Zurück ins Nichts - Ursel Dörr - E-Book

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Ursel Dörr

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Beschreibung

Ein Buch, das tief bewegt und zum Nachdenken anregt. Ursel Dörr, im März 1944 in Ostpreußen geboren, musste im Januar 1945, bei eisiger Kälte mit ihrer Familie aus Ostpreußen fliehen. Sie war gerade mal 10 Monate alt. Erst im Alter von 43 Jahren war es ihr möglich ihre Heimat bewusst kennenzulernen. Was sie auf dieser Reise erlebte und wie sich ihr Leben danach veränderte, schildert sie eindrucksvoll und spannend in diesem Buch. Ein Zeitzeugenbericht von 1987, der bereits Geschichte geworden ist. Überarbeitet 2023. Veröffentlicht 2024, zum 80. Geburtstag der Autorin. »Wir sollten Vergangenes nicht verdrängen, damit sich Geschichte nicht wiederholt.« Ursel Dörr »Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es aber vorwärts.« Sören Kiergegaard Zeitzeugenbericht über Flucht und Vertreibung. Lebenserinnerungen von einer der letzten Ostpreußen.

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Über die Autorin und ihr Buch

Ursel Dörr, wurde im März 1944 in Ostpreußen geboren. Im Januar 1945 musste sie, bei über 20 Grad minus, mit ihrer Familie aus Ostpreußen fliehen. Obwohl sie damals erst 10 Monate alt war, hat ihre Seele diesen dunklen Teil unserer Geschichte bewusst erlebt. Es war ein so einschneidendes Erlebnis, dass sie bis heute einzelne bildhafte Erinnerungen an die Flucht gespeichert hat. Stets mit Todesangst verbunden. Sie sei eine der letzten Ostpreußen erklärte man ihr öfter, mit der Frage verbunden, warum sie noch lebe? Wie es sein könne, diese schwere Zeit als Baby überlebt zu haben, wurde sie gefragt. Im Alter von 43 Jahren war es ihr zum ersten Mal möglich, bewusst ihre Heimat kennenzulernen. Sie wollte das »Nichts« ergründen, aus dem sie kam. Mit der Frage, ob es ihr dort überhaupt gefallen hätte, ging sie auf Spurensuche nach Ostpreußen. Die Eindrücke dieser Reise, was sie dort erlebte, wie sich ihr Leben danach veränderte, schildert sie spannend und einfühlsam in diesem Buch.

Weitere Bücher der Autorin:

Zauber der Schöpfung

Aufstieg eines Kometen

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Danksagung

Prolog

Regennase Fee

Sechs rote Beete und eine Zwiebel

Splitter der Ewigkeit

Eine Kugel im Kamin

Ein stiller Revoluzzer

Ein Wegweiser im See

Liebe und Güte eines Großvaters

Auf der Schutthalde geboren

Harmonie im Schweinestall

Zu Gast im eigenen Haus

Wo Gottes Fußspuren leuchten

Geheimnisvolles und Spukgeschichten

Das Paradies

Rapatten, ein Platz für die Seele

Kein Abschied für immer

Heimfahrt

Nachbetrachtung

Sinnsuche

Zeitzyklen

Mit dem zweiten Zug nach Königsberg 1993

Epilog

Dokumentation Eröffnungsfahrt nach Königsberg

Besuch bei der Lok 52 8137 am 17. März 2024

Großvaters Gruß

Fundstücke (Bilder)

Ortsnamen deutsch – polnisch

Literaturverzeichnis

Buchempfehlungen

Widmung

In Liebe gewidmet,

meiner tapferen Mutter und meinem fürsorglichen Großvater.

Im Gedenken,

an alle Menschen, die im Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren haben und durch Flucht und Vertreibung unsägliches Leid erdulden mussten. Sowie an alle Flüchtlinge weltweit.

