auf, liessen uns sagen: ›Ich heisse auch Martin und bin immer anständig gewesen. Ich sage Euch, und fordere Euch auf, es jedem Martin, dem ihr je begegnet, zu sagen: Martin, bleib anständig.‹ Ich habe den Auftrag in meinem ganzen Leben erfüllt, wo immer ich einem ›Martin‹ begegnete. […] Ob ich wirklich anständig blieb, weiß ich nicht.«31
Mit dem eigenen Vornamen verband sich aber vor allem ein religiöser Horizont, wie die Worte zeigen, mit denen er zum 500. Geburtstag Martin Luthers 1983 eine Hamburger Vorlesung eröffnete: »Ich heisse Martin. – Das spricht in dem Pfarrhaus, in dem ich aufwuchs, für sich selbst. Mein nächster Bruder hiess Christoph [sic], er war also ein ›Christus-Träger.‹ Die übrigen Brüder haben allesamt Apostelnamen: Thomas, die Zwillinge Peter und Andreas, und Matthias. […] Martin war aus lutherischer Sicht auch ein Apostelname: Luther wird im 16. Jahrhundert gerne in eine Reihe mit den Aposteln gestellt.«32 Gerade den ältesten Sohn sollte die protestantische Erziehung zum religiösen Sendboten vorbereiten: »Bis zu meinem 15. Lebensjahr etwa habe ich nie anderes denken können, als dem Anspruch des Vornamens gerecht zu werden. Darauf war der ganze Alltag angelegt gewesen: Frühmorgens vor dem Frühstück 2–4 Strophen eines Kirchenliedes, danach Andacht des Vaters, dann nochmals Strophen. Zum Mittagstisch nur ein Tischgebet: ›Gib, dass Dein wundersame Speise den Geist erheb – zum Himmel weise.‹ Vor dem Abendbrot und nochmals beim Einschlafen Gebete. Sonntagfrüh: ›Christ ist erstanden, von der Marter alle.‹ Montags immer: ›Ein feste Burg ist unser Gott.‹ Dazwischen punkt 18.00 Uhr Glockenläuten, das gleiche bei Beerdigungen, Hochzeiten, Gottesdiensten sonntags. Zum Gottesdienst usw. den Blasebalg für die Orgel stemmen, die der Lehrer mit strengen Anweisungen spielte. – Über all diesen Umständen nie eine Zeile Karl May gelesen, oder gar ein Comicheft. Alles lief geradewegs hinaus auf ein Internat mit vortheologischem Curriculum.«33
So war es ein gewaltiger Schritt, als der Junge mit zehn Jahren – wie seine ältere Schwester zuvor – auf das kirchliche Internat in der nächstgelegenen Stadt geschickt wurde, das vor allem die für den Pfarrberuf relevanten alten Sprachen lehrte. Monatelang lebten die beiden – und bald auch der nächstjüngere Bruder – fern der Eltern und kleineren Geschwister. Eine entbehrungsreiche Zeit, deren Härte Warnke im selbstironischen Erzählton allerdings kaschiert: »Als ich ins ›Proseminar‹, in eine höhere Schule in São Leopoldo, die Theologen heranziehen sollte, kam, war Bettina schon ein Jahr dort. Ihre Erscheinung bewirkte, dass ich und ein Jahr später Christof, von älteren Schülern durchaus mit interessierter Aufmerksamkeit bedacht wurden. Zunächst hiess ich ›Bettino‹. Als dann Christof kam, ich ›Bettino Primeiro‹ und Christof ›Bettino Segundo‹.«34 Anders als ihre Mitschüler hatten die Warnke-Kinder zumindest das Privileg, ihren Vater im Internat einmal wöchentlich zu sehen: »Auch dass Vater bei den Theologiestudenten jeden Mittwoch Homiletik lehrte und mit uns um den großen Sportplatz einige Runden drehte, verschaffte uns bei Lehrern und Mitschülern durchaus eine gewisse Nachsicht.«35 Ob der Junge diese benötigte, ist unklar, auch wenn er als Schüler noch nicht hervorstach, wie der Bruder erinnert: »In der brasilianischen Grundschule und anschließend im weiterführenden sogenannten Proseminar (Instituto Pré Teológico der Lutherischen Synode in São Leopoldo) […] fiel Martin nicht besonders auf. Seine Versetzung war immer sicher, aber nie brillant. Martins intellektuelle Erweckung geschah sicher auf dem Darmstädter Gymnasium.«36