Danksagung

Einen herzlichen Dank möchte ich meinem Mann, Horst Dörr, sagen. Er hat mich auf vielen Reisen nach Ostpreußen begleitet und mir geholfen meine Heimat intensiv kennenzulernen. Kein Weg war ihm zu weit, keine Straße zu holprig und kein Ziel unerreichbar. Danke auch, dass du mich motiviert hast, nach der passenden Lok für das Cover zu suchen.

Einen ganz lieben Dank an meine Tochter Diana, die mich mit der ersten möglichen Zugreise nach Königsberg gebracht hat und mir bei der Fertigstellung dieses Buches geholfen hat.

Einen besonderen Dank an Adrianna Zuzanna Grynkiewicz, die mich inspiriert hat, das Manuskript von 1987 aus der Schublade zu holen.

Danke auch an die vielen Helfer, die mich unterstützt haben bei der Suche nach der richtigen Lok für das Cover:

Herrn Dr. Eike Eckert vom Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg.

Herrn Jörg Schlösser, Archivar vom Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin.

Herrn Heinz Timmreck, für seine wertvollen Hinweise.

Herrn Mario Sembritzki, für seine Bilder und Tipps.

Herrn Christoph Lissek, vom Traditionsbetriebswerk der Eisenbahnfreunde in Staßfurt, für den Hinweis auf das Eisenbahnmuseum in Nördlingen. Und für die Erlaubnis, an meinem 80. Geburtstag die alte Lok Nr. 52 5802 besuchen zu dürfen.

Herrn Oliver Brink, für die nette und sachkundige Führung im Eisenbahnmuseum in Staßfurt.

Herrn Ekkehard Böhnlein, vom Bayrischen Eisenbahnmuseum in Nördlingen, für die Bereitstellung des Bildes von der Lok Nr. 52 2195 für das Cover.

LoreDana Bursch danke ich für ihre kreativen Ideen und die Geduld bei der Erstellung des ausdrucksvollen Covers.

Freya Kloss, für die Hilfe beim Redigieren.

Unserer virtuellen langjährigen Schreibnachtgruppe, Diana Dörr, Silke Melitta Schmitz und Xenia Casanova, für die inspirierenden Schreibnächte und die stete Motivation weiterzuschreiben.

Prolog

Vom Blitz gespalten

Sommer 1986

Rasend zuckte der grelle Blitz über den düsteren Horizont. Für einen kurzen Augenblick tauchte er die sturmgepeitschten Pappeln, am gegenüberliegenden Hang, in einen magischen Glanz. Welke Blätter, kleine Äste und dichter Staub wirbelten hoch durch die schwüle Luft. Den schwefelgelben Himmel verdunkelten mehr und mehr graue, schwere Regenwolken. Taubeneigroße Hagelkörner prasselten aufs schiefergedeckte Dach und wurden von niederstürzenden Wassermassen verdrängt. Ein Inferno schien sich draußen anzubahnen. Langsam grollte der Donner heran, um sich mit Urschreigetöse zu entladen und jeden anderen Laut zu ersticken. Heiß war es in der Stube. Die Sommerhitze fing sich in den Räumen.

»Ein Gewitter wie zu Hause«, hörte ich meine Mutter sagen. Sie saß in ihrem gemütlichen Sessel am geschlossenen Fenster und schaute, in Gedanken versunken, der tobenden Natur zu.

»So endeten fast immer die heißen Sommertage in der Heimat. Wie oft wurde ich von solch ungestümem Wetter überrascht. Da galt es schnell Schutz zu suchen. Das Fahrrad, mit dem ich meistens unterwegs war und das wegen seinem metallenen Rahmen den Blitz anzog, zur Seite zu stellen und warten, bis die gewaltigen Kräfte der launischen Natur sich ausgetobt hatten«, erzählte sie weiter. »Als Kind wurde ich einmal auf der Straße von Podleiken nach Bisellen von solch einem Unwetter eingeholt. Ich sollte für die Großmutter ein schweres Paket im Postamt in Bisellen aufgeben. Als ich losfuhr, türmten sich bereits einige dunkle Wolken am Himmel auf. Ich dachte, es ist nicht weit, das schaffst du noch. Kurz vor Bisellen fielen die ersten dicken Regentropfen. Ich suchte Schutz unter einem mächtigen Baum am Straßenrand um den Regen abzuwarten. Beim ersten Grollen aus der Ferne fielen mir die unzähligen Warnungen meiner Eltern ein, sich bei Gewitter niemals unter einen Baum zu stellen. So schnell ich konnte, radelte ich das kurze Stück bis zur Post. Gerade angekommen, begann das tosende Gewitter mit all seiner Kraft. Ich wartete, bis das Wetter sich beruhigte, und fuhr heim.«

Meine Mutter sah mich an, während sie fortfuhr: »Der Schreck lähmte mir fast die Glieder. Als ich auf dem Heimweg an dem Baum vorbeikam, dessen Blätterdach mich vor dem Regen schützen sollte, war der dicke Stamm vom Blitz gespalten. Verstreut lagen die schweren Äste auf der Straße und im Feld. Mit zitternden Knien kam ich bei der Großmutter in Podleiken an. Sie holte mir erst einmal ein Glas Milch zur Stärkung aus dem Keller.«

Langsam hörte der böige Regen auf. Die Wolken, die der Westwind vorbeitrieb, wurden heller und ließen wieder etwas von der Sonne ahnen. Immer noch erzählte meine Mutter von ihren Kindheitserlebnissen, von ihrer Heimat, die eigentlich auch meine Heimat war. Von Ostpreußen, dem sagenumwobenen Land im Osten. Was hatte ich nicht schon alles von Ostpreußen gehört.

Der Wunsch, das Land, in dem ich geboren wurde, in dem ich nur zehn Monate meines Lebens verbringen durfte, kennenzulernen, wurde immer stärker. Ich schaute meine Mutter an, sah ihr weißes Haar, ihr Gesicht, in das sich die Spuren des harten Lebens gegraben hatten, ihre abgearbeiteten Hände. Was hatten sie nicht alles geleistet, um die Familie in den schweren Jahren während und nach dem Krieg durchzubringen. Ich sah wie sie zwar mit leuchtenden Augen von ihren bewegten Erinnerungen erzählte, bemerkte aber, wie ihr Körper langsam müder wurde. Wie lange würden es ihre Kräfte noch erlauben, gemeinsam mit meiner Schwester und mir nach Ostpreußen zu fahren, um uns ihre und unsere Heimat zu zeigen?

Immer wenn ich von einer Reise nach Ostpreußen sprach, wehrte sie ab: »Da traue ich mich nicht mehr hin. Ich möchte alles so in Erinnerung behalten, wie es einmal war.«

Anfangs respektierte ich ihre Haltung. Doch je älter ich wurde, je stärker war in mir der Wunsch gereift, das Land meiner Vorfahren und meinen Geburtsort kennenzulernen. Sand wollte ich holen, eine Hand voll Sand, von der Stelle, wo ich geboren wurde. Wie sollte ich diese ohne meine Mutter finden?

Erneut fasste ich mir ein Herz und trug mal wieder meinen Wunsch vor. Überrascht war ich, als meine Mutter nach einigem Zögern einwilligte. »Du hast ja recht«, meinte sie, »was wollt ihr denn ohne mich dort, ihr findet ja doch nichts. Ich fahre mit.« Dies war das Start zu einer Reise in die Vergangenheit. Fortan wurden Pläne geschmiedet, wie wir eine solche Fahrt organisieren könnten. Was uns vor Jahren noch ganz untersagt war, ließ sich inzwischen ermöglichen. Wenn auch mit vielen Umständen und erheblichen Kosten verbunden. Wir mussten in Polen praktisch »Eintrittsgeld« bezahlen. Für jeden einzelnen Tag eine stattliche Summe.