Das Leben im Kreis der Familie während der Ferien, fern der städtischen Zivilisation, brachte auch ein tragisches Ereignis mit sich, als sich sein zehnjähriger Bruder Thomas 1952 mit Tetanus infizierte und daran starb. Ein Brief an einen Freund ist aus jener Zeit erhalten, den Martin Warnke auf Portugiesisch am Tag vor dem Tod seines Bruders schrieb: »Am Sonntag, als er einen Ball aus dem Gebüsch holen wollte, hat sich ein Stumpf ins Bein gebohrt, worüber er sich keine großen Sorgen machte, denn er hatte keine Schmerzen. Aber am nächsten Tag hatte es sich so sehr entzündet und tat es sehr weh, dass wir ihn zum Hospital bringen mussten, um das Bein zu operieren.« Doch alles war vergeblich: »Der Zustand meines Brüderchens ist wirklich traurig, aber es ist ein Wunder, wie er alles mit größter Ruhe und mit wenig Klagen aushält. / Aber jetzt genug davon. […] Es grüßt und umarmt Dich der ›Mann mit Pech‹, den sie Martin nennen.«37
Vielleicht entschloss sich die Familie auch aufgrund dieses Unglücks, so bald als möglich nach Deutschland zurückzukehren. Aber entscheidend war, dass Martin mit sechzehn Jahren zum brasilianischen Militär hätte eingezogen werden können, so dass er schon einige Monate vor der Familie im September 1953 alleine auf die große Reise geschickt wurde. Der Vater erhielt im Laufe des Jahres 1954 im südlichen Hessen eine Pfarrstelle. Zu jener Zeit galt es noch als ausgemacht, dass der älteste Sohn später in diese Fußstapfen treten sollte: »Ich war von vornherein für die Theologie bestimmt, wenn es nach meinem Vater gegangen wäre und lange nach meinen subjektiven Erwartungen. Ich kannte nichts anderes als Kirche in Brasilien. Mein Vater hat sich sehr um meine Bildung gekümmert. […] Diese Perspektive ist erst in Darmstadt ganz zu Grunde gegangen«.38
Tatsächlich zeigte sich damals bei Martin Warnke erstmals die Leidenschaft für Kunstgeschichte, wenngleich noch verknüpft mit einem religiösen Gegenstand. Eine kirchengeschichtliche Erinnerungsarbeit erlaubte es ihm, die familiäre Pietät zu wahren und sich zugleich im kritischen Denken zu üben: »Als mein Vater Pfarrer einer Dorfgemeinschaft im nördlichen Ried wurde, in Trebur, befand sich in der Kirche eine Lutherstatue, gegenüber einer Christusstatue. Ich, damals Obersekundaner, durchwühlte das Gemeindearchiv. Die Untersuchungen zur Lutherfigur waren mein erster wissenschaftlicher Aufsatz – erschienen im Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung.«39
Aber der Kompromiss war ein vorläufiger: »Die Entscheidung, nicht Theologie, worauf alles angelegt war, sondern Kunstgeschichte zu studieren, war eine Bewegung aus dem Pfarrhaus heraus.«40 Nicht zufällig wurden ihm im Studium mit Gotthold Ephraim Lessing und Jacob Burckhardt zwei Pfarrerssöhne, die sich nach theologischen Anfängen ebenfalls kunstgeschichtlichen Studien zugewandt hatten, zu zentralen Figuren. Ihre Werke übten vielfach Kritik an religiösen Traditionen, aber lebten auch von säkularen Wendungen ursprünglich religiöser Gewissenhaftigkeit und Denkmotive. Friedrich Nietzsche hat diesen intellektuellen Typus später weiter zugespitzt, und es verwundert nicht, dass sich in der Bibliothek des Vaters, die in den Besitz des Sohnes überging, eine Auswahl von Nietzsches Briefen fand. Dem Band ist aus Warnkes Geburtsjahr 1937 in der Handschrift des Vaters auf dem Vorsatzblatt ein Satz aus dem Zarathustra, leicht variiert, als Motto vorangestellt: »… dem Frömmsten aller derer, die nicht an Gott glauben …«.41 Die Frage Nietzsches, wie der große Verlust aller religiösen und moralischen Gewissheiten nach der Aufklärung ausgeglichen werden könnte, trieb Kurt und Martin Warnke gleichermaßen um, nur dass der Sohn seine Skepsis radikaler lebte und sich wie seine Vorbilder leidenschaftlich der Kunst zuwandte.