So kam uns eine Busreise gelegen, die nach West- und Ostpreußen führen sollte. Meine Mutter kannte eine Menge Leute der Reisegruppe. Viele Formalitäten wurden uns abgenommen und für eine bequeme Reise und gute Unterkünfte gesorgt.

Zwei Wochen sollte die Reise dauern, die Danzig und die ehemaligen west- und ostpreußischen Gebiete im heutigen Polen zum Ziel hatte. Eine umfangreiche Rundreise durch Ostpreußen war geplant. Sogar Osterode, meine Geburtsstadt, lag auf der Route. Mein Wunsch, in die für mich unbekannte Heimat, zusammen mit meiner Mutter zu fahren, konnte Wirklichkeit werden.

Wie sah es in dem Land aus, in dem ich vor 43 Jahren geboren wurde? Hätte es mir dort überhaupt gefallen, fragte ich mich.

Heimweh war es nicht, das mich dorthin zog. Ich hatte keine Erinnerungen an dieses »zu Hause.« Nur durch Erzählungen war es in mir lebendig. Mich drängte etwas anderes. Ich wollte meine Identität finden. Ich wuchs als Flüchtlingskind im Westen Deutschlands auf und bekam oft genug zu spüren, dass ich aus dem »Nichts« kam. Dieses »Nichts« wollte ich entschlüsseln und entdecken. Wer ich war, wusste ich, woher ich kam, wollte ich klären.

Regennasse Fee

Sommer 1987

Am 30. Juli 1987 war es soweit. Wir starteten zu einer Reise hinter Stacheldraht, Mauer und Elektrozaun.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als wir an der Raststätte Wetterau dem Bus zustiegen. Schnell waren die Koffer verstaut und unsere Plätze belegt. Die Fahrt in Richtung Helmstedt wurde fortgesetzt.

Ich konnte mir einen neugierigen Blick durch den Bus nicht verkneifen. Wer wohl zu unseren Reisegefährten zählte und sich die zu erwartenden Strapazen auflud? Beruhigt machten wir es uns auf den mitgebrachten Kissen bequem, um etwas von dem versäumten Schlaf nachzuholen.

Vor der »Grenze« dem sogenannten »Eisernen Vorhang« der damals noch Deutschland teilte, nutzte ich die Gelegenheit, zu Hause anzurufen. Alles war in Ordnung. Ich war beruhigt. Wann der nächste telefonische Kontakt mit den Daheimgebliebenen möglich sein würde, war ungewiss.

In Helmstedt stand ich zum ersten Mal in meinem Leben an der deutsch - deutschen Grenze. Es war ein schockierendes, beklemmendes Gefühl. Stahlsperren, Elektrozaun, Selbstschussanlagen, wechselten mit Betonmauern. Von Wachtürmen aus wurde alles und jeder beobachtet. Kameraanlagen zeichneten Videos auf. Mit Spiegeln wurde der Boden der Fahrzeuge untersucht und mit Stangen, die Tanks. Wer die Grenze passieren wollte, musste unzählige unangenehme Maßnahmen und Schikanen über sich ergehen lassen. Deutsche kontrollierten Deutsche und dies sehr gründlich und gewissenhaft, wie es sich für Deutsche gebührt. Unsere Pässe mit den Visa, die erst drei Tage vor Reisebeginn eintrafen, wurden genauestens inspiziert. Ebenso die Kofferräume und die Toilette des Busses.

Mit zwei Pässen von Mitreisenden gab es Probleme. Die Vornamen der Passinhaber stimmten irgendwie nicht. Nach zwei Stunden Wartezeit, während der niemand den Bus verlassen durfte, begann die Fahrt durch die DDR.

Starker Gewitterregen begleitete uns. Die nasse, holprige Autobahn war des Öfteren nur einspurig befahrbar. Einmal war eine Baustelle dafür die Ursache. Eine "Einmann-Baustelle", sie schien schon sehr lange zu existieren, denn auf dem gesperrten Straßenstück breitete sich ein reichlicher, mannshoher Pflanzenwuchs aus. Eine andere Verengung, eine Brücke, seit dem Krieg zerstört, wurde nur einspurig aufgebaut. Was wäre dort für ein Chaos, gäbe es mehr Autos. Die wenigen Pkw, die unterwegs waren, sahen alle ähnlich aus. Grau und schmucklos, müde wie geprügelte Hunde, schlichen sie vorwärts.

Von Ortschaften war nicht viel zu sehen. Hin und wieder mal kleine Dörfer mit grauen, verrußten Häusern. Es war nicht erlaubt, die Transitstrecke zu verlassen und ein Stück über Land zu fahren. Langsam, exakt die Geschwindigkeitsbegrenzung einhaltend, rollte der Bus durch das Land. Die 30 oder 40 Kilometer-Beschränkungen wurden mit Kameras überwacht. Sie waren in Bäumen über der Fahrbahn angebracht.

Gegen 17 Uhr fuhren wir über die Oder und trafen in Frankfurt, an der polnischen Grenze ein. Freundliche Zöllner aus der DDR und Polen sammelten im Grenzort Swiecko unsere Pässe ein. Die Kontrolle dauerte wieder zwei endlose Stunden.

Vollbepackte Autos passierten die Grenzstation in Richtung Polen. Auf wackeligen Tischen mussten Reisende all ihr Gepäck, das sich in Koffern, Taschen, Tüten, Kisten und Kartons befand, auftürmen. Kübel mit Waschpulver stapelten sich neben Bananen, Orangen, Kleidern, Schuhen, Elektrogeräten und vielem mehr. Alles wurde von strengen Beamten untersucht. Mühevoll durfte, von den jeweiligen Besitzern, alles wieder eingeräumt werden. Ganze Anhänger filzte man auf diese Weise. Was alles zurückbehalten wurde, wie hoch der "Zoll" war, entzog sich unserer Kenntnis.

Vor der Grenze empfing ein polnischer Reiseleiter unsere Gruppe. 1987 war Polen ein kommunistisch regiertes Land. Der Reiseleiter wurde uns zugeteilt, damit er die Gruppe begleitete und bewachte. Langsam bewegte sich der Bus bis zu einer rot-weißen Schranke. Kam nochmals eine endlose Kontrolle, stieg die besorgte Frage in mir hoch. Ein kurzer kritischer Blick des Grenzbeamten, ein freundlicher Gruß, die Schranke öffnete sich. Wir rollten in Polen ein, ins unbekannte, ersehnte Land.

Grenzen wurden von Menschen errichtet. Die Natur kannte keine Sperren. Übergangslos zog sich der üppige Pflanzenwuchs weiter. Je mehr die Zivilisation abnahm, je mehr hatte die Natur Raum. Die Abendsonne quälte sich durch dicke Regenwolken und zeigte alles in einem diffusen Licht.

Wald und Heide wechselten, wurden spärlicher und vermischten sich mit Feldern und Wiesen. Mich ließ das Gefühl nicht los, ich sei in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückversetzt worden, in einer Zeitmaschine rückwärts gefahren. Eine vollkommen andere Welt tat sich auf. Ein vergessenes Land, das seinen Charme zeigte. Das Getreide wurde teilweise mit der Sense geschnitten. Binder mähten das reife Korn und bündelten es zu romantischen Garben. Mähdrescher, wie sie unseren Bauern die Arbeit erleichterten, fanden sich nirgends im Einsatz. Trotz Regen wurde das feuchte Getreide geschnitten und auf Hocken zum Trocknen aufgesetzt. Oft wuchs das Getreide sehr spärlich. Kleine Tümpel auf den Feldern, zeugten von fehlenden Drainagen. Bei manchen Feldern fiel es mir schwer, zu bestimmen, was geerntet werden sollte. Waren es Sonnenblumen oder Kartoffeln, Getreide oder Rüben? Oft war vor lauter Unkraut keine Nutzpflanze zu erkennen. Gerne benutzte ich den Begriff Unkraut nicht, für mich gab es nur Wildkräuter. Doch am verkehrten Platz werden Wildkräuter zu Unkräutern.