Dennoch blieb der junge Religionskritiker dem väterlichen Erbe durchaus verbunden. Denn beide verband die Neigung zum kritischen Wort, das seit der Aufklärung aus protestantischen Pfarrhäusern so oft Dichter und Denker hervorgebracht hatte. So notierte Gottfried Benn – auch er Sohn eines protestantischen Pastors – im Essay »Das deutsche Pfarrhaus«: »Es entstand dort jener Typ des Denkers, der zugleich Dichter oder des Dichters, der zugleich Philosoph und Gelehrter ist. Diese eine Kombination, die für Deutschland nahezu spezifisch ist, in den anderen europäischen Ländern kommt diese Prägung so rein nicht vor. Will man Namen hören, so höre man Nietzsche, Schelling, Lessing, Wieland, Gebrüder Schlegel, Jean Paul, aber auch Hölderlin, Schiller und Uhland gehören hierher.«42
Diese Säkularisierung ursprünglich religiöser Motive zeigt sich bei Martin Warnke besonders in der Rede, die er 2001 zur Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hielt. Mit Blick auf seine Herkunft zeigt er sich doppelt erstaunt: »Wenn man in Brasilien geboren, dort aufgewachsen und bis zum sechzehnten Lebensjahr in die Schule gegangen ist, wenn man sich deshalb ein Leben lang der luso- und iberoamerikanischen Kultur verbunden gefühlt hat –, dann fragt man sich, ob man in einer Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mehr als eine Gastrolle übernehmen kann. Wenn man in einem Pfarrhaushalt aufgewachsen ist, in dem allein das Wort galt, dann nähert man sich schon zuversichtlicher dieser Einrichtung, die gehalten ist, das Wort zu hüten.«43 Die religiöse Welt seiner Kindheit fordere dazu heraus, den Beruf des Kunsthistorikers mit Sinn zu füllen: »Wir haben gelernt und gelehrt, Bilder, zumal die künstlerisch gestalteten, seien symbolische Spiegel, in denen in irgendeiner Form sich die jeweilige historische Wirklichkeit, die geistige oder seelische Befindlichkeit in der jeweiligen Zeit zum Ausdruck gebracht hätten. Nun erleben wir aber mehr und mehr, daß sich dieses Verhältnis umkehrt; die passive oder aufnehmende Qualität der Bilder verwandelt sich in aktive, eingreifende Energie: Die Menschen leben und weben immer mehr nach Bildern. Wenn wir nicht blinde Nachahmer der Bilder werden wollen, brauchen wir das distanzierende, kritische, beschreibende Wort.«44
Die Fähigkeit, Kunst in der säkularisierten Moderne kritisch zu beurteilen, bewunderte Martin Warnke zuerst bei dem Kunsthistoriker Hans Sedlmayr. Dessen Buch Verlust der Mitte hatte ihm sein Vater zu Weihnachten 1954 geschenkt. Kurt Warnke selbst war die Lektüre gerade zu der Zeit zum Ereignis geworden, als sein ältester Sohn allein nach Deutschland aufbrach. So findet sich im stichwortartigen Tagebuch für den 3. September 1953 ein ungewöhnlich ausführliches Notat: »H. Sedlmayr. Verlust der Mitte. Ganz ausgezeichnet. Konfirmandenunterricht fiel aus wegen Regen. Sie sehens alle, wir fühlens alle. Es ist keine Mitte in unserem Leben. Aber nun die Frage: Wie gewinnen wir sie wieder? Oder besser: Wie lässt sie sich wiedergewinnen? Die Antwort kann wohl nicht viel anders lauten als was von der Kanzel her ertönt, doch lassen wir viel zu wenig spüren, dass auch wir als Prediger an der Mittelosigkeit der Zeit teilhaben.«45