Die ersten Ortschaften tauchten auf. Kleine Dörfer, die menschenleer wirkten. Einige Höfe waren alt und renovierungsbedürftig. Auf den Dächern fehlten Ziegel, Regenrinnen waren oft nicht vorhanden oder verbogene Reste hingen traurig vom Dach. Dagegen stand eine üppige Natur im Kontrast zur Not.

Ein Parkplatz tauchte auf. Wir hielten an. Aus dem regennassen und von einzelnen Nebelschleiern verhüllten Wald, tauchte ein hübsches Mädchen auf. Triefend nass umrahmten die lockigen Haare ihr von Sommersprossen geziertes, hübsches Gesicht. Das Kleid war derb, als sei es aus einem Kartoffelsack genäht. Wie eine Waldfee stand sie vor uns, trug ein selbstgebasteltes Körbchen aus Karton, das mit frisch gepflückten Heidelbeeren gefüllt war. Wir kauften den ganzen Korb und teilten die Beeren mit unseren Mitreisenden. Sie schmeckten köstlich. Für die frisch duftenden Pfifferlinge, die ihr Begleiter anbot und bei deren Anblick mir das Wasser im Mund zusammenlief, hatten wir leider keine Verwendung.

Von Gewitterregen begleitet, führte uns die Straße weiter durch ärmliche Ortschaften und eine urige Natur. In Posen setzte sich der triste Anblick fort. Die Straßen standen teilweise unter Wasser. Wir fragten uns, waren die Abflüsse verstopft? Es fehlte die Begrenzung zwischen Straße und Wiese. Alles ging allmählich in Natur über.

Nach ein paar Irrfahrten erreichten wir müde und hungrig das Hotel. Das Haus war sauber, modern eingerichtet und behaglich. Der hektischen Zimmerverteilung folgte endlich das Abendessen. Wir kamen fünf Minuten zu spät. Heinrich, unser polnischer Reiseleiter, war verärgert. Er vermisste die deutsche Pünktlichkeit. Sie scheiterte leider an den polnischen Aufzügen. Ein leckeres Menü, bestehend aus Pilzsuppe, gefülltem Schnitzel mit Sahnesoße, Kartoffeln und Salat erwartete uns. Als Nachtisch wurden Waldhimbeeren mit Sahne und Kaffee serviert. Es waren einheimische Köstlichkeiten, die uns freundlich, und herzlich serviert wurden.

Zum Abschluss des ersten Reisetages ließen wir uns Krimsekt an der Bar schmecken.

Sechs rote Beete und eine Zwiebel

Die Reise war gut vorbereitet. Als besondere Attraktion gab es täglich einen Spruch mit auf den Weg. Heute lautete er,

"Eine Reise ist wie eine Liebe. Eine Fahrt ins Unbekannte."

Diese erste Station in Posen, diente ausschließlich der Übernachtung. Erholt, trafen sich um neun Uhr alle Mitreisenden am Frühstückstisch, bei Brot, Marmelade, Käse und einer warmen Krakauer Wurst. Eine ungewohnte Zusammenstellung, doch es schmeckte sehr gut.

Nach einer kurzen Stadtrundfahrt durch Posen setzten wir unsere Reise Richtung Danzig fort. Weite Ebenen wurden von leichten Hügeln unterbrochen. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass der Himmel hier höher wirkte. Für mich schien er endlos zu sein. Dieses Himmelsgewölbe war beruhigend. Ich konnte freier atmen. Ganze Scharen bauschiger Wolken zierten die gewaltige, azurblaue Himmelsglocke. Großen Schiffen gleich, segelten sie dahin. Die Straßen säumten uralte, behäbige Bäume. Wie Zeugen der Schöpfung standen sie da. Mit ihren mächtigen Wurzeln fest im Boden verankert. Die weit ausladenden Kronen schienen das hohe Himmelsgewölbe zu tragen. Vor Verehrung streckten sie ihre starken Arme dem Schöpfer entgegen und baten um seinen Segen.

In der Ferne, auf einer Anhöhe, grüßte die Burg von Marienwerder. Mitte des 14. Jahrhunderts entstand dieser imposante Bau, der hoch und trutzig das Stadtbild beherrscht. Für einen Abstecher in die alte Ordensfestung war leider keine Zeit.

Überall praktische Müslifelder: Roggen, Weizen, Hafer, Gerste, alles wuchs wild durcheinander. Chaotisch, wie diese Felder aussahen, verlief das Kaffeekochen im Bus. Während der Fahrt Kaffee auszuteilen, war ein feuchtes Unterfangen.

Gegen siebzehn Uhr erreichten wir Danzig. Für fünf Tage sollte dies unser Domizil werden, von dem zahlreiche Fahrten in die nähere und weitere Umgebung geplant waren.

So, wie Danzig früher ein Tor zu Ost- und Westpreußen war, so war Gdansk nun das Tor Polens zur Welt. Danzig, eine Begegnungsstätte von Ost und West. Für uns die Eingangspforte zu Masuren. Wer nach Masuren gelangen will, musste durch Danzig und Westpreußen fahren. Die Stadt wurde so zum Entree in meine Heimat. Wohlbehalten brachten uns Bus und Fahrer zum Hotel, 18 Stockwerke hoch, in der Innenstadt gelegen.

Vor dem Essen reichte die Zeit zu einem kurzen Altstadt-Spaziergang. Wir schlenderten über den Markt, der uns ein buntes Bild bot. Am Straßenrand verkauften Frauen gestickte Decken und andere Handarbeiten. Ein paar Schritte weiter, suchte eine Bäuerin Kunden für ihr Gemüse. Neben sechs roten Beeten lagen eine Zwiebel und ein paar Kräuter.

In einfachen Holzhäuschen wurden Kleider, Lederartikel und Haushaltsgeräte angeboten. Vor manchen Ständen bildeten sich lange Menschenschlangen. Geduldig beobachteten sie, was aus den Kisten ausgepackt wurde und hofften, etwas Brauchbares zu entdecken. Ein üppiges Angebot, wie bei uns gewohnt, sah man auf diesem Markt nicht. Doch das Lebensnotwendige war zu bekommen. Weit kamen wir nicht, bei unserem ersten Rundgang. Reiseleiter Marek wartete im Hotel mit dem Abendessen auf uns und achtete auf Pünktlichkeit.

Nach der nötigen Stärkung strebten wir erneut in den alten Stadtteil. Waren zu neugierig, um im Hotel zu bleiben, wollten erkunden, wie Danzig heute aussah. Es folgte eine große Überraschung. Wie Phönix aus der Asche war die Altstadt wieder auferstanden.

Soweit möglich, wurde vieles nach alten Bildern originalgetreu neu aufgebaut. Prunkvolle Naturstein-Fassaden erfreuten das Auge. Im Dunkel des Abends wirkte die Altstadt besonders faszinierend. Angestrahlte Fassaden verbreiteten ein heimeliges Gefühl. Es war leider eine leblose Gemütlichkeit, ohne Geschäfte und Lokale. Die Altstadt wirkte wie eine Kulisse. Der prächtig ausgestattete Artushof am langen Markt mit Neptunbrunnen war restauriert. Ebenso das Zeughaus, die Tore der Stadt und das historische Rathaus. Es wurde im Stil der flämischen Renaissance, vom Danziger Stadtbaumeister Anthony van Obbergen, um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert erbaut. Die reich gestalteten Bürger- und Patrizierhäuser in den alten Gassen, waren aus Schutt und Asche wieder neue errichtet worden. Sie dienten als Filmkulisse für »Die Buddenbrooks«. Schöne Treppenaufgänge, Beischläge, wie man früher in Danzig sagte, und kunstvolle Giebel bestaunten wir. Ein großes Kompliment gebührte den polnischen Restauratoren für ihre kunstvolle Arbeit.