Was Kurt Warnke religiös herausfordert, als skeptischer Pfarrer eine Mitte zu verkünden, die ihm nie selbstverständlich werden sollte, erschien Gottfried Benn, der schon 1951 Hans Sedlmayrs viel diskutierte Zeitdiagnose öffentlich kritisierte, als ärgerliche Bevormundung: »Diese Mitte will Ihnen vorschreiben, was Sie dichten und denken dürfen, unter welchem Gesichtspunkt Sie dichten und denken dürfen«.46 Sedlmayr, so Benn, spreche dem modernen Menschen aus konservativen Gründen die kreative Freiheit ab: »Von Verlust der Mitte ist gar nicht die Rede, […] die Mitte ist voll Unerschöpflichkeit, erst Andeutungen von ihr haben sich in den Hochkulturen dargestellt. Aber die Richtung dieser Mitte wird deutlich, sie geht in die Spannungssphären, Bewußtsein und Geist«.47 Der von größeren Selbstzweifeln geplagte Kurt Warnke hingegen schätzte an Hans Sedlmayr, dass dieser säkular an die religiöse Perspektive anknüpfte. Bei allen Zweifeln und Zufällen blieb Kurt Warnkes Welt religiös geschlossen, die Kunst eine tiefgründige Versuchung, die im Glauben zu bestehen war.
Die Stunden des freien Lesens waren ob der pfarramtlichen Pflichten selten und kostbar. Während der Lektüre von Hans Sedlmayrs Buch wurde Kurt Warnke am nächsten Tag von der plötzlichen Abreise des Sohnes überrascht. Im Kalender heißt es für den 4. September 1953: »Als ich gegen neun nach São Leopoldo kam, erfuhr ich zufällig, dass Martins Schiff nicht erst morgen, wie wir seit langem annahmen, sondern schon heute fährt. […] Nun in schneller Fahrt nach Porto Alegre. Denn um eins sollte das Schiff fahren. Für mich war es die erste Fahrt nach der ›Stadt‹. Zwanzig vor eins langten wir an … Zehn nach zwei löste sich die Aleyone vom Kai. Mein lieber Martin. Gott behüte dich und gebe uns ein frohes Wiedersehen in der Heimat.«48
Die Reise nach Europa, die Martin Warnke noch als Fünfzehnjähriger antrat, führte vom Süden Brasiliens zuerst nach Buenos Aires und Rio de Janeiro, bevor der holländische Frachtdampfer von dort aus den Atlantik überquerte. Der Ausgangspunkt an der Küste war Porto Alegre, gelegen an der Lagoa dos Patos. Im Brief an die Eltern und Geschwister schildert Martin Warnke die ungewohnten Eindrücke jenseits der Lagune bei Rio Grande: »Ich sah nun zum ersten Mal das weite, grüne Meer vor mir und zum letzten Male die Riograndenser Küste hinter mir. Daß ich es mit einem anderen Wasser zu tun hatte, merkte ich bald, denn unser Schiff fing an zu schaukeln. […] Mir war wirklich jämmerlich zu Mute.«49