Von unserem Zimmerfenster aus hatten wir einen faszinierenden Blick auf die Marienkirche. Im Reiseführer las ich, dass sie ab 1343 in 150-jähriger Bauzeit errichtet wurde und die größte aus Ziegeln gebaute Kirche der Welt sei. 105 m lang, im Querschiff 66 m breit, mit einer Grundfläche von 4115 qm, die ca. 25 000 Menschen Platz bietet. Im letzten Krieg zerstört, wurde sie neu aufgebaut. Eine Kopie des berühmten Gemäldes von Hans Memlin, »Das jüngste Gericht«, entdeckten wir in der Seitenkapelle. Das Original befindet sich im Danziger "Museum Pomorski".

Splitter der Ewigkeit

»Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«

Nach ausgiebigen Beratungen vor dem Frühstück und der ausgegebenen Tageslosung, wurde für diesen Tag eine Schiffsfahrt nach Hela beschlossen. Das Wetter war regnerisch. Ich verspürte keine große Lust zu diesem Ausflug. Es hätte mich mehr gereizt, in Danzig zu bummeln, um Plätze zu finden, die nicht auf dem Programm standen. Letztlich entschlossen wir uns doch zur Dampferfahrt.

Die Gruppe war bereits vorausgegangen. Die Zeit drängte. Um die Vorauseilenden einzuholen, bestellten wir ein Taxi. Nach 20 Minuten Wartezeit konnten wir starten. Statt zum Krantor, schlug er den Weg zur Helsinkifähre ein. Bis wir dies bemerkten und es uns endlich gelang, ihm dies verständlich zu machen, waren wir bereits eine Weile unterwegs. Ungläubig meinte unser Fahrer: »Ans Krantor? Aber das ist doch nicht so weit, das hätten sie zu Fuß gehen können.« Das Taxi wendete und fuhr durch abgelegene Gassen. Die Häuser dort befanden sich in einem jämmerlichen Zustand. Berge von abgefallenem Schutt machten die Bürgersteige unpassierbar. Ein trauriger Anblick, der mich noch lange verfolgte.

Gerade noch rechtzeitig erreichten wir das Krantor. Das Schiff hatte auf uns gewartet. Die zweistündige Überfahrt zur Halbinsel Hela konnte beginnen. Die im Hafen und in den Werften liegenden Schiffe waren allesamt recht reparaturbedürftig. Um neueste Modelle handelte es sich nicht. Auf den meisten flatterte die russische Fahne.

Vorbei ging es an der Westernplatte. Dort löste am 1. September 1939 der deutsche Zerstörer Schleswig-Holstein mit seinem Beschuss den Zweiten Weltkrieg aus. Das große Elend begann. Kalt lief es mir den Rücken runter. Ein Denkmal erinnert an dieses tragische Datum.

Im Hafen von Hela begrüßten uns Bernsteinhändler. Ich kaufte aus ungeschliffenem Naturbernstein zwei kleine Ketten.

Bernstein, was für ein unpassender Name für dieses leichte Urharz. Nicht schwer wie Edelsteine oder kalt wie Gold und Silber lagen die leichten, unregelmäßig geformten Bernsteinperlen in meinen Händen. Die Menschen der »Alten Welt« nannten ihn Elektron. Ein sehr passender Name. Wenn man ihn reibt, lädt er sich statisch auf und zieht kleine Papierschnipsel an. Zu allen Zeiten war er stets begehrt. Etwas Geheimnisvolles strahlten die Ketten mit ihrem würzigen Duft aus. Vor wie viel Millionen Jahren hatte er sich wohl gebildet? Tief unten in meiner Tasche verstaute ich die Ketten wie einen kostbaren Besitz und eilte der Reisegruppe nach.